Stadtgespräch - Siegfried Lenz - E-Book

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Siegfried Lenz

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Beschreibung

Eine kleine Stadt an einem Fjord, eine rechtschaffene Stadt. Nur einmal war es anders: Ein Ereignis riss sie aus ihrer Ordnung heraus und wurde zum Stadtgespräch. Tobis, der Erzähler, erinnert sich an die Zeit der Besetzung. Nach einem Attentat wurden 44 Geiseln festgenommen. Daniel, der Anführer der Widerstandsgruppe, sollte gezwungen werden, sich zu stellen. Er muss sich entscheiden: Folgt er der Aufforderung, wird der Widerstand gebrochen, stellt er sich nicht, sterben 44 Männer.

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Seitenzahl: 388

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Siegfried Lenz

Stadtgespräch

Roman

Atlantik

Und wenn Daniel sich gestellt hätte? Und wenn die ganze Stadt, unsere Stadt ihn mit allen Stimmen darin bestärkt hätte, sich um ihretwillen nicht zu stellen? Wäre seine Geschichte dann vielleicht zuende gegangen? Hätte sie aufgehört, wenn Daniel weder gewählt noch geirrt hätte? Aber warum zwingt er uns, seine Geschichte immer neu und immer anders zu erzählen – ohne Aussicht, sie entscheiden zu können mit Hilfe von Genauigkeit? Und was sollte, was kann noch entschieden werden?

Es hilft nichts: immer führt da die helle, sandfarbene Straße am Fjord entlang, staubgepuderte Telegraphendrähte summen über den Klippen, zerschneiden das Ufer in dünne Scheiben; ein steinübersäter Hang fällt zur Straße ab; über dem Boden liegt ein bitterer Geruch von zähem Gewächs. Die Luft ist windlos. Und immer und jedesmal liegen drei Männer flach auf dem Hang mit ihren Waffen, und ein anderer kauert auf dem Felsvorsprung, von dem aus er die gezackten, scharfkantigen Wände des Tunnels erkennen kann.

Erinnere dich doch mit mir: wir lagen auf dem harten Hang, wir lagen hoch über dem Fjord vier Stunden schon, in den Felsen knackte die Hitze, vom Geröll traf ein glühender Hauch das Gesicht: kein Zeichen von Nicolas. Die eingesprengte Straße mit den schrägen Schatten der Sprenglöcher lag unter einem Schleier von Hitze und Staub, die Augen brannten, die Sonne bearbeitete die Stirn, durchbohrte die Lider, und die Detonationen im Steinbruch zerstörten das Gleichgewicht des Nachmittags. Nicolas gab nicht das Zeichen.

Auf den fleckigen Klippen stritten und beratschlagten sich die Möwen, ein auslaufender Kutter schnitt eine weiße Linie in den Fjord, der Fluß drängte die treibenden Stämme zur Mündung. Daniel beobachtete unter geröteten, halbgeschlossenen Lidern den Felsvorsprung, auf dem Nicolas kauerte, schwarz und reglos, nur ein Punkt am Saum unseres Blickfelds; er beobachtete ihn unablässig, auch wenn er mit uns sprach: Nicolas rührte sich nicht. Die Straße, die er bis zum Tunnel übersehen konnte, blieb leer.

Ich lag hinter euch, hinter dir, Daniel, und hinter Christoph, ich sah die Spannung in euren Nacken, sah die bläulich glänzenden Gewehrläufe, die seitlich unter den Körpern herausragten; keine Kühle erreichte uns dort, nicht die Kühle des Schmelzwassersturzes, den wir ständig hinter uns hörten, nicht die Kühle der Schneefelder auf den baumlosen Kuppen. Mein Hemd war naß über der Brust, ich schwitzte an den Schläfen und am Gesäß, ein warmes, rinnendes Gefühl im Unterleib warnte mich, beunruhigte mich immer wieder: besorgt betastete ich meine Hose, schob mich zurück und erleichterte mich schon wieder.

Wir rauchten nicht, wir tranken und aßen nicht während der Stunden am verbrannten Hang, ich hatte Schmerzen in meinem Körper, ich spürte vielleicht die Wunden, die er erhalten könnte, sobald Nicolas sein Zeichen gegeben hätte … Daniel und Christoph flüsterten, ihre Gesichter näherten sich einander, verdeckten die Wurfgranate, die in einer Mulde vor ihnen lag, mit Steinen umstellt. Das Schmelzwasser strömte ohne Stauung, fiel dem Fjord entgegen, schäumte in unserm Rücken über ausgewaschene Felsen. Der Schaft meines Gewehrs war dunkel von Schweiß, dort, wo ich ihn gepackt hielt. Weiße Muscheln und die Scherben einer gesprungenen Flasche gaben vom steinigen Ufer her blendende Signale. Die Möwen einigten sich nicht über den höchsten Platz auf den Klippen. Nicolas kauerte fern von uns, regungslos über der Straße, als ob er das ausgemachte Zeichen vergessen hätte …

Sie hatten mich zum ersten Mal mitgenommen, Daniel und Nicolas, nicht Christoph; sie hatten erfahren, daß einer in die Stadt kommen sollte, der noch mächtiger war als der Kommandant – du weißt, Daniel, wen ich meine: den alten eigensinnigen General mit den künstlichen, silbernen Kniescheiben –, und wir waren früh genug am Hang über der Straße, um ihn zu empfangen. Von den Schneefeldern waren wir herabgekommen, am Rand des Steinbruchs entlang, wir hatten die Stadt umgangen, unsere Stadt – die wir nicht mehr besaßen, die jedoch uns besaß –, waren zu den Dreifingerfelsen abgestiegen, wo Daniel uns einweihte … ich lag hinter ihnen in der Sonne, unsere Körper schmiegten sich an warmes Geröll, unsere Blicke suchten Nicolas, den Maschinisten: er bewegte sich nicht.

Vor der Flußmündung arbeitete der Bagger, senkte die rostige Eimerkette fauchend ins Wasser, zog sie scharfzahnig rüttelnd über den Boden und trug ihn ab. Die fremden Posten auf der Brücke waren einmal abgelöst worden, eine neue Ablösung stand bevor. Auf dem Lagerplatz des Sägewerks manövrierten Lastwagen und fuhren zu einem Karree zusammen. Der Kommandant kehrte von einem Ritt zurück. Der Bus zur Küste fuhr ab, wendete vor den Schuppen, fuhr Rathausplatz–Schule–Wasserturm, ohne daß jemand dazustieg, hielt zum letzten Mal an der Brücke, bevor er unter uns vorbeikam mit wehender Staubfahne, die sich träge auf den Fjord senkte und die Klippen puderte.

Eine Trauergesellschaft stieg den steinigen Pfad zum Friedhof empor, die Träger setzten auf halber Höhe den Sarg ab, ruhten sich aus, einer wurde ausgewechselt …

Christoph stöhnte, er öffnete das Hemd bis zum Gürtel, drehte sich auf die Seite; er war klein und rosig, er mißbilligte immer noch, daß ich dabei war, obwohl ich ihm keinen Anlaß gegeben hatte – es sei denn, daß er in mir den Neuen sah, dem zu vertrauen er sich nicht entschließen konnte. Seinen Einwand hatte Daniel zurückgewiesen mit einer einzigen Bewegung seiner zarten Hände.

Auf einmal gab Nicolas ein Zeichen, doch er berichtigte sich sofort: es waren lediglich zwei Motorräder mit Beiwagen; die Soldaten trugen Staubbrillen, sie saßen steif, mit lippenlosen Gesichtern auf den Maschinen, sie kehrten von einer Patrouille in die Stadt zurück. Langsam fuhren sie vorüber, und ich hielt das Gewehr im Anschlag, zielte auf Mund, Augen, Mund, drehte mit …

Was gehört noch zum Anfang, Daniel, damit du ihn nicht bestreitest? Der Entwurf des gestaffelten Blickfelds: der verbrannte Hang, die sandgraue Küstenstraße mit den dreieckigen Schatten, die fleckigen, unterwaschenen Klippen, der reglose Fjord mit seinem dunklen Wasser, das Spiegelbild der Schneefelder auf den kahlen Kuppen; sodann die Bestimmung der Geräusche innerhalb des Blickfelds: das Rütteln der Eimerkette, die Dampfstöße des Baggers, die Detonationen im Steinbruch, das gellende Streitgespräch der Möwen, das Murmeln und der unaufhörliche Sturz des Schmelzwassers; schließlich gilt es die Anwesenheit von drei Männern auf dem Hang und eines Mannes auf dem Felsvorsprung anzuerkennen: ihre Erschöpfung, ihren Plan, ihre Erwartung …

Auf einmal winkte mir Daniel, ich schob mich neben ihn, und er deutete mit den Augen auf ein Bild, das er aus einer Zeitung ausgeschnitten und vor sich auf den Boden gelegt hatte, eine Photographie des Generals, den wir erwarteten; behutsam strich Daniel mit dem Handrücken über das Bild, glättete es, beschwerte es mit kleinen Steinbrocken an den Rändern, blickte schweigend auf das Gesicht hinab, das ein grober Raster entstellte: es war ein fleischloses, zerknittertes Schildkrötengesicht, das List verriet, Verdrossenheit, eine alte Enttäuschung und beharrlichen Eigensinn. Das Gesicht des Generals ließ auf Unbeliebtheit an höheren Stellen schließen, auf eigenmächtig geänderte Befehle, auf mürrischen Widerspruch; es machte seine häufigen Versetzungen von Kommando zu Kommando glaubhaft. Die Photographie war auf einer Inspektionsfahrt aufgenommen worden: mißmutig blickte der General auf ein ausgefahrenes Geschützrohr, das die Abendröte über der Küste bedrohte, er trug keine Auszeichnung … Christoph hob den trockenen Farnstengel, mit dem er im Boden gekratzt hatte, ließ ihn langsam über der Photographie kreisen, stieß plötzlich zu und durchbohrte den langen, faltigen Schildkrötenhals des Generals, worauf Daniel das Bild wegriß, es sorgfältig zusammenkniff und in seine Brusttasche schob.

Gleichzeitig hoben wir die Gesichter, spähten zu Nicolas hinüber, doch Nicolas gab nicht das Zeichen. Ich dachte daran, daß ich auf die Reifen schießen mußte, so, wie Daniel es vorgesehen hatte in seinem Plan; ich versuchte an nichts anderes zu denken, wollte nichts anderes wahrnehmen: tief wollte ich den Lauf senken, die grauen, lehmverkrusteten Reifen bis zu der gedachten Linie heranrollen lassen, feuern und im Feuern nach links und rechts schwenken, doch je länger ich daran dachte, desto unsicherer wurde ich, ob ich es auch noch tun würde im entscheidenden Augenblick. Ich spürte, daß ich meinen Blick nicht würde zwingen können, nur die Reifen wahrzunehmen, ich wußte, daß ich die Gesichter suchen würde, die vagen Gesichter hinter staubbedeckten Scheiben, der Lauf würde sich unwillkürlich heben, hin und her schwenken, auswählen, sich für eins der fremden Gesichter hinter Glas und Staub entscheiden, und ich würde vielleicht nur noch erstaunt bemerken, wie die Geschosse das halbblinde Glas zerschlugen, quer über die Windschutzscheibe sprangen und die Körper zurückwarfen.

Ich verstand nicht, warum Daniel mich, ausgerechnet mich dazu ausersehen hatte, ihn und die anderen zu begleiten; er hatte mich angesehen mit einem Blick voll knapper, schweigender Aufforderung, genau so wie Christoph, wie Nicolas; er hatte weder die Hand gehoben noch seine Entscheidung begründet, und daran hatten wir uns gewöhnt. Es war nie anders gewesen: wenn er einen von uns brauchte, trat er neben ihn oder vor ihn, wartete geduldig, bescheiden fast, bis der Ausgesuchte ihn ansah, nickte nur stumm und trat zum nächsten – nie werde ich vergessen, wie Daniel die Männer auswählte, die er brauchte. Weich und unhörbar war sein Schritt, unvermutet tauchte die schmächtige, gebeugte Gestalt auf, das junge Gesicht mit seiner Verschlossenheit und dem resignierten Lächeln schob sich ins Blickfeld, eine kleine nickende Bewegung des Kopfes, und die Entscheidung, Daniels Entscheidung, war gefallen. Solange ich zu ihm gehörte, hat sich niemand seinen wortlosen Entscheidungen widersetzt. Warum hatte er mich ausgewählt?

Die Luft zitterte über dem Hang, der flimmernde Atem des Gesteins lag über der toten Straße, zwei Raubvögel stiegen von den Föhren hoch über uns auf, boten sich dem Wind an, der uns nicht erreichte, und ließen sich abgleiten über den Fjord. Die Schatten der Trockengestelle, der doppelpfostigen Galgen, wurden länger. Vom Landungssteg vor den Schuppen löste sich ein breites, geteertes Boot; ich erkannte den einarmigen Storberg, der wie jeden Tag seine Schnüre im Fjord legte. Die Möwen stiegen nacheinander von den Klippen auf, schwangen knapp über dem Wasser zur Flußmündung hinüber. Tief aus der Schlucht, unsichtbar noch, aber schon zu bestimmen, kam der Erzzug näher, er hielt nie in der Stadt – es sei denn, daß er zu halten gezwungen war, weil ein anderer Zug auf den zerstörten Geleisen lag. Drüben, unterhalb des Bahndamms, lagen abgestürzte Waggons zwischen den Felsen, zwischen den Bäumen, halb im Wasser versunken. Die Flanken der Waggons waren aufgerissen, eingedrückt. Die Lokomotive stand steil auf dem Tender, mit den Rädern gegen eine nackte, rötliche Wand gelehnt, als ob sie die Wand hinaufzuklimmen versuchte …

Dann hockte sich Christoph hin, umschloß seinen Hals, öffnete die Lippen und würgte, warf den Kopf hin und her und machte eine Bewegung gegen den Schmelzwassersturz, sagte: »Er kommt jetzt nicht. Er kommt frühestens in der Dämmerung. Ich hole uns etwas zu trinken.« Er sagte es und zögerte, der kleine rosige Mann mit dem glattrasierten Gesicht und den hängenden Schultern, der Daniels Stellvertreter war seit Anbeginn, er wagte nicht, das zu tun, was er angekündigt hatte, hockte wartend da, lautlos, die schmalen, geblendeten Augen auf Daniel gerichtet, der schweigend Nicolas beobachtete und sich weder umwandte noch etwas sagte. Christoph gab noch nicht auf, er drehte sich auf den Fußsohlen zu mir um, suchte meine Zustimmung, glaubte sie gefunden zu haben, wandte sich wieder Daniel zu und blickte auffordernd, mit unterdrücktem Atem, auf ihn hinab, dringend, hartnäckig, so daß ich bereits mit einer Entscheidung rechnete, doch Daniel ertrug die Aufforderung und den Blick und schwieg, und nach einer Weile streckte sich Christoph neben uns aus, bedeckte sein Gesicht mit den Händen …

Ich weiß, Daniel, ich weiß genau, daß du schon jetzt deine Einwände hast, mich berichtigen möchtest in deinem Sinne, und zwar nicht, weil du es für nötig halten könntest, dich zu rechtfertigen, sondern weil du dich zwangsläufig für eine andere Auswahl der Begebenheiten entscheiden müßtest. Ich war mir von Anfang an klar darüber, daß wir nicht übereinstimmen würden; wer zu erzählen beginnt, muß eine Auswahl treffen: du deine, ich meine Auswahl. Und darum wird vielleicht die Wahrheit unserer Geschichte durch die Abweichungen bestätigt …

Aber die Ankunft der alten Fähre würdest du doch wohl auch erwähnen, du entdecktest sie zuerst, als sie mit geringer Krängung tiefliegend hinter der alten Insel auftauchte, weiß vor bleifahlem Hintergrund, in bedächtig ausgefahrenem Halbbogen in den Fjord lief, von der enttäuschten Gier der Möwen verfolgt. Es war die Abendfähre. Christoph hob sein Glas, sah hindurch und reichte es mir, und ich erkannte auf den ersten Blick die Soldaten auf dem Oberdeck, junge, fröhliche Soldaten mit Ausrüstung und Gepäck, die die Fähre in unsere Stadt brachte. Als sie querab von uns war, erkannte ich auch Ole Dagermann in der Nock des Ruderhauses, den Steuermann, und neben ihm einen Offizier der Besatzung; der Offizier sprach heftig auf Ole Dagermann ein.

Wir beobachteten, wie die Fähre anlegte, der mächtige Bug aufklappte und aus dem dunklen, bauchigen Innern Fahrzeuge und Männer herauskamen; die Soldaten stießen sich, trappelten über den Laufsteg, traten auf der Pier an, jeder einen grüngrauen Gepäckhügel vor sich, und wir bemerkten auch ihre stumme, fragende Aufmerksamkeit, die sie für die schneebedeckten Kuppen zeigten, für die Hänge, die bewaldeten Bergrücken. Nicht einmal in den ersten Wochen der Besatzung waren so viele Soldaten in der Stadt gewesen wie zu jener Zeit, als ich zu Daniel und seinen Leuten stieß, und inzwischen hatte es jeder bei uns erfahren, daß zur Eroberung unserer Stadt nur zwei Züge einer Kompanie genügt hatten …

An den Schuppen vorbei marschierten die Soldaten in ihre vorbereiteten Quartiere. Der Bug der Fähre schloß sich, der einarmige Storberg kehrte zurück, tastete sich an dem gelackten Rumpf entlang zum Landungssteg. Von der Küste her näherte sich ein einzelnes Flugzeug, ein blitzender Strahl sprang von der Kanzel ab, als es in der Sonne wendete und hoch über die brennenden Schneefelder nach Süden drehte, zur Hauptstadt. Nicolas lag flach an den Boden gepreßt und gab kein Zeichen …

Es ist wohl möglich, Daniel, mit der Dämmerung über dem Fjord zu beginnen und die Zeit der Erwartung unerwähnt zu lassen; vielleicht würde dein Anfang auch sogar mit dem Augenblick zusammenfallen, in dem die Krüppelfichten am Hang eine drohende Haltung einnahmen, die Felsbrocken eine Kette bildeten, die uns den Fluchtweg abschnitt, das Murmeln des Schmelzwassers nur die Schritte einer Streife deckte: die langsame Dämmerung wäre auch eine Möglichkeit, zu beginnen. Aber jedem Anfang geht noch etwas voraus: wir lagen dort schon auf dem Hang, bevor unsere Geschichte begann, und wer weiß, welche unberechenbaren Folgen die Stunden zwischen dem heißen Geröll hatten …

Jedenfalls schoben wir uns in der Dämmerung dicht an den Rand der Straße heran, entsicherten die Gewehre, Daniel machte die Granate wurfbereit. Säulen von Insekten stiegen auf und senkten sich in der Luft. Über den Fjord zog ein leichtes Brausen, ohne daß sich die Oberfläche des Wassers riffelte. Weit oben zwischen den Föhren löste sich ein Stein, polterte den Hang hinab, traf mit hellem Knall auf einen Felsen und blieb liegen. Nicolas kam zu uns und legte sich wortlos hin, wir hätten sein Zeichen nicht mehr erkennen können. Von den Bergen senkte sich die Kühle auf uns herab, auf dem Bagger vor der Flußmündung wurden Positionslichter gesetzt.

Jeder von uns suchte sich jetzt der Nähe des andern zu vergewissern, schob den Ellenbogen zur Seite, lauschte auf vertrauten Atem, suchte eine kleine, bestätigende Berührung; denn in der Dämmerung erhob und bewegte sich alles, was die Sonne niedergezwungen hatte: dort glitt auf einmal etwas über die Klippen; jemand, der unsichtbar blieb, schlug tickend Steine zusammen; Hundegebell schien uns eingeschlossen zu haben; und was beabsichtigte der gedrungene, sprungbereite Schatten in der Mulde? Woher kam das schmale, tastende Licht, das sich am Fjord entlang näherte und über die Felswände schwenkte, verschwand und wieder zum Vorschein kam, wieder verschwand und dann aus dem Tunnel hervorstieß, kreisend die schwarze Stelle erfaßte, wo das Wasser den Stein geöffnet hatte und schwappend aus ihm heraustrat? Es war Daniels Hand, die sich plötzlich auf meinen Unterarm legte, es war seine ruhige, monotone Stimme, die sagte: »Du mußt auf die Reifen halten. Es darf ihm nichts geschehen. Wir brauchen ihn«, und als ich mich zu ihm umdrehte, hockte er schon hinter mir, das verschlossene, hagere Gesicht mit den blicklosen Augenschatten erhoben und den schmalen, harten, gleichmäßig näherkommenden Lichtern zugewandt. Auch Christoph und Nicolas hatten sich vom Boden abgedrückt, kauerten bereits neben Daniel, warteten auf seinen Wink, der sie auf ihre ausgemachten Plätze wies: geduckt, die Gewehre an den Leib gepreßt, verließen sie uns und öffneten die Falle. Ich zog den Kolben ein, zielte, oder versuchte zu zielen auf den leichten Buckel in der Straße, auf den Felsen, der dort unter der Fahrbahn lag und die Grenze darstellte, bis zu der ich das Auto herankommen lassen sollte: so oft hatte ich die kantige, staubgraue Erhebung während der hellen Stunden probeweise im Ziel gehabt, daß ich sie auch jetzt in der Dämmerung noch zu sehen glaubte; ich hatte mir das Ziel so sehr angeeignet, daß ich es nicht einmal in der Dunkelheit verloren hätte.

Die schmalen, rechteckigen Lichtschlitze der Scheinwerfer bogen um den Felsvorsprung, auf dem Nicolas gewartet hatte, kamen langsam näher, tasteten in der Biegung über die kniehohe Betonmauer, die die Straße gegen die Fjordseite sicherte, schwenkten zögernd über die von Sprenglöchern durchzogene Wand; die ausgestochenen, harten Lichter senkten und hoben sich und glitten kreisend über die hochgelegenen Klippen, und dann hörten wir das schleifende Geräusch des Motors, glaubten bereits die Stöße und die Erschütterungen in unseren Körpern zu spüren, die das fahrende Auto auf der Straße hervorrief, und jetzt fühlte ich einen heißen, saugenden Luftzug im Nacken, einen heißen Druck in den Eingeweiden, so als ob das Geröll, auf dem ich lag, mit seinen Spitzen in mich eingedrungen wäre: meine Hose wurde feucht, ein schwaches Brennen zwischen den Schenkeln setzte ein, der Druck nahm stetig zu, preßte meinen Unterleib zusammen, da rief Daniel leise von hinten »Achtung«, und ich erblickte das schwere Auto unter mir, das sacht die Kurve ausfuhr, dicht an der Betonmauer entlang …

Warum wartete ich nicht, warum konnte ich nicht warten, wie ich es mir vorgenommen hatte? War es meine Hand, die den kurzen Lauf hochriß und nicht auf die Reifen schoß, sondern mit einer seltsamen, befreienden Ruhe auf die Windschutzscheiben und den Kühler und das Dach, ohne abzusetzen, dabei weder wahllos noch erregt oder gar betäubt von den trockenen, wilden Schlägen und den zerrissenen Flammen vor der Mündung, viel eher mit einem gewissen kühlen Erstaunen darüber, daß das Auto nach dem ersten Feuerstoß noch weiterfuhr, unter uns hindurch, einen Augenblick nur, in dem ich auf die Türen schoß und erst zuletzt, als es schon längst hinter dem Buckel war, auf die Hinterreifen.

Ich hörte nichts, weder, wie die Geschosse die Scheiben zerschmetterten, noch, wie sie ins Metall einschlugen, ich hörte nur die Explosionen der Schüsse und, wenn ich aufhörte zu feuern, meinen Atem: Warum hielt ich mich nicht an die Abmachung, warum besorgte ich nicht den Teil, den Daniel mir zugedacht hatte? Gewaltsam drückte ich den Lauf nach unten, zumindest erinnere ich mich, daß ich ihn gegen einen Widerstand senkte, tief, tief, ich wollte die Reifen treffen, ich wollte nur das tun, was zu meiner Aufgabe gehörte, während Daniel aufrecht hinter mir stand, nicht mich, sondern das schwere Auto beobachtete, in dem der General saß, sitzen mußte, und zwar ruhig und berechnend beobachtete, wie es auf die kaum erkennbare Erhebung zurollte und sie hinter sich ließ: über und über getroffen und zerschrammt, aber anscheinend unzerstörbar, gepanzert oder gefeit gegen meine Geschosse. Da zog ich einmal scharf über die Straße, sah eine Reihe von Staubfontänen aufspringen, erhielt einen warnenden Schlag von Daniel, der die Granate über mich hinweg vor das Auto warf: die Granate prallte gegen die Betonmauer, rollte auf die Straße zurück und explodierte mit flacher Stichflamme. Das Auto schleuderte, schrammte an der Betonmauer entlang, wurde abgestoßen, fuhr auf einmal in der Mitte der Straße, schleuderte abermals, schien auch dies überstanden zu haben, als es, endgültig und überzeugend, herumgeworfen wurde, sich auf die Seite legte, so daß es zu kippen drohte, dann jedoch mit verringerter Geschwindigkeit gegen die Felswand prallte und liegenblieb …

Das, Daniel, war nicht vorgesehen, wir hatten nicht damit gerechnet, daß das Auto liegenbleiben könnte im toten Winkel der Felswand, unsichtbar, unerreichbar für uns, das muß wohl erwähnt werden, das sollte gesagt werden aus Gerechtigkeit gegenüber Nicolas; denn wenn auch jeder in dieser Geschichte seine eigene Geschichte wiederfindet, wiedergewinnt: auf etwas müssen wir uns doch alle einigen, etwas müssen wir gemeinsam anerkennen bei allen Möglichkeiten der Auswahl: die wenigen Augenblicke, in denen nicht mehr wir es waren, die unsere Geschichte bestimmten. In allem, was gewiß ist, können wir uns unterscheiden – übereinstimmen müssen wir jedoch in der Anerkennung des Ungewissen … Wenn du erzählen wirst, was damals in der zögernden Dämmerung über dem Fjord unserer Geschichte den Anfang gab: Wirst du dann nicht den Augenblick beschreiben müssen, in dem wir unsere Überlegenheit einbüßten, verblüfft und plötzlich unentschieden lauschten, der Stille mißtrauten, nachdem das Auto gegen die Felswand geprallt war und wir nichts mehr sahen und nichts mehr hörten? Wer weiß, ob wir überhaupt auf die Straße hinabgesprungen wären – ich konnte den Aufprall nicht weich genug abfangen, spürte es noch eine Weile nachdröhnen in meinem Körper –, wenn nicht Nicolas aufgetaucht wäre; er kam uns auf der Straße entgegen, bewegte sich unschlüssig, sichernd auf das Autowrack zu, und an seiner Haltung erkannten wir, daß auch er der Stille mißtraute. Seine dunkle Gestalt vor dem fahlen Band der Straße, die kurzen, zähen Schritte, die ihn näher brachten: vielleicht sah Nicolas da schon, was wir nicht sehen konnten von oben. Wir sprangen auf die Straße. Nicolas erkannte uns. Er hob die Hand, um uns ein Zeichen zu geben oder auch nur auf das Wrack des Autos zu weisen, das schräg am Fuß der überhängenden Felswand lag. Nichts bewegte sich da, kein Laut war zu hören, und doch empfanden wir die wachsame Gegenwart eines Gegners, der uns beobachtete, der uns erwartete.

Nicolas zog unsere Aufmerksamkeit auf sich, wir blickten auf seine erhobene Hand, versuchten das Zeichen, die Warnung zu verstehen, als neben oder unter dem Auto ein Maschinengewehr zu feuern begann, einmal und noch einmal. Wir warfen uns hin, nur Nicolas stand, stand steif mit erhobener Hand und zurückgeworfenem Kopf da, schien zu erstarren in dieser Geste, so werde ich ihn in Erinnerung behalten: aufgerichtet, erschrocken und erstarrt, und noch im mühsamen, langsamen Sturz mit dem Arm ein Zeichen gebend, eine verlorene Warnung …

Wir zweifelten nicht daran – und später wurde es ja auch bestätigt –, daß es der alte General selbst war, der eigensinnige Mann mit den künstlichen, silbernen Kniescheiben, der neben oder unter dem Auto lag, ruhig, abwartend und kaltblütig, der General mit dem verdrossenen Schildkrötengesicht, der zuerst Nicolas tötete vor unseren Augen und sich dann mit uns beschäftigte. Ihm war nichts geschehen. Er war so unversehrt, wie Daniel ihn sich gewünscht hatte. In kurzen Abständen schoß er auf uns, zwang uns in Deckung dort in der ausgestemmten Rinne, die Geschosse schlugen knapp über uns ins Gestein, sprangen sirrend ab. Wir warteten auf Christoph, wir vermuteten ihn im Schatten der Betonmauer oder immer noch auf dem Hang über der Straße, Christoph allein konnte uns helfen, er mußte uns helfen, denn wir wußten, daß die Schüsse in der Stadt gehört worden waren. Wir mußten darauf gefaßt sein, daß ihre Patrouillen bereits unterwegs waren. Es hing nur von Christoph ab, ob wir Daniels Plan ausführen, den alten General fangen und mit uns nehmen konnten, hinauf zum Lager am Rand der Schneefelder …

Und als Christoph endlich über der Betonmauer auftauchte und liegend auf das Autowrack schoß, sprangen wir auf, liefen zum Auto, immer aus der Hüfte feuernd – niemand antwortete uns, niemand vereitelte unseren Versuch. Ich riß die Tür auf, ein Soldat fiel mir entgegen, der Oberkörper eines kräftigen, blonden Jungen, dessen Gesicht zerstört war von Geschossen und Glas, dessen Kinn bedeckt war mit Zahnsplittern; schlaff kippte er vom Sitz, schlug mit dem Kopf auf die Straße, und ich sprang einen Schritt zurück, hatte den Finger schon am Abzug, schoß in den leblosen, schlaffen Körper hinein aus Furcht oder Enttäuschung oder einfach, weil ich schießen mußte. Der Körper zuckte unter den Schlägen der Kugeln, die unsichtbar in das Fleisch eindrangen. Es war der Chauffeur des Generals …

Daniel stieß mich an, deutete auf die hintere Tür des Autos; ich öffnete sie und sah die zusammengesackte Gestalt eines Offiziers auf den Polstern. Das rechte Handgelenk war zerfetzt, die Finger würden niemals die kleine Pistole erreichen, die in einer Tasche am Koppel hing. Ich hob das Schnellfeuergewehr, da sagte Daniel: »Die Papiere, los«, und ich beugte mich in das Auto, um die Mappe mit den Papieren zu erreichen, als von den Klippen oder von der anderen Seite der Straße her das Maschinengewehr zu schießen begann; der General mit den silbernen Kniescheiben hatte die Stellung gewechselt, verbarg sich nicht; das uralte Schildkrötengesicht an das Gewehr gepreßt, feuerte er auf uns, zwang uns wieder in Deckung, war längst fort, als wir seine Stellung ausgemacht zu haben glaubten: ja, Daniel, es gelang ihm, uns zu überlisten, von der Straße auf die Klippen, von den Klippen auf den Hang zu entkommen, unvermutet, unberechenbar, nicht nur auf Flucht aus, sondern auch auf Vergeltung, und dabei wußte er, daß er allein und chancenlos war, oder es doch sein mußte an dem für ihn fremden Fjord.

Die glimmenden Fäden der Leuchtspur zogen über uns hinweg, fingerten über die Straße und zum Fjord hinab. Wir kauerten im Schutz des Autos, lange, viel zu lange, wir spürten und wußten, daß der Plan, Daniels Plan, endgültig mißglückt war: wir hofften nicht mehr auf eine Wendung – wir blieben, weil wir uns nicht eingestehen wollten, daß wir umsonst gewartet hatten, Nicolas umsonst getötet worden war. Zu lange dauerte Daniels fassungsloses, schweigendes Zögern, und als er uns heranwinkte, uns flüsternd einweihte und einwies, glaubte niemand mehr daran, noch etwas ändern zu können: vielleicht du, Daniel, mag sein. Doch als wir uns im Schutz des Autowracks erhoben, lauschend dastanden, vernahmen wir in der gleichen Sekunde das Geräusch, das uns allen – also auch dir – das Gefühl gab, nichts mehr an unserer Niederlage berichtigen zu können; es war zu spät, denn von der Stadt her, von der Brücke näherte sich das Geräusch eines Lastwagens, der in schneller Fahrt die Straße am Fjord entlang kam, und von der anderen Seite, vom Tunnel her, schien sich ebenfalls etwas rasselnd auf uns zuzubewegen …

 

Schreib doch deine Geschichte, widerleg mich, Daniel, wenn wir nicht übereinstimmen; sag, daß es unsere Bestürzung und unser Erschrecken nie gegeben hat, als der Lastwagen aus der Stadt und das Kettenfahrzeug vom Tunnel her näherkamen, oder beschreibe unsere Gesichter, die Blicke, die wir wechselten und mit denen wir einander befragten, bevor wir den Schutz des Autowracks verließen, unter der überhängenden Felswand entlangliefen und plötzlich in die glimmenden Fäden der Leuchtspur hinein, die sich schräg vor uns auf den Klippen zusammenzogen.

Ich fiel auf Christoph, der in der ausgestemmten Rinne lag, stützte mich auf seiner Schulter auf und schoß liegend dort auf die Klippen hinauf, wo die Fäden der Leuchtspur zusammenliefen; ich tat es so lange, bis Christoph sich aufrichtete unter mir, Daniel anrief, und als er keine Antwort erhielt, mit einem Satz bei ihm war und ihn aus der Rinne heraushob. Er versuchte, ihn auf die Beine zu stellen: es mißlang. Daniels Beine trugen nicht mehr das Gewicht seines Körpers. Sein Mund war aufgesprungen, sein Mund verriet seine Schmerzen, leicht winkte er ab, während Christoph ihn umklammert hielt, gab das Zeichen der Aufgabe, Unterwerfung, Niederlage, doch Christoph schien alles bemerkt zu haben, nur nicht dies: er zog Daniels Arm um seine Schulter, lud ihn sich auf, schwankte einen Augenblick unter dem Gewicht und führte ihn fort zu den Steinhaufen, von denen aus sie den Hang erreichen konnten. So langsam, schleppend, fast gleichgültig bewegten sie sich fort, achteten nicht auf die Geräusche, die Geräusche der sich beständig nähernden Fahrzeuge trieben sie weder zur Eile noch zur Aufgabe, sie schienen nicht die Bedrohung und nicht das Verhängnis wahrzunehmen, bewegten sich mit unerträglicher Langsamkeit auf die Steinhaufen zu, klommen sie ungehetzt, geduldig empor.

Ich trug Daniels Gewehr, deckte den, wie es schien, hoffnungslosen Rückzug. Der General mit dem Schildkrötengesicht schoß nicht: vielleicht lag er auf den Klippen und beobachtete verwundert und nachsichtig das mühsame Schauspiel unseres Entkommens … Und auf den Steinen kippte Christoph um, zog Daniel im Sturz auf sich herab. Ich hörte die kurzen, heftigen Stöße seines Atems. Ich sah Christophs Hände nach den Kanten des Steins tasten, sah, wie sie Halt gewannen, den Körper hochdrückten, nicht entschieden und hastig, wie es dem Augenblick angemessen gewesen wäre, sondern bedächtig prüfend, mit zuviel Sorgfalt. Achtsam nahm er Daniel auf den Rücken, stand gebeugt da, als zögerte er, seiner Kraft zu vertrauen; dann rief er mich, ich kniete neben euch, blickte in Christophs gesenktes, schweißglänzendes Gesicht, entdeckte in seiner offenen Brusttasche eine Packen Kreuzworträtsel, die er aus Zeitungen ausriß, ohne sie je zu lösen: »Was ist?« fragte ich, und er sagte: »Lenk sie ab, verschwinde, laß uns allein.«

Ich wartete, ich folgte ihnen unwillkürlich, nachdem Christoph sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, kletterte hinter ihnen her, bis sie den Hang gewannen, denn ich glaubte allem zustimmen zu können außer der Aufforderung, sie allein zu lassen. Christoph bemerkte es, er blieb stehen in einer Mulde, ließ mich herankommen und wiederholte in erregtem, ärgerlichem Flüstern: »Verschwinde, ziehe sie auf dich: willst du, daß sie uns alle bekommen?!«

Da ließ ich sie allein auf dem Hang, kletterte auf die Straße hinab und über die Betonwand zum Ufer des Fjords, von wo aus ich aus Daniels Schnellfeuergewehr gegen die hochgelegenen Klippen schoß und dann auf die abgeblendeten Scheinwerfer des Lastwagens, bis das Magazin leer war. Über die fleckigen, unterwaschenen Uferklippen lief ich in Richtung zur Stadt. Der Lastwagen hielt beim Autowrack, Soldaten sprangen ab, schwangen sich über die Betonmauer. Ihre gedrungenen Silhouetten bildeten eine Kette. Ich sah die kleinen Explosionen vor den Mündungen ihrer Gewehre, vernahm die leisen Kommandorufe und das Geräusch der nägelbeschlagenen Stiefel auf den Felsen. Ich schoß, lief, kauerte mich hin und schoß wieder, erreichte die Trockengestelle, setzte das letzte Magazin ein, als plötzlich der Boden vibrierte, das Kettenfahrzeug rasselnd über mir auf der Straße vorbeifuhr und bald darauf hielt: wieder erkannte ich in der Dämmerung – die zu dieser Zeit keine Dunkelheit versprach oder vorbereitete, die nur Dämmerung blieb für die wenigen Stunden der Nacht –, erkannte die verkürzten Silhouetten der Soldaten und die schräg hochstehenden schlanken Gewehrläufe, hörte jetzt von beiden Seiten die Verständigungsrufe der wandernden Kette, die einschwenkend auf mich zukam. Ich zielte und traf, zielte wieder und traf abermals, die Körper stürzten und rutschten über den glatten Fels … Oder habe ich nicht getroffen, waren die Körper nur abgerutscht, weil die Füße keinen Halt gefunden hatten? Sie konnten nur vermuten, wo ich war: die Vertiefung verbarg mich, schützte mich; ich preßte die Brust gegen das weißgewaschene, leuchtende Wurzelholz, das das Wasser hier hineingeschlagen hatte, spürte die Kühle und den trägen Sog des Fjords unter mir; und während ich abwechselnd nach beiden Seiten schoß, stieg über dem Hang eine Leuchtkugel auf und entband ein weißliches Licht.

Ich drückte mich heraus, ließ mich langsam abrutschen zum Wasser, erhob mich plötzlich und feuerte stehend in die herabkommende Kette der Soldaten, und diesmal stürzte ein Körper über eine Steilwand und rollte bis zu der Vertiefung, in der ich gelegen hatte. Die andern suchten Schutz, warfen oder knieten sich hin in dem Halbbogen, den sie um mich geschlagen hatten; flach über den Klippen blitzte es jetzt auf, die Pfosten der Trockengestelle splitterten, die abspringenden Geschosse sirrten über den Fjord …

Die Leuchtkugel stürzte erlöschend gegen den Hang, schwach widerstrahlend: sie waren nicht zu erkennen, Christoph und Daniel waren verschwunden, nirgendwo dort unter dem zitternden Licht bewegte sich mehr die erschöpfte Gruppe, die in einer verzweifelten und selbstverständlichen Bruderschaft der gefährdeten Leiber aufgebrochen war –, was aber nicht bedeutete oder bedeuten konnte, daß sie die Dreifingerfelsen bereits erreicht hatte und in Sicherheit war; vielmehr glaubte ich sie im Schatten des Gerölls oder der trockenen Büsche, tief an die Erde geduckt, Christoph schützend vor Daniel.

Ich hatte die Verfolger abgelenkt, hatte sie auf mich gezogen, wie Christoph es verlangt hatte, und ich zweifelte nicht, daß beide auf dem Hang wahrnehmen konnten, daß es mir gelungen war … Dann, als ich die geflüsterten Befehle über und neben mir hörte, Befehle, die die Kette entlangliefen, sich entfernten und allmählich wiederkehrten wie von einer Welle getragen, versenkte ich das Gewehr, nein, wie komme ich darauf … ich nahm das Gewehr auf den Rücken, umklammerte den algenbedeckten Stein, ließ mich lautlos steif hinab, tauchte tiefer und tiefer ein, bis das Wasser meine Brust erreichte, bis ein schmaler, harter Reif meine Brust umschloß: jetzt ließ ich los, warf die Arme überm Kopf zusammen und sank weg. Unter Wasser stieß ich mich vom Felsen ab, schwamm mit langen Zügen dort hinüber, wo ich die Lichter des Baggers vermutete, es waren zwanzig oder noch mehr Meter, die ich unter Wasser schwamm. Ich holte Luft, tauchte wieder und schaffte es abermals fünfzehn Meter: in dieser Entfernung vom Ufer versenkte ich das Gewehr. Und ich spürte eine unerwartete Leichtigkeit und hatte das Gefühl, daß der ganze Fjord sich mit mir hob, daß er mir auf einmal seinen Schutz verweigerte und mich ausstoßen wollte: immer schwieriger wurde es, die bergende Tiefe zu gewinnen, meine Schulter, mein Rücken blieben an der Oberfläche, meine Hände, die zu langen Zügen nach vorn stießen, bewegten sich durch die Luft, klatschten aufs Wasser, nur das Gesicht tauchte noch ein und die Schenkel. Der Widerstand des Wassers, der erst meinen Bewegungen eine Wirkung geben sollte, schien auszubleiben. Eine stetige Gewalt hob mich empor. Ich kam nicht mehr vorwärts. Ich sah die Lichter des Baggers vor der Flußmündung, und ich glaubte, sie nie erreichen zu können. Da begannen sie auf mich zu schießen. Sie mußten zum Ufer hinabgestiegen sein, den Platz verlassen gefunden haben, und in ihrer Enttäuschung schossen sie auf den Fjord hinaus, wo sie mich zwar nicht erkannten aber schwimmend wußten: die Garben der Geschosse rissen die Oberfläche auf, Leuchtspurfächer glühten über dem Fjord, um mich herum warfen die Einschläge kurze Säulen auf …

Ich hatte sie jedenfalls abgelenkt, ich hatte sie auf mich gezogen, ohne zu wissen, ob und wieviel ich euch helfen konnte, und du wirst mir doch zustimmen, Daniel, daß sie euch verschonten, weil ich mich ihnen angeboten, ihre Aufmerksamkeit abgelenkt hatte.

Ihr wart allein, Christoph und du, es gibt keine Zeugen mehr für euer Entkommen, dies Stück, diese Spanne fehlt mir und fehlt der Geschichte: der gebeugte, keuchende Aufstieg, eure Gedanken und die Worte, die ihr wechseltet, eure Körper mit ihrem Verlangen und Verweigern, die Augenblicke der Erschöpfung, in denen ihr nebeneinander lagt, die Sicherheit der Dreifingerfelsen, die in der Dämmerung über dem Hang endlich aufragten, die Schmerzen der Wunde und die Schlußfolgerungen – all das ist unbekannt, wird ungeklärt bleiben, doch wir können darauf verzichten: etwas fehlt in jeder Geschichte. Etwas muß wohl ungeklärt bleiben, und wer könnte auch schließlich der alleswissenden Erinnerung des Erzählers glauben? Welchen Wert hat für uns die genaue Beschreibung des Gerölls, des Aufstiegs, die Erwähnung uns bekannter Ortsnamen? Genauigkeit wird nichts entscheiden, und Vollständigkeit garantiert kein besseres Verständnis …

Ich weiß, daß ihr allein wart mit eurer Angst und Erschöpfung, zeugenlos, während ich schwamm und schwamm unter ihren planlosen Schüssen. Wahrscheinlich vermuteten sie uns alle schwimmend im Fjord, deshalb streuten sie ihr Feuer. Die Kälte hatte sich längst durch die Kleidung gebissen, sie preßte meine Brust zusammen, sie beeinträchtigte meinen Atem. Meine Beine wurden schwer, ich lag tief im Wasser, und wenn ich versucht hätte, wegzutauchen, wäre es mir gelungen – doch ich versuchte es nicht. Ich schwamm auf die Lichter des Baggers zu, nicht, um den Bagger zu erreichen und mich auf ihm zu verbergen, sondern um in die auslaufende Strömung des Flusses zu gelangen, die mich gegen das Ufer drücken sollte; die Lichter des Baggers fielen auf die Stelle, an der die Wasser des Fords die Flußströmung stauten und auffingen; die Oberfläche glänzte und wellte sich da, verriet etwas von der Unruhe, von der schwerfälligen, drängenden Kraft, die in der Tiefe wirksam war.

Als die Strömung mich erfaßte und wegdrückte zwischen den vertäuten Booten, leistete ich keinen Widerstand, ließ mich nur tragen und sah das Ufer kahl und bräunlich und dahinter die schmalen Ufergärten, Gärten mit Schuppen, Stapeln von Treibholz, mit Stangen zum Aufhängen der Netze. In der Deckung eines vertäuten Ruderbootes beobachtete ich das Ufer und wartete: keine Stimme war zu vernehmen, kein Geräusch von Motoren, nur ein kurzer, eiliger, hallender Schritt von genagelten Stiefeln aus der Stadt, ein Schritt, der nicht ursprungslos war, aber auch nicht aus einer bestimmten Straße zu kommen schien, vielmehr hörte es sich so an, als bewege er sich quer über die geduckt und reglos lauschende Stadt, die längst bezwungen und wehrlos war, die sich daran gewöhnt hatte, hinzunehmen, und dabei gelernt hatte, etwas, was ihr bevorstand, aus der Art der Schritte herauszulesen.

Die Schritte, die sich in der unbewegten Luft über der Stadt zu nähern und zu entfernen schienen, hörten und hörten nicht auf, ich stieg ans Ufer, ich schwang mich über den Zaun, lief auf das Haus zu, in dem die Holmsens schweigend in der unerleuchteten Küche saßen: Rektor Holmsen, Hanna, seine Frau, und Clemens … Wie lange sie sitzen blieben, als ich die Tür aufzog und eintrat, starr vor Erschrecken, wortlos über das, was ich ihnen an untragbarem Risiko zumutete – Clemens vor allem, der junge Clemens Holmsen, ein Lehrer; doch stärker noch als sein Erschrecken war seine rasche, unwillkürliche Abwehr: er erinnerte sich als erster daran, was jeder zu erwarten hatte, der einen vom Widerstand verbarg. »Was willst du?« fragte er, und ›Warum bringst du uns in Gefahr‹, dachte er, und ich wollte schon gehen, als der alte Rektor Holmsen sich erhob, nach seinen Krücken langte und mit einer Krücke stumm einladend auf den Boden wies …

Es war dein alter Lehrer, Daniel, der mich hinaufgehen hieß, mir die Bodenklappe öffnete, sie hinter mir zufallen ließ, und sie beschloß gleichsam die Glücklosigkeit dieses Tages, das Mißlingen unseres Plans. Ich schlief auf dem Boden zwischen altmodischem Spielzeug, während die andern schon die Forderung bedachten, die nicht nur an dich, sondern an die ganze Stadt erhoben wurde: Daniel soll sich stellen …

Was dachte der Kommandant? Was sagte er, als der General mit dem verdrossenen Schildkrötengesicht, der an nichts mehr glaubte als an seine eigenen Enttäuschungen, schließlich vor der Kommandantur aus dem Kettenfahrzeug stieg, blicklos an den salutierenden Posten vorbeiging, um ihn endlich zu begrüßen? Wie verlief die Begrüßung? Erhielt der Kommandant eine Zurechtweisung wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen, und trug er, Freiherr von der Laube, dem General vor, für welche Maßnahme er sich angesichts des Überfalls bereits entschieden hatte? Legte vielleicht der General dem Kommandanten die Maßnahme nahe, und sagte der Kommandant darauf: ›Danke gehorsamst, morgen, in aller Frühe‹?

Jedenfalls wurde die Maßnahme während ihrer Begegnung geplant, beschlossen, die Maßnahme gewann an Bestimmtheit, wurde gesichert, weitergegeben über die Kette der Adjutanten, Wachhabenden, Ausführenden, lag schon über der Stadt und war anwesend in ihr wie der Tod in der Patrone, während die Stadt selbst weder etwas ahnte noch etwas wußte. Alles war vorbereitet, und in der Stille und weichenden Trübnis des Morgens kamen sie.

Das Geräusch von Lastwagenmotoren und Motorrädern kündigte sie an, ein, wie es schien, gedrosseltes Geräusch, das sich langsam näherte und dann gleichbleibend, ohne anzuschwellen oder sich zu verlieren, die Stadt erfüllte, und jeder, der davon erwachte und den Kopf hob, wußte sogleich, daß es keine durchfahrende Kolonne war, keiner ihrer Konvois, die nachts oder morgens die Stadt durchquerten. Jeder, der davon erwachte, begnügte sich auch nicht damit, dazuliegen und zu lauschen, sondern tappte an ein Fenster, an eine Tür oder Luke, achtete auf seine Stellung, vergewisserte sich, bevor er die Gardine erfahren zur Seite zog, sich vorbeugte oder hinaufreckte … Sie waren nicht einmal sehr zahlreich, auf ihren Gesichtern lag keine Spannung und keine Genugtuung, es waren harte, beherrschte Gesichter, die in dem dunklen Viereck der hochgeschlagenen Verdeckplanen erschienen; ich sah sie kommen. Ich sah sie auf den Ladeflächen ihrer Lastwagen sitzen, steif, achtlos, mit ihrer unbarmherzigen Korrektheit; ich stand auf dem schäbigen, durchgesessenen Ledersofa der Holmsens, hielt mich am Rand der Bodenluke fest und beobachtete ihre Anfahrt. Auf kürzeste Entfernung, die Knie berührten sich wohl, saßen sie sich auf den Ladeflächen der Lastwagen gegenüber, die Gesichter einander zugewandt, den Blick des andern reglos ertragend oder, was wahrscheinlicher war, gar nicht mehr wahrnehmend …

Du hast sie nicht kommen sehen, Daniel, ihr wart fort, als sie in die Stadt einzogen – nicht nur, um uns eine Antwort auf unsere glücklose Aktion zu erteilen, sondern um auch gleich dafür zu sorgen, daß sie in Zukunft von allen ähnlichen Aktionen verschont blieben. Du konntest nicht sehen, wie sie die Falle entstehen ließen, in die wir alle gerieten; denn in deiner Geschichte müßte jetzt – wenn Zeit für dich das ist, was sie für mich ist – das letzte Stück eures keuchenden Aufstiegs beginnen: Christoph müßte als Träger abgelöst werden durch die andern, die euch vom Lager aus entdeckt hatten und entgegengekommen waren; ihr müßtet die Kühle der Schneefelder spüren können, und du würdest wohl erwähnen müssen, was im Lager geschah nach eurer Ankunft.

Aber es genügt, wenn jeder von sich erzählt, mehr ist nicht zu erreichen; auch wenn wir abweichen voneinander, sind wir gleichzeitig betroffen: du im Lager, ich in der Stadt hinter der Bodenluke. Vielleicht kommt es zunächst auch gar nicht darauf an, wer unsere Geschichte erzählt, sondern daß sie überhaupt erzählt, und das heißt wiederholt wird …

Die Anfahrt der Lastwagen und Motorräder in der Frühe wird doch immer wiederholbar bleiben in der Vorstellung, der Augenblick, als sie um das Denkmal auf den Rathausplatz bogen, durch das Netzwerk unserer Straßen fuhren, auf einmal langsam wurden, auf einmal mit laufenden Motoren hielten.

Sie hielten vor dem Haus von Richter Heyerdal, die ganze Kolonne – zwei Motorräder vorn, drei Lastwagen, zwei Motorräder am Ende –, und ich sah einen Offizier mit Augenklappe und zwei Soldaten auf das Haus zugehen; der Offizier schlug mit dem ringförmigen, glänzenden Messingklopfer gegen die Tür, blickte auf die Uhr, salutierte, als die Tür geöffnet wurde, wobei sein Körper sich wippend vor und zurück legte, und betrat mit den beiden Soldaten das Haus. Sie blieben etwa so lange in dem Haus, wie ein Mann – kein beliebiger Mann, sondern Richter Heyerdal, der auf seine Kleidung Sorgfalt legte – braucht, um sich anzuziehen, dann erschienen sie wieder, geleiteten den schwarzgekleideten, hageren, weder redenden noch um sich blickenden Richter zu dem zweiten Lastwagen, klappten ein Trittbrett herab, halfen ihm beim Aufsteigen, klappten das Trittbrett wieder hoch und fuhren an, während die Haustür noch einmal geöffnet wurde und der Bruder des Richters, der ihm den Haushalt führte, auf die Veranda trat: ein Mann mit eisengrauem Haar und verstörtem Gesicht, der den Kopf in die Schultern einzog und der abfahrenden Kolonne starr nachblickte. Er stand da, sah weniger ängstlich aus als bekümmert, und in dieser Haltung von ratlosem Kummer lehnte er sich gegen einen Holzpfeiler, so als wisse er nichts anderes zu tun, als die Rückkehr seines Bruders zu erwarten.

Wahrscheinlich bemerkte er gar nicht, daß die Kolonne schon wenige Häuser weiter abermals hielt, daß der Offizier und die beiden Soldaten ausstiegen und durch den abfallenden, mit Muscheln eingefaßten Vorgarten auf das Haus von Niels Nielsen zugingen; ich konnte es erkennen. Ich konnte jetzt außerdem erkennen, daß der mittlere Lastwagen, der vom Begleitkommando eingeschlossen wurde, dazu ausersehen war, alle unsere Männer aufzunehmen, auf die man Wert legte, auf die man sich bereits geeinigt hatte. Arne Baard von der Sparkasse war dabei, Kaplan Lassen, Axel Malberg, der Redakteur, und ich sah auch das gutmütige Gesicht von Olsen, von dem niemand etwas wußte, es sei denn, daß er ein Mann von Einfluß war, den man aufsuchte, wenn man es mit der Besatzung zu tun hatte …

Sie holten auch Niels Nielsen, den Polizisten; sie warteten vor dem rostrot getünchten Haus, bis er erschien, in Uniform, aber ohne Waffe; korrekt erwiderten sie seinen Gruß – einen Gruß, zu dem er verpflichtet war; denn die Macht, die er zu besitzen glaubte, kam von ihrer Macht –, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn zum zweiten Lastwagen, vor dem Niels stehen blieb und verwundert zu seinem Haus zurücksah; er zögerte, er konnte nicht verstehen, warum sie ihn holten, vielleicht dachte er, es sei ein Versehen oder ein Irrtum, denn sie selbst, der Offizier und die beiden Soldaten von der Feldgendarmerie, hatten ihn als Polizisten geprüft und bestätigt, hatten ihm ihr Vertrauen geschenkt und sich sogar als seine Kameraden bezeichnet. Der kinnlose Polizist mit den müden, verwunderten Augen sah zu dem Holzbalkon seines Hauses hinauf, auf dem eine Frau erschien, eine schwere, blonde Frau in dünnem Kittel, die auf kräftigen Armen ein kräftiges, schlafendes Kind hielt und in einer Art müder Demut auf die Kolonne blickte.

Niels Nielsen winkte ihr, er winkte beschwichtigend: sei unbesorgt, es wird sich rasch alles aufklären, es ist bestimmt nur ein Irrtum, und sie nickte träge, sie glaubte ihm. Höflich wies der Offizier auf das Trittbrett, Niels stieg auf den Lastwagen und winkte ein letztes Mal zu der Frau und dem kräftigen Kind hinauf, dann setzte sich die Kolonne in Bewegung.

Niels begrüßte die andern auf der Ladefläche, sie tauschten nicht mehr als einen Handschlag, so als wüßten sie längst, wozu man sie ausersehen hatte; anscheinend gab es keinen Zweifel mehr für sie, keine Ungewißheit. Anscheinend glaubten sie aber auch alle, daß sie lediglich zeitweilige Opfer eines Mißgeschicks seien: niemand protestierte, weigerte sich, lehnte sich auf; alle schienen überzeugt, daß ihr Mißgeschick sich aufklären werde … Nur der alte Holmsen mißtraute ihnen, er sorgte für den einzigen Zwischenfall, der sich während der Geiselnahme ereignete, ich beobachtete es von der Luke aus. Die Kolonne hielt vor Holmsens Haus, ich wußte, warum sie hielt, ich brauchte mich nicht zu verbergen; die einzige Frage, die sich stellte, hieß: Clemens oder Rektor Holmsen, der Junge oder der Alte. Sie holten Clemens.

Sie kamen ins Haus, ihre Stimmen blieben unhörbar, ihre Schritte; sie sprachen und gingen leise, als bemühten sie sich, bei ihrer Aktion Rücksicht zu nehmen, nur die Stimme des alten Rektors war zu hören und die harten Stöße seiner Krücken. Dann führten sie Clemens hinaus, brachten ihn zum Lastwagen, doch bevor er aufstieg, durchdrang ein Ruf den Morgen, energisch und fordernd und so unerwartet, daß die Soldaten des Begleitkommandos sich argwöhnisch vorbeugten und die Motorradfahrer abstiegen. Es war Rektor Holmsen, der gerufen hatte, Daniels alter Lehrer. Mit kurzen, ruckhaften Körperschwüngen, unter den skandierenden Stößen der Krücken näherte er sich der Gruppe, in deren Mitte Clemens stand mit grauem Gesicht; alle wandten sich dem Alten zu, der in diesem Augenblick nicht nur ihr Erstaunen, sondern auch ihre Bewunderung hervorrief durch die heftigen, beherrschten Schwünge; doch während sie sich ihm zuwandten, bildeten ihre Körper stillschweigend und instinktiv eine Mauer, eine schirmende Wand vor Clemens, als ob sie Rektor Holmsen zu verstehen geben wollten, daß sie seinen Sohn nicht mehr preisgeben würden oder könnten.