Stark mit AD(H)S - Joachim Kristahn - E-Book

Stark mit AD(H)S E-Book

Joachim Kristahn

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Beschreibung

Bei ca. 5-7 % der Kinder in Deutschland wird AD(H)S diagnostiziert. Dieses Buch klärt über die verschiedenen Ausprägungen von AD(H)S auf und liefert fundierte Informationen, z.B. zu Ursachen, zum Umgang mit Medikamenten etc. Zentrales Anliegen ist, die Chancen von Kindern mit AD(H)S zu betonen: Wie können wir Stärken fördern und einen Weg zum Herzen des Kindes finden? Die christliche Perspektive ermöglicht dabei einen Zugang zum Frieden Gottes.

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Joachim Kristahn

STARK MIT AD(H)S

Gottes Potenzial für mein Kind entdecken und fördern

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7425-1 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5844-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2018 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH ·

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Tabelle auf Seite 45 »AD(H)S Häufigkeit bei Jungen und Mädchen«

© Robert Koch-Institut, Berlin.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse

folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus

in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Weiter wurde verwendet:

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe

in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Rebecca Insam, SCM Bundes-Verlag gGmbH | Witten;

Patrick Horlacher | Stuttgart

Titelbild: iStock: LightFieldStudios; PavelIvanov | Autorenfoto:

Evas Fototreff

Fotos im Innenteil: © Laura Kristahn

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

INHALT

Über den Autor

Was mir zum Einstieg wichtig ist – inhaltliche Schwerpunkte

Kapitel 1

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom

Unsere Familiengeschichte – von Anfang an einzigartig

Was Kinder mit AD(H)S wirklich brauchen

Woran kann man AD(H)S genau erkennen?

Kritik am Konzept AD(H)S

Erscheinungsformen und Schweregrade von AD(H)S

Prüfung ähnlicher Störungsbilder

Methoden der Diagnose

Was ist zu tun, wenn Sie denken, dass Ihr Kind betroffen ist?

Auftreten, Entwicklung und Verlauf

Neuropsychologie und ihre Auswirkungen auf AD(H)S

Was steckt hinter AD(H)S?

AD(H)S kommt selten allein – unsere Familiengeschichte

Wissenschaftliche Ergebnisse zu den Begleit- und Folgestörungen/Folgen

Hinter den Zahlen stehen Schicksale

An alle Eltern, die sich leicht Sorgen machen

An alle Eltern, die selten Bedenken haben

Was steckt hinter diesem Syndrom – Ursachen und Risikofaktoren

Etwas Wichtiges fehlt noch am Modell AD(H)S

Kapitel 2

Behandlungsmöglichkeiten aus medizinischer, psychologischer und christlicher Sicht

Unsere Erfahrungen mit Medikamenten, Schule und Hausaufgaben

Medikamente und Alternativen

Fragen und Antworten zum Thema Medikamente

Welche Behandlungswege stehen Ihnen offen?

Zusammenfassung multimodaler Behandlungsansätze aus christlicher Sicht

Etikett AD(H)S und ähnliche Kritikpunkte

Was am Modell AD(H)S noch fehlt

Kapitel 3

Stark mit AD(H)S – Gottes Potenzial für mein Kind erkennen und fördern

Unsere Erfahrung mit den Stärken – herausfinden, fördern und bei der Berufsfindung daran anknüpfen

Nicht nur Symptome – auch die Stärken der Kinder erkennen

Entdecken Sie die Gold- und Silberfäden in Ihrem Kind

Gegenüberstellung häufiger Stärken und Schwächen der Kinder bzw. Jugendlichen

Gesellschaft, Schule und eine christliche Sichtweise

Die Stärken fördern – konkrete Beispiele

Weitere Beispiele, wie wir fördern können

Kapitel 4

Das Herz der Kinder erreichen – ihr Selbstwertgefühl stärken

Das Herz der Kinder erreichen

Die Wahrnehmungsfähigkeit des Herzens

Woran können wir innere Wachheit erkennen?

Das Selbstwertgefühl stärken

Selbstwerterziehung bei AD(H)S

Leistungsorientierung und Selbstwert

Urvertrauen fördern

Die Botschaft des Herzens weitergeben – wie geschieht das?

Kreative Pause

Wandel in der Kommunikation

Kapitel 5

Der innere Schmerz von Kindern und Eltern

AD(H)S und der innere Schmerz

Schmerz und Verletzung – was bedeutet das für Betroffene?

Die vielen verletzenden Erfahrungen der Kinder

Eine Studie über das Selbstbild und den inneren Schmerz bei Kindern mit AD(H)S

Kindern im Umgang mit ihren Gefühlen/innerem Schmerz helfen

Die pädagogischen Aufträge und der innere Schmerz

Kinder mit AD(H)S trainieren: Wie sie mit emotionalem Schmerz besser umgehen können

Vom inneren Schmerz zum inneren Frieden

Eltern trainieren

Über das Loslassen

Übersicht »Verlust und Schmerz«

Wie gehe ich mit Verlust und Schmerz um?

Der innere Schmerz der Eltern

Das Kind annehmen – was Eltern daran hindern kann

Fragen zum inneren Schmerz der Eltern:

Kapitel 6

Machtkämpfe gewinnen – Grenzen setzen – Strukturen schaffen

Chaos und Ordnung

Das Setzen von Grenzen

Die fünf Schritte des Dialogisch-Grenzen-Setzens

Kinder mit AD(H)S brauchen klare Regeln und Grenzen

Weitere Strukturen schaffen

Einige Gedanken aus christlicher Sicht dazu

Umgang mit Medien

Was sich bei uns bewährt hat

Kapitel 7

Kinder mit AD(H)S lernen anders

Nachteile der Kinder mit AD(H)S

Hilfen, die das Lernen unterstützen

Hausaufgabenmanagement

Klassenarbeiten planen mit SIEG

Lernstörungen

Zusammenfassung bewährter Hilfen

Gemeinsam Strukturen schaffen

Was Lehrkräfte brauchen können

Danksagung

Literatur/Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

ÜBER DEN AUTOR

JOACHIM KRISTAHN (Jahrgang 1958) ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern. Er studierte Psychologie in Hamburg und Kiel. Anschließend absolvierte er eine Therapieausbildung bei IGNIS.

Acht Jahre lang leitete er die soziale Stadtteilarbeit ARCHE in Bremen. Seit 1994 ist er an der IGNIS-Akademie in Kitzingen im pädagogischpsychologischen Bereich tätig. Dort gründete er die Eheberatung, Erziehungsberatung, Kinder- und Jugendseelsorge und Elternseminararbeit. Daraus entwickelte sich die AD(H)S-Arbeit mit einem eigenen Training sowie einer Fortbildung zum AD(H)S-Trainer. Die Seminare finden überall dort statt, wo Interesse besteht.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

WAS MIR ZUM EINSTIEG WICHTIG IST – INHALTLICHE SCHWERPUNKTE

AD(H)S kommt bei etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland vor und ist damit eine häufige, früh auftretende Entwicklungsstörung, die bis ins Erwachsenenalter fortbestehen kann. Doch es gibt auch eine andere Seite: Es sind ganz besondere Stärken mit AD(H)S verbunden. So sind die betroffenen Kinder gar nicht immer unaufmerksam und ablenkbar, wie manche Eltern zunächst denken, wenn sie den Namen »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom« hören. Unter bestimmten Umständen können sie sich sogar über die Maßen gut konzentrieren. Viele Fachbücher und auch viele Eltern berichten davon und sagen: »Wenn mein Kind am Computer sitzt oder mit … spielt, dann kann es sich hervorragend und lange konzentrieren. Es kann kein Defizit an Aufmerksamkeit haben. Wir sehen doch, dass es geht, wenn es will.« Ganz so einfach ist es aber nicht.

AD(H)S-Pioniere und Experten wie Hallowell und Ratey1 sprechen schon länger von einer Aufmerksamkeitsinkonsistenz. Ich erkläre diese so, dass die Aufmerksamkeit der Kinder motivationsabhängig ist. Sie ist grundsätzlich vorhanden, aber nicht immer gleich gut abrufbar. Es ist doch ein Unterschied, ob etwas gar nicht vorhanden ist oder ob es zwar verfügbar, aber unter bestimmten Voraussetzungen schwieriger zu aktivieren ist. Dazu ein Vergleich: Wenn eines unserer beiden Augen erblindet ist, können wir damit zu keiner Zeit sehen. Kinder mit AD(H)S können sich aber in bestimmten Situationen ausgezeichnet konzentrieren und dabei auch körperlich ruhig bleiben. Daher kann der Name Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung Eltern in die Irre führen.

Stattdessen kann das Syndrom besser dadurch beschrieben werden, dass Betroffene ihre Konzentration nicht so gut wie andere steuern können, wenn Aufmerksamkeit für etwas gefordert ist – eine Selbststeuerungsschwäche. Es stimmt also nicht, dass sie könnten, wenn sie nur wollten. So haben es auch Barkley und andere Pioniere beschrieben.

Um jedoch wieder auf einige der vielen positiven Eigenschaften zurückzukommen: Außer der Fähigkeit, sich besonders stark zu fokussieren (Fachleute sprechen vom Hyperfokus), habe ich z. B. noch keinen AD(H)Sler getroffen, der nicht in bestimmten Momenten ganz besonders charmant sein konnte. Dieses »gewisse Etwas«2 zu stabilisieren, sollte unser Ziel sein – das Ziel dieses Buches und das Ziel von Eltern, Lehrern und allen Helfern.

Letztlich sind AD(H)Sler ganz besondere Menschen, und es geht darum, zu entdecken, was Gott in sie hineingelegt hat (Psalm 139, 13-16). Denn dass Gaben und Stärken in jedem Menschen stecken, dürfte außer Frage stehen.

Kurz gesagt brauchen betroffene Kinder Menschen, …

… die ihre Stärken erkennen und fördern,

… die durch Herzensbegegnungen Momente hoher innerer Wachheit schaffen, den Selbstwert der Kinder stärken und Urvertrauen (nach-)reifen lassen,

… die sich Machtkämpfen stellen und Strukturen geben.

Dies alles bedeutet so viel, und man kann dem nachgehen, ohne Medikamente zu geben. Doch bei ausgeprägtem AD(H)S muss man nicht nur das Syndrom an sich gut verstehen, sondern sich auch mit Medikamenten und Alternativen befassen. Auf den folgenden Seiten möchte ich Sie dazu einladen und Ihnen viele weitere Behandlungswege nennen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

DAS AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT-/HYPERAKTIVITÄTS-SYNDROM

In diesem Kapitel erfahren Sie:

● Wie die international anerkannten Symptome für Kinder und Jugendliche heute beschrieben werden.

● Welche Kriterien für AD(H)S nach aktuellem Forschungsstand außerdem auftreten müssen.

● Welche Kritikpunkte es am Syndrom gibt

● Worauf Sie bei einer Diagnosestellung achten sollten.

● Auftreten, Entwicklung und Verlauf.

● Warum die Begleit- und Folgestörungen (Komorbiditäten) für viele Betroffene so wichtig sind.

● Welche Ursachen und Risikofaktoren es gibt.

● Warum etwas Wichtiges am Modell AD(H)S fehlt.

UNSERE FAMILIENGESCHICHTE – VON ANFANG AN EINZIGARTIG

Das Thema AD(H)S begleitet mich in meinem beruflichen Leben schon seit meinem Psychologiestudium und später in meinen Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendarbeit sowie in der Beratung. Parallel dazu lief unsere eigene Familiengeschichte. Da alle unsere vier Kinder schon erwachsen und selbstständig sind, blicken meine Frau und ich auf eine lange und intensive Zeit zurück: von der Geburt bis zur Berufswahl und darüber hinaus, sodass ich jedem neuen Kapitel etwas von unseren persönlichen Erfahrungen voranstellen möchte – anonymisiert und mit vorheriger Absprache. Ohne diese Erfahrungen hätten wir vieles zum Thema AD(H)S und zu angrenzenden Themengebieten gar nicht tiefer verstanden. Die einzelnen Kapitel dieses Buches haben wir selbst durchlebt – die Erfolge und Glücksmomente darin genauso wie die schweren Zeiten.

Eines unserer Kinder war schon im Mutterbauch sehr viel aktiver als die anderen drei. Hatte ich gegen Ende der Schwangerschaft die Hand auf dem Bauch meiner Frau, bekam ich jedes Mal einen so heftigen Tritt, dass ich sie erschrocken wegzog. Ich wusste es, konnte mich aber bis zum Schluss nicht daran gewöhnen.

Dieses Kind schlief mit zweieinhalb Jahren noch nicht durch und brauchte nachts auch in dem Alter noch mindestens eine Flasche. Leichtsinnigerweise hatte ich nach dem Abstillen die Nachtschichten übernommen, nicht ahnend, wie lange es dauern würde. Geschrei in der Nacht ist kein Spaß, und so musste ich mir etwas einfallen lassen, damit die frisch zubereitete Milchflasche länger vorhielt. Ich bekam Übung, sodass nicht noch eine zweite Flasche fällig wurde. Mit der Zeit wird man cooler und fragt sich, ob es immer eine frisch zubereitete Flasche sein muss oder ob man nicht auch eine »auf Vorrat« ans Bett stellen kann. Keines der anderen Kinder war nachts so aktiv und brauchte so lange bis zum Durchschlafen wie dieses.

Das Kind konnte mit zehn Monaten schon laufen und war in seinem Bewegungsdrang einfach nicht zu stoppen. Manches Mal haben meine Frau und ich es zu zweit gewickelt. Beim Kinderarzt boten wir einmal unsere Hilfe an, damit das Kind abgehorcht werden konnte. Der Arzt lehnte zunächst ab: er könne das allein. Doch es kam genau so, wie wir es geahnt hatten. Immer, wenn er das Kleinkind schön vor sich auf den Rücken legte, drehte es sich blitzschnell auf den Bauch. Er hatte keine Chance, mit dem Stethoskop auch nur die Brust zu berühren. Nach etlichen Fehlschlägen und einer »klitzekleinen Bemerkung« meinerseits nahm er unsere Hilfe dankend an.

Zu dem hohen Bewegungsdrang kam ein reduziertes Schmerzempfinden hinzu: »Schau dir das an«, sagte meine Frau. »Ich kann das Kind doch nicht anbinden!« Die beiden mittleren Stäbe, die zum Einsteigen ins Gitterbett vorgesehen sind, waren ausgehakt, vielleicht vom Kind selbst. So kletterte es ins Bett, um danach über das Geländer nach außen zu rutschen und sich auf den Fußboden fallen zu lassen. Dort hatte es zwei Kissen hingelegt, auf die es aber nicht mit den Händen voran, sondern mit dem Kopf zuerst stürzte. Es hatte sichtlich riesigen Spaß dabei. Nein, zu stoppen war es nicht, höchstens zu bremsen. Erst als es mit dem Kopf einmal genau zwischen die beiden Kissen fiel, trat Ruhe ein, vorher nicht, dann aber für immer. Genauso verhielt es sich mit der heißen Herdplatte, vor der wir warnen konnten, so oft wir wollten. Einmal selbst erfahren, saß es jedoch auf Dauer. Das ist auch eine Art des Lernens.

Im Kindergartenalter verlor sich die körperliche Unruhe, und in der Schulzeit blieb lediglich die Vorliebe für Bewegung und Sport erhalten. Ein Träumer wurde das Kind dennoch nicht. Es schien nur irgendwann nichts mehr in den Kopf zu gehen.

Fazit: Das Kind war von Anfang an einzigartig, bewegungsfreudig, einfallsreich, mutig, abenteuerlustig, oft gut drauf, mitreißend und auch schon etwas charmant.

Und dann ging plötzlich gar nichts mehr

Zuerst machte die Schule einen Riesenspaß, dann jedoch traten verschiedene Probleme auf. Manche Buchstaben wurden schlecht behalten. Das Einmaleins – gerade geübt – war innerhalb kürzester Zeit wieder vergessen. Beim Reproduzieren zu Hause gelernter Texte machte das Kind in der Schule so viele Fehler, besonders Flüchtigkeitsfehler, dass die Lehrerin denken konnte, es hätte das Üben komplett vergessen. Dabei war es immer dasselbe Muster: Zu Hause alles gekonnt – am nächsten Morgen in der Schule 15 oder 20 Fehler. Das Kind ließ sich schnell ablenken, war häufig vergesslich und kam nicht mit dem Tempo mit. Außerdem hatte es Schwierigkeiten, die Schulmaterialien zu organisieren, sodass sie griffbereit waren. Dafür aber bekam es alles andere mit: »Mama, wenn plötzlich jemand aus der Klasse sagt, dass ein Vöglein auf dem Rasen gelandet ist, habe ich es schon längst gesehen. Das ist immer so.« AD(H)S bedeutet oft Reizoffenheit: alles mitbekommen, das Vöglein, die Schritte auf dem Gang, das Gespräch hinten, das Comic unter der Bank vorne und dann ist da die Lehrerin, die eine Matheaufgabe an der Tafel erklärt. Alle Reize werden gleichwertig wahrgenommen und alle sind wichtig, nur ist für die Lehrerin »unglücklicherweise« völlig klar, welcher »Reiz« im Moment für die Schüler der wichtigste ist. Für das Kind ist es nicht so, eben eine Reizfilterschwäche bei gleichzeitiger Reizoffenheit.

Die Hausaufgaben waren oft für alle Beteiligten eine Strapaze. Es fehlte an Konzentration, Motivation und Ausdauer. Das Kind war nicht selten emotional am Ende und nur noch zu Frustrations- und Aggressionsausbrüchen fähig. Verglich es sich mit den anderen in der Klasse, ergab sich eine Negativbilanz, die Unverständnis erzeugte und das Selbstbild mehr und mehr bedrohte. Ja, schließlich stand das Selbstwertgefühl kurz vor dem Zerbruch – und das in der dritten Klasse nach all dem anfänglichen Spaß an der Schule. Wir hatten innerhalb des Schulsystems schon vieles probiert und alle Tipps umgesetzt. Meine Frau malte z. B. liegende Achten mit dem Kind in die Luft (sie sehen aus wie das Zeichen für Unendlichkeit in der Mathematik oder eben wie eine »8«, die zur Seite gekippt ist) und probierte diverse andere Übungen. Nichts half – was also tun?

Nicht nur wir bemerkten, dass etwas gewaltig schieflief. Der Klassenlehrer bat uns zu einem Gespräch. Wir schätzten ihn auf Anfang fünfzig. Er sei nun schon viele Jahre im Schuldienst, aber so etwas habe er noch nicht erlebt. Es gehe fast nichts mehr in den Kopf hinein, doch es könne nicht an der Intelligenz liegen. Das Kind sei mindestens normal begabt (eine Testung hatten wir natürlich auch schon hinter uns – mit entsprechendem Ergebnis). Wir sollten das unbedingt genauer abklären lassen. Doch als erste Maßnahme sollten wir einen Antrag auf Rückversetzung von der dritten in die zweite Klasse stellen. Ohne ein fachärztliches Gutachten bzw. eine Diagnose stimme die Lehrerkonferenz vielleicht nicht zu, doch bis es zu einem Untersuchungstermin käme, wäre es zu spät. Es sei natürlich unsere Entscheidung, doch er wolle den Antrag unterstützen und sich für das Kind einsetzen. Eine Sonderbeschulung könne er in diesem Fall nicht sehen.

Sonderschule? Mir wurde erst im Nachhinein klar, dass es vielen Kindern mit AD(H)S früher genauso ergangen ist, genau so! Die Lehrerkonferenz bewilligte den Antrag nach längerer Diskussion auch ohne Diagnose (jedoch mit bereits bestehender Anmeldung), und unser Kind wurde auf unseren Wunsch in die zweite Klasse rückversetzt. Diese massive Entlastung war ein riesiger Segen, wie sich später herausstellte. Entlastung ist übrigens ein ganz wichtiger Baustein in einem therapeutischen Gesamtkonzept bei AD(H)S, das wir noch betrachten werden. Doch das wussten wir damals noch nicht. Wir entschieden intuitiv und natürlich im Gebet.

Da das Kind ja nicht mehr hyperaktiv war, schlossen zu der Zeit alle Fachleute, auch der Schulpsychologe und wir als Eltern, diesen Themenkomplex aus. Heute wissen wir längst, dass es in erster Linie oft um Aufmerksamkeitsdefizite geht. Hyperaktivität kann dazukommen und steht manchmal auch im Vordergrund. Sie kann wie bei uns auch in frühen Jahren da gewesen sein und dann weichen, sodass später mehr die Unaufmerksamkeit zutage tritt. Deswegen schreibe ich (und viele andere) das H gerne in Klammern und spreche von AD(H)S.

Fazit: Bei Maßnahmen der Entlastung ist es am wichtigsten, dass es dem Kind gut geht und nicht, was Freunde und Nachbarn sagen, was die Gesellschaft gerade sagt oder was wir aus unserer Biografie mitbringen, z. B. Sätze wie: »Ja keine Zeit verlieren in der Schullaufbahn! Möglichst gut und schnell alles schaffen!«

Endlich eine Idee, wie es weitergehen kann

Wir entschieden uns schließlich, in eine große kinder- und jugendpsychiatrische Gemeinschaftspraxis zu gehen, in der Ärzte und Psychologen zusammen arbeiteten. Angemeldet war unser Kind, doch es dauerte bis wir endlich dran waren: Anamnese, Exploration, medizinische Untersuchungen, auch ein EEG, psychologische Tests, Fragebögen u. Ä. Unser Ansprechpartner, ein Doktor der Psychologie, ermittelte neben vielem anderen einen Konzentrationsleistungswert von deutlich unter 10 %, d. h., über 90 % aller vergleichbaren Kinder konnten sich besser konzentrieren als unseres. Solche Aufmerksamkeitsdefizite erklärten die Probleme beim Umgang mit Buchstaben und Zahlen. Er meinte schließlich, dass wir schon alles versucht hätten, was möglich sei, ein großartiger Einsatz auch von meiner Frau. Doch jetzt könnten wir nur noch Medikamente geben. Wie Sie sich vorstellen können, wollte ich genau das nicht hören. Das merkte mein Kollege sofort, blieb aber dabei, dass wir schon alles andere probiert hätten.

Fazit: Diagnosen haben Nachteile wie das Risiko einer Etikettierung und auch Vorteile wie z. B. zu wissen, dass man nicht allein ist und es einen Namen gibt für das, was man bisher nicht verstehen konnte. Wege in diverse Behandlungen stehen danach offen.

WAS KINDER MIT AD(H)S WIRKLICH BRAUCHEN

Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom brauchen vor allem Menschen, die sich durch fünf Qualitäten auszeichnen. Ich spreche auch von fünf Aufträgen:

1. Sie sind gut über AD(H)S informiert. Nur wer diese Kinder versteht und ihre Symptome kennt, kann ihnen angemessen begegnen.

2. Sie sehen nicht nur die Schwächen dieser Kinder, sondern auch ihre Stärken. So können sie eine andere Sicht von ihnen entwickeln, sie gezielt fördern und ihnen ein besseres Selbstbild vermitteln.

3. Sie sind bereit, den Herzen der Kinder zu begegnen und sie dadurch in ihrem Selbstwertgefühl, ihrem Urvertrauen und ihrer Wachheit zu fördern.

4. Sie können zwischen Machtkämpfen (»Ich will jetzt nicht …«) und symptombedingten Schwierigkeiten (Kind kann jetzt nicht, sondern driftet unwillkürlich weg) unterscheiden. Sie weichen Machtkämpfen nicht aus, sondern vermitteln klare Strukturen und geben Orientierung durch das Dialogisch-Grenzen-Setzen. Im entsprechenden Kapitel kommen wir darauf zurück.

5. Sie wissen um die Verletzungen dieser Kinder durch ständige Misserfolge, Kritik von außen und Sich-selbst-nicht-verstehen-Können (»Wieso schaffe ich nicht, was andere können?«). Sie wissen um die Gefahr eines zerbrechenden Selbstwertgefühls und helfen, mit negativen Emotionen umzugehen.

Das Erste also, was diese Kinder brauchen, ist eine Umgebung, die gut informiert ist. Aktuelle fachliche Inhalte, Modelle und Hintergrundinformationen zum Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom sollen deshalb am Anfang stehen. In den darauffolgenden Kapiteln geht es um unseren Auftrag an diesen Kindern – in erster Linie als Eltern, dann als Pädagogen, Kindermitarbeiter sowie AD(H)S-Trainer und Seelsorger.

WORAN KANN MAN AD(H)S GENAU ERKENNEN?

Fachärzte und Psychologen, die über ausreichende Spezialkenntnisse verfügen, diagnostizieren AD(H)S anhand definierter Kriterien, die ich im Folgenden vorstellen möchte. Diesen Kriterien liegen zwei weltweit anerkannte Klassifikationssysteme zugrunde, auf denen je nach Staat die entsprechenden Leitlinien innerhalb des Gesundheitswesen aufbauen: die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA). Die APA hat 2013 ihre fünfte Fassung mit wichtigen Neuerungen im Bereich AD(H)S vorgelegt, das DSM-5.3 Besonders interessant ist, dass mit dem ICD-11 auch eine Neufassung durch die WHO vorliegt, die sich bezüglich AD(H)S deutlich an das DSM-5 angleicht. Das im Juni 2018 vorgestellte ICD-11 führt AD(H)S nun unter den neurologischen Entwicklungsstörungen in denselben drei Erscheinungsformen wie das DSM-5 auf, wobei die zusätzlichen Kriterien zur Diagnose ebenfalls fast identisch mit dem DSM-5 sind.4 Das ist für Fachleute ein Paukenschlag, weil damit eine bisher so nicht vorhandene weltumspannende fachliche Einmütigkeit eintritt. Verträumte und trödelige Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten haben nun im ICD-11 viel mehr Chancen erkannt zu werden und nicht durchs Netz zu rutschen. Aufmerksamkeitsdefizite ohne Hyperaktivität können darin erstmals diagnostiziert werden, ohne »behelfsmäßig« eine Restkategorie benutzen zu müssen.

Die im Folgenden dargestellte Diagnostik nach den neu überarbeiteten Kriterien besteht aus der Abklärung der Symptome, den dazugehörigen beobachteten Bedingungen und den möglichen Subtypen, die jetzt aber nicht mehr starr verstanden werden, sondern als (vorübergehende) Erscheinungsbilder definiert werden, weil sie wechseln können. Außerdem können jetzt drei Schweregrade diagnostiziert werden, was der Realität viel gerechter wird.

Die folgenden Seiten sind nicht nur für Eltern wichtig, die einen ersten Eindruck brauchen, ob ihr Kind betroffen sein könnte oder noch betroffen ist, sie sind auch für Pädagogen und Berater und Therapeuten wichtig, die wissen wollen, was heute unter AD(H)S verstanden wird.

Wer verstanden hat, wie die Diagnose in allen ihren zugehörigen Zweigen aufgebaut ist, der hat auch gleichzeitig erfasst, wie AD(H)S heute definiert wird. Seit den 80er-Jahren ist die Forschung – auch durch neue bildgebende Verfahren zur Untersuchung des Gehirns – explodiert. AD(H)S ist heute eine der am besten untersuchten Störungen des Kindesalters, wenn nicht die beste. Es ist das Verdienst von Zehntausenden von Studien, herausgefunden zu haben, dass alle diese Zweige zu Ästen gehören und diese wiederum zu einem bestimmten Baum mit dem Namen AD(H)S. Das bedeutet nun nicht, dass es keine Fragen mehr gibt oder man schon alle Wurzeln gefunden hat; ganz und gar nicht. Auch ich habe meine Fragen an das Konzept. Doch wenn Sie zu den Kritikern des gesamten Syndroms gehören und dieses Buch in den Händen halten, weil Sie auch glauben, dass diese Kinder hervorragende Stärken haben, dann überlegen Sie doch einmal, ob ein Pharmakonzern alle im Folgenden geschilderten Zusammenhänge wirklich künstlich konstruieren kann, wenn es sie doch in Wahrheit gar nicht gibt und AD(H)S lediglich eine erfundene Krankheit ist. Können wirklich Tausende von Studien gefälscht werden, um einen Baum zu erschaffen, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt? Und kann es dann so viele Familien geben, die berichten, wie alle diese Zusammenhänge in ihrem Leben genau passen?

Nein, es macht nach 40 Jahren intensiver Forschungsarbeit und den Berichten von Tausenden von Eltern keinen Sinn mehr, an eine erfundene Krankheit zu glauben. Wenn wir also die Verschwörungstheorien beiseitelassen, haben die AD(H)S-Kritiker auch wirklich gewichtige Argumente ins Feld zu führen.

KRITIK AM KONZEPT AD(H)S

Kritikpunkte, der mir immer wieder begegnet sind, lauten:

1. Die Anzahl der Diagnosen und damit einhergehend die Menge an verordneten Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat steigt von Jahr zu Jahr stark an. Auch wenn die Hintergründe von AD(H)S vielen Eltern, Lehrern und auch Ärzten erst vertraut werden mussten, so kann diese Entwicklung einfach nicht normal sein.

Zu 1.: Das Argument trifft bis zum Scheitelpunkt der ansteigenden Medikamentenverordnung im Jahre 2012 voll und ganz zu. Es gab den steilen Anstieg. Die Gründe wurden jedoch kontrovers und nicht immer sachlich diskutiert. Nach 2012 begann die Kurve der verordneten Menge Methylphenidat jedoch zu sinken. Dies kann als Folge der kritischen Auseinandersetzung, aber auch als Folge einer zunehmend sorgfältiger werdenden Diagnostik gewertet werden. Ich denke, dass beides hierbei eine Rolle spielt.

2. Die Symptome sind so unscharf formuliert, dass jeder etwas davon haben könnte, oder sie werden so unsorgfältig angewendet, dass es zu vielen Fehldiagnosen kommt.

Zu 2.: Ein Beispiel aus der Vergangenheit, wo ein Arzt schon nach 10 Minuten Gespräch die Diagnose AD(H)S gestellt und ein Medikament verordnet hat, ist immer wieder zu hören, absolut unschön und widerspricht allem, was wir noch über die Diagnosestellung zu betrachten haben. Anfang 2013 veröffentlichte die Krankenkasse Barmer GEK dazu passend eine nicht repräsentative Studie, der zufolge die Zahl der zwischen 2006 und 2011 diagnostizierten ADHS-Fälle um 42 % gestiegen sei. Dies kann als Hinweis gewertet werden, dass die Diagnose ADHS in diesem Zeitraum zu leichtfertig und damit öfter zu Unrecht gestellt worden ist.

Wenn man die Symptome allein betrachtet, was man nicht darf, so wäre die Diagnostik tatsächlich ziemlich unscharf. Die Kriterien reichen jedoch weit über bloße Symptomlisten hinaus und wurden immer weiter präzisiert. Auch die einzelnen Symptome werden inzwischen konkreter gefasst. Die beiden weltweit verwendeten Klassifikationssysteme, das DSM-5 und ICD-11, zeigen diese Weiterentwicklung eindrucksvoll. Ich habe die Symptome deswegen weiter unten im Text ungekürzt wiedergegeben. Das ist mir nicht ganz leichtgefallen, denn so gut wie überall (!) werden sie nur in einer gekürzten Form aufgeführt und auch ich wollte zuerst lieber eine Abkürzung nehmen als den längeren Weg gehen.

Es werden dazugehörige Voraussetzungen und geforderte Zusammenhänge sowie Differenzialdiagnosen (Prüfung ähnlicher Störungsbilder) klarer definiert, ebenso wie drei Erscheinungsbilder (neu anstelle von Subtypen) und drei Schweregrade im DSM-5. Natürlich kennt jeder Mensch Momente der Unaufmerksamkeit oder Rastlosigkeit. Das ist richtig, doch nicht jeder erlebt hierin ein durchgehendes Muster in mindestens zwei Lebensbereichen, das eine deutliche Beeinträchtigung in Familie, Schule oder Beruf nach sich zieht. Das und noch anderes mehr sind die springenden Punkte. Wenn die Vielzahl der zusammenhängenden Kriterien noch nicht bei allen Ärzten oder Psychologen angekommen ist, so ist dies sehr zu bedauern. Es muss infolge zu den kritisierten Fehldiagnosen kommen. Das ist leider so. Deswegen braucht der Prozess Zeit.

3. Die Pharmaindustrie zahlt Gelder in Form von Honoraren für Vorträge und Gutachten oder Spesenerstattungen an psychiatrische Experten. Seltener werden auch Gelder für die Durchführung von Studien gezahlt.

Zu 3.: Auch wenn es sich um angesehene Experten handelt, und auch wenn die Zahlungen nicht für die Bevorzugung eines Medikaments erfolgten, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Objektivität der Zahlungsempfänger leidet. Als 2008 bekannt wurde, dass mehr als die Hälfte der Autoren, die das DSM-5 erstellen sollten, solche Gelder erhalten haben, war die Kritik groß. Die American Psychiatric Association (APA) verlangte daraufhin von den 28 Autoren eine Offenlegung ihrer Interessenkonflikte vor Aufnahme ihrer Arbeit. Außerdem mussten sie sich verpflichten, während ihrer Mitarbeit nicht mehr als 10000 Dollar pro Jahr für Arbeiten von Pharmakonzernen einzunehmen. Auch wenn das für einige zu finanziellen Einbußen geführt haben dürfte, hält sich mein Mitleid in Grenzen. Diese Verquickung schadet der APA selbst dann, wenn kein Experte die wissenschaftlichen Methoden in seinen Studien bewusst abgeändert hat bzw. sie auch nicht ändern konnte und die APA letztlich selbst für die Herausgabe des DSM-5 geradesteht. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, und da ist mir die andere Hälfte der Autoren lieber. Es geht offensichtlich auch ohne zweifelhafte Zahlungen! Auch die Pharmaindustrie schadet sich hier selbst.

4. Verschiedene Auffälligkeiten werden in einen Topf geworfen, der dann AD(H)S genannt wird. Es wird zwischen den verschiedenen Störungen, die hinter den Symptomen stecken, nicht differenziert. Wenn diese sogenannte Differenzialdiagnostik (Prüfung ähnlicher Störungsbilder) sorgfältiger gemacht werden würde, gäbe es nicht so viele Kinder mit AD(H)S.

Zu 4.: Es können wirklich verschiedene Störungen hinter den Auffälligkeiten stehen. Eine umfangreiche Prüfung ähnlicher Störungsbilder ist demzufolge unerlässlich. Sie hilft im gleichen Zuge, ggf. vorhandene Begleit- und Folgestörungen zu erkennen. Durch die voranschreitende Forschung verbessert sich der fachliche Stand zur Differenzialdiagnose ständig. Dies wird auch im DSM-5 und ICD-11 deutlich. Nur dauert es bedauerlicherweise immer eine Weile, bis dies bei den behandelnden Ärzten/Psychologen angekommen ist. Auch müssen sich die Fachleute dann noch die dafür notwendige Behandlungszeit nehmen. Fehlen Wissen, Zeit oder beides, kommt es öfter als nötig zu Fehldiagnosen. Das ist leider so.

5. Speziell Traumatherapeuten und Psychoanalytiker hängen an dieser Stelle der Kritik gelegentlich noch an: diese Kinder litten eigentlich unter frühkindlichen Traumata, Dissoziationen, Bindungsstörungen und müssten traumatherapeutisch/psychoanalytisch behandelt werden. Dann bräuchten sie keine Medikamente.

Zu 5.: Grundsätzlich muss man immer in Erwägung ziehen, dass jemand »Läuse und Flöhe« zugleich haben kann. AD(H)S kann die Entstehung eines Traumas begünstigen, und ein Trauma kann die Entstehung/Vertiefung der Symptome von AD(H)S begünstigen. Von Traumatherapeuten höre ich gelegentlich von einem erfolgreich behandelten Kind mit der Diagnose AD(H)S, das danach nicht mehr so viele oder keine Medikamente benötigte. Wenn das dauerhaft der Fall wäre, was in der Regel offenbleibt, aber aufgrund einer Fehldiagnose möglich wäre, würde ich mich darüber sehr freuen. Es bleibt festzuhalten, dass die Anamnese und die Prüfung ähnlicher Störungsbilder im Bereich Deprivation, Dissoziation, Belastungsstörung sorgfältig sein sollte, damit es zu möglichst wenigen Fehldiagnosen kommt.

6. AD(H)S kann keine Hirnstörung sein, weil man den entscheidenden Biomarker bzw. die entscheidende Ursache im Gehirn nicht gefunden hat.

Zu 6.: Den einen Biomarker oder die eine Ursache im Gehirn hat man nicht gefunden. Das ist richtig. Wir hätten es aber gern einfach, und auch ich habe in meinem ersten Buch noch an einige wenige Unterschiede im Gehirn von Betroffenen und nicht Betroffenen geglaubt.5 Stattdessen hat man viele Veränderungen gegenüber nicht Betroffenen gefunden. Das ist nicht so handlich und ruft nach noch mehr Forschung, die auch läuft. AD(H)S ist also eher multifaktoriell verursacht, d. h., viele kleine Veränderungen oder eine große tragen dazu bei. Dies wird weiter unten ausführlicher dargestellt. Es spricht insgesamt für AD(H)S als einer kontinuierlich verteilten Merkmalsdimension, deren Extremform in unserer Gesellschaft allerdings besonders leicht auffällig wird.

7. Das Konstrukt und seine medizinische Behandlung sei für alle eine einfache Lösung: Die Eltern sind froh, dass es nicht an ihrer Erziehung liegt. Die Ärzte sind froh, dass es mit einer einfachen Pille wieder geht. Die Lehrer sind froh, dass es sie keine pädagogische Arbeit kostet, und die Pharmaindustrie ist froh, dass sie so gut Geld verdient. Doch eigentlich brauchen die Kinder keine Pillen, sondern Erfahrungen von Selbstwirksamkeit; Gelegenheiten, zu zeigen, dass sie zu kreativen Lösungen fähig sind, dass sie mit anderen zusammen Herausforderungen bewältigen können und Ähnliches mehr. So kann sich ihr Gehirn am besten entwickeln. Die Medikamente dagegen würden diese Entwicklung von vorherein verhindern.

Zu 7.: Alle sind froh …, das trifft grundsätzlich so zu. Dennoch darf es nicht wieder darauf hinauslaufen, wie es früher schon einmal war, dass den Eltern und Lehrern der Schwarze Peter zugeschoben wird. Es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, wie viel Leid sich in so einem Kind und in seinem Umfeld anhäuft und wie man damit kurzfristig umgehen kann. Entwicklungsprozesse können so lange betont werden, dass alle Beteiligten schließlich »aufs Jenseits« vertröstet werden. Niemand kann garantieren, dass bestimmte Erfahrungen auch die notwendigen Entwicklungsprozesse nach sich ziehen und jemals Beschwerdefreiheit eintritt. Im »worst case« ändert sich trotz aller neuen Erfahrungen nicht viel. Manche Erfahrungen werden überhaupt erst durch Medikamente ermöglicht, weil aufgrund der Schwere der Störung sonst »gar nichts ginge«. Zugelassene Behandlungswege dürfen niemals von vornherein verboten sein.

Auch wenn Eltern und Lehrer sich wirklich manchmal pädagogisch verbessern könnten, sollten Kritiker, die selbst keine deutlich betroffenen Kinder haben, sich vielleicht etwas zurückhalten, finde ich. Kinder brauchen natürlich die Zuwendung, das Spielen und die Herausforderungen, die gemeinsam gelöst werden. Das alles tut ihrer Entwicklung gut, auch der Entwicklung ihres Gehirns. Dazu brauchen sie immer wieder neue Erfahrungen. Um die Jahrtausendwende herum6 sind mir schon bestimmte neue Erfahrungen wichtig gewesen. Das freut mich und ermutigt mich heute, Ihnen dieses Erfahrungsspektrum, das in Beziehungsabläufe eingebettet ist, in diesem Buch ausführlicher vorzustellen: Herzensbegegnungen und alles Dazugehörige führen zu Momenten hoher innerer Wachheit, stärken das Selbstwertgefühl und fördern das Urvertrauen. Stärken zeigen, dass das Kind ausgerüstet und befähigt ist. Seine Stärken einzusetzen und zu erleben, öffnet dem Kind neues Erfahrungspotenzial. Gleichzeitig wird die Sicht der Eltern und der anderen Bezugspersonen verändert, sodass dies auch zu neuen Beziehungserlebnissen für das Kind führt. Selbst hilfreiche Strukturen können zu positiven Erfahrungen werden. Diese drei Aufgaben sehe ich:

● Stärken entdecken und fördern,

● Herzensbegegnungen ermöglichen und

● Strukturen hineinlegen.

Beginnen wir nun wie angekündigt mit den Symptomen des DSM-5, das eine Vorreiterrolle für das ICD-11 übernommen hat, und den dort genannten Kriterien bzw. Bedingungen, die zusätzlich erfüllt sein müssen.

Die international gültigen Symptome

Die Symptome sind in der aktuellen Fassung übrigens nicht nur für Kinder, sondern auch für Jugendliche und für alle Altersgruppen deutlich klarer formuliert.

Darf ich Sie zu einem ersten praktischen Übungsteil einladen?

Nehmen Sie doch einfach einen Stift zur Hand und kreuzen Sie für ein Kind, das Ihnen jetzt vor Augen steht, beim Lesen gleich an, ob die Aussage zutrifft oder nicht.

Ein Syndrom besteht immer aus einer Anzahl von zusammengehörigen Symptomen. Mit diesen neun Symptomen wird erst einmal das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom beschrieben, die Hyperaktivität und Impulsivität folgen später. Dabei formuliere ich nicht frei, sondern halte mich aus den genannten Gründen an das DSM-5. Die Erklärungen in Klammern sind dort so enthalten, nur die Fragebogenform ist von mir gewählt.

Als Erstes wird gefordert, dass ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität-Impulsivität, wie in den beiden folgenden Fragebögen beschrieben, vorliegt, welches die Leistungsfähigkeit (das sogenannte »Funktionsniveau«) oder die Entwicklung beeinträchtigt.

Name des Kindes/des Jugendlichen

Trifft zu

Trifft nicht zu

Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten (übersieht z. B. Einzelheiten oder lässt sie aus, arbeitet ungenau).

Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten (hat z. B. während Unterricht, Vorträgen, Unterhaltungen oder längerem Lesen Schwierigkeiten, konzentriert zu bleiben).

Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn bzw. sie ansprechen (scheint z. B. mit den Gedanken anderswo zu sein, auch ohne ersichtliche Ablenkungen).

Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und bringt Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende (beginnt z. B. mit Aufgaben, verliert jedoch schnell den Fokus und ist leicht ablenkbar).

Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren (hat z. B. Probleme, sequenziell aufeinanderfolgende Aufgaben zu bewältigen; Schwierigkeiten, Materialien und eigene Sachen in Ordnung zu halten; unordentliches, planlos-desorganisiertes Arbeiten; schlechtes Zeitmanagement, hält Termine und Fristen nicht ein).

Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (z. B. Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben, bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen: Ausarbeiten von Berichten, Ausfüllen von Formularen, Bearbeiten längerer Texte).

Verliert häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z. B. Schulmaterialien, Stifte, Bücher, Werkzeug, Geldbörsen, Schlüssel, Arbeitspapiere, Brillen, Mobiltelefone).

Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken (bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen können auch mit der aktuellen Situation nicht in Zusammenhang stehende Gedanken gemeint sein).

Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich (z. B. bei der Erledigung von häuslichen Pflichten oder Besorgungen; bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen umfasst das Vergessen auch Telefonrückrufe zu tätigen, Rechnungen zu bezahlen, Verabredungen einzuhalten).

Wenn Sie beim Lesen angekreuzt haben, dann haben Sie jetzt eine allererste Idee, ob das betreffende Kind bzw. der Jugendliche etwas mit AD(H)S zu tun haben könnte.

Das ist natürlich noch keine Diagnose. Die ist Fachleuten vorbehalten, und die wissen, was alles noch folgen muss und wie viele Termine dazu nötig sind. Also: Sie haben vielleicht eine erste Idee, mehr nicht.

Damit Fachleute bei diesem Kind, das Ihnen vor Augen steht, Aufmerksamkeitsdefizite überprüfen und später ggf. diagnostizieren können, müssen weitere entscheidende Bedingungen für dieses spezielle Kind erfüllt sein, die wir uns gleich anschauen:

1. Es müssen nicht alle neun Symptome erfüllt sein. Bei Kindern und Jugendlichen bis sechzehn Jahren reichen sechs von neun aus, bei Jugendlichen ab siebzehn Jahren und bei Erwachsenen sind es fünf.

2.