Stag Dance - Torrey Peters - E-Book

Stag Dance E-Book

Torrey Peters

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Beschreibung

»Absolut faszinierend. Mit Witz und Pathos erkundet Peters ihre Figuren am Rande des Erwachsenwerdens.« BRIT BENNETT »Heiß, herzzerreißend und ein echter Triumph.« MIRANDA JULY Radikal, spielerisch und mitreißend – das Porträt einer Identitätsfindung  »Dieses innovative, grenzen-verschiebende Buch feiert Gender, Transsein und das Leben an den Rändern in großartigem kompliziertem Glanz.« People Vier gleichermaßen visionäre Texte verschmelzen zu einer Coming-of-Age-Geschichte, einer Geschichte des Ausprobierens: Jungs in einem Internat erleben, wie sich ihr geheimes Begehren in Grausamkeit und Verrat verkehrt, trans* Menschen planen nichts weniger als die Übernahme der Weltherrschaft, Holzfäller feiern vergnügt ein ausgelassenes Fest im Wald, bis ein Teil der Männer als Frauen auftritt, und ein Crossdresser steht an einem Partywochenende in Las Vegas verzweifelt zwischen zwei Versuchungen. Scham, Selbstüberschätzung, Verwirrung und Verlorenheit – Torrey Peters erzählt von den verstörenden wie befreienden Aspekten des Erwachsenwerdens. Davon, wie herausfordernd es sein kann, den eigenen Weg zu finden. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stag Dance

TORREY PETERS, aufgewachsen in Chicago, studierte Kreatives Schreiben und Literaturwissenschaften. Detransition, Baby, ihr Debütroman, wurde 2021 für den Women’s Prize for Fiction nominiert – als das erste Buch einer trans* Autorin in der Geschichte des Preises. Von der New York Times wurde der Roman unter die wichtigsten 100 Bücher des 21. Jahrhunderts und unter die 25 wichtigsten Bücher queerer Literatur der Nachkriegszeit gewählt. Torrey Peters lebt in Brooklyn.www.torreypeters.comFRANK SIEVERS, Jahrgang 1974, lebt als Übersetzer und Autor in Berlin. 2017 erhielt er mit Andreas Jandl den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis.

»ABSOLUT FASZINIEREND. MIT WITZ UND PATHOS ERKUNDET PETERS IHRE FIGUREN AM RANDE DES ERWACHSENWERDENS.« BRIT BENNETT Jungs in einem Internat erleben, wie sich ihr geheimes Begehren in Grausamkeit und Verrat verkehrt, trans* Menschen planen nichts weniger als die Übernahme der Weltherrschaft, Holzfäller feiern ausgelassen ein Fest im Wald, bis ein Teil der Männer als Frauen auftritt, und ein Crossdresser verzweifelt an einem Partywochenende in Las Vegas zwischen zwei Versuchungen. Vier gleichermaßen visionäre Texte verschmelzen zu einer Coming-of-Age-Geschichte, einer Geschichte des Ausprobierens.

Torrey Peters

Stag Dance

Ein Roman in vier Bildern

Aus dem Englischen von Frank Sievers

Ullstein

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstr. 126, 10117 Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]: zero-media.net, München nach einem Entwurf von Rachel AkeUmschlagmotiv: © Look and Learn / Valerie Jackson Harris Collection / Bridgeman Images © Christie‘s Images / Bridgeman ImagesFoto der Autorin: © Hunter AbramsE-Book powerded by pepyrusISBN978-3-8437-3583-4

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Infiziert euch

Nachgejagt

Stag Dance

Maskenträger

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Infiziert euch

Widmung

Für Cecilia:Du wolltest mit mir abhängen, aber ich habe stattdessen an diesem Roman geschrieben, und dann warst du weg.

Infiziert euch

Tipton, Iowa, sieben Jahre nach dem Ausbruch

Ich schleppe einen Kübel Getreide für die Säue, den ich mit beiden Händen halte, damit das Gewicht, das an dem dünnen Draht hängt, nicht in meine schwielenlosen­Finger schneidet, als Keith hinter mir auftaucht und ihn mir mit einer Hand entreißt. Er hält ihn in die Höhe, auch das mit einer Hand, und macht tss. »Brauchst wohl ein bisschen Hilfe, kleine Lady.«

Er legt das Machogehabe wie alle T‑Slabs an den Tag, Aggression und Wutanfälle inklusive, noch dazu ist er locker 1,95 Meter. Unserem Größenverhältnis nach liegt mein Blickfeld auf seiner Brusthöhe, was bedeutet, dass ich aus nächster Nähe seinen alten Carhartt-Overall begutachten kann, den er weit aufgeknöpft hat, um seine behaarten übergroßen Titten zur Schau zu stellen. Er ist so stolz auf sie, dass er sie sogar hier draußen auf dem Land zeigen muss, eine Machtdemonstration, die selbst der hinterwäldlerischste Bauer versteht: Ich habe so viel Testosteron, dass ich überdosiere. Was sagt ihr dazu, ihr mindernutzigen rationsabhängigen Schwächlinge? Ich bin dankbar, dass er wenigstens keins von diesen Hemden mit Brustausschnitt trägt, die gerade unter den Slabs in Mode sind.

Es heißt ja, der Kunde hat immer recht, aber Keith sieht es als seine Pflicht an, das Sagen zu haben, und ich darf ihm hinterhertraben. Er hat keine Ahnung, dass ich schon vor der Seuche trans* war und Östrogen gespritzt habe. Er denkt, ich bin so ein Auntie-Boy wie die ganzen anderen Männer, die sich seit der Horterei während der Spaltkriege kein Testos­teron mehr leisten konnten und sich deshalb minderwertiges Östrogen gespritzt haben. Daher das ganze Gelaber von wegen »kleine Lady«, was die meisten Leute wohl als Stichelei verstehen, wie die Auntie-Boys angeblich den Krieg überstanden haben. Ich lasse ihn in der Annahme. Ich brauche das Östrogen vom Schwarzmarkt, das er diesen hässlichen Schweinemutanten abzapft.

Da Östrogen streng rationiert und reguliert ist, teilt die Übergangsregierung das gute Ö nur Frauen mit aussichtsreicher Fruchtbarkeit zu. Eine ältere Frau müsste schon einen Verwandten in der Regierung sitzen haben oder genug Geld haben, um an der richtigen Stelle ein Schmiergeld zu platzieren und damit auf die Zuteilungsliste zu kommen. Aber als trans* Frau? Die Leute glauben ja immer noch, dass wir vorsintflutlichen trans* Frauen die Seuche ausgelöst haben. Selbst wenn wir aus der Versenkung kämen, würde kein Schmiergeld der Welt reichen, um uns Östrogen zu beschaffen.

Keith lässt den Futterkübel kreisen, bis seine Adern wie Ranken aus seinem Arm hervortreten. Ich warte, dass er endlich damit aufhört, aber das Spiel besteht gerade darin zu beweisen, dass seine Kraft meine Geduld übersteigt. Ich zeige auf die Säue. »Willst du die Schweine selber füttern? Von mir aus gerne.«

Da gibt er mir den Kübel zurück. »Nee, nee, ich schaue mir lieber an, wie du da herumtänzelst – und wie du läufst.« Die Schweine füttern heißt, ich muss ins Gehege reingehen und alle Körner aus dem Kübel verstreuen, bevor mich eins dieser irren Monster niedermäht und den ganzen Kübel allein auffrisst.

»Leck mich, Keith.«

»Ach, Süße. Sag mir einfach, wann und wo.«

Ich bezahle Keith extra mehr, damit er mir zeigt, wie man Schweine züchtet, was nur ein Vorwand ist, um ihm in einem günstigen Moment ein paar Ferkel zu klauen. Dann können Lexi und ich uns unsere eigene Schweineherde halten. Nur dass ich das alles hier inzwischen hasse, Keith genauso wie die Schweine. Keith aus offensichtlichen Gründen. Die Schweine, weil sie gentechnisch verändert sind, um mehr Hormone zu produzieren, die wiederum mit den Hormonen bioidentisch sind, die die Menschen vor der Seuche produziert haben. Die Industriehormone in meinem Körper machen aus mir eine üble Bitch, und ich wiege keine dreihundert Kilo und habe keine daumenlangen Rasiermesser als Zähne. Letzten Monat habe ich mir einen Zeh gebrochen, als ich einem dieser schweine­ähnlichen Panzer vor die Schnauze getreten habe. Die Sau ist keinen Millimeter langsamer geworden. Sie ist einfach über mich hinweggebügelt und hat mir eine fünf Zentimeter breite Scharte in den Schenkel gebissen, weil ich den Futterkübel nicht unverzüglich zu ihrem kulinarischen Wohlgefallen vor ihr ausgekippt habe. Die nächste Narbe.

Diesmal kriege ich es ganz gut hin und kann sogar der Schwarz-Pinken einen kleinen Vergeltungstritt verpassen, bevor ich über den Zaun hüpfe. Das Monster kriegt davon gar nichts mit, dafür Keith, der im Tor zur Scheune lehnt.

»Hast du deine Tage, oder was?«, ruft er mir zu. Von wegen. Er schüttelt den Kopf. »Du bist noch zickiger als meine Schweine. Spar dir was für die echten Mädels auf, okay?« Er glaubt, dass ich deale, wie alle anderen, die das Zeug an Frauen verkaufen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als fruchtbar und schwanger zu sein. Dafür geht jedenfalls der Großteil seines Bestands drauf – die Bevölkerung altert und stirbt allmählich aus.

Während ich zu ihm rübergehe, ziehe ich ein Büschel schlammiges Stroh aus meiner Hose. »Nein, noch keine Periode. Hast du noch was von dem guten Stoff, Keith?«

Er zieht einen kleinen Plastikbeutel mit zehn Glasampullen à 5 ml aus seiner Hosentasche. »Hier, ganz reines Zeug. Damit kannst du eine Babyfabrik einen Monat am Laufen halten. Und kriegst vermutlich sogar einen Auntie-Boy wie dich schwanger.«

Ich halte die Hand auf, aber er rührt sich nicht, um mir die Ampullen zu geben, die in seiner fetten Pranke liegen. Er grinst mich nur anzüglich an. »Falls ihr Mädels mal einen Hengst braucht, ihr wisst ja, wo ihr mich finden könnt.«

»Klar, Keith.« Das sagt er jedes Mal, wenn ich mir bei ihm Nachschub hole, aber diesmal denke ich kurz darüber nach und stelle mir vor, wie Keith versucht, Lexi zu verführen und zu besteigen. Ein lustiges, befriedigendes Bild. Er hätte, bevor sie sein stumpfes Dasein beendet, gerade noch genug Zeit, um überrascht über den sich ihm auftuenden Anblick seine weiß blonden Augenbrauen zu lupfen.

Seattle, am Tag des Ausbruchs

Lexi zieht den Saum ihres Rocks hoch und zeigt mir die neuen Tätowierungen auf ihrem Oberschenkel. »Siehst du das?«, fragt sie mich. Ihre Laune nervt mich. Lexi müsste eigentlich wissen, dass ihre Oberschenkel nicht die gewünschte Wirkung auf mich haben.

»Siehst du was?«, frage ich.

»Hier«, sagt Lexi und zeigt auf eine Tätowierung über einem Schiffstattoo. Sie sieht schlichter aus, wie ein Stock mit einem Bündel. Darauf steht t4t.

»T4t?«

»Ja«, sagt Lexi. »Wie wir früher mal waren. Oder du vielleicht nicht.«

»Lexi, können wir bitte damit aufhören?«

Sie schiebt den Rock wieder über die Tätowierung. »Okay. Jedenfalls ist es jetzt anders. Für dich bin ich rein theoretisch t4t. Trans* Frau liebt trans* Frau. Und du bist trans*, also bist du auch gemeint.«

Ich werde wütend: weil Lexi es wagt, mir zu sagen, ich würde irgendwo dazugehören, nur weil es ihr neues Ding ist. Aber halb hat sie recht. Lexi ist inzwischen die selbst ernannte Expertin der Trans*-Frauen-Szene von Seattle, und da will ich natürlich dazugehören. Das Jahr, in dem wir keinen Kontakt hatten, war ein einsames. »Also, wozu genau soll ich jetzt gehören?«

»Zur Zukunft«, antwortet Lexi. »In Zukunft werden alle Menschen trans* sein.«

Ich kann gerade noch an mich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Lexi klingt oft wie eine Studienanfängerin, die sich gerade in einem Kurs für Kritische Theorie eingeschrieben hat. Ich weiß nicht, ob die anderen Mädels trotz oder wegen ihrer unterkomplexen Analysen auf sie hören. Für sie und ihre Clique gibt es jedenfalls nur Gendertheorie, alles andere schreit nach Transphobie, Vergewaltigung, Empörung und Nieder mit cis!

Offenbar hat das mit dem Augen-nicht-Verdrehen nicht so ganz geklappt, weil sie zurückzuckt und sagt: »Also, damit meine ich nicht, dass dann alle auf irgendeine schwammige philosophische Art trans* sind. Ich meine damit, dass wir alle auf Hormonen sein werden. Selbst die Cis.« Sie überprüft ihre Wortwahl und ändert dann noch mal die Formulierung: »Selbst die Cissys.« Neben ihr steht ein Plastikkanister, den sie vor ein paar Minuten abgeholt hat. Sie hebt ihn hoch und tätschelt ihn feierlich. »Na, wirst schon sehen. Jedenfalls wenn ich von der Zukunft spreche, dann meine ich kein weit entferntes Zeitalter. Sondern in vielleicht einem halben Jahr.«

»Lexi«, sagt Raleen. »Komm, lass das, stell ihn wieder ab.«

Ihre Stimme klingt nervös. Wie immer habe ich Raleen schon ganz vergessen, weil sie kaum was sagt, und selbst wenn, ergibt es meist keinen Sinn. Obwohl sie fünfzehn Zentimeter größer ist als ich, scheint sie so unauffällig zusammengestaucht weniger Raum einzunehmen als ein Kind. Dann versinkt sie in dem Sofa, das vorübergehend ihr Zuhause ist, und sofort habe ich sie wieder vergessen.

Wir sitzen im Wohnzimmer des Hauses, das Lexi sich mit ihrer Wohngemeinschaft teilt, ein verfallenes viktorianisches Gebäude am Rande der Siedlung auf dem Capitol Hill von ­Seattle. Trotz der bröckelnden Fassade könnten sich Lexi und ihre Mitbewohner*innen das Haus eigentlich nicht leisten. Aber es gehört einem Onkel von einem der Mädels, der es ihr günstig vermietet, während er darauf wartet, dass ein Bau­unternehmer kommt und ihm einen guten Preis bietet. Als Wiedergutmachung dafür, dass sie von der Nächstenliebe eines cis Kerls profitiert, überlässt Lexi die Sofas im Erdgeschoss allen trans* Frauen, die bei ihr anklopfen, weil sie gerade keinen festen Schlafplatz haben. In den letzten Monaten war das Raleen, die offenbar obdachlos ist, obwohl sie als Doktorandin der Molekularbiologie an der University of Washington ein Promotionsstipendium hat. Sie begann ihre Transition mitten in der Dissertation, und da verlor ihr Uni-Mentor das Interesse an der Betreuung und einer weiteren Zusammenarbeit mit ihr. Ihre Eltern, die in Podunk im Nirgendwo leben, haben keine Ahnung von ihrer Transition, weshalb Raleen – offenbar mindestens ebenso sehr, um deren Unwissenheit in die Länge zu ziehen, wie für sich selbst – ab und zu im Labor aufkreuzt und dort herumfuhrwerkt, während alle darauf warten, dass endlich die letzte Rate ihres Stipendiums abläuft. Die Hälfte der Zeit, die ich sie kenne, war sie auf 2C‑B, das sie Lexi zufolge selbst hergestellt hat. Das ist ein Halluzinogen, das man offenbar leichter herstellen kann als LSD, zumindest mit den Chemikalien, zu denen Raleen in ihrem Labor Zugang hat. Vielleicht ist sie heute drauf und deshalb so nervös? Aber vielleicht spinnt sie auch einfach nur.

»Raleen, darüber haben wir schon gesprochen«, sagt Lexi schnippisch.

»Worüber?«, frage ich. Und plötzlich bin ich diejenige, die zu Luft wird. Lexi und Raleen ignorieren mich und ergehen sich in irgendeinem stummen Streit. Von meiner Perspektive aus sehe ich Lexi nur als Silhouette im Vorderfenster, das längs in fünf Glasscheiben unterteilt ist, in die die Mädels dünnen, transparenten Stoff in Blau, Rosa und Weiß gehängt haben, sodass das ganze Fenster wie eine trans* Flagge aussieht. Sie stellen sich ständig davor und machen Selfies, nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch weil das Licht so sanft und vorteilhaft durch den Stoff fällt. Als Silhouette vor der sonnenbeschienenen Flagge sieht Lexi plötzlich eindrucksvoll aus: propagandistisch und imposant.

Raleen verliert den Anstarrwettbewerb. »Ich … ach, vergiss es«, murmelt sie und sieht dabei angespannt zu Lexi. Es macht mich rasend, wie Lexi Raleen zu ihrem Schoßhündchen gemacht hat.

Dann wendet sich Lexi zu mir. Sie spielt heiße Kartoffel mit sich selbst und nimmt den Kanister von einer Hand in die andere. »Erinnerst du dich noch an das Projekt, von dem Raleen mal erzählt hat? Die Schweineimpfung, an der sie herumgedoktert hat?«

Das war vor etwa einem Monat. So gesprächig hatte ich Raleen noch nie erlebt. Sie faselte was von einem Impfstoff aus Australien, mit dem man Schweine kastrieren kann. Beziehungsweise rein fachlich gesprochen war es keine Kastration. Der Impfstoff rief eine Autoimmunantwort hervor, die bei den Keilern dazu führte, dass ihr Stoffwechsel keinen ­Testosteronvorläufer mehr produzierte. Der sorgt normalerweise für den typischen »Ebergeruch«, wegen dem das Fleisch von männlichen Schweinen ungenießbar ist. Raleen meinte, man könnte ganz einfach einen ähnlichen Impfstoff für Menschen entwickeln, der nach demselben Prinzip funktioniert. Wer sich diesen Impfstoff spritzt, ist für den Rest seines Lebens auf eine Hormontherapie angewiesen, weil der Körper alle Hormone zerstört, die er selbst produziert. Raleen, Lexi und ich haben uns die halbe Nacht darüber ausgelassen, wie wir J. Michael Bailey den Impfstoff verabreichen würden. Ich fand die Vorstellung sehr lustig, Bailey in eine hormonab­hängige Pseudotranse zu verwandeln. Als Witz gefällt sie mir immer noch.

Lexi wartet. Sie sieht, dass ich allmählich begreife. »Lexi, das ist nur in der Fantasie lustig.«

Raleen versucht, mich zu beruhigen. »Das ist komplett ungefährlich. Wir haben den Impfstoff schon an uns selber ge­testet. Eine Variante an mir und eine spätere Variante an Lexi.« Sie faselt unzusammenhängend von ihren Testosteronwerten, dass sie seit Wochen kein Spiro und keine Blocker mehr genommen hat und dass ihr T fast bei null liegt, worauf sie auf für mich nicht nachvollziehbare Weise das Thema wechselt und zu dem Schluss kommt: »Das ist jetzt der endgültige Impfstoff.«

Daraufhin steht Lexi auf, öffnet den Kanister und zieht ein Stäbchen heraus, das wie eine Art Fleckentfernerstift oder wie ein oranger Filzmarker aussieht. »Hier, wir haben ihn in einen Autoinjektor gefüllt, wie bei einem EpiPen.«

Sie geht ein paar Schritte auf mich zu und hält ihn mir mit ausgestreckter Hand entgegen, als wollte sie, dass ich ihn nehme. Dann hält sie inne und fragt mich beinahe flötend: »Weißt du noch, als ich dir meine Narben gezeigt habe, damals im Bett in New Hampshire?«

Schon wieder! Sie kann es einfach nicht lassen, davon zu reden, wie wir mal zusammen in einem Bett geschlafen haben. Vor allem vor Publikum.

»Ich versuche, es eigentlich zu verdrängen.«

Aber ich will diesen EpiPen sehen. Deshalb strecke ich im Sitzen den Arm aus, damit sie ihn mir geben kann – als sie mir plötzlich das stumpfe Ende in den Unterarm rammt, so schnell, dass ich nicht mal zucke. Es prickelt kurz vom Einstich der Nadel, und als ich den Arm wegziehe, geht die Einstichstelle auf. Noch bevor ich mir instinktiv über den Arm fahre, schießt das Blut hervor.

Ich kann es nicht glauben. Ich sehe Lexi an und versuche, mir einzureden, dass es irgendwie ein Versehen war.

»Jetzt hast du auch eine Narbe«, sagt Lexi.

Winter, New Hampshire, zwei Jahre vor dem Ausbruch

Lexi und ich liegen in ihrem Bett, sie zeigt mir ihre Narben. Sie hat ziemlich viele. Das Morgenlicht biegt um die Kanten der dicken schwarzen Vorhänge. Ich frage mich, ob es in der Nacht weiter geschneit hat und ob ich mit dem Auto nach Hause fahren kann. Lexi hat ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben, um sich eine kleine Hütte mit drei Zimmern an einem See in New Hampshire zu kaufen, die von den halb fertigen Reparaturen und Umbauten ziemlich verunstaltet ist. Überall lugen Nägel und Schrauben hervor, die weichen Stoff oder Haut aufritzen könnten.

Lexi war ein paar Jahre bekennende Alkoholikerin. Sie hat gleich nach der Highschool im Unternehmen ihres Vaters angefangen. Mit zwanzig hatte sie schon ihren festen Tagesablauf: Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, ließ sie die Verdunklungsrollos runter, damit keiner zu ihr reinsehen konnte, zog sich Frauenkleider an und kippte eine Flasche Wodka. Die Hütte hat sie sich gekauft, um ihre Gewohnheiten aufrecht­erhalten zu können, ohne dass es auffällt. Ab und zu kam sie auf die Idee, einen Schrank rauszuschmeißen oder ein Dielenbrett rauszureißen, aber dann verlor sie vom Alkohol übermannt wieder die Lust. »Ein Drecksloch ist das hier«, sagte sie zur Begrüßung, als ich das erste Mal dort war. Seit acht Jahren, seit ihr die Hütte gehört, bin ich der erste Mensch, der sie betreten darf, weil Lexi sich schämt, wenn irgendwer ihre Slips und Röcke oder die Wodkaflaschen sieht.

»Was ist das?«, frage ich und fahre eine lange blassrosa Narbe an ihrem Unterarm entlang. Sie liegt bäuchlings im Bett, ich habe mich auf einen Ellbogen gestützt an sie geschmiegt.

»Auf der Drehbank habe ich früher oft Schläger für mein Baseballteam gemacht«, sagt sie. »War nicht immer ganz nüchtern dabei.«

»Und die hier?« Ein weißer Knopf aus Narbengewebe direkt unter der Achselhöhle.

»Da bin ich ohnmächtig umgekippt und habe mich an einem Nagel aufgehängt.« Sie prahlt nicht damit. Sie sagt, wie es ist: halb Bekennerschreiben, halb achselzuckende Los­sprechung, ungefähr so, wie man jemandem erklärt, dass überall Müll rumliegt, weil ein Waschbär die Mülltonne durchwühlt hat. Ja gut, man hätte die Klemme am Deckel zumachen können, aber Waschbären waschbären eben, was soll man da machen?

»Hast du auch Narben von Schüssen?«, frage ich, was nicht so abwegig ist, wie es klingt. Lexi hat jede Menge Schusswaffen. Auf ihrem Wohnzimmertisch liegen kreuz und quer Handfeuerwaffen wie bei mir zu Hause Fernbedienungen und Spiele­konsolen. Auch jetzt gerade liegen wir unter einem ganzen Arsenal: Quer über dem Kopfende hängen ein Scharfschützengewehr, eine Schrotflinte und ein AR‑15, das sie zum Automatikgewehr umgerüstet hat, sodass sie in einer Sekunde von REM-Schlaf auf Todfeind umschalten kann. Als ich Lexi gestern Abend gefragt habe, ob die alle geladen sind, hat sie nur mit den Schultern gezuckt. »Würde ja sonst nicht viel nützen.« Nach ein paar Bier gab sie zu, dass sie ein paar von den Sachen, die Schrott waren, selbst zu Schrott geschossen hat, als sie be­soffen war.

Ich bin fasziniert und abgestoßen von dem Leben, das sie hier in dieser Hütte führt. Ganz anders als meins. Ich mache in Dartmouth meinen Doktor und wohne mit meiner Freundin, mit der ich seit acht Jahren zusammen bin, in einer Einliegerwohnung in einem imposanten Haus in Neuengland, das einer Professorin für mittelalterliche Literatur gehört, die ganz sicher keinerlei Waffen besitzt. Für die Einrichtung habe ich den Eames-Tisch meiner Großmutter aus den 1950er-Jahren eingebracht, meine Freundin eine alte Vase von Baccarat. Wir beide kennen Eames und Baccarat. Die meisten meiner Freund*innen leben in einer der fünf größten amerikanischen Städte und arbeiten im Medienbereich oder in irgendwelchen Firmen. Lexi und ich haben nur drei Dinge gemeinsam: Wir sind beide trans*, wir sind beide frisch auf Hormonen, und wir sind beide elendig einsam.

Ich hatte auf Lexis Anzeige in der Rubrik »t4t« der Privatanzeigen auf Craigslist geantwortet. Nachdem wir online gechattet hatten, trafen wir uns in einer Schwulenbar in Manchester, wo mir Lexi gestand, dass sie sich auf Facebook durch meine Fotos geklickt hat. »Deine Freundin ist echt scharf«, sagte sie, dann hielt sie inne und drehte ihren Bierdeckel. »Also, insofern verstehe ich nicht, was du hier machst.« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten soll. Wie erkläre ich einem ­nahezu Fremden, dass ich mit meiner Freundin erst ein Mal Sex gehabt habe, seit ich auf Hormonen bin? Wie ich, hart erigiert und verletzlich, dankbar auf sie hinuntersah und ihre herrliche Haarpracht bewunderte, die meerjungfrauengleich übers Kissen wallte, als sie die Augenbrauen zusammenzog und traurig sagte: »Du riechst anders.« Wie im selben Augenblick ihr Gesicht unter Tränen verschwamm? Wie ich versuchte, sie trotzdem dazu zu bringen, mit mir zu schlafen? Wie ich seitdem jeden Morgen an ihrem Rücken aufwache und mich am liebsten an sie schmiegen würde, dann aber vor ihrem kalten Kummer zurückweiche, wohl wissend, dass ich ihn durch meine Entscheidung selbst hervorgerufen habe? Wie soll ich über die Abende sprechen, an denen ich heimlich mit Männern skype, weil ich Bestätigung brauche, und was ich zu ihnen sage, damit sie sagen Ja, du bist eine Frau, und ich will dich ficken wie eine Frau. Der aktuelle Typ kommt aus Seattle und heißt Sidney. Ich spiele mit ihm ausgeklügelte Telefonsex-Rollenspiele, in denen ich seine Frau bin, seine devote Silikon-Trophäe. Warum ich Lexi kennenlernen wollte? Die Antwort lautet: wegen all der Dinge, die ich nicht sagen kann. Die ich kaum denken kann.

Meine Antwort ist wie ihre Antwort auf die Waffenfrage, dasselbe Verstummen. »Warum brauchst du so viele?« Viermal hatte sie zu einer Antwort angesetzt: dass ihr dann keiner dumm kommen kann, dass sie mit Waffen groß geworden ist, dass sie kein Opfer ist, dass sie schon ein paarmal ziemlich in Schwierigkeiten geraten ist. Bei jeder Antwort hat sie dieselbe Unsicherheit offenbart wie ich, als sie mich gefragt hat, warum ich mich mit ihr treffen will. Nicht, dass wir beide keine Antwort auf die Frage hätten. Unsere Antworten waren nur einfach unsagbar.

Die nächste Narbe, die mir Lexi zeigt, ist auf ihrem Bauch, dann noch eine, die aussieht wie eine gezackte Linie, die von einem Angelhaken durchtrennt wird, dort, wo ihr Hüftknochen von innen auf ihre Haut trifft. Sie zieht ihr Höschen aus, um sie mir zu zeigen, und sagt, verletzlicher denn je, ich soll bitte da unten bleiben.

Seattle, am Tag des Ausbruchs

Mein Arm tut nicht mehr weh, aber ich streiche trotzdem weiter drüber, um den anderen zu zeigen, dass ich mich hintergangen fühle. Ich bin so wütend wie seit Jahren nicht mehr, so wütend wie vielleicht mal als Teenagerin. Lexi hat sich verpisst, gleich nachdem sie mich gestochen hat, ist sie die Treppe rauf in ihr Zimmer und hat sich eingeschlossen. Drinnen dröhnt irgendwas Metal-Mäßiges, weshalb ich durch die Tür schreien muss. Ich weiß nicht mal genau, was ich gerade gesagt habe. Aber der entscheidende Punkt ist, dass sie und Raleen die letzten Loser sind und dass ich jetzt sehe, was ich davon habe, dass sie mich in ihren behämmerten Freakverein aufgenommen haben. Raleen ist nicht gerade konfliktfreudig, weshalb ich nicht verstehe, warum sie sich nicht auch einfach verpisst hat. Sie steht unten am Fuß der Treppe und sieht zu mir rauf, ganz das dümmliche Schoßhündchen, das Lexi aus ihr gemacht hat.

Schließlich wirbele ich zu ihr herum. »Und worauf wartest du noch?«

Ihre Augen weiten sich, sie verlagert ihr Gewicht, bleibt aber stehen.

»Ihr könnt mich mal.« Ich stampfe die Treppe runter, direkt auf Raleen zu, die, statt mir Platz zu machen, den Arm ausstreckt und mich am Handgelenk packt.

»Du kannst jetzt nicht gehen.«

»Fass mich nicht an.«

Aber sie lässt meinen Arm nicht los. »Versprich mir, dass du jetzt nicht gehst.« Ihre Fingernägel graben sich in meine Haut.

»Raleen! Das tut weh. Bist du auf einem Trip? Lass mich los!«

»Du bist krank«, erwidert sie.

Ich drehe meinen Arm, um ihn aus ihrem Griff zu lösen. »Was war in der Spritze drin? Dein Östrogen? Hör auf, immer bei Lexis Scheiß mitzumachen.«

Da fängt sie plötzlich an zu schreien: »Du bist krank!« Sie packt wieder meinen Arm und richtet sich auf, um mehr Hebel­kraft zu haben. Ihre Aggressivität lässt mich innehalten, sät Zweifel in meine Wut. Sie ist ängstlich. Verunsichert. Als ich aufhöre, mich zu wehren, lässt sie meine Hand los und hebt die Arme. »Bitte«, sagt sie. »Ich muss dir was zeigen.«

Wir setzen uns aufs Sofa, wo sie ihren Laptop aufklappt und die Beine anzieht, als ich mich zu ihr herüberbeuge, um auf den Bildschirm zu schauen. Sie ruft die Website eines Bio­technologie-Unternehmens auf, Improvac, und beteuert, dass sie nicht gewusst hat, dass Lexi das machen würde. Aber ich verstehe nicht, was da auf der Seite steht, weshalb ich auch nicht begreife, welche Verantwortung sie von sich weisen will.

Als ich sie endlich davon abgebracht habe zu stammeln, was sie gewusst hat und was nicht, erklärt sie mir, dass Improvac seit Jahren Schweine und Hirsche gegen ihre eigenen Sexualhormone impft. Der Impfstoff bewirkt, dass ihre Antikörper Gonadotropin (GnRH) binden, jenes Hormon, das bei Säugetieren die Produktion von Sexualhormonen anregt (Östrogen, Testosteron, Progesteron). Es gibt auf der Website auch einen Animationsfilm, der sich an Schweinezuchtbetriebe wendet. In dem Film wird gezeigt, wie der Impfstoffhersteller GnRH synthetisiert und an ein fremdes Protein anhängt, das dann den Tieren gespritzt wird. Die Antikörper des Immunsystems greifen das Protein an und schalten es ab, aber anschließend sieht das Immunsystem das natürlich im Körper vorhandene GnRH ebenfalls als Bedrohung an. Infolgedessen löst nunmehr jedes GnRH-Molekül eine Autoimmunantwort aus, sodass die Produktion von Sexualhormonen komplett eingestellt wird.

In den kommerziellen Impfstoffen haben die Hersteller synthetisiertes GnRH an ein inaktives Protein angehängt oder an ein Protein, das das Immunsystem leicht abschalten kann. Genau dasselbe hat Raleen bei ihren Versuchsinjektionen gemacht, die sie sich und Lexi verabreicht hat. Und der Impfstoff, den Lexi mir gespritzt hat? Das war ein an ein lebendes Bakterium angehängtes GnRH.

»Und was heißt das jetzt, Raleen?«

Sie sieht mich an, dann sagt sie ganz ruhig: »Das heißt, dass du ansteckend bist.«

Ich würde sie am liebsten wieder anschreien, aber dann würde sie vermutlich dichtmachen. Meine Fäuste sind so fest, dass es sich anfühlt, als würden gleich meine Nägel durch die Haut stoßen. Aber ich halte den Mund.

»Ich habe dafür einen Stamm antibiotikaresistenter Pneumokokken genommen«, fährt Raleen fort und ruft eine Beschreibung der Krankheit auf WebMD auf. »Das ist ein weitverbreitetes Bakterium, das eine leichte Ohrenentzündung verursachen kann. Aber viele tragen es auch asymptomatisch in sich, weshalb sie gar nicht wissen, dass sie es verbreiten, wenn sie husten, schniefen oder andere berühren.« Sie fängt an zu weinen.

»Und warum weinst du jetzt?«, fauche ich sie an. »Du hast die Scheiße hier fabriziert, dann hast du ja wohl auch gewollt, dass sie sich verbreitet.«

»Ich …« Ihr stockt die Stimme. »Das ist was anderes. Weil ich dich kenne. Ich hätte nicht gedacht, dass Lexi mit dir anfängt. Ich hatte mir vorgestellt, vielleicht einer von den fiesen Typen, die mich eine Schwuchtel genannt haben.«

Mein Mitleid hält sich in Grenzen. »Hör auf zu heulen und sag mir lieber, was ich jetzt machen soll. Was kann ich dagegen tun? Es gibt doch bestimmt ein Antibiotikum, das man da­gegen nehmen kann?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Du weißt nicht, wie man das wieder loswird?«

Sie schüttelt kaum wahrnehmbar noch einmal den Kopf.

Wir schweigen. Ich hebe den Arm und versuche, zwischen den vom gestrigen Epilieren noch leicht gereizten Poren die Einstichstelle zu finden. Da überkommt mich die Erkenntnis: Ich bin krank. Sie haben mich infiziert. Ich habe zwar geplant, mein Leben lang Hormone zu nehmen, aber jetzt habe ich nicht mehr die Wahl. Eine sterile Sau.

»Mein Gott, Raleen.« Meine Stimme versagt. »Was hast du dir dabei gedacht?«

Sie leckt sich über die Lippen, und als sie antwortet, klingt es so träumerisch, dass es mich zur Weißglut treibt: »Ich habe gedacht …«, sagt sie, hält inne und setzt noch einmal neu an. »Ich dachte, ich würde gern in einer Welt leben, in der alle ihr Geschlecht wählen müssen.«

Sommer, Seattle, anderthalb Jahre vor dem Ausbruch

Lexi ist betrunken, in einem Zustand wie vermutlich oft in den letzten Jahren. Erst hat sie eine halbe Stunde lang geheult und gemeint, warum sie nur so dumm gewesen ist, ihr Leben zu ruinieren, nur weil sie trans* sein wollte, dann ist ihre Stimmung allmählich in Wut umgeschlagen. Jetzt verlangt sie, ich soll ihr bitte schön erklären, wie sie auf den Gedanken kommen konnte, dass eine selbstsüchtige Schlampe wie ich irgendein Interesse an ihr haben könnte.

Ich weise sie darauf hin, dass sie auf dem Sofa dieser selbstsüchtigen Schlampe sitzt und in ihrer Wohnung wohnt.

Sie lacht verbittert und spuckt auf den Boden. »Leck mich, hier gehört doch überhaupt nichts dir.«

Ja, das stimmt, ich wohne zwar hier, aber das Sofa gehört nicht mir und auch die dünnen Rigipswände nicht, durch die die Nachbar*innen sie mit Sicherheit gerade hören können. Lexi würde es zwar niemals zugeben, aber sie ist meinetwegen nach Seattle gekommen. Sie kennt sonst niemanden, hat keinen Job, keine Wohnung in Aussicht. Als sie mir angekündigt hat, dass sie herziehen würde, schien das wohl auch zu heißen, dass sie vorhatte, in meinem Bett zu schlafen, bis sie was für sich gefunden hat, und vielleicht auch noch danach. Und ich dachte: auf gar keinen Fall. Aber als sie herkam, habe ich sie dann doch bei mir aufgenommen.

Sie ist jetzt seit sechs Tagen hier, und heute Abend habe ich ihr gesagt, dass sie gehen muss, zumindest für ein, zwei Tage, dass sie sich was anderes zum Schlafen suchen muss. Das Bett, das wir zuletzt geteilt haben, hat eine schöne Memoryschaummatratze von Sealy, das Sofa ist eine italienische Liege von Design Within Reach. Beides gehört Sidney, dem Mann, der mich in seiner Wohnung wohnen lässt, ein fünfzigjähriger Immobilienunternehmer, der gerade auf der Welle des Amazon-Booms in Seattle reitet. Anfangs habe ich gesagt, er sei mein Freund, nicht mein Sugardaddy, weil ich dachte, er könnte Sugardaddy vielleicht als Beleidigung verstehen, und dann würde ich alles verlieren, was ich von ihm bekommen habe. Aber allmählich dämmert mir, dass er sich weniger Illusionen über unsere Beziehung macht als ich und dass es ihm vielleicht sogar lieber wäre, wenn ich ihn nicht meinen Freund nennen würde. Aber egal, was er für mich ist, fest steht, dass er in einer Stunde nach Hause kommt. Und es wäre schlecht, wenn dann ein betrunkenes trans* Mädel in Kampfstiefeln jammernd auf dem Sofa sitzt.

Sidney hat mein Onlineprofil entdeckt, kurz bevor ich aus Dartmouth weggegangen bin. Das war, als meine Freundin mich gar nicht mehr angefasst hat. Sie hatte im Frühling Freund*innen besucht, und ich holte sie am Flughafen ab. Als ich sie zur Begrüßung küssen wollte, drehte sie den Kopf weg. Zwei Wochen später bin ich ausgezogen. Ich habe ihr meine gesamten Sachen dagelassen, weil ich mich zu leer fühlte, um mich noch um den Eames-Tisch zu scheren, und auch weil ich mich von meinen Eltern entfremdet hatte, die ihn mir geschenkt hatten. Ich sah damals weder männlich noch weiblich aus, hatte mir aber auch keinen selbstbewussten genderqueeren Look zugelegt, sondern trug einfach weite, einfarbige Hemden, die meine spitzen neuen Titten verhüllten – zumindest dachte ich das, aber wie ich später auf Fotos feststellte, war dem nicht so. Komm nach Seattle, schrieb mir Sidney, ich fliege dich aus. Seine cis Frau war gerade nicht in der Stadt, und er wollte, dass ich so tat, als wäre ich sie, was ich mit Freuden machte. Drei Tage schlief ich in ihrem Bett auf der Seite seiner Frau und lebte ihr Leben – und ich fand es großartig. Er rauschte mit mir in seinem BMW durch die engen Kurven der Pazifikstraßen, führte mich in Restaurants aus, in denen ich mit Zitrone bespritzte Hama-Hama-Austern schlürfte, die sich mit dem köstlichen Geschmack des Meeres in meinen Mund ergossen. Ich ging mit ihrem kleinen Terrier im Discovery Park spazieren, wobei ich den Geruch des Kelpwalds genauso betörend fand wie der Hund. In Ballard legte Sidney seinen Arm um meine Hüfte, und der Wind drückte den Rock des Maxikleids seiner Frau gegen meine Beine, während wir zusahen, wie die Lachse die Lachstreppe hochsprangen. Da tauchte plötzlich ein Seehund auf, der sich eine leichte Mahlzeit erhoffte und mir – ich schwöre bei Gott – zugezwinkert hat. Ich zwinkerte zurück, weil ich wusste, dass er Bescheid wusste: Scheiß auf den Doktortitel, ich will einen reichen Typen haben und seine Hausfrau sein.

Jetzt wohne ich in einer Eigentumswohnung in einem Haus mit vierzig Wohneinheiten, das Sidney in Ballard gebaut hat. Er bekommt eine Steuererleichterung dafür, dass er ein paar Einheiten für einkommensschwache Käufer reserviert hat, aber eine Wohnung hat er, statt sie zumindest ohne Verlust zu verkaufen, für sich behalten und eingerichtet. Unsere stillschweigende Verabredung lautet: Ich darf hier wohnen, dafür kann er herkommen, wann er will, um mich zu vögeln oder zu lecken, was er ungefähr dreimal im Monat macht.

In einer Stunde ist Sidney hier. Dann muss ich wie eine scharfe Trophäenfrau aussehen. Meine Beine, meine Klitoris und mein Arsch müssen rasiert sein, weil Sidney keine Haare mag. Sie sind aber noch nicht rasiert, geschweige denn appetitlich in den Spitzenbody verpackt, den er mir gekauft hat. Make‑up habe ich auch noch nicht aufgetragen. Ich sehe nicht aus wie eine Trophäenfrau, noch nicht mal wie eine halbwegs attraktive Tennisfrau – in meiner schäbigen Yogahose wirke ich eher wie eine abgekämpfte Soccer Mum, deren renitente Kinder nach der Scheidung lieber bei ihrem Vater leben wollen. Mein renitentes Kind heißt Lexi und hat die Wohnung verlassen, als ich sie darum gebeten habe, nur um eine halbe Stunde später mit einer Flasche Popov in der Hand gegen die Tür zu hämmern. Dann hat sie sich durch den Türspalt geschoben, aufs Sofa fallen lassen und meine höflichen Bitten ignoriert, sich zu verziehen, bis sie die halbe Flasche geleert hatte und anfing zu schluchzen.

Jetzt liegt sie ausgestreckt auf dem Sofa und wischt sich mit einem Kissen über die Nase. »Dich interessiert doch nur, dass du als Frau das verzogene Arschloch bleiben kannst, das du schon als Junge warst«, bezichtigt sie mich. »Ich bin dir doch vollkommen egal.«

»Lexi, können wir das bitte lassen?« Ich schreibe Sidney, ob wir unser Date verschieben können, womit ich auch versuche zu verschleiern, dass ihre Worte mich getroffen haben. Ich zeige ihr, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als mir ihren Wutanfall anzuhören. Ich drücke auf Senden und blicke auf.

»Sag es«, sagt sie. »Sag, dass ich dir egal bin.«

»Lexi, was willst du von mir hören? Du weißt, dass New Hampshire schlimm für mich war. Ich wusste nicht, was ich wollte.«

»Hättest du mir das nicht sagen können, bevor du mich hierhergelockt hast?«

Ich versuche, ruhig zu bleiben, aber ich kann den Satz auch nicht einfach schlucken. Ich soll sie hergelockt haben?

»Ich habe dich nirgendwo hingelockt. Du hast in einem Drecksloch gewohnt, aus dem du rauswolltest.«

»Du bist so was von … von …« Ich denke schon, dass ihr Redefluss versiegt und der Alkohol die Oberhand gewinnt, aber dann brüllt sie: »ARROGANT!«

Meine Güte, ist das laut. Sie darf auf keinen Fall so schreien. Ich gehe ins Bad und schließe hinter mir ab, aber sie schimpft einfach weiter. Dieser Sidney würde von ihr einen Tritt in den Arsch kriegen, wenn er kommt. Ja, sie würde dem alten Mann einhändig den Arsch versohlen. Darauf war ich nicht gefasst. Mit meiner Freundin habe ich nie so gestritten.

Auf dem kalten Porzellan hockend, überlege ich, wie ich Sidney erklären soll, warum sie da ist. Ich schreibe ihm noch mal, aber er antwortet, dass er eine ganz schlimme Woche hatte und seinen Stress nur bei mir abbauen kann. Bei aller Wut und aller Angst vor Sidneys Reaktion weiß ich doch, dass Lexis Arschtrittnummer nur die aufgestellten Nackenhaare einer orientierungslosen, verunsicherten Frau sind. Ich glaube, sie hat New Hampshire in ihrem ganzen Leben nur zweimal länger als für einen Tag verlassen – einmal war sie in New York, einmal in Las Vegas, wo sie mit ihrem Dad auf einer Konferenz war, bevor sie auch bei der Arbeit Frauenkleider tragen wollte, und von ihm gefeuert wurde. Aber ich bin dermaßen sauer auf sie, dass ich keine Lust habe, ihr einen Gefallen zu tun, weshalb ich mir einrede, dass ich auch mir einen Gefallen tue, wenn ich ihr einen tue.

Ich schreibe Sidney und frage ihn, was er von einem Blowjob auf der Autobahn hält. Ich schreibe ihm, ich hätte Lust, ihm auf der 99 einen zu blasen, während er am Steuer sitzt, ich will, dass die anderen Fahrer zu uns reinsehen und meinen wippenden Pferdeschwanz sehen. Da schreibt er zurück: Ja, Baby.

Lass den Motor laufen und hol schon mal deinen Schwanz raus, antworte ich. Dann kann ich mich gleich ans Werk machen, wenn ich einsteige.

Mein Schwanz ist seit deiner ersten Nachricht draußen. Der passt erst wieder in meine Hose, wenn du was dagegen unternimmst.

Große Erleichterung. Er kommt nicht in die Wohnung. Ich binde mir einen Pferdeschwanz und trage flugs Make‑up auf, keinen Eyeliner Wing, sondern heute mal ein Smokey Eye, das hastige Schludrigkeit eher verzeiht.

Als ich aus dem Bad komme, sieht mich Lexi mit roten Augen und zerzausten Haaren ungläubig an. »Gehst du etwa?«

»Ja, du hast Glück, du kannst hierbleiben.«

Sie geht mir ins Schlafzimmer nach. »Dann komm ich mit.«

Nein. Ganz sicher nicht. »Lexi, wenn er auch nur dein Gesicht sieht, haben wir beide heute Nacht keinen Schlafplatz mehr.« Ich halte ein enges Strickkleid in die Höhe und überlege, ob ich damit durchkomme oder ob es etwas Verführerischeres sein muss.

Lexi geht zwei Schritte auf mich zu, nimmt es mir aus der Hand und schleudert es aufs Bett. »Er ist nicht dein Freund. Er interessiert sich nicht für dich. Wenn er dein Freund wäre, könntest du ihn anrufen und ihm sagen: ›Einer Freundin von mir geht es schlecht, können wir uns heute einfach aufs Sofa fläzen und zusammen einen Film gucken?‹«

Ich nehme das Kleid wieder in die Hand. »Wer sagt, dass ich mich aufs Sofa fläzen und einen Film gucken will?«

Sie fängt wieder an zu weinen. »Ich habe mich in New Hampshire um dich gekümmert! Ich habe dich in mein Bett gelassen, als deine Freundin dich nicht mehr in ihrem wollte.«

Sie zieht sich die Stiefel an, als wollte sie ernsthaft mitkommen.

»Mein Gott, Lexi! Ich gehe einmal aus Mitleid mit dir ins Bett, und jetzt bin ich für immer für dich verantwortlich?«

Ihr Mund klappt auf, und das kurze, leise Geräusch, das sie macht, tut mir in der Seele weh. Aber dann schiebe ich jegliche Reue beiseite. Es ist ihre eigene Schuld.

Ich sehe gut aus, als ich die Wohnung verlasse. Schwarze Stöckelschuhe von Coach, ein Strickkleid, das kaum meine nackten Schenkel bedeckt, wodurch ich richtig lange Beine habe. Lexi sitzt auf dem Sofa und hält die Wodkaflasche zwischen den Knien, die blass und verletzlich aus ihren zerrissenen Leggings schauen. Ich spüre, wie sie mich ansieht, alles in sich aufnimmt, während ich mir meine Lederjacke anziehe, die Schlüssel in meine Handtasche stecke und gehe.

Als Sidney mich zwei Stunden später wieder absetzt, ist Lexi verschwunden. Ich sehe sie monatelang nicht, obwohl sie offenbar in Seattle bleibt. Die paar trans* Mädels, die noch bereit sind, mit mir zu reden, nachdem sich Lexis Version des Abends herumgesprochen hat – in der das Wort »Missbrauch« offenbar inflationär vorkommt –, erzählen nur, wie krass sie drauf ist.

Winter, Seattle, ein Jahr vor dem Ausbruch

Ich warte in einer Heterobar auf einen wahnsinnig süßen trans* Typen, in den ich verknallt bin und mit dem ich mich auf einen Drink verabredet habe. Er hatte neckisch gemeint, was für eine »vornehme Bitch« ich doch sei, weshalb er eine Craft-Cocktail-Bar ausgesucht hat, die sich selbst als »Warenhaus für Whiskey und Bitter« tituliert. Nur ist leider das ­einzige Mischgetränk, das ich vertrage, scharfer Tequila mit Ananassaft. Die Bar­keeperin, eine Frau mit Grübchen und beneidenswerten Kurven, mustert mich neugierig und sagt: »Der geht aufs Haus«, während ich in meiner Handtasche nach einem losen Zehner krame. Ich weiß, warum der Drink aufs Haus geht, aber nur um sicherzugehen, sagt die Barkeeperin, sie hätte mich schon mal hier gesehen und fände mich sehr ­interessant. Ich bin davon ausgegangen, mein Date würde ­verstehen, was mir daran nicht gefällt: Hey, echt jetzt, ich weiß, dass ich trans* bin, ich würde es halt gern mal kurz vergessen und einfach eine Frau sein, die mit einem Mann ausgeht. Aber als er kommt, kapiert er es nicht. Ein Drink aufs Haus ist ein Drink aufs Haus, und er hat keinen ausgegeben bekommen.

Jetzt fragt er mich, warum so viele trans* Frauen in Seattle so wütend sind, warum sie so traumatisiert tun. »Ihr seid doch keine Kindersoldaten. Keiner hat vor euren Augen eure Eltern umgebracht.« Er behauptet, trans* Frauen würden selbst dann getriggert, wenn ihnen was Schönes passiert, zum Beispiel wenn ihnen ein Drink spendiert wird. Als wäre alles eine Wunde, als wäre alles ein Trauma. Dann erzählt er von einer trans* Frau, die er vor ein paar Monaten kennengelernt hat und die die ganze Zeit nur über AFABs geschimpft hätte und dass der cis Abschaum sterben soll. Er wäre gern ihr Freund gewesen, aber sie nannte trans* Typen Aiden und ­bestellte ihr Essen nur zum Mitnehmen, aus Angst, im Restaurant würden die Leute sie anstarren oder misgendern. Er beschreibt das Haus, in dem sie mit einem Clan polyamouröser trans* Frauen wohnt, die sich alle gegenseitig in biblischem Ausmaß zum Soundtrack von Skyrim auf PS3 vögeln, wobei sie sich gegenseitig vergewis­sern, wie abgefuckt die Welt da draußen ist, bis sie schließlich Mikroaggressionen und richtige Gewalt nicht mehr auseinanderhalten können und deshalb mit Messern in den Stiefeln und Pfefferspraydosen rumlaufen, die aus ihren Handtaschen baumeln – ich atme verdrossen aus, als mir klar wird, über wen er da gerade redet.