Stadt der Vergeltung - James Patterson - E-Book
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Stadt der Vergeltung E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Detective Billy Harney hat über die Jahre viele harte Fälle aufgeklärt. Doch als in einem heruntergekommenen Viertel von Chicago mehrere Menschen erschossen werden, darunter ein vierjähriges Mädchen, ist selbst der hartgesottene Polizist schockiert. Alles deutet auf Gangkriminalität hin, und als Proteste laut werden, drängen die Behörden auf schnelle Aufklärung. Harney aber gibt sich nicht mit einfachen Antworten ab und gräbt weiter nach der Wahrheit. Damit macht er sich in einer Stadt wie Chicago, in der Waffengewalt und Korruption allgegenwärtig sind, mächtige Feinde …

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Seitenzahl: 518

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Buch

Detective Billy Harney hat über die Jahre viele harte Fälle aufgeklärt. Doch als in einem heruntergekommenen Viertel von Chicago mehrere Menschen erschossen werden, darunter ein vierjähriges Mädchen, ist selbst der hartgesottene Polizist schockiert. Alles deutet auf Gangkriminalität hin, und als Proteste laut werden, drängen die Behörden auf schnelle Aufklärung. Harney aber gibt sich nicht mit einfachen Antworten ab und gräbt weiter nach der Wahrheit. Damit macht er sich in einer Stadt wie Chicago, in der Waffengewalt und Korruption allgegenwärtig sind, mächtige Feinde …

Weitere Informationen zu James Patterson

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

James Patterson

und

David Ellis

Stadt der Vergeltung

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Peter Beyer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Red Book« bei Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2023

Copyright © der Originalausgabe 2021 by James Patterson

This edition arranged with Kaplan/DeFiore

Rights through Paul & Peter Fritz AG

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Mark Owen / Trevillion Images; FinePic®, München

Redaktion: Viola Eigenberz

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-29199-0V001

www.goldmann-verlag.de

Für Sue, Jack und Red

– JP

Für Abigail, Julia und Jonathan Ellis

– DE

Buch I

1

Licht, Kamera, Action.

Das hier könnte Lathams Leben verändern. Es könnte sein Ticket hier raus bedeuten.

Aber es könnte ihn auch vernichten. Er könnte deswegen hinter Gitter kommen.

Oder Schlimmeres. Es ist das »Schlimmere«, das ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochschrecken lässt, mit heftig schlagendem Herzen und in schweißgetränkten Laken.

Falls Shiv es jemals spitzkriegen sollte. Shiv war niemand, der verzieh. Shiv hatte keinerlei Sinn für Humor.

Da brauchte man bloß »Joker« Jay zu fragen, der letzten Sommer eines Tages den Fehler beging, ein bisschen zu lange mit Shivs Frau rumzuschäkern. Man fand Jay neben dem Umkleidehäuschen im Clark Park in einer Blutlache, beide Mundwinkel aufgeschlitzt.

Seitdem schäkert Jay nicht mehr viel rum.

Und das bloß, weil er Shivs Tussi zu nahe gekommen war. Wer würde da wagen, Shiv geschäftlich zu nahe zu treten?

Falls irgendwer spitzkriegt, was Latham hier treibt, ist er ein toter Mann. Shiv würde ein Exempel an ihm statuieren, ihn zusammenschlagen, foltern, seine blutige Leiche für alle sichtbar liegen lassen. Das ist es, was passiert, wenn man Shiv in die Quere kommt. Wenn man den K Street Hustlers bei ihren Geschäften in die Quere kommt.

Licht: Ausreichend, das Sonnenlicht des späten Nachmittags fällt durch Lathams Schlafzimmerfenster im dritten Obergeschoss des Mehrfamilienhauses.

Kamera: Im Gehäuse der Klimaanlage versteckt, die ein Stück aus seinem Fenster ragt, so kann er die Straße Richtung Süden überblicken.

Action: Eine silberne BMW-Limousine wird an der Kreuzung langsamer, biegt dann links ab und fährt auf der Kilbourn nach Norden, auf Lathams Standort zu.

Ein BMW-Fahrer, denkt Latham. Vielversprechend.

Mit dem Kippschalter zoomt er auf das Nummernschild, geht dann auf Weitwinkel und erfasst die Straßenschilder der Kreuzung, Kilbourn und Van Buren.

Dann richtet er den Fokus wieder auf die Straße. Der BMW fährt im Schneckentempo die Kilbourn entlang, bevor er links am Straßenrand hält, genau an der Stelle, die Latham vorausgesehen hat, vor einem zweigeschossigen Backsteinhaus nur vier Häuser von Lathams Wohnung und seiner versteckten Kamera entfernt.

Ein junger Afroamerikaner in einem übergroßen Bears-Trikot und zerschlissenen Jeans – er heißt Frisk – schlendert vorbei, mustert die zum Stehen gekommene Limousine und schaut dann zu Leuten hinüber, die auf der Veranda des Backsteingebäudes sitzen. Latham macht sich nicht die Mühe, die Kamera dorthin zu schwenken. Er weiß, worum es geht. Frisk wartet auf grünes Licht von Shiv, der dort auf der Veranda sitzt.

Shiv muss ihm sein Okay gegeben haben, denn nun schlendert Frisk wieder zu der Limousine zurück und lehnt sich gegen die Fahrertür. Die Scheibe gleitet herunter. Latham stellt das Objektiv scharf. Der Fahrer ist ein Weißer, wahrscheinlich Mitte dreißig, und trägt Anzug und Krawatte. Er unterhält sich etwa eine Minute mit Frisk, bevor er ihm ein Bündel zusammengerollter Geldscheine reicht. Frisk, immer noch an den Wagen gelehnt, nimmt das Geld routiniert entgegen und deutet die Straße hinunter zu der Stelle, wo der Fahrer die gewünschten Drogen in Empfang nehmen kann. Heroin, vermutlich; in der Stadt ist es billiger als in den Vororten.

Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung. Latham stoppt die Aufnahme und lädt das kurze Video auf seinen Laptop.

Dann nimmt er sein Handy und ruft seinen Cousin Renfro an, der seit seinem Highschool-Abschluss vor über zwei Jahren in der Kraftfahrzeugbehörde arbeitet. Latham gibt ihm das Kennzeichen durch.

»Zugelassen auf einen Richard Dempsey«, sagt Fro. »Aus River Forest. Das bringt Cash, Bruder. Und dann noch ein BMW?«

Latham stimmt zu: Das könnte eine schöne Stange Geld einbringen. Ein Typ wie dieser, angezogen wie ein Großkotz, in einer schicken Karre aus einem schicken Vorort, wahrscheinlich Arzt oder Rechtsanwalt oder ein Finanzfuzzi. Ein Kerl, dem es schwerfallen würde, dieses Video seinen Bossen oder seiner Frau zu erklären.

Er wird diesen Richard Dempsey überprüfen, wird sich im Netz sein Haus anschauen, seinen Beruf herausfinden, die sozialen Medien nach ihm durchforsten. Allerdings darf man nicht zu gierig sein. Was man einfordert, müssen sich die Leute auch leisten können.

Aber stimmt schon, Latham hat Dollarzeichen in den Augen. Zehntausend? Ein Kerl wie dieser, der sein kleines, schmutziges Geheimnis hüten will? So viel würde der vielleicht rausrücken.

Scheiße, zehntausend Dollar – das ist mehr als die Hälfte der Studiengebühren für die Filmschule. Mehr, als Latham in sechs Monaten bei Best Buy verdient.

»Peace.« Latham beendet das Gespräch und malt sich aus, was er mit dem Geld machen wird.

Denkt an die Filmschule.

Ich möchte der Akademie danken, wird er eines Tages verkünden, während er seinen Oscar für die beste Regie in den Händen hält, und vor allem möchte ich den Männern und Frauen danken, die all dies möglich gemacht haben, indem sie den Heroin-Highway entlanggefahren sind.

2

Heute ist der Tag der Tage. Ich hoffe, dass das Grummeln in meinem Magen Aufregung bedeutet, nicht Angst.

Ich öffne die Augen und erblicke den feuchten Fleck an der Zimmerdecke, die abblätternde Farbe. Das könnte ein Sinnbild für etwas sein, obwohl ich nicht so recht schlau daraus werde, für was. Momentan gibt es nicht viel, woraus ich schlau werde. In meinem Schädel dröhnt es wie nach einem Gongschlag, meine Zunge fühlt sich an wie ein Zottelteppich, mein Magen rumort wie ein Vulkan kurz vor der Eruption. Gestern Abend, als mir der dritte Bourbon über den Bartresen zugeschoben wurde, hatte ich mich noch ermahnt. Beim sechsten Glas war ich mir ziemlich sicher, dass dieser Vormittag eine Herausforderung werden würde.

Sie vermeiden, würde mein Seelenklempner sagen, der Typ, den ich auf Veranlassung des Departments während meines »Urlaubs« konsultiert habe – bezahlter Urlaub, während sich das Department von dem Skandal, den Anklagen, den Forderungen nach Reformen und den Versetzungen erholte. Ich spielte sowohl den Helden als auch den Schurken in der Geschichte, je nach Sichtweise, auch wenn mich die meisten meiner Kollegen der zweiten Kategorie zuordnen. Feuern konnten sie mich nicht, nachdem ich den ganzen Polizeiapparat mit meiner Ein-Mann-Abrissbirne dermaßen zugerichtet hatte, dass dagegen die Schlacht von Atlanta daherkommt wie eine Sightseeingtour. Ich verkörpere jetzt das Gesicht der Reform!

»Wohl eher das Gesicht des Todes«, murmele ich, während ich mich im Badezimmerspiegel betrachte. Zu Berge stehende Haare, dunkle Augenringe, blasse Gesichtsfarbe. Ich habe noch – wie viel? – zwanzig Minuten, um mich vorzeigbar herzurichten. Aber wie vorzeigbar muss ich schon aussehen, wenn ich hinter irgendeinem Schreibtisch hocke oder zur Verkehrspolizei abkommandiert werde? Wer weiß, was der Polizeipräsident mit mir vorhat? Ich werde in seinem Büro ungefähr so willkommen sein wie der Steuerprüfer.

»Du musst nicht unbedingt zurück in den Dienst«, sage ich zu meinem Spiegelbild. »Aber – was willst du sonst machen? Für eine private Sicherheitsfirma arbeiten? Als Schafhirte durch die Welt ziehen?«

Ich bin mir nicht sicher, welche Seite in meinem inneren Konflikt den Sieg davongetragen hat, aber als ich zwanzig Minuten später zum Präsidium an der Ecke von 35th und Michigan Avenue fahre, denke ich immer noch über diese Hirtensache nach. Gibt’s nicht auch irgendeine Möglichkeit ohne Schafe?

Das Polizeipräsidium befindet sich in einem langgezogenen Flachbau, der aussieht wie eine Highschool. Gar nicht so abwegig, denn dieses verordnete Treffen fühlt sich an, als würde man als Pennäler ins Büro des Schuldirektors gerufen werden, bloß um einiges unangenehmer. Lieber würde ich meinen Proktologen aufsuchen, und der ist vorbestraft.

Die meisten Leute nehmen mich nicht wahr, als ich in Sportjackett und Bluejeans durch die Flure gehe, meine Marke am Hemd. Für sie bin ich bloß ein weiterer Cop, nicht derjenige, der die Kellertür geöffnet und die Leichen des Departments ans Licht gezerrt hat. Nicht derjenige, der eine Kugel in den Kopf verpasst bekam und für seine Anstrengungen eine Mordanklage am Hals hatte. Mein größtes Vergehen? Dass ich das alles überstanden habe. Ich hätte abhauen sollen, aufgeben, aber stattdessen habe ich zurückgeschlagen und gewonnen – falls die Rückkehr zu einem Job, bei dem man Persona non grata ist, als Sieg gewertet werden kann. Wie gut, dass ich kein bisschen verbittert bin.

»Detective Billy Harney für den Polizeipräsidenten«, melde ich mich bei der Empfangsdame an, als ich das berühmt-berüchtigte Vorzimmer des obersten Cops von Chicago betrete. Möglicherweise ist er auch der oberste Arschkriecher von Chicago, obwohl sich eine Menge Leute um diese Auszeichnung bewerben.

Ich schaue auf die Uhr, um sicherzugehen, dass ich nicht zu spät dran bin. Ich bin zwei Minuten zu spät. Klasse.

»Sie kommen zu spät«, begrüßt mich der Präsi, noch bevor ich einen Schritt in sein Büro gemacht habe. Er thront hinter seinem Schreibtisch und ist allein im Raum. Das ergibt Sinn – keine Augenzeugen.

Ich glaube, Hirte kann man auch ohne Schafe sein. Man trägt dann einfach wallende Gewänder und seilt hin und wieder tiefsinnige Sprüche ab. Fürchte nicht, was du nicht weißt, sondern das, was du nicht zu wissen versuchst. Dieser Spruch ist gar nicht so schlecht, und dabei habe ich mir den gerade erst aus den Rippen geleiert.

»Setzen Sie sich, Detective.« Obwohl er heute Morgen als Top-Cop in voller Montur auftritt, ist Polizeipräsident Tristan Driscoll kein Cop im eigentlichen Sinne. Er ist Politiker. Es ist ihm irgendwie gelungen, das Tohuwabohu zu überleben, das ich angerichtet habe und das auch jene Person zu Fall brachte, die ihn ernannt hatte, nämlich den Bürgermeister von Chicago. Ganz zu schweigen vom obersten Ankläger der Stadt, dem Staatsanwalt von Cook County. Ich hatte eine große Abrissbirne.

Aber Tristan – er muss sadistische Eltern gehabt haben, wenn sie ihm diesen Namen verpassten – gelang es, auch die Gunst des neuen Bürgermeisters zu erlangen und selbst nicht auf dem Hackblock zu enden. Und das alles, während Chicago sich einen Namen als Mordhauptstadt der freien Welt macht – Beirut am See. Der Mann muss wundgescheuerte Knie haben: Die Wände um uns sind gesäumt mit gerahmten Fotos, auf denen er neben Leuten posiert, denen er in den Arsch gekrochen ist.

»Wir können auf Nettigkeiten verzichten«, eröffnet er das Gespräch.

»Das macht es leichter«, erwidere ich. »Mir wären auch keine eingefallen.«

Sein Mund verzieht sich zu einem spöttischen Lächeln. »Immer noch die große Klappe, Harney.« Er schaut in eine Akte auf seinem Schreibtisch. »Aus Ihrem psychologischen Gutachten geht hervor, dass Sie imstande sind, in den Polizeidienst zurückzukehren.«

»Dazu war ich immer imstande. Ich wurde ja nicht beurlaubt, weil ich nicht hätte arbeiten können. Ich wurde beurlaubt, damit Sie sich derweil überlegen können, wie Sie mich loswerden. Dann wurde Ihnen klar, dass das unmöglich ist, weil es wie ein Racheakt gegen den Reformer aussähe. Die Medien hätten Sie zum Frühstück verspeist.«

Zögere nie, das Wahre zu sagen statt das Bequeme, aber Unwahre. Scheiße, so langsam habe ich echt den Dreh raus. Wo kriege ich bloß wallende Gewänder her?

Driscoll grinst, lehnt sich zurück und schaukelt in seinem Ledersessel mit der hohen Rückenlehne. »Sie unterstehen mir, Harney. Ich kann Sie zur Verkehrspolizei verfrachten. Ich kann Sie zum Freund und Helfer machen, der jeden Morgen Highschool-Schüler abtastet und an Fußgängerüberwegen Streife schiebt.«

Er zuckt mit den Schultern. »Alles, was ich dafür tun muss, ist zu behaupten, Sie seien psychisch angeknackst. Dass die Gewerkschaft dagegen Klage einreicht, können Sie sich von der Backe schmieren. Niemand schlägt sich auf Ihre Seite. Niemand würde sich mir in den Weg stellen. Solange ich Sie nicht feuere – damit die Medien mich nicht ›zum Frühstück verspeisen‹.« Er malt mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, schmettert mir meine eigenen Worte zurück in mein Feld. »Ich kann Ihr Leben zu einem Alptraum machen. Und das werde ich auch.«

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, Blut schießt mir in den Kopf. Kopfschmerzen hatte ich schon vorher, nun ist es, als würde mir gleich die Birne platzen.

»Also, was sagen Sie, Harney? Sie gehen in Ruhestand, beziehen die volle Pension, und ich muss mich mit Ihrem Scheißdreck keinen! – einzigen! – Tag! – mehr rumplagen.«

Während er dies vorschlägt, gelingt es ihm tatsächlich, sein Lächeln die ganze Zeit beizubehalten.

Was am meisten schmerzt: Er liegt damit nicht völlig daneben. Will ich wirklich wieder einsteigen? Auf einer beschissenen Position und angesichts der Tatsache, dass niemand mit mir zusammenarbeiten will? Die Beamtenpension ist gar nicht so übel, und ich bin erst Mitte dreißig – ich könnte mir noch etwas einfallen lassen. Einen Neustart.

Aber vielleicht brauchte es diesen Moment, diese Chance, mich mit einer sauberen Gesundheitsbescheinigung und Geld in der Tasche davonzumachen, um es zu kapieren: Ich will immer noch als Cop arbeiten. Hätte ich etwas falsch gemacht und verdiente es, entlassen zu werden, würde ich mich dazu bekennen. Aber das habe ich nicht. Ich habe nur meinen Job gemacht. Warum sollte ich gehen?

Und was diese wallenden Gewänder betrifft? Ich wette, die wären teuflisch schwer sauber zu halten.

»Kein Deal«, erwidere ich. »Stecken Sie mich hin, wo Sie mich hinstecken wollen.«

Nun kommt Driscoll sein schmieriges Lächeln abhanden. Er fegt eine Akte über den Schreibtisch. Sie landet auf meinem Schoß, und ich schlage sie auf. Ich lese. Lese noch einmal.

Dann platze ich heraus: »Sie wollen mich wohl verarschen!«

3

Ich starre auf meine Versetzungspapiere, kann es immer noch nicht glauben, überprüfe zum wiederholten Mal, ob wirklich mein Name und meine Dienstnummer oben auf der Seite stehen, ob da nicht irgendeine Verwechslung vorliegt.

»Glauben Sie mir, Harney«, erklärt Driscoll, »meine Idee war das nicht.«

Die Special Operations Section, die Abteilung für Sondereinsätze. Ich wurde der SOS zugeteilt.

»Wie Sie bestimmt wissen, haben wir das Projekt erst letzten Monat der Öffentlichkeit vorgestellt«, sagt Driscoll.

Ich hatte die Pressekonferenz mitverfolgt, in der Polizeipräsident Driscoll mit dem Bürgermeister an seiner Seite die Ankündigung machte. Die SOS ist eine »Elite-Einsatzgruppe«, die sich mit Schwerverbrechen im gesamten Stadtgebiet beschäftigen wird. Ihr Schwerpunkt soll aber in der West Side liegen, in der oft wilde Schießereien stattfinden, was Chicago landesweit ein übles Image verschafft und eine Menge Lokalpolitiker nervös gemacht hat.

Ah, der neue Bürgermeister. Er muss derjenige sein, dem ich meine Versetzung zu verdanken habe. Begegnet bin ich dem Kerl nie, aber sicher hat er gesagt: Hey, dieser Harney, stecken wir den doch mal in diese Einheit, damit alle sehen, wie sehr ich mich für Reformen starkmache. Ganz der Schleimer, der er nun mal ist, dürfte Driscoll diese Idee vehement unterstützt haben. Wahrscheinlich hat er dem Bürgermeister sogar die Hand geschüttelt und ihm gratuliert. Gerade eben noch hat er versucht, mir die Kündigung schmackhaft zu machen, aber ich habe den Köder nicht geschluckt. Also muss er jetzt in den sauren Apfel beißen und mich auf einen der begehrtesten Posten im ganzen Polizeiapparat befördern. Das muss ihn mordsmäßig wurmen.

»Sie stehen im Rampenlicht, Harney. Genau dort also, wo es Ihnen gefällt.«

Ich schaue zu ihm hoch. Ich bin immer noch geschockt – das war das Allerletzte, womit ich gerechnet habe –, und mir fällt jetzt keiner meiner typischen Einzeiler ein. »Ich wollte nie im Rampenlicht stehen. Ich habe nur meinen Job gemacht.«

»Tja, Sie standen trotzdem drin, Liebling der Medien. Aber wissen Sie, was es mit Rampenlicht so auf sich hat? Es kann warm und behaglich sein, wenn man gute Arbeit leistet. Und es kann grell und unbarmherzig sein, wenn man Scheiße baut.«

Mir das zu sagen, war überflüssig.

»Nichts liebt die Presse mehr als einen Absturz«, sagt er. »Einen heldenhaften Cop, der sich als Niete entpuppt.«

Wieder etwas, das ich schon wusste.

»Diese Beamtenpension steht immer noch zur Debatte«, lockt er. »Ziehen Sie mit ein paar Dollar in der Tasche von dannen und leben Sie Ihr Leben weiter.«

»Und gehen Sie mir aus dem Weg«, ergänze ich für ihn.

»Das auch.«

Klar doch. Driscoll ist der Typ, der, ohne mit der Wimper zu zucken, Ballast über Bord wirft. Er würde die erstbeste Gelegenheit nutzen, um mich reinzulegen, wenn es ihm in den Kram passt. Und soweit ich weiß, geht es hier genau darum – ich soll scheitern.

Also muss ich einfach sicherstellen, dass ich nicht scheitere.

Ich schenke ihm ein breites Grinsen. »Ich nehme den Posten an, Mr Polizeipräsident, Sir. Eure Exzellenz.«

Er wirft mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Oh, mit dieser Einstellung werden Sie wirklich lange durchhalten, Sie Teufelskerl. Ihr Boss wird Sie lieben dafür.«

Dass die SOS gegründet wurde, wusste ich. Aber mir war noch nicht zu Ohren gekommen, wer sie leiten sollte.

»Wer ist mein Boss?«, frage ich.

4

Ich treffe mich mit meinem neuen Boss. Es ist derselbe wie der alte.

»Schauen Sie nicht so glücklich drein, mich zu sehen, Harney«, sagt Lieutenant Paul Wizniewski, während er auf dem nicht angezündeten Zigarrenstummel in seinem Mundwinkel herumkaut. Wiz’ Gesicht ähnelt einer Melone und wird von einem graumelierten Schnurrbart geziert. Was die Politik im Department angeht, hält er immer einen Finger in den Wind. Er hat ein Händchen dafür, scharfe Kurven im Straßenverlauf vorauszusehen, und achtet stets darauf, auf der richtigen Spur unterwegs zu sein. Das war immer ein Problem zwischen uns beiden, als ich unter ihm arbeitete. Ich neigte dazu, auf Risiko zu gehen, er wollte immer wissen, wessen Fell gerade geteilt wurde, bevor er eine Entscheidung traf.

Außerdem hat er mich mal wegen Mordes verhaftet. So viel dazu.

»Ich bin sprachlos«, sage ich ausdruckslos.

»Das wäre das erste Mal. Hören Sie«, sagt er, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und schaut mich über seinen chaotischen Schreibtisch hinweg an – er sitzt kaum eine Woche auf diesem Posten, in diesem funkelnagelneuen Büro an der Ecke von North und Pulaski, und schon stapeln sich die Akten so hoch, dass sie sich aufeinander zuneigen. »Es war todsicher nicht meine Idee, Sie zu uns zu holen.«

»Das höre ich heute nicht zum ersten Mal.«

»Tja, Sie werden es noch häufiger hören. Wenn Sie so viel Grips haben, wie ich denke, dann ist Ihnen das längst klar.«

»Ich glaube, das war jetzt ein Kompliment.«

Er kratzt sich am Bauch, etwas, das mitanzusehen ich niemandem empfehlen würde. »Hören Sie, was geschehen ist, ist geschehen. Für Sie war ich Abschaum. Ich weiß, dass es so ist, und das ist okay.«

»Ich hatte nicht vor, es abzustreiten.«

Er gluckst und schüttelt den Kopf. »Harney, meinen Sie etwa, weil man Ihnen in den Kopf geschossen und Ihnen einen Mord zur Last gelegt hat …«

»Sie haben das getan«, werfe ich ein.

Diese Bemerkung lässt ihn innehalten. »Tja, in den Kopf geschossen habe ich Sie nicht.«

Das stimmt. Bloß des Mordes beschuldigt.

»Okay«, räume ich ein. »Tja, dann mal danke, dass Sie mir nicht in den Kopf geschossen haben.«

»Gern geschehen.« Er beugt sich vor, stützt sich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und stößt dabei um ein Haar einen Styroporbecher mit Kaffee um. »Ich weiß, dass Sie ein guter Cop sind, Harney. Mag sein, dass ich mal einen Verdacht gegen Sie hegte, und mag sein, dass er falsch war …«

»Mag sein, dass er falsch war?«

Verärgert blickt er zur Decke. »Ich versuche gerade, Sie wissen schon, Frieden zu schließen in dieser Sache.«

»Eine neue Seite aufzuschlagen?«

»Ja.«

»Ein neues Kapitel?«

»Genau. Denn die Sache ist die, mein Freund: Wissen Sie, wofür die SOS steht?«

»Ja, Lew, das weiß ich«, antworte ich und benutze dabei den Spitznamen, dem wir ihm alle verpasst haben. »Sie steht für keine Scheiße bauen.«

Er zeigt mit dem Finger auf mich. »Genau dafür steht sie. Der Präsi ist kurz davor, wegen dieser Schießereien in der West Side seinen Job zu verlieren. Die Schwarzen dort draußen heulen rum, und unser neuer Bürgermeister ist ein großes Sensibelchen. Die SOS soll Fälle lösen, und zwar zackig. Und vor mir steht gerade ein Cop, der, unter normalen Umständen, genau der Richtige für diese Aufgabe wäre. Einer der Ersten, die ich auswählen würde, wenn ich ehrlich bin.«

»Aber die Umstände sind nicht normal«, wende ich ein.

»Richtig. Sie sind hier ein Parasit.«

»Ich glaube, das Wort, das Sie verwenden wollen, lautet Paria.«

Er starrt mich an, erlaubt sich sogar ein Lächeln. »Das ist es, ja. Okay, Mr Wort des Tages, dann hören Sie mir mal gut zu. Ich habe hier ein gutes Team. Einige der Besten der ganzen Stadt. Jeder von denen schaut Sie an und fragt sich dabei, ob Sie es wohl vermasseln werden. Also tun Sie’s nicht.«

»Werde ich nicht, Lew.«

Er nimmt die Zigarre aus dem Mund, was normalerweise bedeutet, dass er im Begriff ist, etwas Ernstes von sich zu geben. »Der einzige Weg, wie wir das Gemetzel da draußen stoppen können, besteht darin, die Morde aufzuklären. Wenn wir die Morde aufklären, dann glauben die Gangmitglieder nicht länger, sie könnten sich alles erlauben. Zeugen werden wieder anfangen, mit uns zu reden. Diese ganze Scheiße in der West Side wird aufhören. Weil diese Sondereinheit dafür sorgen wird, dass sie aufhört. Verstehen Sie, was ich sage?«

Er wartet vermutlich auf eine weitere witzige Bemerkung. Aber diese abgedroschenen Sprüche, diese Sprüche, wir wären hier, um die Guten zu beschützen, die einfach nur sichere Straßen wollen, die machen mich jedes Mal fertig. An jedem einzelnen Tag, an dem ich in bezahltem Urlaub war, auf meine Marke starrte und mich fragte, ob es sich lohnen würde, mit all der Last, die ich mit mir herumschleppe, in den Dienst zurückzukehren – jedes einzelne Mal musste ich nur daran denken, warum ich seit dem Tag, an dem ich laufen lernte, Cop werden wollte.

»Ich verstehe, was Sie sagen, Lew. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Er starrt mich so lange an, bis er davon überzeugt ist, dass ich es ernst meine. »Okay, Harney, gut. Dann wollen wir mal.« Er schaut auf seinen Schreibtisch und findet auf wundersame Weise die Akte wieder, die ihn beschäftigt hat, bevor ich hereinkam. »Oh, und, äh …« Abwesend und ohne aufzuschauen, wedelt er mit der Hand herum. »Ich entschuldige mich im Voraus für die Wahl Ihres Partners.«

5

Der SUV parkt am Bordstein der Cicero Avenue gleich nördlich der Schnellstraße, in der Nähe eines langgezogenen Backsteingebäudes, über dessen Fenstern das Wort MÖBEL prangt. Der Laden ist mit Brettern vernagelt und verrammelt. »Macht diese Scheiße aus«, raunt Disco, der allein auf der Rückbank sitzt, den Männern vorne zu, die unerträgliche Tanzmusik laufen lassen. »Oder … lasst sie nur bei euch auf den Boxen laufen.«

»Ich weiß nicht, wie man sie nach vorne verlegt.« Die beiden Männer auf der Vorderbank, wie Disco in abgerissenen Klamotten und mit Baseballmützen, fummeln an den Knöpfen der Stereoanlage herum, bemüht, herauszufinden, wie man die Musik im hinteren Bereich des Autos stumm schaltet.

»Dann stellt sie eben ganz ab!«, blafft Disco sie an, neigt den Kopf und tippt mit dem Finger auf seinen Ohrhörer.

»Der letzte Kunde ist gerade weggefahren«, sagt die Stimme in sein Ohr. »War viel los heute Morgen. Vor einer Stunde standen noch sechs Autos Schlange.«

»Und alle sind draußen?«

»Ja. Shiv sitzt mit dem Mädchen auf der Veranda.«

»Und du bist bereit für die Absicherung?«, fragt er.

»Bereit.«

Disco mustert die Männer auf der vorderen Sitzbank. Sehen wir aus wie drei Junkies? Nah dran, vermutet er – drei weiße Typen in Freizeitklamotten. Heutzutage gibt es sie in allen Formen und Größen. Süchtige tragen Geschäftsanzüge, Rollkragenpullover, trendige Klamotten, zerrissene Hemden, Jogginghosen. Sie arbeiten als Anwälte oder Wirtschaftsprüfer, sind Hausfrauen, Studenten oder Obdachlose.

Sehen sie zu sehr danach aus, als wollten sie wie Junkies aussehen? Was Disco angeht, so trägt er ein Sweatshirt, das er sich gestern in einem Sportartikelgeschäft gekauft und in dem er die letzte Nacht verbracht hat, damit es nicht zu frisch wirkt.

Er streckt die Arme aus und schüttelt sich die Nervosität vom Leib. »Okay, los geht’s.«

Die Männer vorn richten sich auf und überprüfen ihre Waffen. Einer der beiden schaltet die Musik ab. Der SUV – ein acht Jahre altes Modell mit verbeultem Kotflügel – fährt los und biegt in die Van Buren Street ab, vorbei an einem Mini-Markt, der mit Graffiti besprüht ist. Auf den Schildern wird für Zweiliterflaschen Limonade für neunundneunzig Cent, Lottoscheine, Marlboro und einen Geldautomaten geworben.

»Die haben Beobachtungsposten hinter der Gasse an der Kilpatrick, Nordseite.«

»Okay, Jungs«, verkündet Disco, »redet miteinander und lacht dabei. Macht den Eindruck, als wärt ihr unbesorgt.«

Disco lehnt sich zurück und mimt den Gelassenen. Er sieht drei afroamerikanische Mädchen, die auf dem Bürgersteig Seil springen und den SUV beäugen, als dieser vorbeifährt. Davon abgesehen liegt die Van Buren um diese Tageszeit still in der nachmittäglichen Sonne, erscheint geradezu friedlich trotz der verfallenen Häuser und den mit Abfall übersäten unbebauten Grundstücken.

Seine Partner vorn im Wagen tun, was er ihnen aufgetragen hat. Sie flachsen herum, versuchen zu grinsen – was ihnen besser gelingt, als er erwartet hätte –, während der SUV in die Kilbourn einbiegt.

»Absicherung bereit?«, flüstert Disco in seine Sprechmuschel.

»Bereit.«

Und los geht’s.

Disco nimmt seine Ohrhörer ab und wirft sie auf den Boden im Fond des Wagens.

Der SUV rollt auf der Kilbourn Richtung Norden. Die Männer vor ihm verstummen. Discos Puls hämmert wie eine Basstrommel. Sie passieren eine Gasse, eine Reihe Backsteinhäuser, einen Müllcontainer. Das Fahrzeug hält an der linken Straßenseite an, ganz in der Nähe des zweistöckigen Backsteinhauses, auf dessen Veranda Shiv mit dem Mädchen hockt. Auf dem Bürgersteig lungert ein Mann in einem schlabberigen Trikot der Chicago Bears herum beziehungsweise tut so, als lungerte er herum. Er schaut zur Veranda hoch, zu Shiv, der sein Nicken erwidert. Dann schlendert er zum SUV hinüber.

»Lass die Scheibe runter«, weist Disco den Fahrer an und wappnet sich.

»Was geht ab, Jungs?«, sagt der Mann, der knapp einen Meter entfernt stehen bleibt, leicht heruntergebeugt.

Disco dreht den Kopf langsam in Richtung der Veranda. Shiv, der ein enganliegendes schwarzes Hemd trägt, lange Basketballshorts und High-Top-Sneaker, sitzt auf einer Stufe zur Veranda. Das Mädchen, das ein zu langes und eine Schulter entblößendes T-Shirt anhat, sitzt neben ihm, die Arme um die Knie geschlungen.

Warte, bis das Geld den Besitzer wechselt.

Der Fahrer händigt Geldscheine aus. Der Mann streicht sie ein, steckt sie sich in die Tasche und wendet sich dann zur Seite, um ihnen zu zeigen, wohin sie fahren sollen, um das Heroin abzuholen: die Straße hoch und um die Ecke.

Die Bargeldtransaktion ist abgeschlossen, und während der Mann noch die Straße hinaufweist, hebt Disco den rechten Fuß und mit ihm die AR-15 in seinen Händen. Ohne Kopf oder Schultern zu bewegen und damit einen warnenden Hinweis zu liefern, klemmt er seinen Finger hinter den Abzug.

Er lässt die Scheibe hinuntergleiten, schiebt den Lauf aus der Öffnung und fängt an zu feuern.

Die Kugeln durchschlagen die Veranda, zersplittern das Holz und zerreißen Shiv und dem Mädchen die Brust, bevor die beiden reagieren können. Sie lassen die Fensterscheibe hinter ihnen zerbersten und durchlöchern die Hauswand.

»Los, los!«, hört er sich selbst rufen, als der SUV auch schon ausschert und Richtung Norden davonrast.

6

Ich bahne mir meinen Weg durch den Teamraum. Er ist schön hell, hat hohe Decken, auf jedem Arbeitsplatz steht ein brandneuer Laptop, einer für jeden der Detectives, die im letzten Monat aus unseren fünfundzwanzig Bezirken hierherbeordert wurden. Während ich mich umschaue und ein paar bekannte Gesichter ausmache, komme ich mir ein bisschen vor wie an meinem ersten Schultag. Einige nicken mir zu, machen aber keine Anstalten, mehr als das zu tun. Andere wenden ihren Blick ab. Ein paar schürzen die Lippen oder ziehen die Augenbrauen hoch.

Nicht gerade der herzlichste Empfang, aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Ich bin ein Cop, der andere Cops zur Strecke gebracht und einen Skandal aufgedeckt hat. Cops sind im Allgemeinen ein eingeschworener Haufen mit einem Wir-gegen-sie-Korpsgeist, der noch nie so spürbar war wie jetzt, da die Presse routinemäßig unsere Praktiken infrage stellt, Bürger mit Handys versuchen, uns zu einer Dummheit für das YouTube-Publikum zu provozieren, und wir gezwungen sind, jedes Mal Berge von Papierkram auszufüllen, wenn wir jemanden gefilzt oder die Dienstwaffe aus dem Holster gezogen haben. Es ist schon schlimm genug, wenn so eine Scheiße von außerhalb unseres eingeschworenen Vereins von Brüdern und Schwestern kommt. Aber wenn der Schaden von einem von uns – von mir – angerichtet wird, will man instinktiv den Judas aus den eigenen Reihen vertreiben.

Wie dem auch sei, mein Motto lautete immer: Mach einfach deinen Job.

»Entschuldigen Sie, Sir, hier haben nur Polizisten Zutritt!«

Ich habe schon ein Grinsen im Gesicht, bevor ich mich umdrehe und Detective Lanny Soscia mir seinen kräftigen Arm um den Hals legt, um mich in den Schwitzkasten zu nehmen. Ich kenne Sosh, seit wir zusammen als Kadetten auf der Akademie waren. Wir fuhren zusammen Streife, bekamen zeitgleich und in derselben Abteilung unseren ersten Posten als Detectives. Er war an meiner Seite, als mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Beide Male, genau genommen: zuerst, als vor vier Jahren meine Frau und meine Tochter starben, dann erneut im vergangenen Jahr, als ich mich wie in einem Spinnennetz verfing – fast durch einen Kopfschuss umkam, dann wegen Mordes angeklagt wurde und schließlich meinetwegen hochrangige Beamte umfielen wie die Dominosteine.

»Nun schau sich mal einer diesen Detective in unserer neuen Eliteeinheit an«, sagt er, nachdem er mich wieder losgelassen hat. »Damit meine ich natürlich mich selbst. Wie bist du bloß hier hereingekommen?«

»Dafür muss ich dem Präsi einmal die Woche die Schuhe polieren«, erwidere ich.

»Und das ist alles, was du ihm polierst?«

Jemand ruft Soshs Namen. Er verpasst mir einen Schlag auf die Brust und weist dann mit dem Finger auf mich. »Halte hier mal ein Weilchen das Tempolimit ein, ja?«

Ich nicke. Das ist ein guter Rat. Ich werde mich vorsichtig verhalten, bis ich die Lage gepeilt habe.

Ich erspähe meinen Schreibtisch weiter hinten und komme auf dem Weg dorthin an Kollegen vorbei, die mich beäugen, bevor sie plötzlich in ein Gespräch vertieft scheinen oder von ihrem Telefon fasziniert sind. Die Frau, die auf dem Schreibtisch neben meinem eine Kiste abstellt, ist ungefähr in meinem Alter. Mitte dreißig, fast schulterlanges krauses braunes Haar, dunkelhäutig und mit Sommersprossen auf den Wangen. Gemischtrassig, denke ich. Oder Latina? Auf gar keinen Fall werde ich sie danach fragen.

»Detective Harney«, sagt sie und wendet sich mir zu.

»Hey, so heiße ich auch!«

Blinzelnd schmettert sie den harmlosen Witz ab. Kein Lächeln. »Detective Griffin«, stellt sie sich vor, nüchtern wie eine Bestatterin. »Carla Griffin.«

Ich schüttele ihre Hand. »Ich habe bloß … herumgealbert. Kannst Billy zu mir sagen.«

»Gut«, erwidert sie.

Und ich kann Carla zu dir sagen? Nein? Nichts dergleichen?

»Ich freue mich darauf, mit dir zusammenzuarbeiten«, sagt sie mit einem Grad von Begeisterung, der mir verrät, dass sie sich auf eine Wurzelbehandlung mehr freuen würde. Ich habe schon Statuen gesehen, die lebendiger wirkten.

»Ich auch. Also … woher kommst du?«

»Aus dem Zweiten«, antwortet sie. »Wentworth.«

»Schön.« Als ich merke, dass sie ihrerseits keine Informationen von mir haben will – wahrscheinlich, weil sie schon alles weiß –, klatsche ich in die Hände. »Tja, dann lass uns mal das Beste aus der Sache machen. Ich glaube, wir können da draußen echt etwas bewirken.«

»Das ist mein Plan«, bestätigt sie. »Und auch deiner, hoffe ich.«

Sie hält ihren Blick auf mich gerichtet.

»Ist es«, antworte ich. »Das sagte ich gerade.«

»Aber ich hoffe, du meinst es auch so.«

»Hast du Grund zu der Annahme, dass es nicht so ist?«

Komm wieder runter, Junge. Du wusstest, dass die Reaktion so ausfallen könnte.

Sie geht zurück zu ihrer Kiste, zieht gerahmte Fotos und Arbeitsmaterialien heraus und verteilt alles sorgfältig auf ihrem Schreibtisch. Unter den Fotos sticht das eines kleinen Jungen hervor. Ein Mann ist allerdings nicht dabei. Vielleicht hat sie es nicht mit Männern. Wieder etwas, wonach ich sie auf keinen Fall fragen werde.

»Lass uns einfach … versuchen, so gut wir können, damit umzugehen«, sagt sie.

Oh-kay.

Ich habe keine Kiste mit Sachen bei mir. Ich wusste nicht, wohin ich versetzt werden würde. Eigentlich dachte ich, um diese Zeit würde ich auf einem Pferd hocken oder mit einer Trillerpfeife im Mund an der Ecke von Clark und Huron herumstehen oder hinter einer Käfigtür Beweismaterial inventarisieren.

Alles, was ich dabeihabe, ist ein Fläschchen Ibuprofen. Ich leide oft unter Kopfschmerzen, nachdem man mir die Kugel verpasst hat. Anfälle habe ich bisher keine, auch wenn sie mir in Aussicht gestellt wurden – es könnte noch ein Jahr später dazu kommen, das weiß man nie –, aber fast jeden Tag Kopfschmerzen schon.

Sie platziert alles nacheinander auf ihrem Schreibtisch. Bei jedem Gegenstand, den sie abstellt, entsteht ein kleines, dumpfes Geräusch, das ihren Gemütszustand deutlich macht.

»Kann ich dich was fragen?«, sage ich. »Wie oft hast du das hier abgelehnt? Ich meine, mein Partner zu werden?«

Sie schüttelt den Kopf. Sie hat ein Grinsen aufgesetzt, schaut mich aber nicht an. »Niemand hat mich nach meiner Meinung gefragt.«

»Aber gesagt hast du sie trotzdem«, erwidere ich. »Wie oft?«

Sie schiebt die Schublade krachend zu, dreht sich um und schaut mich an. Ihr Gesichtsausdruck spiegelt ihren Unmut wider.

»Harney! Griffin!« Lieutenant Wizniewski steht in seiner Bürotür und winkt uns heran.

Ich blicke mich zu meiner neuen Partnerin um. Wir eilen zu Wiz’ Büro.

»Dreimal«, sagt sie zu mir, bevor wir eintreten.

»Eine Schießerei in K-Town«, sagt Wizniewski. »Vier Opfer. Ihr beide werdet den Fall übernehmen. Harney ist der Vorgesetzte.«

»Alles klar, Lew«, sagt Griffin.

»Üble Geschichte«, sagt er. »Diese Sache wird richtig übel werden.«

7

Wir rasen über die mit Schlaglöchern übersäten Straßen der West Side zum Tatort. Die breiten Boulevards, an denen früher der Handel florierte, sind heute gesäumt von Gebäuden, die mit Brettern vernagelt wurden, Kleinkredit- und Ramschläden, Schnellimbissen, Spirituosenmärkten und Tankstellen. Keine Kaufhäuser, nichts Anspruchsvolles. Die West Side war einmal eine Enklave der Wohlhabenden – dann kamen die Einwanderer, dann die Migration der Schwarzen aus dem Süden –, bevor sie im Lauf der Jahrzehnte von einem wirtschaftlichen Abschwung nach dem anderen heimgesucht wurde. Fachkräfte und Akademiker verzogen sich und hinterließen ein Skelett aus Armut und Verzweiflung, Kriminalität und Arbeitslosigkeit.

K-Town ist eines der Viertel mit den meisten Gewaltverbrechen der West Side. Hier kreisen die Gangs wie die Aasgeier, hier geht es in Sommernächten zu wie bei einer Schießbudenveranstaltung.

Allerdings fand diese Schießerei am helllichten Tag statt.

Wir parken auf der Van Buren gleich östlich der Kilbourn Avenue und kurz vor der Polizeiabsperrung. Schon jetzt geht es hier zu wie im Zoo, die Anwohner strömen aus ihren Häusern, um sich das Spektakel anzusehen, und ein paar Reporter, die ich wiedererkenne, sind auch schon vor Ort. Okay, werden sich diese Medienheinis bald sagen, dann schauen wir uns doch mal an, wie gut diese SOS-Einheit wirklich ist.

Nicht, dass wir noch mehr Feuer unter dem Arsch bräuchten – hier dürften an die dreißig Grad herrschen, und die nachmittägliche Sonne lässt alle schlappmachen. Unter anderen Umständen würde ich mein Sportsakko wohl ablegen.

Eine Beamtin aus dem Streifendienst, eine Frau namens Bryant, schnappt sich uns, als wir die Absperrung erreichen. »Hey, Billy!«, begrüßt sie mich.

»Hey, Mary. Detective Carla Griffin, Mary Bryant«, stelle ich die beiden einander vor.

In diesem Moment trifft die Spurensicherung ein, um Beweismarkierungen aufzustellen.

»Es war eine Schießerei im Vorbeifahren«, konstatiert Bryant.

So ist es. Also werden wir an diesem Tatort außer Kugeln und Patronenhülsen nicht viel an Beweismaterial finden. Wir treten in den Schatten eines Baumes auf der östlichen Seite der Kilbourn, überqueren die Straße und erreichen das Haus, wo es passiert ist, ein zweigeschossiges Backsteingebäude. Wir ducken uns unter dem gelben Absperrband hindurch und bleiben stehen, um uns ein Bild vom großen Ganzen zu machen.

Ein Afroamerikaner mit Dreadlocks in einem Trikot der Bears und langen Shorts liegt bäuchlings in einer Blutlache auf dem Bürgersteig; sein lebloser Blick nimmt die Fliegen nicht wahr, die um ihn herumschwirren. Er trägt die Rückennummer 22, die unser alter Runningback Matt Forte getragen hat, aber die Kugeln haben mindestens ein halbes Dutzend Löcher in das Trikot gerissen. Am Nacken lugt das Tattoo einer Schlange hervor, die sich um eine Machete windet.

»Ein Hustler«, sage ich.

»Mit Namen Stanley Wilson«, erklärt Bryant. »Nannte sich Frisk. Ja, er war ein Hustler. Untere Ebene. Beobachtungsposten, Strohmann, Kurier, jemand, der Befehle entgegennahm.«

»Hat er sich dem Wagen genähert?«, fragt Carla. »Sollte das hier ein Drogenkauf werden?«

»Wahrscheinlich«, sagt Bryant. »Drogen hatte er keine bei sich, aber in seiner Tasche steckten ein paar Zehner und Zwanziger. Also war er das Zahlfenster.«

»Und wo ist das Abholfenster?«, will Carla wissen.

Bryant erlaubt sich ein grimmiges Lächeln. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihre Siebensachen für heute zusammengepackt haben. Aber ihr wisst ja, wie das läuft. Es war vermutlich um die Ecke, auf der Strecke zurück zur 290. Ich habe mir erlaubt, Officers die Kilbourn und die Van Buren rauf und runter zu schicken – ich gehe davon aus, das war in eurem Sinn.«

»Ja, klar, Mary, danke«, sage ich, bevor Carla irgendetwas von wegen Befehlskette einwenden kann.

Das wäre also das erste Opfer. Es gibt noch drei weitere.

Vorsichtig umgehen wir die Leiche im Bears-Trikot und treten näher an die Veranda. Auf der rechten Seite, von uns aus betrachtet, ist das dunkle Holz gesplittert, übersät mit Einschusslöchern und Blutspritzern. Auf der obersten Stufe befindet sich eine große Blutlache.

»Der Mann, der auf der Verandatreppe saß, war Dwayne Sears«, informiert uns Bryant. »Nannte sich Shiv. Er liegt im OP des Loretto. Mehrere Schusswunden in der Brust. Keine Ahnung, wie seine Chancen stehen. Er war Leutnant bei den Hustlers. Er war derjenige, welcher.«

Und er war wahrscheinlich der Grund für den Überfall. Wer immer das hier getan hat, hat es nicht wegen des Kuriers auf dem Bürgersteig getan. Shiv muss das Ziel gewesen sein. Und doch ist er der Einzige, der überlebt hat, bis jetzt jedenfalls.

Das dritte Opfer liegt mit unnatürlich gespreizten Gliedmaßen neben ihm, eine junge Weiße. Ihre blonden Haare sind immer noch zu einer Art modischer Hochsteckfrisur drapiert, während ihr Kopf auf der obersten Stufe ruht, ihre toten Augen ins Jenseits blicken und ihre Lippen ein kleines O formen. Sie trägt ein weißes T-Shirt in Übergröße, das ihr bis zu den Oberschenkeln herabfällt.

Wir beugen uns über sie. Sie ist jung, spätes Teenageralter oder Anfang zwanzig, und unnatürlich dünn, was auf Unterernährung hinweist. Vier blutige, klaffende Wunden dort, wo die Kugeln ihre Brust zerfetzt haben. Einstichstellen auf ihren dürren Armen. Um ihren Hals hängt eine Kette, an der ein Amulett baumelt, das wie eine Art Schäferhund aussieht. Eine vergoldete Uhr mit der Aufschrift CHANEL auf dem Ziffernblatt, sicher ein Imitat, das sie für ein Hundertstel des Original-Ladenpreises auf der Straße erworben hat. Und über ihrem Fußknöchel prangt das kleine Tattoo einer schwarzen Blume.

Ich unterdrücke den Drang, sie zu bedecken, die summenden Fliegen zu verscheuchen.

»Sie hat keine Ausweispapiere bei sich«, informiert uns Bryant. »Jemand glaubt, sie hieß Evie, ist sich aber nicht sicher.«

Nach der Richtung der Einschusslöcher in der Veranda zu urteilen, saß das Mädchen vermutlich neben Shiv, als der Schütze vorbeifuhr. Und nach ihrer Position zu urteilen, dürfte sie kaum eine Chance gehabt haben, sich wegzubewegen, bevor die Kugeln ihren Körper durchsiebten. Sie war tot, bevor sie wusste, was geschah.

Aus dem Haus dringt das gequälte Heulen einer Frau.

Carla und ich schauen einander an. »Bereit?«, frage ich.

Sie geht voran, während wir uns wappnen, das vierte Opfer zu inspizieren.

8

Wir betreten das Haus: knarrender Massivholzboden, nicht zueinander passende, angeschlagene Möbel.

Eine Afroamerikanerin Anfang zwanzig, Janiece Moreland. Ihr rinnen Tränen über die Wangen, während sie ihr Töchterchen in den Armen wiegt, als wäre es ein Neugeborenes und keine Vierjährige. Der Kopf des kleinen Mädchens – LaTisha, sagt man mir –, ruht im Schoß ihrer Mutter. Ihr Haar ist zu Zöpfen geflochten, sie ist pausbäckig und trägt ein rotes T-Shirt, auf dessen Vorderseite so etwas wie ein großes Eichhörnchen abgebildet zu sein scheint. Ihre Augen sind friedlich geschlossen, ihre Lippen geschürzt, so als ob sie jemandem einen Luftkuss zuwerfen wollte. Sie sähe aus wie ein Kind, das auf dem Schoß seiner Mutter schläft, wäre da nicht die dunkle, breiige Wunde in ihrem Kopf, dort, wo die Kugel eingedrungen ist. Die weiße Wand hinter den beiden ist mit Blut und kleinen Stückchen Gehirns der kleinen LaTisha bespritzt.

Ich öffne den Mund, bekomme aber nichts über die Lippen.

»Ms Moreland«, spricht Carla sie an. »Ich bin Detective Griffin, und das ist …«

Ein verzerrter Schrei der Mutter, neuerliche Tränen. »Sie werden mir mein Baby nicht wegnehmen! Niemand nimmt mir mein Baby weg!« Sie lässt ihre Wange auf die ihrer toten Tochter sinken, auf dieses engelhafte Gesicht.

Erst spüre ich es in meiner Brust, die zu glühen scheint, dann ist da ein dumpfes Pochen zwischen meinen Ohren, Schweiß bricht mir aus jeder Pore, in meinem Kopf tauchen die Bilder auf …

Die Erinnerungen an das Geschehen vor vier Jahren:

Im Krankenhaus riecht es nach Jod und Bleiche. Das leise Piepen, Rauschen und Gurgeln der Maschinen, die sie am Leben erhalten.

Ihre Hand, die in der meinen verschwindet. Mein gemurmeltes Flüstern: Komm schon, du kannst es schaffen, wach auf, Schätzchen, bitte wach auf.

Wissend, dass sie nie mehr aufwachen wird.

Ich flehte Gott an, sie mir zurückzubringen. Bettelte und flehte und feilschte mit Ihm. Nimm mich an ihrer Stelle. Beschimpfte und bedrohte Ihn. Wie konntest du meine dreijährige Tochter sterben lassen?

Ein Ellbogen stößt gegen meinen Arm. Das Gesicht meiner Tochter löst sich in der Vergangenheit auf. Wie aus einem Traum hochgeschreckt, wende ich mich Mary Bryant zu. Sie hat besorgt die Stirn in Falten gelegt, nickt mir kurz zu, wie um zu sagen Nimm dich zusammen.

Ich reiße mich zusammen, erwidere das Nicken und hole tief Luft. Ich bin in die Vergangenheit und wieder zurück gereist, aber mein Körper steht nach wie vor dort, neben Carla, die in die Hocke gegangen ist und in gedämpftem Ton auf die Mutter einredet, die Mühe hat, inmitten erstickter Atemzüge Antwort zu geben.

Ich wische mir mit dem Arm über die schweißnasse Stirn, nutzlos und auf wackeligen Beinen, ein Zuschauer bei meinen eigenen Ermittlungen. Ich nehme erst spät an der Befragung teil, bekomme aber das Wesentliche aus der Erzählung der Mutter mit. Sie war bei der Arbeit, ließ LaTisha hier bei Shiv zurück, ihrem Freund. Bekam einen Anruf, dass sie nach Hause kommen solle, und hat ihre Tochter seitdem nicht mehr losgelassen.

Ich folge Carla und Mary nach draußen. An der frischen Luft fühle ich mich besser, ganz gleich, wie schwül und feucht sie ist. Ich hoffe, dass mein neuer Partner nicht bemerkt hat, dass ich da drinnen von meinen Erinnerungen übermannt wurde. Die Meinung, die sie von mir hat, ist jetzt schon schlecht genug.

»Arme Frau«, kommentiert Bryant. »Keiner hat es übers Herz gebracht, ihr das tote Kind aus den Armen zu nehmen.«

Ich sehe Detective Soscia und seinen neuen Partner unter dem gelben Band durchschlüpfen und auf unseren Tatort zusteuern. Das ist gut. Ich könnte bei diesem Fall ein weiteres freundliches Gesicht brauchen.

»Der einzige Augenzeuge liegt also im OP und ringt mit dem Tod«, fasse ich zusammen.

Bryant nickt. »Wir können nur hoffen, dass einer der Nachbarn etwas gesehen hat. Nimmt jemand Wetten an?«

Ihre Skepsis ist nicht von der Hand zu weisen – wir werden jede Menge Hab nix gesehen bei unseren Befragungen zu hören bekommen. Aber es gibt auch Leute hier draußen, die nicht inmitten dieser Gewalt leben wollen und sich aus dem Fenster lehnen werden, auch wenn sie das selbst in Gefahr bringt. Wir müssen sie bloß ausfindig machen.

»Haltet uns auf dem Laufenden, was die Befragungen ergeben«, sage ich zu Mary. »Ein paar werden wir selbst vornehmen.«

»Wird gemacht.« Mary geht vorsichtig die Verandastufen hinunter.

Ich schaue Carla an, die gerade Tränen wegblinzelt. Also war ich wenigstens nicht der Einzige, dem das hier an die Nieren ging. »Beide Mädchen waren Kollateralschäden«, konstatiert sie, räuspert sich und weist mit dem Kopf auf die junge Frau, die auf den Verandastufen liegt. »Und der Kurier war sicher auch nicht das Ziel. Es muss ein Anschlag auf Shiv gewesen sein.«

»Sieht so aus, ja. Warum also einen Leutnant der K Street Hustlers ermorden?«

Sie zuckt mit den Schultern und schaut auf die Straße. »Wir können nur hoffen, dass er jemandem Geld schuldete oder die Braut ausgespannt hat.«

Das würde es leichter machen, wenn dieser ganzen Nummer hier persönliche Gründe zugrunde lägen. Vielleicht war LaTishas Mutter ja früher mit einem anderen Kerl zusammen gewesen, der nicht besonders erfreut war, als Shiv sie ihm ausgespannt hat.

Aber Carla glaubt das nicht. Und ich auch nicht.

Nein, es scheint bei dem Anschlag nicht um etwas Persönliches zu gehen. Das sieht nach etwas Geschäftsmäßigem aus.

Wenn aber die Gangs dahinterstecken und um ein Revier kämpfen, ist das hier bloß der erste Schuss in einer lange währenden, blutigen Schlacht.

9

Dieser Fall ist anders, das merken wir sofort.

Es gibt jede Woche Dutzende von Schießereien in der Stadt, jeden Montagmorgen ähnliche Schlagzeilen – 19 TOTE AM BLUTIGEN WOCHENENDE – neben Konterfeis von Bürgermeister und Polizeipräsident, die grimmig dreinblicken. Wir seufzen auf vor Verzweiflung und nuscheln vor uns hin, jemand müsse wirklich mal was unternehmen, bevor wir uns die zweite Tasse Kaffee einschenken. Am nächsten Wochenende dasselbe in Grün. Keine Namen, keine Gesichter. Bloß ein Haufen toter Schwarzer in der West Side.

Aber das hier ist eine andere Hausnummer. Innerhalb einer Stunde ist die Menschenmenge angeschwollen, füllt jetzt die Straßen eines ganzen Blocks in alle Himmelsrichtungen. Megafone und Sprechchöre: Gerechtigkeit für LaTisha! Übertragungswagen stehen an jeder Absperrung, TV-Helikopter schwirren am Himmel über uns.

Denn dieses Mal hat es ein pausbäckiges kleines Mädchen erwischt. Perfekt für die Medien. Jemand hat bereits ein Foto von LaTisha organisiert, in gerüschtem Chiffon-Kleid, mit Zöpfen und einem strahlenden Lächeln, das jetzt überall auf den Handydisplays zu sehen ist.

Rund um den Tatort ist es brechend voll. Wir versuchen, Ordnung zu schaffen, herauszufinden, ob irgendwer irgendwas gesehen hat. Aber es ist, als versuchte man, auf einer überfüllten, klebrigen Tanzfläche einen verlorenen Penny zu ertasten. Unsere Officers gehen für die Befragung von Haus zu Haus, aber sie treffen niemanden an, alle haben sich der Menge draußen angeschlossen.

Niemand hat etwas gesehen. Beziehungsweise alle wollen alles gesehen haben.

Es waren die K Street Hustler. Die Jungs vom Clark Park. Die Kerle, die für ihr Dope aus den Vorstädten herkommen. Jemand will einen roten Sportwagen gesehen haben. Ein anderer einen blauen SUV. Es waren drei Mexikaner. Sie waren Afroamerikaner. Es waren zwei weiße Typen. Wahrscheinlich waren’s die Cannibals oder die Jackson Street Crew oder die Nation oder die Disciples oder irgendwelche korrupten Cops, die sauer waren, weil sie letzte Woche ihr Schmiergeld nicht bekommen haben.

Eine Frau zetert herum wegen des Einbruchs in ihrem Haus vor zwei Wochen, als die Cops mehr als eine Stunde brauchten, um aufzukreuzen. Ein alter Mann sagt mir, wir sollten Sackgassen anlegen, wie es in der South Side geschieht, um Schießereien aus fahrenden Autos heraus zu erschweren.

Carla beendet gerade eine Befragung. Ich schaue zu ihr hinüber, als sie eine Hand in ihre Hosentasche gleiten lässt. Sie kommt als Faust wieder heraus, die sie sich zum Mund führt, so als ob sie husten würde, doch stattdessen schiebt sie sich etwas zwischen die Lippen, bevor sie die Hand wieder zur Tasche hinabgleiten lässt. Sie blickt sich um, fängt meinen Blick auf, wirkt, als hätte ich sie bei etwas erwischt. Aber bei was? Was hat sie sich da in den Mund gesteckt?

Ein Hustenbonbon? Ein Aspirin? Mein Gott, sag mir bloß nicht, Carla ist tablettenabhängig. Hat Wizniewski das gemeint, als er sagte, er entschuldige sich im Voraus für meinen Partner?

Was wollen wir?

Gerechtigkeit für LaTisha!

Wann wollen wir sie?

Jetzt!

Mir brummt der Schädel, was es mir dank gleißendem Sonnenschein und ein paar Hundert Menschen, die skandieren und schreien, nicht leichter macht, Zeugenaussagen aufzunehmen.

Detective Soscia, rot im Gesicht und verschwitzt, packt mich am Arm. »Wir haben Bilder von den Überwachungskameras«, brüllt er mir ins Ohr. Er meint die Verkehrsüberwachungsanlagen überall in der Stadt. »Eine ist auf der Kilpatrick nördlich von hier beim Park. Eine bessere in der Nähe von Kolmar und Van Buren. Direkt um die Ecke.«

Das könnte eine Spur sein. Von diesen Leuten hier kriegen wir nichts. Wir können von Glück reden, wenn ihre ganze Wut und Frustration nicht zu Ausschreitungen führt.

»Schauen wir uns das mal an!«, brülle ich zurück.

»Wir stehen verdammt unter Druck bei diesem Fall, Billyboy«, erklärt Sosh. »Wir müssen ihn bis gestern gelöst haben.«

10

»Wenn ihr Informanten habt, knöpft sie euch vor«, weise ich die Detectives und Uniformierten im Raum an. »Wenn ihr neue Informanten braucht, dann nehmt irgendwen hoch wegen was auch immer und dreht ihn um. Sagt ihnen, das Chicago Police Department veranstaltet einen Ramschverkauf, 99 Prozent Rabatt auf die zu erwartende Strafe für Informationen, die zu einer Festnahme führen. Leitet alle Informationen an Soscia oder Officer Bostwick weiter. Und steckt den Leuten auch die Nummer der Hotline.«

»Bandenkriminalität«, sage ich. »Haben wir einen verdeckten Ermittler bei den K Street Hustlers?«

Keiner weiß es. Die SOS ist eine neu geschaffene Einheit, gerade erst gegründet, nicht lokal. Aber wahrscheinlich haben die Cops im Elften einen verdeckten Ermittler in der Gang.

Ein Typ namens Jimenez ruft: »Von Verdeckten weiß ich nichts, aber ich kriege es heraus.«

»Super – machen Sie das«, sporne ich ihn an. Keiner sollte eine bessere Idee davon haben, wer die Hustlers angegriffen hat, als die Hustlers selbst.

Ich schaue auf meine Uhr. Es ist fast fünf.

»Morgen früh Punkt acht Uhr treffen wir uns wieder hier im Raum. Von acht bis fünf, jeden Tag, bis wir den Fall aufgeklärt haben. Aber die Sache hier haben wir morgen vom Tisch, oder?« Tja, wohl kaum, aber nicht, weil wir es nicht versucht hätten.

Lieutenant Wizniewski tritt vor und stellt sich in die Mitte des Raums. »Genau deswegen seid ihr hier«, verkündet er an alle gerichtet. »Dieser Fall ist der Grund, warum wir die SOS gegründet haben. Die Anwohner haben bereits eine Protestkundgebung geplant, übermorgen auf der Daley Plaza. Pater Pfleger wird sprechen, Jesse Jackson – sogar Reverend Ali fliegt extra dafür ein. Also sollten wir den Fall bis dahin gelöst haben, Ladys und Gentlemen.«

Die Versammlung zerstreut sich. Wiz nimmt mich ins Visier. »Klären Sie den Fall auf, Detective.«

»Klar, werden wir, Lew.«

Das rede ich mir ständig ein. Ich war lange raus aus dem Geschäft nach der Schießerei, der Genesung und schließlich der klitzekleinen Mordanklage gegen mich. Ich habe Rost angesetzt. Ich glaube zwar, ich habe es noch drauf, aber man kann nie wissen. Bis du wieder voll drinsteckst, kannst du dir nicht wirklich sicher sein.

Die Ärzte schwören mir hoch und heilig, dass ich von der Schießerei keine bleibenden Schäden davongetragen habe. Stimmt wohl auch, von den Kopfschmerzen mal abgesehen. Zumindest keine sichtbaren. Arme und Beine funktionieren gut, die Reflexe scheinen in Ordnung zu sein. Ich kann mit meiner Glock immer noch ein Ziel treffen. Ich spreche nicht undeutlich, mir hängt keine Gesichtshälfte schlaff herunter. Aber ich bin ein generalüberholtes Modell, und ich habe noch nie ein Autowrack gesehen, das nach dem Flottmachen wieder wie neu war. Das hier ist ein super Fall für meine erste Testfahrt.

Aber ich werde mir meine Befürchtungen nicht anmerken lassen. Das darf ich nicht. Zeigt man Angst, Zweifel, Unsicherheit, dann ist man ein Niemand auf der Straße oder hier in diesem Haus.

Mein Telefon summt in meiner Tasche. Eine neue SMS:

Spann mich nicht auf die Folter!

Sie stammt von meiner Schwester, Patti, ebenfalls Detective beim CPD. Ich hatte versprochen, ihr Bescheid zu geben, wenn ich meinen neuen Posten antrete. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich bei ihr zu melden. Sie bombardiert mich schon den ganzen Tag mit Textnachrichten. Wie heißt dein Pferdchen? Sag einfach Nein zum illegalen Linksabbiegen. Schülerlotsen sind auch nur Menschen! Echt Mut machende Sprüche.

Du wirst es nicht glauben, simse ich zurück. SOS.

Nie im Leben, antwortet sie.

Ja, so habe ich auch reagiert.

Die Mitglieder der leitenden Teams – Carla und ich, Soscia und sein Partner Mateo Rodriguez – gehen Richtung Mats Schreibtisch, wo er auf seinem Computer das Videomaterial der Überwachungskameras abspielt.

»Shiv ist tot«, informiert uns Mat. »Hat die OP nicht überlebt.«

Na toll. Noch ein Todesopfer. Noch eine potenzielle Spur verloren.

Als wir vor seinem Schreibtisch stehen, zeigt Sosh uns, was er gefunden hat. »Das muss er sein«, sagt er. »Das muss der Wagen sein.«

Sosh und Mat sind die Videoaufnahmen durchgegangen. Eine Kamera an der Ecke Cicero und Van Buren, eine auf der Van Buren in der Nähe der Kilbourn. Was Besseres werden wir nicht zu sehen bekommen.

Höchstwahrscheinlich sind die Schützen von der Cicero Avenue gekommen, auf der Van Buren Richtung Osten gefahren und links in die Kilbourn abgebogen. Auf diese Weise kaufen die Vorstädter ihr Heroin, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Heroin-Highway ist ein florierendes Geschäft.

Die Aufnahmen der Überwachungskameras sind schwarz-weiß, ruckelig – die Kamera ändert alle drei Sekunden ihre Ausrichtung – und körnig. Wir können also Fahrzeuge sehen, nicht aber deren Farbe erkennen. Wir sehen bestenfalls Ausschnitte der Nummernschilder. Und in der Regel sind auch die Insassen der Fahrzeuge nicht zu erkennen.

Trotzdem nehmen wir fünf Wagen in die nähere Auswahl. Sosh glaubt, es ist der letzte der fünf, aufgenommen von der Van-Buren-Überwachungskamera, nur vier Minuten bevor bei uns der erste Notruf wegen der Schießerei einging. Wahrscheinlich hat er recht.

»Das ist ziemlich sicher ein Toyota 4Runner«, mutmaßt Rodriguez. Wie ich stammt auch Detective Mateo Rodriguez aus einer Polizistenfamilie. Bis heute bin ich ihm weder begegnet oder habe von ihm gehört, aber Sosh meint, Mat komme aus gutem Haus, und Sosh hat überall seine Quellen. 

Was mich betrifft, gebe ich anderen normalerweise einen Vertrauensvorschuss und denke das Beste von ihnen, bis sie mir einen Grund geben, es nicht zu tun, was normalerweise etwa zehn Minuten dauert.

»Lass uns das mit gestohlenen Fahrzeugen und Zulassungsbescheinigungen abgleichen.«

»Puh, wieso bin ich da bloß nicht selbst drauf gekommen?« Sosh grinst. »Ich warte schon auf den Rückruf.«

»Und wir müssen das tote Mädchen auf der Veranda identifizieren. Mat, hast du die DNA-Probe an die Forensik geschickt?«

»Erledigt.«

Sosh nimmt einen Anruf auf seinem Handy entgegen und verzieht das Gesicht. »Der 4Runner«, sagt er. »Wurde gestern Abend in Melrose Park als gestohlen gemeldet.«

Das muss der Wagen sein.

»Mein Cousin ist Deputy Chief dort draußen«, fährt er fort. »Wir fahren sofort hin.«

Mat greift nach seinem Handy. »Lass mich mal kurz meiner Frau eine SMS senden.«

Sosh legt Mat eine Hand auf die Schulter. »Detective Rodriguez, lassen Sie sich eines gesagt sein: Es ist besser, um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis.«

»Eheliche Ratschläge von einem Kerl, der zwei Scheidungen hinter sich hat«, sage ich. »Du solltest ein Aufnahmegerät mit dir führen, damit du all diese Perlen der Weisheit für die Nachwelt aufzeichnen kannst.«

»Ich brauche nicht die Erlaubnis meiner Frau«, beharrt Mat.

»Natürlich brauchst du die nicht.« Soscia zwinkert mir zu und schnappt sich sein Sportsakko. »Komm, Rodriguez, wir besorgen uns ein Rindfleischsandwich bei Johnnie’s in der North Avenue. Geht auf mich.«

»Lass dir das schriftlich geben«, rate ich ihm. »Wenn die Rechnung kommt, weiß er von nichts mehr.«

Sie ziehen los und lassen mich und Carla zurück. Sie ist drüben an ihrem Schreibtisch, schiebt ein paar Papiere hin und her und steckt sich mit dem Rücken zu mir eine weitere Tablette in den Mund.

Mein Gott, ich hoffe, es ist Aspirin. Oder ein Vitaminpräparat.

»Alles okay?«, frage ich, ohne sie anzuschauen.

»Diese Frage wollte ich dir auch gerade stellen«, sagt sie. »Als wir in diesem Haus waren, hast du ein bisschen mitgenommen ausgesehen.«

Nettes Ablenkungsmanöver. Sie ist clever.

Ich werfe einen Blick in ihre Richtung. »Echt jetzt?«

»Ich meine, ich verstehe das, bei deiner Geschichte, das mit deiner Tochter und so weiter. Das würde jeder verstehen.«

Ich werfe mir mein Sportsakko über. »Detective, die Uhr läuft. Wenn es etwas zu sagen gibt, dann raus damit.«

»Ich will nur sicherstellen, dass uns nichts ausbremst. Diese Sache ist zu wichtig.«

Ich wende mich ihr zu. Sie sieht mich direkt an.

»Bremse ich dich bis jetzt aus?«, frage ich.

»Hey.« Sie macht eine beschwichtigende Geste. »Ich meine ja nur. Das ist ein Sprung ins kalte Wasser, Harney.«

»Ich habe das Schwimmen nicht verlernt, aber danke für deine Anteilnahme.« Ich schnappe mir meine Schlüssel vom Schreibtisch. »Komm mit.«

»Wohin?«

»Wirst du schon sehen«, sage ich. »Wenn du das Tempo halten kannst.«

11

Disco fährt sein Cabrio an den Straßenrand und stellt den Wählhebel auf P. »Mach den Mund nur auf, wenn du angesprochen wirst«, sagt er zu Nadia. »Das hier ist eines der exklusivsten Restaurants von ganz Chicago.«

»Ich weiß.« Ihr enganliegendes purpurrotes Kleid ist schulterfrei, die Haare sind zu einem Dutt hochgesteckt.

»Was weißt du schon von exklusiven Restaurants?« Nichts, gar nichts weiß sie davon.

Er dreht den Rückspiegel so, dass er sich selbst darin sehen kann. Er hat sich das Haar gegelt und frisiert, einen Dreitagebart stehen lassen, eine kleine, runde Brille aufgesetzt. Bingo.

Er zieht den Bauch ein und geht auf die schlichte schwarze Tür des »Domaine« zu – der Name des Restaurants steht dort in modisch minimalistischen Kleinbuchstaben. Dieses Lokal ist tatsächlich eines der exklusivsten der Stadt, wenn man Time Out Chicago Glauben schenkt, aber Disco ist kein großer Feinschmecker. Es gefällt ihm bloß, in diesem Restaurant gesehen zu werden.

Das Geschäft kommt immer zuerst, immer, sagte der General vor Jahren. Aber man muss sich auch die Zeit nehmen, die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen.

Außerdem könnte er eines Tages mehr als nur Chicago leiten. Er könnte den gesamten Mittleren Westen zugeteilt bekommen. Dann würden Millionen fließen. Also kann er sich ruhig schon mal daran gewöhnen, mit der Oberschicht zu verkehren.

Drinnen tauchen tiefhängende Lampen die schlichten Holztische in ein schummriges, orangefarbenes Licht. Die lässig-coolen Gäste sitzen auf schwarz lackierten Stühlen und lauschen der Retro-Musik, die aus dem Soundsystem an der Decke erklingt. Die meisten Männer tragen ein Jackett über dem T-Shirt oder ein Hemd mit offenem Kragen, einige tragen Jeans.

Disco runzelt die Stirn. Er ist zu schick angezogen. Aber er sieht trotzdem gut aus, und es drehen sich so viele Köpfe nach Nadia und ihrer schlanken Figur um, dass er sich besser fühlt und den Kopf oben behält. Sie war die richtige Wahl als Begleiterin. Nadia ist wahrscheinlich sein heißestes Mädchen, mit Sicherheit eines der beliebtesten.

Und außerdem: Scheiß doch auf all diese Leute und ihr Geglotze. Wie viele von denen haben wohl wie er ihr Heimatland verlassen, in den Staaten von Grund auf ein Unternehmen hochgezogen und wie er einen Jura-Abschluss erworben, obwohl Englisch nur seine zweite Sprache war?

Keiner von denen.

Wie viele haben achtzehn Menschen getötet, darunter allein drei an diesem Morgen?

Null. Genauso viele sind es. Er hat mehr Mumm in den Knochen als diese ganzen Treuhandfonds-Püppchen und Tech-Millionäre zusammen.

Er hatte einen Allemand Cornas Jahrgang 2006 vorbestellt, aus dem Online-Menü ausgewählt, nachdem er Bewertungen in Wine Enthusiast, Wine Spectator und einigen Weinverkostungs-Blogs gelesen hatte. Der Sommelier schenkt ihm den ersten Schluck ein und wartet.

Er trinkt ihn so, wie man ihn trinken sollte. Wie er gesehen hat, dass der General Wein kostet. Den Inhalt des Glases zu würdigen wissen. Das Glas gegen das Licht halten. Es zur Seite neigen. Den Wein schlürfen. Wein einsaugen und im Mund hin und her schwenken.

Disco schluckt den Wein herunter, schaut den Sommelier an. »Er muss noch atmen«, sagt er.