Stark gegen Ängste - Strategien zur Bekämpfung und die Psychologie dahinter - Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Hillert - E-Book

Stark gegen Ängste - Strategien zur Bekämpfung und die Psychologie dahinter E-Book

Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Hillert

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Beschreibung

Entwickeln Sie Ihre eigenen Bewältigungsstrategien Viele kennen das: Schwitzen, Herzrasen und Katastrophengedanken - das sind nur einige der Symptome, die auftreten können, wenn Ängste Sie übermannen, sei es beim bevorstehenden Flug oder bei Smalltalk-Situationen im Beruf. Doch Sie sind damit nicht allein: Etwa 10 Millionen Deutsche leiden unter verschiedenen, oft sehr belastenden Ängsten und Angststörungen. Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert, renommierter Psychotherapeut und Chefarzt an der medizinisch-psychosomatischen Klinik Roseneck sowie Autor zahlreicher Bücher, hat über viele Jahre hinweg Angstpatienten erfolgreich unterstützt. In diesem Selbsthilfebuch bietet er Ihnen eine bewährte, selbsttherapeutische Methode, um Angstzustände wirksam zu überwinden. Schritt für Schritt begleitet er Sie auf dem Weg, sich mit Ihrer Angst auseinanderzusetzen, um deren Ursprung zu verstehen und Ihre Reaktion darauf neu zu konditionieren. Erkennen Sie, dass Ihre Ängste in den meisten Fällen unbegründet sind, und finden Sie endlich wieder zu einem unbeschwerten Leben zurück. Dieses Praxishandbuch bietet nicht nur Hilfe bei der Überwindung von Phobien und Ängsten, sondern vermittelt auch wertvolle Einsichten und praktische Strategien, um effektiv mit Angstzuständen umzugehen. Entdecken Sie dadurch, wie Sie Ihre Motivation steigern können und lernen Sie als Folge, Gelassenheit in schwierigen Situationen zu finden. Erfahren Sie mit diesem Handgeber, wie Sie Ihre Angst erfolgreich bewältigen können und sich langfristig besser fühlen. Informieren Sie sich jetzt! - Keine Angst vor der Angst: Die Angst und ihre Eigenschaften - Ängste überwinden – Ein Intensivkurs: Selbsthilfe zum Umgang mit der Angst - Ängsten ganz neu begegnen: Leitfaden von der Planung zum Erfolg - Geben Sie nicht auf: Hilfe in Form von Coaching bis zur Psychotherapie

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Seitenzahl: 234

Veröffentlichungsjahr: 2024

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STARK GEGENÄNGSTE

PROF. DR. DR. MED. ANDREAS HILLERT

INHALTSVERZEICHNIS

1

Keine Angst vor der Angst!

Das wichtigste aller Gefühle•Wozu man Gefühle braucht•Ängste haben Konjunktur

2

Vom Überlebensfaktor zum Gegner

Alarmzustand im Nervensystem•Die Chemie der Angst•Angstreaktionen: unlogisch, aber effektiv!•Zwischen Veranlagung und Lebensgeschichte•Wenn Angst zum Problem wird

3

Formen der Angst

Diagnosen: Schubladen oder Kontinuum?•Phobien: Spinne, Maus und Fahrstuhl•Panikattacken: Herzinfarkt oder verrückt werden•Soziale Ängste: von anderen abgelehnt werden•Generalisierte Ängste: Wenn meiner Familie nur nichts zustößt!•Angst vor Krankheiten: Hypochondrie & Co•Ängstliche Persönlichkeiten: Vor- und Nachteile•Angst aus anderen Gründen

4

Ängste überwinden: ein Intensivkurs

Wie geht man mit Ängsten um?•Meine Angstgeschichte: Wie sie begann …•Die Dynamik der Angst ist ein Teufelskreis

5

Ängsten ganz neu begegnen

Ein Treffen auf Augenhöhe•Schritt I: Wenn die Angst mit Ihnen spielt•Schritt II: Vermeidung vermeiden!•Schritt III: Von der Planung zum Erfolg

6

Alternativen im Umgang mit Ängsten

Entspannung, dagegen spricht fast nichts•Ängste sind nur Gedanken und Gefühle•Weisheitsstrategien: Ängste kommen und gehen lassen•Alkohol und andere Drogen•Moderne Behandlungsmöglichkeiten

7

Geben Sie nicht auf!

Inkonsequenzen, Vermeidung und andere Fallstricke•Coaching, Psychotherapie und Apps

Hilfe

Literatur (Auswahl)•Register

Erklärung der Symbole

Jede farbige Textpassage bietet Ihnen spannende und besonders wissenswerte Zusatzinformationen. Diese Symbole zeigen Ihnen, was Sie hier erwartet.

Gut zu wissen

Achtung!

Verblüffendes

Eine kurze Anleitung

Aus der Forschung

KEINE ANGST VOR DER ANGST!

Angst ist für viele ein besonders negatives Gefühl, das sie unbedingt vermeiden möchten. Dabei wird übersehen, dass wir ohne Angst nicht (über-)leben könnten und sie schon deshalb ein hilfreiches und wichtiges Gefühl ist.

Das wichtigste aller Gefühle

Schwierige Gefühle sind zunächst nichts, das man sich wünscht. Aber: Fragen Sie sich, ob Sie wirklich auf die Angst verzichten wollen.

Klingt „Keine Angst vor der Angst“ für Sie zunächst einmal unsinnig oder paradox? Vorschläge wie „sich die Angst zum Freund machen“ wären dann regelrecht eine Zumutung. Tatsächlich jedoch steckt in diesen Aussagen eine existenzielle Wahrheit, die mit der evolutionären Entstehung und Funktion von Angst zu tun hat. Natürlich: Angst ist für jeden Menschen zunächst ein unangenehmes Gefühl. Existenziell unangenehm sogar! Ein Gefühl, das die Kraft hat, alle anderen Gefühle so weit in den Hintergrund zu drängen, dass außer ihm scheinbar nichts mehr da ist. Eben deshalb gilt Angst zu Recht als mächtigstes aller Gefühle. Da gibt es Angst vor einer realen oder auch nur vermuteten Gefahr. Angst, die einschießt wie ein Blitz und uns zu vernichten droht. Aber es gibt auch unterschwellige, stets präsente Angstgefühle, ohne dass einem bewusst sein mag, was eigentlich dahintersteckt.

Wer Angst hat, kommt oft gar nicht mehr zur Ruhe und versucht alles, um die Angst irgendwie loszuwerden oder zu überwinden. Soweit diese von einer konkreten Bedrohung ausgeht, ist das – zumindest theoretisch – der sinnvolle uralte Instinkt von Kampf oder Flucht. Wenn die Bedrohung aber als solche komplexer oder weniger greifbar ist und es somit keine Möglichkeit gibt, diese an den Wurzeln zu packen, fühlt man sich der Angst ausgeliefert und hilflos. Halten solche Zustände an, resultieren daraus Zustände eigener Qualität, die bedrängend und Lebensqualität vernichtend sind.

Aber selbst, wenn wiederkehrende Ängste vorübergehend abgeklungen sind, kann die Angst, dass diese erneut und vielleicht noch stärker auftreten könnten, das Leben zur Qual machen. Es entsteht also eine Angst vor der Angst. Angst und, in etwas geringerer Dosierung, Ängstlichkeit, können somit Blitze sein, die uns im Leben immer wieder aus der Bahn werfen. Sie können sich aber auch als bedrückend-dunkle Wolken über unsere ganze Existenz legen. Und diese Angst also, die Lebensqualität aufsaugt wie ein schwarzes Loch die Materie, die sollen Sie sich nun zum Freund machen?

Versuchen wir diese Frage mit einem Gedankenexperiment zu beantworten. Das funktioniert wie folgt: Es wurde ein Preis ausgeschrieben. Ein hoch dotierter, ehrenvoller Preis für das Gefühl, das für die Menschen am wichtigsten ist! Und Sie sitzen in der Jury. Vor dieser Jury werden nun, eines nach dem anderen, unsere Gefühle antreten, wobei sich selbst die Wissenschaft nicht ganz einig ist, wie viele Kandidaten es eigentlich sein müssten. Als Grundgefühle oder Basisemotionen gelten (zumindest für einige Wissenschaftler): Freude, Wut, Ekel, Verachtung, Traurigkeit, Überraschung und Angst. Das wären demnach die Emotionen, die bei allen Menschen und in allen Kulturen auf dieser Erde gleichermaßen vorkommen und gewissermaßen in unseren Erbanlagen verankert sind.

GEFÜHLE ERKENNEN: Der amerikanische Psychologe Paul Ekman geht davon aus, dass man Emotionen objektiv am Gesichtsausdruck ablesen kann. Zur Frage, wie sich Emotionen nonverbal äußern, also etwa durch Mimik, Gesten und Körperhaltungen, hat er umfangreiche Studien durchgeführt. Neuere Studien konzentrieren sich auf die mit emotionalem Erleben einhergehenden Erregungsmuster im Gehirn. Hiervon ausgehend ist die Zahl der Grundgefühle geringer.

Dass Angst ein Grundgefühl ist, kann als gesichert gelten. Dass sich mit modernen Methoden der Hirnforschung nur Ekel und Angst mit umschriebenen Funktionsmustern des Gehirns in Verbindung bringen lassen (siehe Seite 27), spricht zumindest dafür, dass diese beiden Kandidaten unbedingt auf der Teilnehmerliste stehen sollten.

Wie in einem Wettbewerb üblich, dürfen nun die Kandidaten vortragen, warum sie Anspruch auf den Preis „Das wichtigste Gefühl für die Menschen“ erheben. Wie würden sich die Kandidaten präsentieren? Die Freude beharrt sicher darauf, das wichtigste Gefühl zu sein, weil sie so angenehm ist und schließlich das einzige, wofür es sich zu leben lohnt. Sie betont ihre Schwesternschaft zur Liebe und stilisiert sich als Vorgeschmack aufs Paradies. Die Wut hingegen betont die ihr innewohnende Dynamik und ihre Wichtigkeit, wenn der Mensch sich wehren muss. Erst die Wut, so ist sie sicher, macht den Menschen zum handlungsfähigen Individuum. Der Ekel hingegen schützt nicht zuletzt davor, verdorbene Speisen zu sich zu nehmen oder schädlichen Einflüssen zu nahe zu kommen. Darin ist er der Verachtung, mit der er gerne gemeinsam auftritt, eng verwandt. Die Traurigkeit hält sich selbst für das wichtigste Gefühl, weil sie so tiefgründig ist und die Freude erst richtig spürbar macht, während die Überraschung für sich beansprucht, Abwechslung ins Leben zu bringen und deshalb am wichtigsten zu sein.

Der Sieger ist die Angst!

Offenkundig sind alle Grundgefühle irgendwie wichtig, alle haben eine wichtige Funktion in unserem Leben. Im Wettbewerb um das wichtigste Gefühl würde sich die Angst in etwa wie folgt präsentieren: „Um es kurz zu machen: Ohne mich gäbe es euch überhaupt nicht! Gäbe es keine Angst, wäre die Menschheit ausgestorben, bevor es sie überhaupt gab. Vom Säbelzahntiger gefressen, vom Feuer verschlungen, in Abgründe gestürzt. Die Menschen wären so naiv geblieben, wie es Kleinkinder sind. Kleinkinder, die noch nicht wissen, wie gefährlich die Welt sein kann. Sicher, die Freude ist ein angenehmeres Gefühl als ich es bin. Aber darum geht es hier nicht! Es geht um die Frage, was das wichtigste Gefühl ist. Ohne mich wüsstet Ihr gar nicht, was Freude oder Liebe ist! Wer mich nicht hat, der lebt dafür nämlich nicht lange genug. Und dass ihr euch von mir des Öfteren gestört fühlt? Pardon, aber das ist nicht mein Problem. Indem ich euch vor Gefahren warne, gebe ich euch die Sicherheit, ohne die ein intelligentes Leben nicht möglich ist. Dass ihr mit meinen Warnungen nicht immer angemessen umgeht, ist nicht meine Schuld. Da könnte man sicher einiges entspannter hinbekommen, wenn man sich mit mir intensiver beschäftigen würde …“ So weit die Angst.

Welchem Gefühl würden Sie den ersten Preis geben? Das entscheidende Kriterium: Es muss das für den Menschen wichtigste Gefühl sein! Die diplomatische Entscheidung liefe darauf hinaus, jedes Gefühl zum Sieger zu erklären, nach dem Motto: In den Situationen, in denen sie idealerweise auftreten sollten, ist jedes Gefühl das wichtigste. Gleichwohl, an der Erkenntnis, dass Angst für uns lebenswichtig war und ist, führt kein Weg vorbei. So unangenehm Angst in dem Moment, wo man sie intensiv spürt, auch sein mag – bereits die Tatsache, dass es uns ohne die Angst nicht gäbe, sowohl als Spezies als auch als Person, und dass wir ohne sie in unserer Welt, die sicher nicht das Paradies ist, kaum überlebensfähig wären, ist ein starkes Argument dafür, der Angst neben der Bezeichnung „Stärkstes aller Gefühle“ auch den Ehrentitel „Wichtigstes aller Gefühle“ zu verleihen. Wir müssen uns – so gesehen – bei unserer Angst bedanken. Für nichts weniger als für unser Leben. Und zwar mit einem Gefühl der Anerkennung für das, was sie für uns getan hat und weiter tun wird. Falls Sie – aus absehbar guten Gründen – beispielsweise der Freude den Titel verleihen möchten, wird die Angst sicher Verständnis dafür haben. Schließlich ist sie, die Angst, vor allem dafür da, uns möglichst oft und lange Gelegenheiten zu geben, Freude erleben zu können.

AM STEUER: Emotionen sind auf Metaebene erlebte Gestimmtheiten und Handlungsoptionen, die durch situative und in der Person selbst angelegte Aspekte getriggert werden, um dann Wahrnehmung und Reaktionen in ihrer spezifischen Qualität zu lenken. Auf diese Weise reduzieren Emotionen die Komplexität des in einer Situation Wahrnehmbaren. Sie konzentrieren Wahrnehmung und Handlung auf jeweils entscheidende Aspekte.

Angst ist Ihr Freund und Helfer

So oder so, auch wenn Sie der Angst nicht den Titel „Wichtigstes aller Gefühle“ verliehen haben sollten, so hat sie doch zumindest alle Qualitäten, die ein guter Freund hat. Sicher, wenn die Angst überdosiert ist, wenn sie nicht vor wirklichen Gefahren und Risiken warnt, sondern uns quält und damit zum eigentlichen Problem wird, weil tatsächlich bedrohliche Realitäten gar nicht vorhanden sind: Selbst dann unterscheidet sich die Angst nicht grundsätzlich von einem guten Freund. Auch die allerbesten Freunde, wenn sie zu lange bei uns wohnen und unseren Tagesablauf stören, können einem recht schnell auf die Nerven gehen. Und wenn wir schon wissen oder es zumindest ahnen, dass hinter der Angst keine realen Gefahren drohen, warum bitten wir den Freund dann nicht vor die Tür, mit der herzlichen Einladung, uns dann, wenn es nötig sein sollte, gerne wieder zu besuchen?

DAS SPEKTRUM UNSERER EMOTIONEN

Ein Versuch, das, was sich in unserem Gefühlsleben abspielt, in eine systematische Form zu bringen

Das Erleben und die Bewertung der genannten emotionalen Qualitäten ist in hohem Maße subjektiv.

Wozu man Gefühle braucht

Gefühle sind nicht einfach da, sie erfüllen eine Funktion in unserem Leben. Für die Angst gilt das in besonderem Maße.

Hat Sie diese Einführung überrascht? Wenn Angst für Sie ein Thema oder sogar ein Problem ist, und es Ihr Wunsch sein sollte, diese Angst loszuwerden und angstfrei zu leben, dann ist die Vorstellung, die Angst als Freund zu sehen und auf Augenhöhe mit ihr zu kommunizieren, sicher eine Zumutung. Andererseits: Wenn es Ihnen gelungen wäre, Ihre Angstprobleme auf andere, direktere Art und Weise abzustellen, würden Sie dieses Buch nicht lesen. Ausgehend davon lade ich Sie herzlich ein, sich mit mir zunächst auf die Reise durch die große Welt der Ängste zu machen, um sich dann auf die Suche nach konkreten Strategien zu begeben, wie Sie Ihre Angst dazu bringen können, sich Ihnen gegenüber wie ein wirklicher Freund zu verhalten. Als ein Freund, der, wenn man ihn braucht, da ist, und der, wenn er lästig wird, ruhig auch einmal seine eigenen Wege gehen darf, bis er wieder gebraucht wird.

Es wird absehbar kein einfacher Spaziergang! Es geht nicht darum, irgendwelche Strategien zu suchen, mit denen wir uns beruhigen und die Angst irgendwie abschalten können. Wenn es solche gäbe, dann würde an dieser Stelle eine kleine Broschüre ausreichen. Vielmehr geht es um reale Begegnungen mit dem, was Angst macht und Ängste ausmacht. Und zwar um Begegnungen auf Augenhöhe. Wenn wir uns nun eine „gute Reise“ und „keine Angst“ wünschen, dann wäre das in unserem speziellen Fall geradezu paradox! Schließlich ist es unser Ziel, uns näher mit der Angst und dem, was Angst ausmacht, bekannt zu machen und ihr gewissermaßen ins Auge zu sehen. In dem Sinne wünsche ich Ihnen Mut und ein wenig Flexibilität, um die Angst von unterschiedlichen Seiten her zu betrachten und sie auf diese Weise näher kennen- und als mitunter vielleicht lästigen, aber letztlich lebensnotwendigen guten Freund schätzen lernen zu können.

Wäre das Leben ohne unangenehme Gefühle nicht besser?

Mal ganz grundsätzlich: Wozu haben Lebewesen wie wir überhaupt Emotionen? Welchen Vorteil hat das? Wenn man von den von Paul Ekman postulierten Basisemotionen ausgeht, dann sind die meisten von ihnen unangenehm: Wut, Ekel, Verachtung, Traurigkeit, Angst. Einzig die Freude ist uneingeschränkt das, was man sich langfristig im Leben wünscht. Würden wir angesichts dieser Bilanz nicht besser durchs Leben kommen, wenn wir freiwillig auf alle Emotionen verzichten würden? Also: Die Freude wird gegen die Freiheit von den übrigen unangenehmen Emotionen getauscht? Wir hätten dann ein neutrales Leben, ohne große Turbulenzen, alles ganz ruhig, ohne Stress, ohne Angst. Können Sie sich so etwas vorstellen – und falls ja, wie sähe dann Ihr Leben aus?

Fast schon wie im Paradies, im ewigen Frieden? Sicher, man hätte keine Wut und keine Angst mehr. Aber um mit der Wut anzufangen: Stellen Sie sich vor, jemand versucht, Ihnen die Handtasche wegzureißen. Vom Verstand her ist Ihnen natürlich klar, dass das ungesetzlich und ein Angriff auf Ihre Person ist, weshalb Sie beschließen, entweder die Tasche festzuhalten oder die Polizei zu rufen. Dieser rationale und gesetzestreue Weg dauert einige Zeit. Sicher mehr als ein paar Sekunden. Man muss sich bewusst machen, was da gerade geschieht, sich dann zu einer als angemessen erachteten Reaktion entschließen und diese schlussendlich durchführen. Zwischenzeitlich dürfte der Dieb mit Ihrer Tasche bereits über alle Berge sein.

Mit der Wut „im Bauch“ läuft es ganz anders. Jemand, so ein Typ, der Ihnen bereits Augenblicke zuvor als potenziell bedrohlich aufgefallen ist, greift nach Ihrer Handtasche. Sie haben es zwar nur aus dem Augenwinkel her mitbekommen, mehr erahnt als gesehen, aber Sie reagieren umgehend, noch bevor Ihnen die Situation voll bewusst ist. Ein Ruck, Sie ziehen die Tasche mit der Linken zu sich heran und ballen die rechte Faust, um den Angreifer – wenn er nicht zu groß und stark sein sollte – abzuwehren. Gleichzeitig haben Sie bereits lautstark um Hilfe gerufen (obwohl anscheinend ansonsten niemand in der Nähe ist) und beschimpfen den Täter mit prägnanten Begriffen. Alles geht blitzschnell. Sie haben Ihre Tasche sicher im Griff und der verdutzte Angreifer sucht lieber das Weite. Im Nachhinein waren Ihre Reaktionen vielleicht nicht alle sinnvoll und schon gar nicht überlegt. Beleidigungen zum Beispiel gehören ansonsten nicht zu Ihrem Wortschatz. Wenn andere dies gehört haben sollten, wäre es Ihnen fast etwas peinlich. Zumindest haben Sie Ihren Besitz erfolgreich verteidigt und bei solchen Typen wären doch ein paar Ohrfeigen absolut gerechtfertigt, was Ihre immer noch zur Faust geballte Rechte ein wenig stolz bestätigt.

Unsere Gefühle ergeben Sinn

Ähnliche Beispiele lassen sich für alle vermeintlich negativen Emotionen finden. Bevor Sie versuchsweise in ein merkwürdig riechendes Nahrungsmittel beißen, hat der Ekel Sie schon vor einem solchen, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Ihrer Gesundheit zuträglichen Experiment gewarnt. Die Verachtung sorgt dafür, dass unsympathische und vielleicht sogar potenziell übergriffige Menschen auf Distanz gehalten werden. Und die Angst? Wenn unsere Vorfahren in oder auch noch vor der Steinzeit erst lange darüber hätten nachdenken müssen, ob ein Knacken im Unterholz und ein sich schnell nähernder Schatten nun von einem Säbelzahntiger oder einem harmlosen Eohippus (ein noch recht kleiner Vorfahre unserer heutigen Pferde) herrührt, dann wäre es im ersten Fall bereits zu spät gewesen.

Entsprechend lässt sich die Frage „Wozu braucht man Gefühle?“ so beantworten: Unsere Umwelt war schon immer sehr komplex. Viel zu komplex, um alle möglicherweise gefährlichen und bedrohlichen Situationen hinreichend schnell erfassen und daraus Konsequenzen ableiten zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass ein dazu zumindest grundsätzlich funktionstüchtiges Gehirn sich im Laufe der Evolution erst relativ spät entwickelt hat.

Gefühle sind somit standardisierte Programme, die aus der Vielzahl von Informationen, die unsere Umwelt enthält, die mutmaßlich für das Individuum entscheidende Information heraussucht und die anderen ausblendet. Darüber hinaus beinhalten Emotionen integrativ die nötige Motivation, Energie und Handlungsstrategien, um das Überleben, die Unversehrtheit und damit die Lebensqualität der einzelnen Menschen zu sichern. So gut es eben geht. Allerdings ist im Fall der Angst die Lebensqualität bisweilen spürbar in Gefahr. Nämlich dann, wenn sie uns als scheinbar übermächtiger Gegner erscheint oder wenn sie überdosiert und der jeweiligen Situation inhaltlich unangemessen ist.

Ängste haben Konjunktur

Komplexe Gegenwart, unklare Zukunft. Wie könnte ein angemessener Umgang mit diesem Phänomen aussehen?

Dass Ängste heute ein Problemthema sind, daran kann – mit Blick auf die aktuellen Nachrichten – kein Zweifel bestehen. Neben den jedem Menschen inne liegenden Ängsten vor Krankheit und Tod, etablieren sich immer neue Ängste. Beispielsweise die Angst vor weiter zunehmender unregulierter Globalisierung, Angst vor einem Verlust gesellschaftlich tragfähiger Werte, Angst vor Überfremdung, Angst vor Vereinsamung, Angst vor dem Klimawandel, Angst vor einer Ausweitung aktueller Kriegsherde. Die Existenz eines mehrdimensionalen Bedrohungsszenariums ist unübersehbar. Welchen Stellenwert haben für Sie Sorgen und Ängste bezüglich dieser Themen? Zudem: Haben Sie die Hoffnung, dass sich die Ihren Ängsten zugrunde liegenden Aspekte zum Guten wenden werden?

Wenn Sie die letzte Frage mit einem „Die Hoffnung habe ich!“ beantworten, sind Sie in einer beneidenswerten Situation! Noch vor einigen Jahren herrschte grundlegender Optimismus. Slogans wie „Aktiv die Zukunft gestalten“ waren allgegenwärtig – auch wenn die jeweiligen Zukunftsvorstellungen recht unterschiedlich waren. Wie konnte dieser Optimismus verloren gehen?

Werfen wir dazu einen Blick auf die Vergangenheit unseres Landes: Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren von Aufbruchstimmung und Zuversicht getragen (trotz zerstörter Städte und offener Fragen, etwa bezüglich der Wiederbewaffnung). Die 60er- und 70er-Jahre wurden zu einer Zeit wachsender sozialer und ideologischer Konflikte. Was aber der Gesellschaft, trotz Ölkrise und Vietnamkrieg, nicht den grundlegenden Optimismus nehmen konnte. Und das, obwohl die Menschen seinerzeit zwischen den Fronten des kalten Krieges lebten. Es wurde damit gerechnet, dass die Russen am ersten Kriegstag in etwa bis zum Rhein kommen könnten. Diese Situation erzwang ideologische Verortung. Im Westen ging diese einher mit zunehmender Individualisierung, der im Osten die Idee glücklicher Kollektive entgegenstand. Es folgten Jahrzehnte der Konsolidierung im Westen und wirtschaftlicher Probleme im Osten, was schließlich mit dem Ende des Kommunismus stoppte. Zwischenzeitlich lag die Gefahr eines Weltkrieges in der Luft. Gleichwohl, bei der Wiedervereinigung explodierten die Emotionen. Viele glaubten, am glücklichen Ende der Geschichte angekommen zu sein. Jetzt würde zusammenwachsen, was zusammengehört! Was hätte uns in diesem Moment schon Angst einjagen können?!

DIE EIGENDYNAMIK VON ÄNGSTEN: Die eine Epoche beherrschenden Emotionen sind mehr als die zwangsläufigen Konsequenzen realer Gegebenheiten. Emotionen, zumal Ängste, entwickeln eine Eigendynamik, die potenziell in unterschiedliche Richtungen gehen kann und kaum rational steuerbar ist. Schon mehrfach erlebte sich die Welt, jeweils mit für alternativlos angesehenen Gründen, unmittelbar vor dem Untergang.

Globale Ängste machen uns zu schaffen

2015 wurde das Motto „Wir schaffen das!“ ausgegeben. Auch wenn es Zweifler gab, der seinerzeit herrschende Optimismus dominierte: Flüchtlingskrise, Coronapandemie, Klimawandel, Ukrainekrieg … Die Vorstellung, dass es sich dabei um begrenzte, mit gutem Willen lösbare Probleme handelt, hat sich zunehmend relativiert. Dass sich die Welt nicht zwangsläufig in Richtung des zunehmenden Wohlstands und Glücks für alle und sicher nicht nach dem Vernunftprinzip weiterentwickelt, wurde unübersehbar. Was zwar schon immer hätte klar sein können, nun aber viele Menschen beunruhigt und massive Ängste aufkommen lässt.

Wie haben es die Menschen früherer Zeiten geschafft, emotional entspannter und weniger ängstlich zu sein, angesichts mitunter schlicht grauenvoller Gegenwarten? Dass das Schicksal eine vage, von vielen Zufällen und nicht zuletzt von der Willkür einflussreicher Kriegstreiber abhängige Angelegenheit ist, ist keine neue Erkenntnis. Die ersten schriftlichen Zeugnisse dazu stammen aus der ersten Zwischenzeit des alten Ägyptens. Wie konnten Menschen die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges, Pest und andere Epidemien, die in kurzer Zeit junge wie alte Menschen in großer Zahl dahinrafften, bewältigen, ohne in Massen psychisch zu erkranken? Wie konnte eine Familie den Tod der meisten ihrer Kinder ertragen? Alles ohne Krankenversicherung und Altersversorgung! Unsere Probleme heute für einzigartig groß zu erklären, ist angesichts dessen naiv, narzisstisch und unfair. Bezogen auf die objektiven Risiken für das Individuum waren frühere Zeiten meist exponentiell lebensgefährlicher als es unsere Lebensumstände im Hier und Heute sind.

Die Geschichte der Angsterkrankungen beginnt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Davor musste die Menschheit offenbar vital genug gewesen sein, um mit den skizzierten, existenziellen Bedrohungen umgehen zu können. Woher rührte diese Vitalität? Mitentscheidend hierfür dürfte sein, das, den Kopf über Wasser zu halten, koste es was es wolle, seinerzeit alternativlos war. Was im Umkehrschluss bedeutet: Man muss sich Ängste leisten können. Darüber hinaus waren traditionelle Gesellschaften ideologisch auf Beständigkeit hin angelegt. Wie man handeln, denken, glauben und fühlen musste, war programmatisch festgeschrieben. Zudem beschäftigte einen vorzugsweise das, was im unmittelbaren Lebensumfeld passierte. Auch wenn es paradox erscheint: In Zeiten objektiver Bedrohung und Krisen, in denen das physische Überleben gefährdet ist, werden psychische Störungen und Ängste seltener. Der Überlebenswille und die Handlungszwänge – angesichts realer Bedrohungen – lassen die Freiheitsgrade, die Angststörungen offenbar brauchen, um ihre Dynamik entfalten zu können, gar nicht erst aufkommen.

Der Blick aufs große Ganze

Die soziale Einbindung in traditionelle Klassengesellschaften, zumal in sozial niedrigen Kreisen, war sicher keine romantische Spielwiese. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, wie Generationen von Menschen es sich widerspruchslos haben gefallen lassen, zum Beispiel den Beruf zu ergreifen, den ihre Eltern hatten, und den Partner zu heiraten, der ihnen ausgesucht worden war. Wäre es nicht angemessen gewesen, umgehend zu rebellieren? Auf diese Idee sind die allermeisten unserer Vorfahren nicht gekommen. Wohl vor allem deshalb, weil diese „Zwangsmaßnahmen“ einerseits als alternativlos erlebt wurden, und andererseits, weil sie existenzielle Sicherheit und das Gefühl einer stimmigen Identität vermittelt haben. Nachdem wir uns heute erfolgreich gegenüber fast allen Normen, die individuelle Freiheiten einschränken, emanzipiert haben, werden die Vorteile traditioneller Strukturen zumindest ansatzweise spürbar. Dass jeder seinen Stand kannte, jeder wusste, wie er sich in diesem Rahmen zu verhalten hat und dass über allem der liebe Gott schwebt, der Menschen mit dem Paradies belohnt, reduzierte die Bereiche, in denen heute mannigfaltige Angstthemen Raum finden, erheblich. Jeder war Bestandteil eines Systems, das mehr war und mehr galt als seine individuelle Person. Mit der Auflösung enger sozialer und religiöser Normen sind wir heute als Individuen weitgehend frei, alles zu denken und zu tun, wie wir es wollen. Selbstverwirklichung wurde zur selbstverständlichen Zieldimension. Dass diese zwangsläufig mit abnehmenden Sicherheiten und Risiken bezüglich Einsamkeit, Schutzlosigkeit und Ängsten einhergeht, wird bis heute gerne ausgeblendet. Je freier und autonomer menschliche Individuen sind, umso weniger sind sie in Sicherheit gebende Systeme eingebunden. Sich selbst eine Struktur zu geben, ist heute zumal für jüngere, zur Selbstverwirklichung erzogene Menschen, nicht einfach. Sicherheit gibt es nur auf Kosten einer parallel dazu abnehmenden Freiheit. Ein Rechtsanspruch auf maximale Freiheit und maximale Sicherheit im Kombipack? Das mag wünschenswert sein. Es ist aber bereits vom Ansatz her unmöglich. Achtsamkeit (siehe Seite 135) ist ein individueller Versuch, Sicherheiten zu generieren. Ein anderer, weniger charmanter, sind zunehmende gesellschaftliche Polarisierungen und Ideologisierungen.

Warum Freiheit Angst machen kann

Wir haben uns weitgehend gegen gesellschaftliche und religiöse Zwänge aller Art emanzipiert. Gesunde Jugendliche sind zudem derzeit mehr als vier Stunden am Tag online und haben kaum Zeit, Energie und Gelegenheit, ihre sozialen Fertigkeiten im realen Umgang mit Gleichaltrigen (Klassengemeinschaft, Vereine …) praktisch zu üben. Die aktuelle Zunahme sozialer Ängste – speziell bei Jugendlichen – ist angesichts dessen eine zwangsläufige Entwicklung. Argumente, wonach man auch online viel lernen kann, sind schlicht intellektuelles Vermeidungsverhalten.

SICHERHEIT VS. FREIHEIT: Geringe bis fehlende Sicherheiten sind ein idealer Nährboden für Ängste. Sicherheit gebende Rahmenbedingungen (einschließlich der Sozialversicherungen, für die Beiträge zu leisten sind) schränken zumindest potenziell individuelle Freiheiten ein, was in unserer freiheitlich-individualistischen Gesellschaft als Zumutung erlebt wird. Eine alle Bedürfnisse befriedigende, stabile Lösung dieses fundamentalen Dilemmas ist absehbar unmöglich.

Maximale individuelle Freiheit bei – historisch gesehen – exzeptionell guten materiellen Bedingungen selbst für sozial weniger gut Gestellte verunsichert alle Menschen, vor allem aber in der Orientierungsphase befindliche. „Du kannst tun und lassen, was du willst, wir unterstützen dich. Hauptsache, du wirst glücklich!“ Aussagen dieser Art, mit denen Eltern ihren Kindern individuelle Freiheit, finanzielle Sicherheit, höchste Ansprüche (Glück), aber keine lebensperspektivische Orientierung vermitteln, sind gut gemeint. Gleichzeitig entziehen sich Erziehungsberechtigte damit der Verantwortung und möglicher Konflikte. Sie entziehen sich der Aufgabe, für ihre Kinder das zu sein, was so wichtig ist wie Taschengeld, Smartphone und das tägliche Softgetränk: ein Sparringspartner, der mit Heranwachsenden die Ziel- und Sinndimensionen des Lebens auslotet.

Angstthemen sind vielschichtig

Einerseits sehnt sich die Gegenwart nach Ruhe, Entspannung und Sicherheit. Andererseits sind Ängste und das Spiel damit elementare Bestandteile der Unterhaltung, der Werbung und der Politik. Welcher zumal private Nachrichtenkanal könnte auf die Aufmerksamkeit und Einschaltquoten sichernden Aussagen „Experten warnen!“ oder „Was Sie jetzt über … wissen müssen!“ verzichten?

Gleichzeitig ist Ängste zu haben, heute nicht zuletzt auch Ausdruck kritischer Zeitgenossenschaft. Keine Ängste zu haben, sei es vor Corona, vor einem möglichen Dritten Weltkrieg oder vor der Klimakatastrophe, könnte entsprechend als Ausdruck einer „Leugner“-Haltung, die politisch wie menschlich als problematisch gilt, wahrgenommen werden.

Eine Lösung des Dilemmas zwischen Freiheit und Sicherheit ist die zentrale Herausforderung, vor der wir heute als Gesellschaft und als Individuen stehen. Dass es ein Zurück in restriktive traditionelle Gesellschaftsformen nicht geben wird und geben kann, scheint zumindest im westeuropäischen Kontext sicher. Perspektivisch tragfähige und zudem die Bedürfnisse der heute hier lebenden Menschen hinreichend befriedigende Lösungen, und damit Perspektiven auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, sind nicht absehbar. Insofern liegt der Ball bei Ihnen und bei mir: Suchen und finden wir tragfähige individuelle Antworten auf die existenziellen Fragen!

Alle hier angesprochenen Aspekte lassen sich unendlich diskutieren. Man kann alles auch anders sehen, was zumindest zeigt, wie viel Freiheit und wie wenig Sicherheit es bezüglich zentraler Fragen in unserer Gesellschaft gibt. Ideologisierung ist ein Versuch, Sicherheit zu finden. Dass dies auf Kosten der Kommunikationsfähigkeit geht und ein Konsens zu den existenziellen Fragen damit in immer weitere Ferne rückt, ist in der tagtäglichen politischen Diskussion unübersehbar. Womit wir wieder bei den von uns allen offensiv zu beantwortenden Fragen angekommen sind: Welche Werte, welche Ziele, welchen Sinn haben beziehungsweise sehen Sie in Ihrem Leben? Was tun Sie, um Ihren Werten entsprechend zu leben? Was kann Ihnen angesichts aller Unwägbarkeiten der aktuellen Situation Sicherheit geben? Konkret: Was gibt Ihnen Sicherheit?

Wenn Sie unter Ängsten oder einer Angststörung leiden, ist es wichtig, sich über die Therapie hinaus mit eben diesen Fragen zu beschäftigen. Ihre Antworten darauf sind das Fundament, auf dem Sie sich mit Ihren Ängsten auseinandersetzen. Zumal Expositionen ein stabiles Fundament voraussetzen (siehe Seite 107). Der umgekehrte Weg, also „erst einmal müssen meine Ängste weg, dann überlege ich, was für mich wichtig ist und wie es in meinem Leben weitergehen soll“, ist erheblich schwieriger, wenn er denn überhaupt funktioniert.

VOM ÜBERLEBENSFAKTOR ZUM GEGNER

Angst ist für uns von existenzieller Bedeutung. Ohne sie gäbe es uns Menschen gar nicht mehr. Nur: Wie kann es dazu kommen, dass Angst außer Kontrolle gerät und zu einem Problem im Alltag wird?

Alarmzustand im Nervensystem

Wäre es nicht schön, unsere Ängste besser im Griff zu haben? Aber wäre das überhaupt sinnvoll?

Was genau passiert, wenn wir Angst erleben? Forscher beschäftigen sich mit dieser Frage seit Jahrzehnten, nicht zuletzt mit dem Hintergedanken: Wenn man weiß, wie Angstreaktionen im Gehirn ablaufen, dann ergeben sich Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen. Wäre es nicht geradezu ideal, wenn man Ängste mit ganz neuen Medikamenten, die keinerlei Nebenwirkungen haben, einfach abstellen könnte? Mittlerweile weiß man eine ganze Menge darüber, was bei Angstreaktionen im Nervensystem abläuft. So viel, dass selbst Experten gelegentlich den Überblick verlieren und es schwerfällt, Wesentliches von Beiläufigem zu unterscheiden. Aber zumindest eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, wie Angstreaktionen im Gehirn ablaufen, ist hilfreich, um sich von Angstgefühlen nicht paralysieren zu lassen und handlungsfähig zu bleiben. Wenn man weiß, wie Angst funktioniert und „ausbricht“, dann kann man mit ihr erheblich souveräner umgehen, als wenn man immer wieder von ihr überrascht wird. Also, was passiert nun genau?

Unser Gehirn ist eine komplizierte Angelegenheit. Es besteht aus etwa 100 (seriösen Schätzungen zur Folge sind es „nur“ 86) Milliarden Nervenzellen. Wird eine Nervenzelle an einer Seite erregt, dann wird sie quasi von einem elektrischen Impuls durchzogen, der am anderen Ende dazu führt, dass bestimmte chemische Substanzen (Transmitterstoffe) freigesetzt werden. Diese wiederum reizen (oder dämpfen) die Aktivität nachgeschalteter Nervenzellen und immer so weiter. Auf diese Weise kommuniziert eine Nervenzelle des Gehirns im Durchschnitt mit jeweils 1 000 bis 10 000 anderen. Wenn wir nun den Aufbau unseres Gehirns beschreiben wollten, dann hätte dieses Buch viele Hundert Seiten. Für unser Thema ist wichtig, dass sich am Aufbau unseres Gehirns wesentliche Schritte der Entwicklungsgeschichte ablesen lassen.