Steh-auf-Frauchen - Monika Kunze - E-Book

Steh-auf-Frauchen E-Book

Monika Kunze

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Beschreibung

Ein Kranausleger von 30 Tonnen Gewicht, rutscht von einem Tieflader auf den Gehweg, auf dem Marlene und ihr kleiner Sohn Alex (im Kinderwagen) unterwegs sind. Alex wird weit weg geschleudert, aber Marlenes Leben wäre fast zu Ende gewesen. Hatte ihr nicht eine Zigeunerin vorausgesagt, dass so etwas passieren würde? Doch Marlene besinnt sich auch auf das, was sie noch sagte: Immer, wenn Katastrophe vorbei - musst du aufrichten dich - wie ein Steh-auf-Männchen. - Das tut sie auch diesmal und bei allen weiteren Schicksalsschlägen. - In der Wendezeit arbeitet sie als Heiratsvermittlerin … dreht somit für andere am Rad des Schicksals und sorgt für deren Glück. Nur bei diesem Klaus will es nicht klappen … an jeder Frau, die Marlene ihm vermittelt, hat er etwas auszusetzen …

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Seitenzahl: 361

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Monika Kunze

Steh-auf-Frauchen

NEUE - lektorierte Fassung

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

2. Getöse erfüllte die Luft …

3. Hilfreiche Hände

4. Nahtoderlebnis und Wahrsagerin

5. Gulasch zusammenflicken?

6. Schreiben statt sprechen

7. Mumie statt Frau und Mutter

8. Marlenes schöner Mann

9. Der Heimat ein Stück näher …

10. Unerhörter Gesprächsstoff

11. Endlich wieder sehen können?

12. Besuch - unerwartet

13. Klagebriefe und Erinnerungen

14. Beim nächsten Mann …

15. Bücher – gar nicht so verschieden

16. Vorfreude – schönste ...

17. Überraschungen

18. Erstens kommt es anders …

19. Küsse und Umarmungen? Fehlanzeige!

20. Sehnsucht nach Birgit

21. Jürgen allein im Wald

II. Teil

22. Gute Aufbruchsstimmung

23. Neues Haus – neues Glück?

24. Die Sache mit dem Sparschwein

25. Ruhe nach dem Sturm

26. Einvernehmliche Trennung?

27. Scheidung im Minutentakt

28. Zum leiblichen Vater?

29. Rückkehr nicht willkommen

30. Schuldgefühle

31. Keine Zeit für Zickenkrieg

32. Festmahl im Gruselkabinett

33. Heilsamer Waldspaziergang

34. Lust als Ehe-Kitt?

35, Umzug mit Hindernissen

36. In der falschen Wohnung?

37. Blaue und andere Briefe

38. Eine Anzeige in der Zeitung

39. Post aus Köln

40. Auf, zu neuen Ufern!

41. Heimfahrt mit Neuigkeiten

42. Mit Herzenswärme gegen Einsamkeit

43. Endlich eine Frau für Nörgel-Krüger?

44. Kakao mit Salz

45 Liebe – oder doch nur Sex? 

46. Ereignisse überschlagen sich

47. Einschulung mit Wermutstropfen

48. He, guten Morgen, Deutschland ...

Impressum neobooks

1. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

Der Sand unter den Rädern des Kinderwagens knirschte, denn niemand hatte ihn seit dem Winter vom Gehweg gefegt. Marlene und Alex störte das wenig, denn sie genossen die frische Frühlingsluft.

Alex hatte sich diesmal sogar klaglos im Kinderwagen anschnallen lassen. Die Aussicht, den Papa von der Arbeit abholen zu dürfen, hatte ihn wohl seinen gewohnten Anti-Anschnall-Protest vergessen lassen.

Birgit und Karsten, Marlenes Kinder aus erster Ehe, waren noch in der Schule. Niemand ahnte in dem Moment, was ihnen dadurch erspart bleiben sollte. Auch Mutter und Sohn wären wohl besser daheimgeblieben …

Doch noch war alles um sie herum friedlich: Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, farbenfrohe Blüten lugten durch die Zäune der Vorgärten. Neben so viel Frühlingspracht hatten schlimme Befürchtungen einfach keinen Platz.

Alex quietschte vor Vergnügen. Marlene ließ sich von seiner guten Laune anstecken und schob den Kinderwagen fröhlich die Dorfstraße entlang, vorn bei der dicken Eiche um die Ecke. Heute störte es sie nicht einmal, dass es in dem kleinen Ort Blocksdorf nicht viel zu entdecken gab.

Die Gebäudekomplexe waren graue, vierstöckige Klötze, einst in aller Eile errichtet, um möglichst viele Leute aufnehmen zu können, die im nahe gelegenen Kraftwerk arbeiteten.

Die Großplattenbauten bildeten einen krassen Gegensatz zu den kleinen Bauerngehöften. Jene, aus rotbraunem Backstein ohne Putz, hatten etwas Strenges, aber auch Klares und Schönes an sich. Was Marlene jedoch immer wieder verwunderte: Ihre Bewohner schienen nicht gern Einblicke zu gewähren, denn die hohen, gewölbten Holztore waren fast immer verschlossen. Das wirkte nicht gerade einladend.

Seit drei Jahren wohnten sie nun schon hier. Die Kinder hatten sich schnell eingelebt, denn in der Schule waren die Neuen ohnehin in der Überzahl. Und Alex war ja erst knapp zwei Jahre auf der Welt, also in dem Sinne gar kein Zugezogener.

Doch weder Jürgen noch Marlene fühlten sich in der kleinen Neubauwohnung im vierten Stock richtig heimisch.

War das etwas, das sie selbst ändern konnten? Sie hofften es jedenfalls, denn die Lausitz gefiel ihnen. Schließlich wohnten sie – trotz Tagebau und Kraftwerk – in einer der waldreichsten Gegenden Deutschlands.

So hatten sie vor Kurzem angefangen, sich in der benachbarten Kreisstadt ein Haus zu bauen. Finanziell war das 1985 überhaupt kein Problem, denn die Abzahlungsrate für den Baukredit sollte ganze 78 Mark im Monat betragen. Problematischer hingegen war die Materialbeschaffung. Doch Jürgen und Marlene wollten sich nicht unterkriegen lassen. Ihre Devise hieß: Von nichts wird nichts – also Ärmel hochkrempeln und loslegen! Mitunter hieß das, sich morgens um vier nach Zement anzustellen, diesen dann im Fahrradanhänger zur Baustelle zu schaffen, tonnenweise Sand zu schippen und zu schwitzen.

Mit einem Auto war die junge Familie nicht gesegnet. Wie auch, betrugen doch damals, in der DDR, die Wartezeiten auf einen Trabant oder Wartburg mehr als ein Dutzend Jahre.

Unter diesen Umständen war Hausbau eben doch kein Zuckerschlecken. Um alles mussten sich die Bauwilligen, wie sie offiziell hießen, selbst kümmern. Für den nächsten Tag hatte Marlene kurzfristig Heizungsmonteure engagieren können, eine sogenannte Feierabendbrigade. Das hieß, die Bauherren (so stand es auf der Bautafel auf dem Grundstück), hatten außer für Essen und Trinken auch für Gas und Sauerstoff zum autogenen Schweißen zu sorgen. Marlene konnte sich Jürgens hochgezogene Augenbrauen lebhaft vorstellen, wenn sie ihn noch einmal losschicken musste, um die Flaschen aus dem Auslieferungslager zu besorgen. Sie würde ihm das so schonend wie möglich beibringen müssen.

Wenn ihr Mann in letzter Zeit immer öfter schimpfte, dass sie ja eigentlich gar keine Bauherren, sondern eher Bauknechte seien, dann gab sie ihm im Stillen Recht, verstand es aber trotzdem immer wieder, ihn zu besänftigen und zu motivieren. Marlene blieb optimistisch. Das schöne Wetter und die Aussicht auf den Baufortschritt würden heute das Ihre dazu beitragen, die Schimpfkanonaden ihres Mannes in Grenzen zu halten.

Als sie am letzten Haus vor dem Breiten Weg kurz stehen blieben, um die ersten bunten Tulpen und die blauen Traubenhyazinthen im Vorgarten zu bewundern, winkte eine alte Frau, die im Fenster lehnte, ihnen freundlich zu. Marlene hatte sie gar nicht gleich bemerkt. Alex winkte zurück und schrie begeistert: »Kuck, Bume!«

Ein breites Lächeln ließ tausend Fältchen im rotbackigen Apfelgesicht der Frau lebendig werden.

»Da hat der kleine Kerl auch seine Freude dran …«

Marlene nickte.

»Ja, wie wir alle, nicht wahr?«, sagte sie, »kein Wunder an so einem wunderschönen Frühlingstag wie heute!«

»Oje, oje, es ist nicht gut, den Tag vor dem Abend zu loben«, lamentierte die Frau plötzlich, und aus ihren Lachfältchen schienen von einem Moment zum anderen Sorgenfalten geworden zu sein. Ihr Lächeln hatte einem ängstlichen Gesichtsausdruck Platz gemacht. Die alte Frau nahm ihr Kissen vom Fenstersims und schlug eilig das Fenster zu.

2. Getöse erfüllte die Luft …

Hinter der nächsten Kurve waren die Worte der alten Frau längst vergessen.

Als sie beim Schuster vorbeikamen, fiel Marlene ein, dass sie das Netz mit den Schuhen zu Hause vergessen hatte. Die Absätze waren schief gelaufen.

»An den Absätzen erkennt man, ob ein Mensch ordentlich ist oder nicht«, war einer der seltsamen Lehrsätze ihrer Großmutter gewesen, die sich jedem fürs Leben einprägen sollten. Das klappte nicht bei jedermann, aber Marlenes Schuhe waren mehr beim Schuster als an den Füßen. Jürgen hatte für so etwas kein Verständnis. Für ihn waren schiefe Absätze nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Erde rund ist.

Macht nichts, tröstete sich Marlene, morgen ist schließlich auch noch ein Tag.

Aber weder morgen noch übermorgen, weder diese Woche noch nächste oder übernächste sollte sie es schaffen, ihre Schuhe zum Schuster zu bringen.

Soeben waren sie auf der Brücke am Drahtseilwerk angelangt. Auf der einen Seite rauschte das Wasser etwa drei Meter in die Tiefe. Sie schauten hinunter, aber außer angeschwemmten Schuhen und einem alten Motorradschlauch gab es nichts im Wasser zu sehen.

Fische sah man dort schon lange nicht mehr, weil die Abwässer aus der benachbarten Fabrik ohne Skrupel in den kleinen Fluss geleitet wurden.

Alex wusste noch nichts von Umweltsünden und klatschte in die Hände, wenn wieder ein interessanter Gegenstand hinabsauste, wie jetzt diese Gummiente, die ein anderes Kind vielleicht flussaufwärts hineingeworfen hatte.

Es war noch etwas Zeit bis zum Ende der Schicht, also schauten sie sich noch ein wenig um. Marlene fielen die frischen Blumen an dem Gedenkstein auf. Er war polnischen Soldaten gewidmet, die im April 1945 in das deutsch-sorbische Dörfchen einmarschiert waren. Fast auf den Tag genau vor vierzig Jahren, dachte sie und versuchte, die verblasste Inschrift zu entziffern. Das gelang nur mühsam und erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.

So achtete sie kaum auf ihre Umgebung. Ganz nebenbei sah sie ein paar Kraftwerker aus dem Breiten Weg kommen. Sie hatte zwar die Rundumleuchte auf dem Pkw bemerkt, aber solche Fahrzeuge fuhren hier häufig größeren Sondertransporten voran. Sie warteten, Alex noch im Kinderwagen, auf dem Bürgersteig und hielten Ausschau nach Jürgen.

Und dann war es auch schon geschehen.

Ein gewaltiges Getöse erfüllte die Luft, ein Krachen und Splittern, ein Zischen, als flögen Gegenstände durch eine schreiende Menschenmenge, Metall knarzte auf Metall und Holz barst ganz in ihrer Nähe. Plötzlich durchzuckte ein Wahnsinnsschmerz ihren Körper, sie glaubte, zu brennen oder in Stücke gerissen zu werden. Als sie fühlte, wie sie in einen Abgrund sank, war sie fast dankbar, dass sie sich der Schwärze ergeben konnte und nichts mehr fühlen musste.

Genau so hatte sie sich immer den Tod vorgestellt, ein leichtes Fallen in eine sanfte Dunkelheit, die einem die Schmerzen nimmt.

Doch ihre Stunde war anscheinend noch nicht gekommen. Sie kam schnell wieder zu sich, hörte Stimmen und scharrende Füße. Sie tastete den Boden ab, auf dem sie lag, fand aber nicht, was sie suchte. Ihren Sohn.

Alex? Wo war er? Ihre suchenden Hände füllten sich mit kaltem, grobkörnigen Sand.

Jemand, der stark nach Zwiebeln roch, rief etwas von einem Kranausleger, aber sie verstand nicht, worum es ging.

Marlene wusste überhaupt nicht, was geschehen war oder wo genau sie sich befand. Es war doch gerade noch Tag gewesen, aber um sie herum war alles dunkel, wenn auch nicht still.

Die ersten Kraftwerker hingegen, die nach der Schicht nach Hause wollten, hatten alles mit angesehen: wie sich ein Kranausleger riesigen Ausmaßes von dem Tieflader löste und mit Getöse auf die Straße donnerte. Ein Ungetüm, das sich dunkel abzeichnete gegen den strahlend blauen Himmel.

Sie hörten Bremsen quietschen, konnten nicht unterscheiden, von welchem Fahrzeug. Ein Pkw blieb ruckartig stehen.

Plötzlich flog etwas durch die Luft, das aussah wie eine Schlenkerpuppe. Aber dieses Etwas war ein kleiner Mensch, der aus Leibeskräften schrie. Als er nach einigen Metern fast wie in Zeitlupe am Flussufer landete, ging das Schreien in leises Wimmern über und erstarb dann ganz.

Eine bedrückende Stille breitete sich aus.

Es war, als ob die Welt den Atem anhielte.

Auch die Menschen verstummten und waren wie erstarrt. Niemand von ihnen schien zu wissen, was als Nächstes zu tun sei.

Sollten sie zuerst zu dem Kind, das stumm im Gras lag, oder zu der jungen Frau, die auf dem Bürgersteig lag und noch immer ein Stück vom Kinderwagen fest umklammert hielt?

Das stählerne Ungetüm hatte sie gestreift, das hatten einige gesehen. In dem Fall würde wohl jede Hilfe zu spät kommen. So riefen sie sich gegenseitig ihre Vermutungen zu.

Marlene spürte von all dem nicht viel. Sie war so voller Angst und Sorge – schämte sich auch, dass sie einen Moment lang dankbar gewesen war für die schmerzfreie Dunkelheit, die auch hätte den Tod bedeuten können. Was sollte denn aus Alex werden? Wo war er überhaupt? Wieder begann sie zu tasten, löste ihre Hand irgendwie von dem Stück Metall, das sie wohl die ganze Zeit umklammert gehalten hatte. Sie musste mit beiden Händen suchen, dann würde sie ihn bestimmt schneller finden.

Doch ihre Finger spürten nur Sand und Steine. Und Schmerzen.

Mit dem beschämenden Gefühl, ihrem geliebten Sohn in höchster Not nicht beistehen zu können, glitt sie wieder in die Bewusstlosigkeit. Als sie gleich darauf erneut zu sich kam, wollte sie sich umschauen, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu öffnen. Das Gehör? Es funktionierte!

»Oje, das viele Blut …«, hörte Marlene eine weibliche Stimme lamentieren.

»Ich glaube, ein Auge liegt neben der Frau!«, flüsterte eine andere.

Sie hörte wieder das Geräusch, das Füße machen, wenn sie im Sand scharren. Sie konnte unterscheiden, wie Stimmen wisperten, andere schrien.

»Ein Arzt muss her und die Polizei!«

»Ja, die sind unterwegs«, rief jemand. Er habe gleich von der Telefonzelle aus angerufen.

Alles war voll von aufgewirbeltem Staub. Es roch nach Schweiß und neuen Gummisohlen.

3. Hilfreiche Hände

»Lasst mich mal durch, ich bin Krankenschwester«, forderte eine junge, energische Stimme. Und während sich die junge Frau durch Menge schob, hatte sie wohl auch manchen etwas unsanft beiseitegeschoben.

Dagegen verwahrte sich ein Mann mit den Worten: »Trotzdem brauchen Sie mich doch nicht so zu schubsen!«

Die Krankenschwester kümmerte sich anscheinend nicht weiter um das Gerede. Marlene konnte ihre Nähe spüren und den leichten Duft von Mandeln wahrnehmen. Sie ächzte, als sie sanft auf die Seite gedreht wurde, ihr jemand etwas Glattes, Weiches auf das offenbar verletzte linke Auge drückte. Eine Decke oder etwas Ähnliches wurde ihr unter den Kopf geschoben.

Es kam ihr selbst merkwürdig vor, wie genau sie alle Geräusche und Gerüche wahrnehmen konnte. Sie hatte den Eindruck, als habe sie ihren Körper verlassen, beobachte alles von Weitem, ein Geschehen, das sie auf gar keinen Fall etwa selbst betraf.

Ihre größte Sorge galt ihrem Sohn Alex. Was ist mit ihm passiert? Ist er verletzt? Erst dann fragte sie sich, was mit ihr selbst geschehen war, wieso sie nicht einmal aufstehen oder die Augen öffnen konnte, um nach ihrem Jungen zu sehen.

Und zu guter Letzt, nach all diesen Fragen, traf sie die grausame Gewissheit wie ein Schlag: Sie war hier keineswegs nur eine Beobachterin, sie war tatsächlich selbst betroffen. Doch das empfand sie noch nicht einmal als das Schlimmste. Am schrecklichsten fühlte sich für Marlene an, dass sie keine Möglichkeit sah, jetzt noch irgendetwas von dem Entsetzlichen ungeschehen zu machen.

Schon von fern war jetzt ein Martinshorn zu hören. Gleich drauf quietschten Bremsen. Der Krankenwagen musste in unmittelbarer Nähe zum Stehen gekommen sein. Es roch nach Abgasen.

»Lasst doch mal die Ärzte durch«, verschaffte sich die Krankenschwester erneut Gehör. Es klang nicht mehr so nah, also war sie vermutlich ein paar Schritte zur Seite getreten.

»Gehen Sie bitte weiter!«, forderte eine Männerstimme, in der auch nicht die kleinste Spur von Verständnis für die Gaffer mitschwang. Die meisten Beine schienen sich auch prompt zu bewegen, die Schritte sich zu entfernen.

Plötzlich fühlte sich Marlene emporgehoben von vier kräftigen Armen. Vorsichtig wurde sie auf die Trage gelegt und in das Innere des Krankenwagens geschoben.

Der Arzt, Marlene kam die Stimme bekannt vor, hantierte fast geräuschlos. Sie spürte den Einstich in die Vene kaum. Als etwas Festes um ihren Oberarm gelegt und aufgepumpt wurde, hätte sie am liebsten vor Schmerz aufgeschrien.

»Hören Sie mich, Frau Altmann?«

Nanu, woher wusste er ihren Namen?

Darüber schien sich auch ein Sanitäter zu wundern, denn er stellte dieselbe Frage.

»Das ist doch die Kleine, die in der Betriebszeitung des Glaskombinats arbeitet«, bekam er zur Antwort, »sie hat mich mal interviewt.«

Ob den anderen das interessierte, bezweifelte Marlene, denn sie hörte nicht einmal mehr ein bestätigendes Brummen.

Stattdessen entwich die Luft leise zischend aus der Manschette des Blutdruckmessgerätes. Der Motor heulte auf, das Martinshorn dröhnte in ihren Ohren. Es war eine unangenehme Vorstellung, dass jetzt dort draußen alle anderen Fahrzeuge wegen ihr anhalten mussten.

Ah, jetzt fiel ihr wieder ein, wie der Arzt hieß, der sie kannte: Dr. Grunert, ein Chirurg. Sie war irgendwann einmal wegen eines gebrochenen Knöchels bei ihm gewesen. Und es stimmte, dass sie ihn ein anderes Mal zu seinem Hobby befragt hatte. Ganz stolz hatte er ihr seine Zinnsoldatensammlung vorgeführt.

Aber was tat das alles momentan zur Sache? Tausende Zinnsoldaten drehten sich in ihrem Kopf. Ihr wurde übel, und sie ließ sich wieder in die boden- und schmerzlose Dunkelheit fallen.

»Frau Altmann?« Die laute Frage und ein leichtes Klatschen auf die Wangen ließen sie wieder zu sich kommen.

Marlene konnte die Stimme des Arztes zwar durchaus gut hören, aber antworten konnte sie ihm auch mit äußerster Anstrengung immer noch nicht. Irgendetwas war mit ihrem Mund geschehen. Dr. Grunert tauschte ein paar medizinische Begriffe mit jemandem aus. Fachchinesisch, das sie nicht verstand.

Eine Antwort hatte wohl sowieso niemand von ihr erwartet.

Aber fragen wollte sie, musste sie!

Wo ist mein Junge?

4. Nahtoderlebnis und Wahrsagerin

»Wir verlieren sie!«, schrie jemand.

Marlene konnte den Sinn des Rufes und das, was danach geschah, nicht mehr erfassen, denn sie raste schon in einer unglaublichen Geschwindigkeit durch grellbunte Kreise, die sich gegeneinander verschoben wie bei einem Kaleidoskop.

Die schreienden Farben lösten sich ab mit beängstigender Finsternis, dann tauchten erneut bunte, bizarr tanzende Farbgebilde auf.

Marlene fühlte plötzlich, wie sie fortgerissen wurde, in wilder Fahrt durch einen grauen Tunnel raste, der nicht enden wollte. Eine nie gekannte Angst erfüllte sie.

Endlich ein helles Licht am Ende.

Die Angst verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.

Stattdessen wurde sie von einer Glückswoge überschwemmt, die sie so stark auch noch nie zuvor gefühlt hatte. Je näher sie dem gleißend hellen Licht kam, desto intensiver wurde das berauschende Glücksgefühl.

Ein Tunnel? Ein Licht? Was für ein Tunnel? Was für ein Licht? War sie wach – oder träumte sie?

Sie war nicht länger imstande, darüber nachzudenken, denn plötzlich wurde eine ganz andere Szene in ihrem Kopf lebendig …

*

Marlene war dreizehn Jahre alt und wieder einmal in einer neuen Schule. Wieder einmal war sie mit ihrer Pflegemutter und deren neuem Mann (»Franz der Fünfte«, wie sie ihn heimlich nannte) in eine Stadt gezogen, die sie, wie alle anderen vorher auch, nicht kannte. Immer wieder musste sie sich als »die Neue« behaupten. In der 7. Klasse schien das besonders schwierig zu sein.

Wie freute sie sich deshalb, als Lilli, eine Mitschülerin, sie schon nach ein paar Tagen gefragt hatte, ob sie nicht einmal gemeinsam etwas anstellen wollten.

Anstellen? Na klar! Und ob sie das wollte!

So waren sie also eines Tages nach einem ausgedehnten Stadtbummel gemeinsam auf einem Rummelplatz gelandet. Was gab es da alles zu sehen und zu hören! Herrlich! Die laute Musik und die leisere aus dem Leierkasten, das Schreien der Losverkäufer und vor allem das übermütige Lachen der Kinder auf den Karussells, in das sie beide bald mit einstimmten. Aber da sie kaum etwas ausließen, war ihr Taschengeld schnell zu einem winzigen Häufchen zusammengeschrumpft.

Ratlos schauten sie sich an. Eine versuchte in den Augen der anderen zu ergründen, was sie nun tun sollten.

»Noch einmal Riesenrad?«

»Oder vielleicht doch eher zur Wahrsagerin?«

Es wäre doch bestimmt nicht verkehrt zu wissen, was die Zukunft für sie bereithielt.

Lilli interessierte vor allem, ob wohl der Micha, dessen Eltern das Hotel am Park gehörte, ein wenig verliebt in sie sei.

Marlene dachte noch immer an ihren schwarzhaarigen Peter, ihre erste Kinderliebe aus der dritten Klasse in Dusterbusch. Sie war damals immer wieder hingerissen, wenn er ihre ewigen Schmalzschnitten öfter mal gegen ein Butterbrot und einen Apfel getauscht hatte. Aber das lag ja schon so lange zurück! Ob er wohl auch noch an sie dachte?

Fragende Blicke wurden getauscht. Mit einem Kichern bestätigten sie, dass sie beide dasselbe dachten. So geschah es dann, dass sie sich voller Herzklopfen im Zelt dieser hochinteressanten Dame wiederfanden. So sah also eine Hellseherin aus? Lachhaft! Die Mädchen stießen sich übermütig in die Seite.

Zugegeben, so sehr zum Lachen wirkte sie nicht, eher ein wenig zum Fürchten. Ihre Haut sah ein bisschen wie gegerbtes Leder aus, braun und von vielen Fältchen durchzogen. Von ihren Haaren lugte nur der schwarz glänzende Ansatz hervor, den Rest bedeckte ein malerisches Kopftuch mit vielen roten Rosen auf dunkelblauem Grund.

Zaghaft näherten sich die beiden Mädchen der Hellseherin.

Doch die wehrte mit einer Handbewegung ab und erklärte in gebrochenem Deutsch, dass zunächst nur eine von ihnen dableiben könne.

Schnick-schnack-schnuck? Na gut. Marlene gewann, und Lili zog schmollend ab.

Marlene war etwas mulmig zumute, aber sie wehrte sich nicht, als sie von der exotischen Frau sanft auf einen Hocker gedrückt wurde, der dem hohen Lehnsessel gegenüberstand, in dem die Zigeunerin gleich darauf selbst Platz nahm.

Nach dem Austausch von einigen Belanglosigkeiten übers Wetter nahm die bunt Gekleidete Marlenes Hand in ihre Linke und strich mit dem Zeigefinger nacheinander die einzelnen Linien nach. Plötzlich ließ sie die Mädchenhand fallen, als habe sie sich verbrannt.

Wie damals hatte Marlene auch jetzt wieder das Gefühl, dem besorgten Blick aus den fast schwarzen Augen der Frau zu begegnen.

Was hatte sie gefragt?

»Willst du ganze Wahrheit?«

Als das Mädchen zaghaft genickt hatte, zögerte auch die alte Zigeunerin.

Aber dann kamen die Worte doch, leise und in gebrochenem Deutsch.

»Nun, Kleines, du musst in Läben viel mähr als andere Leute kämpfen um alles. Um Liebe, Freindschaft, Glick, Gesundheit, selbst um nacktes Läben.«

Marlene ging das Gerede gehörig auf die Nerven. Nun hör schon auf mit dem Hokuspokus, dachte sie, kam aber nicht dazu, das Ganze abzubrechen, denn die Frau mit dem Rosenkopftuch sprach schnell weiter, als wolle sie es, einmal begonnen, nun auch rasch hinter sich bringen.

»Wenn du sein wirst dreißig, kommen schweres Unglick. Kann sein, Läben zu Ende … kann sein, muss aber nicht«, wiegelte sie gleich darauf ab, als sich die Bestürzung im Mädchengesicht abzeichnete.

»Wenn aber du richtig kämpfen, kann auch sein, du wirst gaaaaanz alt. Nur, leicht –, leicht wird Läben niemals!«

Sie war bei ihren Worten aufgestanden, zog Marlene vom Hocker hoch und umarmte sie fest.

Dann schob sie das Mädchen ein Stück von sich weg und lächelte, was ihr Gesicht von innen her zum Strahlen brachte. Sogleich darauf wieder ernst geworden, verabschiedete sie Marlene mit den Worten: »Mein Wunsch fir dich: Immer, wenn Katastrophe vorbai, dann musst du aufrichten dich – wie ein Stäh-auf-Männchen.«

*

Marlene erschauerte, als sie glaubte, den dunkelstimmigen Singsang der Frau und ihr eigenes helles, mädchenhaftes Lachen zu hören, das diesen eindringlichen Worten gefolgt war. Wahrsagerin!

Lilli hatte es vorgezogen, doch nicht mehr in deren Zelt zu gehen. Und ob der Micha sie nun ebenso mochte wie sie ihn, würde sie schon irgendwann auch noch selbst herausbekommen.

Die beiden Mädchen hatten sich noch lange ausgeschüttet vor Lachen – und sie hatten das Gehörte schon nach kurzer Zeit vergessen. So etwas konnte man ja schließlich nicht ernst nehmen.

Aber jetzt und hier, auf dieser wackligen Krankentrage, kam Marlene mit aller Deutlichkeit zum Bewusstsein, dass sie vor fünf Monaten ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte.

5. Gulasch zusammenflicken?

Motorengeräusch und Stimmen verschwammen ineinander. Arzt und Sanitäter unterhielten sich offenbar angeregt. Die Worte klangen mal laut, mal leise, mal erregt, mal ganz ruhig, aber verstehen konnte Marlene nur Bruchstücke. Der Sinn der Wörter und Sätze wollte sich ihr nicht erschließen.

Zu oft versank sie in Dunkelheit und Stille, um dann irgendwann wieder in gleißendes Licht geschleudert zu werden. Das schmerzte so heftig, dass sie glaubte, es nicht länger ertragen zu können.

Wo genau jene Schmerzen herkamen, hätte sie allerdings nicht zu sagen gewusst.

Es fragte sie auch niemand danach.

Ganz deutlich hörte sie jetzt, wie jemand an eine Scheibe klopfte. Dann war ein Quietschen zu vernehmen … hatte jemand das Fenster zur Fahrerkabine aufgeschoben?

»Was ist los?«, kam es von dort.

Die Frage schien Marlenes Vermutung zu bestätigen.

Ganz dicht neben ihr antwortete ein Mann: »Nix ist los, aber mach doch mal das Horn aus, das zerrt ja an den Nerven!« Und nach einen winzigen Pause: »Ich bezweifle sowieso, dass jemand dieses Häufchen Gulasch jemals wieder zusammenflicken kann.«

Marlene hatte das Gefühl, dass sie soeben von einem Hieb mitten ins Gesicht getroffen worden war. Sie konnte es einfach nicht fassen.

»Na, na«, sagte ein anderer schnell mit mildem Vorwurf in der Stimme.

»Ach, die Kleine, die hört doch nichts«, tönte wieder die Stimme des Ersten.

Gleichzeitig spürte Marlene, wie jemand sie leicht an der Schulter berührte. Aber das konnte sie nun auch nicht mehr besänftigen.

Ihr Herz begann zu rasen. In ihrer heiß aufsteigenden Wut wollte sie schreien: »Oh doch! Ich kann alles hören – und zwar sehr gut! Gulasch?! Von wegen! Ich werde es euch schon noch zeigen!«

Aber über ihre Lippen kam statt eines lautstarken Protestes gegen jene zynische Bemerkung nur wieder so ein schwaches Gurgeln, wie sie es schon einmal von sich gegeben hatte, als sie, gleich nach dem Unglück, etwas sagen wollte. Allerdings war das Geräusch diesmal laut genug, um die beiden Ärzte aufhorchen zu lassen.

»Sie steht unter Schock«, konstatierte Dr. Grunert.

Keiner der Männer konnte ahnen, was in diesem Moment in Marlene vorging. Sie war ganz und gar von einem einzigen übermächtigen Gedanken erfüllt: LEBEN! Nur das wollte, nein, musste sie! Unbedingt leben!

Wie hatte doch die alte Zigeunerin gesagt, als sie dreizehn war?

Immer, wenn Katastrophe vorbei, dann musst du aufrichten dich – wie ein Stehaufmännchen!

Aber war denn die Katastrophe vorbei? Noch schien sie davon eher sehr weit entfernt zu sein. Doch sie würde kämpfen, das wusste sie jetzt. Kämpfen, wie sie es immer getan hatte. Sie hatte ja das beste Motiv, das eine Mutter nur haben kann: ihre drei Kinder.

Sie sind die Einzigen, die mich wirklich brauchen, dachte sie, während sie sich verzweifelt gegen die endgültige Dunkelheit wehrte. Nicht umsonst sagte man ja, dass der Schlaf der kleine Bruder des Todes sei.

Ihr geschundener Körper summte, dröhnte, schmerzte.

Alex kam ihr wieder in den Sinn. Hatte ihn nicht jemand durch die Luft fliegen sehen? Oder hatte sie sich verhört? Ob er womöglich auch Schmerzen hatte? Wo mochte er jetzt sein?

Fragen über Fragen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Aber niemand konnte sie hören oder gar beantworten.

Als sie fühlte, wie die Dunkelheit sich anschlich, um sie erneut zu überfallen, hatte sie mit einem Mal keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen. Geradezu dankbar ließ sie sich fallen. Vielleicht würde sie ja wieder neue Kraft schöpfen können, während sie schlief.

6. Schreiben statt sprechen

Als Marlene erwachte, schämte sie sich für das Gefühl der Dankbarkeit, mit dem sie – vor langer Zeit? – in die Dunkelheit geglitten war.

Wo war sie? Sie nahm etwas Helles hinter ihren geschlossenen Lidern wahr. Licht? Neonlicht! Sie hörte die Röhre summen. Gott sei Dank! Sie lebte!

Mach die Augen auf!, befahl sie sich in Gedanken, doch das wollte nicht so recht klappen. Das Licht blieb weiter seltsam gedämpft. Hatte sie ein Laken über dem Kopf? Ihre linke Hand tastete ziellos umher, aber sie schaffte es wohl nicht allein, sich zu befreien …

Da kam jemand in leichten Sandalen herangetrippelt.

»Oh, Sie sind wach? Ich bin Schwester Christel. Sie hatten einen Unfall, oh, verzeihen Sie, jemand hat Sie bis oben hin zugedeckt. So, weg damit, jetzt ist es besser, hm?«

Der Redeschwall der Schwester klang wie Vogelgezwitscher.

Vorsichtig versuchte Marlene, die Augen noch ein wenig weiter zu öffnen. Aber nur das rechte Auge gehorchte, auf dem linken fühlte sie einen leichten Druck. Einen Verband?

Einäugig konnte sie erkennen, dass sie in einem hellen Raum lag, dass neben ihrem Bett so ein metallener Nachtschrank stand, wie es in Krankenhäusern üblich war. Dahinter entdeckte sie ein zweites Bett. Auch darin befand sich ein Wesen unter der Bettdecke. Nur ein Büschel grauer Haare lugte hervor. Aus der Tatsache, dass sich die Bettdecke gleichmäßig hob und senkte, schloss Marlene, dass dort jemand schlief.

Schließlich geriet die junge, blonde Schwester, die sie aufgedeckt hatte, ins Blickfeld ihres einen Auges. Als Marlene ihr Lächeln sah, wurde ihr plötzlich ganz warm ums Herz.

Dass inzwischen noch ein paar Ärzte ihr Bett umringten, bekam sie jetzt erst mit.

»Wie geht es Ihnen, Frau Altmann?«

Was sollte sie darauf antworten? Und vor allem: wie?

Das musste sich in dem Moment wohl auch der Arzt gefragt haben, denn er lächelte ihr freundlich zu, bevor er weitersprach.

»Sie hatten einen schweren Unfall. Ein Kranausleger ist von einem Tieflader heruntergerutscht … ach, ersparen wir uns und Ihnen erst einmal die Einzelheiten.«

Die anderen nickten und raunten.

Marlenes einäugiger Blick glitt an einem frisch gestärkten weißen Kittel empor bis zu einem Gesicht, das ihr auf Anhieb gefiel. Es gehörte zu einem Mann, der vielleicht zehn oder zwanzig Jahre älter war als sie. Seine Augen unter buschigen Brauen hatten eine undefinierbare Farbe, aber sie wirkten irgendwie weise und gütig. Diesen Eindruck verstärkte noch sein nicht besonders hochgewachsener, aber ziemlich kräftiger Körper. Sie hätte es mit nichts als einem vagen Gefühl begründen können, doch es war einfach so: Diesem Menschen vertraute Marlene sofort. Offenbar war sie noch immer auf Vatersuche. Trotz der vielen Väter, die ich hatte, dachte sie schon fast belustigt, schob aber den Gedanken gleich wieder beiseite.

»Alles ist aber noch recht glimpflich abgegangen …«, hörte sie den Arzt sagen.

Ein Satz mit sehr beruhigender Wirkung. So nahm sie auch gar nicht so bewusst auf, dass zuvor auch von einem Schädelbasisbruch, von etlichen Fissuren und Frakturen die Rede gewesen war.

»Der rechte Arm ist aber in Ordnung. Können Sie sprechen?«

Nie hätte Marlene es für möglich gehalten, wie schwer unter solchen Umständen allein schon der Versuch sein konnte, den Kopf zu schütteln. Ein jüngerer Arzt hatte es dennoch bemerkt und machte seinen Chef darauf aufmerksam.

Der nickte und fragte: »Schreiben? Ginge das?«

Ein mutiger, obgleich zaghafter, weil schmerzhafter Nick-Versuch. Es klappte wider Erwarten.

Sofort lief die kleine Schwester los, kam kurz darauf mit einem Stift und einem Schreibblock wieder. Sie war so schnell gelaufen, dass sich eine Strähne ihrer sorgfältig aufgesteckten Frisur gelöst hatte, was Schwester Christel jedoch keineswegs zu stören schien. Sie schien überhaupt oft und gern fröhlich zu sein.

Als Marlene den Stift nehmen wollte, kam es ihr vor, als sei ihre Hand eingeschlafen. Der Stift kullerte hinab auf den Fußboden. Schwester Christel hob ihn auf, drückte ihn Marlene wieder in die Hand, umschloss sanft ihre Finger. Ganz warm fühlte es sich an, als sie den Stift mit ihr gemeinsam einen Moment lang festhielt. Mit einem aufmunternden Lächeln ließ die Schwester langsam locker, bis Marlene den Kugelschreiber mit drei Fingern selbst halten konnte. Der Block wurde so an einem Ständer festgeklemmt, dass die Patientin gut herankam. Die Schwester blieb noch einen Moment an Marlenes Bett, während die kleine Ärztekarawane schon weitergezogen war, zum nächsten Bett. Von dort war leises Gemurmel zu hören. Oma Grauschopf war wohl aufgewacht.

Marlene kümmerte sich nicht weiter darum, sie hatte ja etwas viel Wichtigeres zu tun! Sie wollte und musste etwas Lesbares aufs Papier bringen. Nichts war jetzt wichtiger als dieser Schreibversuch. Schließlich war es geschafft! Blau und krakelig stand auf dem grauen Kästchenpapier: Wie geht es meinem Sohn?

Schwester Christel nickte verständnisvoll und kräuselte die Lippen, strich sich nun doch die vorwitzige Haarsträhne zurück und steckte sie fest, bevor sie antwortete.

»Es geht ihm gut«, sagte sie, »soviel ich weiß, ist er nicht ernsthaft verletzt …«

Marlene hörte nicht mehr weiter zu, ihre Hand war schon wieder am Schreiben.

Es ging schon viel besser als beim ersten Versuch, und man konnte schon richtig gut lesen, was dort stand.

Ich muss ihn sehen! Sofort!

»Was? Jetzt? Das wird nicht so einfach gehen, es ist doch schon spät …«

Ein gewisser Unmut war aus ihrer Stimme heraus zu hören. Aber als sich ihrer beider Blicke trafen, lenkte Schwester Christel schnell ein.

»Gut, Frau Altmann, ich werde fragen, was sich da machen lässt.«

Nach einer Weile kam Schwester Christel zurück, strahlte wie eine Sonne und rief schon von der Tür aus ins Zimmer: »Ihr kleiner Sohn kann doch noch geholt werden!«

Marlene wurde es gleich etwas leichter ums Herz.

»Ihr Mann kommt natürlich auch mit!«

Mit einer Miene, als sei es einzig und allein ihr Verdienst, dass nun doch noch alles so reibungslos klappte, ergänzte sie: »Wir fahren die beiden dann natürlich auch wieder nach Hause!«

Natürlich. Kein Wort mehr davon, dass es doch schon spät sei und man doch nicht so ohne Weiteres …

Marlene mochte, wie jeder andere Mensch auch, gewiss ihre Fehler haben, aber nachtragend war sie noch nie gewesen. Deshalb überließ sie sich dem herrlichen Gefühl der Freude auf den Besuch … und einer wohligen Müdigkeit. Doch zuvor schrieb sie noch ein Wort auf ihren Block.

DANKE!

Schwester Christel las es, lächelte, nickte den beiden Frauen zu und verließ das Krankenzimmer.

Für Marlene genügte ein Blick zur Nachbarin, um zu wissen, dass die von all dem nichts bemerkt hatte, denn sie schlummerte schon längst wieder in Morpheus Armen.

7. Mumie statt Frau und Mutter

Jürgen gab sich große Mühe, das konnte man sehen, aber ihm wollte trotzdem kein Lächeln gelingen, als er Marlene so liegen sah. Der dicke Kopfverband, die Augenbinde, die weiß eingegipsten Beine und der linke, in einer Schlinge aufgehängte Gipsarm ließen ihn wohl eher an eine Mumie denken als an eine Frau, seine Frau.

Einen Moment lang sah er nur Alex zärtlich an, den er auf dem Arm trug. Dann überwand er sich und beugte sich zu seiner Frau hinunter, mehr darauf bedacht, dass Alex ihm nicht wegrutschte.

»Grüß dich, Marlene.« Jürgen rang sichtlich nach Fassung, drückte dann aber seine Wange ganz leicht gegen den weißen Kopfverband.

Wie gierig sie seinen Geruch einsog.

Auch Alex hatte bei ihrem Anblick zunächst ängstlich zu weinen angefangen, aber dann, als sein Vater den verbundenen Kopf weiter liebkoste, streckte er die Arme aus, lachte und weinte gleichzeitig, krähte schließlich, wenn auch noch immer ein wenig ungläubig: »Mamma?!«

Am liebsten hätte sie ihre beiden Männer ganz fest in die Arme genommen und nie mehr losgelassen.

Aber daran war genauso wenig zu denken wie ans Sprechen.

Also schrieb sie stattdessen mit zittriger Hand auf das Kästchenblatt: Zieh ihn bitteaus!

Jürgen guckte ein bisschen verständnislos, dann begriff er wohl, wie wichtig das für sie sein musste und tat, worum sie ihn gebeten hatte. Selbst Alex zog an seinen Sachen, als ginge ihm das alles nicht schnell genug. So lag bald ein ansehnliches Häufchen Kindersachen, ordentlich übereinandergestapelt, auf ihrem Bett.

Sie hätte über die Ordnungsliebe ihres Mannes fast geschmunzelt, wenn es denn gegangen wäre.

Legt eure Sachen ordentlich zusammen, alles auf einen Stapel, mit der Kante nach vorn! Fast täglich bekamen die Kinder diesen militärisch anmutenden Satz von ihm zu hören.

Alex, nun ganz nackt, wurde von seinem Vater vor seiner Mutter langsam gedreht. Marlene schaute angestrengt. Nichts sollte ihrem einäugigen Blick entgehen.

Doch der Kleine schien wirklich unversehrt zu sein, wenn man von ein paar blauen Flecken an dem ansonsten rosigen Po absah.

Marlene konnte nicht an sich halten und weinte, diesmal vor Freude. Während Jürgen seinen Sohn wieder anzog, erklärte er ihr das Wunder von dessen Unversehrtheit.

»Durch den Aufprall des Kranauslegers ist der Gurt, mit dem Alex angeschnallt war, ruckartig durchtrennt worden, wodurch der Kleine in hohem Bogen durch die Luft geflogen ist. Nach etwa acht Metern, so etwa fünfzig Zentimeter vor dem Wasser, soll er weich gelandet sein. Alle, die es gesehen haben, waren fassungslos. Nur so eine sorbische Oma mit Dutt meinte, sie habe euch ja gleich gewarnt: Man soll eben den Tag nicht vor dem Abend loben …«

Natürlich erinnerte sich jetzt auch Marlene an die alte Frau, aber sie wollte nicht weiter an fremde Leute denken.

»Die Ärztin, die ihn untersucht hat, meinte auch, dass Alex’ Flug durch die Luft einem kleinen Wunder gleiche.«

Marlene lauschte den Worten ihres Mannes und nickte glücklich. Es tat nicht einmal mehr weh!

»Übrigens«, fuhr Jürgen unbeirrt fort, »da gibt es noch ein Nachspiel. So eine Ladung muss schließlich richtig befestigt sein. Dafür hat der Kraftfahrer zu sorgen. Er kommt also noch vor Gericht.«

Marlene erschrak und wusste selbst nicht, warum.

»Natürlich erst später, wenn du wieder richtig gesund bist …«

Während er sprach, schaukelte er seinen Sohn ein wenig hin und her.

Alex nuckelte selbstvergessen am Daumen und lehnte seinen Kopf an Vaters Schulter. Ein friedliches Bild.

Doch warum hatte Jürgen kein Wort von ihren beiden Großen erwähnt? Sie wollte nach Karsten und Birgit fragen, aber sie tastete vergeblich nach dem Stift …

»So, jetzt müssen wir aber wieder los, morgen holen meine Eltern den Alex zu sich, ich muss ja arbeiten. Ausgerechnet jetzt sollen wir die Klimaanlagen im Maschinenhaus von Grund auf überholen. Das wird natürlich nicht ohne Überstunden abgehen. Viel sinnvoller wäre es, die alten Dinger einfach zu durch neue zu ersetzen, aber woher nehmen?«

Aus seinem Redeschwall entnahm Marlene, dass ihr Mann mit seinen Gedanken schon längst wieder bei seiner Arbeit war. Doch sie wollte jetzt nichts von den Engpässen im Werk hören, sondern sie wollte endlich wissen, wie es ihren Kindern ging.

Alex war inzwischen auf dem Arm seines Vaters eingeschlafen. Schnell, ehe er womöglich mit Alex verschwand, zupfte sie Jürgen an der Jacke, klopfte so energisch, wie sie es vermochte, mit dem wiedergefundenen Stift auf den Block.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie während seiner Klagerede etwas aufs Papier gebracht hatte.

Nun kam er nicht umhin, es zu lesen.

Birgit und Karsten? Sind sie traurig? Tröste sie bitte! So stand es dort in sehr unleserlicher Schrift.

»Ach«, sagte Jürgen gepresst und winkte ab. »Denen geht’s gut. Die Schönberg-Oma will Birgit mitnehmen, solange du im Krankenhaus bist. Vielleicht sogar länger …«

Was? So weit? Bis ins Erzgebirge? Noch ehe Marlene schriftlich protestieren konnte, sprach ihr Mann schon weiter: »Es sieht so aus, als könne sie gar nicht schnell genug mit der Oma abreisen …«

Das klang nicht gerade so, als würde er es bedauern.

»Und Karsten? Na ja, er ist wie immer, eben schwierig.«

Das klang genervt. Ein resigniertes Achselzucken bestätigte ihren Eindruck.

Sei bitte gut zu ihm!

Jürgen nickte ergeben, doch sein Lächeln wirkte gequält.

Marlene spürte wie schon so oft in den zurückliegenden drei Jahren ein unangenehmes Ziehen in der linken Brusthälfte. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie zwar wieder einen Mann hatte, aber die beiden Großen trotzdem keinen liebevolleren Vater hatten als zuvor.

Es hatte sich nichts geändert: Sie würde auch diesmal für ihre großen Kinder allein da sein müssen. Wieder und immer noch Mutter und Vater zugleich sein? Wie sollte sie das schaffen – in ihrer jetzigen Lage?

Doch auf Jürgen konnte sie wohl in diesem Punkt – trotz der neuen und schwierigen Bedingungen – kaum zählen. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre älter als Karsten, ihr Großer. Anfangs hatte sie das gute Gefühl gehabt, dass er dem Jungen wirklich so etwas wie ein Freund sein wollte. Aber Karsten traute ihm wohl nicht, ließ ihn immer wieder spüren, wie sehr er den Mann seiner Mutter ablehnte. So hatten sich die Fronten allmählich immer mehr verhärtet.

Birgit hingegen, drei Jahre jünger als ihr großer Bruder, sehnte sich sehr nach einem Vater. An ihren eigenen hatte sie gar keine Erinnerungen. Dafür war Marlene dem natürlichen Vergessen sehr dankbar. Sie war ganz sicher, dass ihr erster Mann für alle Erniedrigungen, für seelische und körperliche Gewalt, die er seinen Kindern, anderen Menschen und ihr, seiner Frau, angetan hatte, würde bezahlen müssen.

Ein Mädchen wie Birgit lieb zu haben, dürfte wohl niemandem schwerfallen, hatte Marlene geglaubt, als sie Jürgen kennenlernte, der so voller Zärtlichkeit war. Ungewöhnlich schnell hatte sie seinem Drängen nachgegeben, und sie hatten geheiratet. Das war vor drei Jahren gewesen.

Aber ihr innigster Wunsch, Jürgen möge doch nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder richtig lieb gewinnen, sollte wohl vorerst noch nicht in Erfüllung gehen.

Ihr Mann konnte offenbar auch für Birgit nur wenig Herzenswärme aufbringen, sprach er doch meist nur von oben herab mit ihr. Diesen manchmal sogar zynischen Tonfall nannte er dann »Autorität«. In dem Punkt gingen ihre Meinungen sehr weit auseinander, doch Marlene wagte es nicht, ihm ihre eigenen, anderen Ansichten aufzuzwingen. Sie war schließlich keine Schulmeisterin, und Jürgen war kein grüner Junge, wenn er auch fast fünf Jahre jünger war als sie. Sie mochte einen erwachsenen Menschen nicht umerziehen, sie wollte ihren Mann einfach so lieben, wie er war, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Außerdem passte es einfach nicht zu ihr, bei Problemen die Flinte gleich ins Korn zu werfen.

Von draußen drang jetzt Vogelgezwitscher ins Zimmer. Es war unverkennbar Frühling geworden!

Ihre Bettnachbarin schwieg wieder. Auf Jürgens knapp hingeworfenes »Wiedersehen« hatte sie allerdings etwas Undefinierbares gemurmelt.

Marlene war ihr Schweigen ganz recht, konnte sie doch so ungestört weiter ihren Gedanken nachhängen.

Voller Sehnsucht dachte sie an ihre Kinder. Niemand brauchte sie dringender. Um ihretwillen musste sie wieder auf die Beine kommen. Darauf wollte sie jetzt ihre ganze Kraft richten. Alles andere würde sich dann schon finden …

8. Marlenes schöner Mann

Jürgen. Er sah gut aus, war intelligent und zärtlich, wie es Marlene bisher noch nie erlebt hatte. Schon gar nicht bei ihrem ersten Mann.

Sie brauchte Jürgen. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Aber ob er sie auch brauchte? Das wusste sie nicht so genau, auch wenn sie es sich sehr wünschte.

Hatte sie nicht schon längst bemerkt, dass sie nicht die Einzige war, die ihn sehr attraktiv fand?

Er war groß und schlank, sein voller Mund und die rauchgrauen Augen ließen unschwer erkennen, dass er vor allem die Liebe liebte. Oder sollte sie besser sagen: das Lieben? Warum also sollte sie sich um ihn sorgen?

Sie war sich vollkommen im Klaren darüber, dass (sollte das mit ihr hier schlecht ausgehen) er schnell bei einer anderen Trost finden würde.

Bei den Kindern lagen die Dinge anders. Karsten, Birgit und Alex waren auf ihre Mutter angewiesen. Deshalb durfte sie einfach nicht zulassen, dass es mit ihr schlecht ausging.

Marlene hatte das Gefühl, sich mit ihren Gedanken im Kreis zu drehen. Ihr Kopf schmerzte und wummerte, bis die sanfte Dunkelheit sie wieder einhüllte und dem Dröhnen ein Ende setzte.

Trotzdem fand sie keinen ruhigen Schlaf. Stechende Schmerzen drohten ihre Glieder zu zerreißen, und schon nach Minuten pulste es auch in ihrem Kopf wie zuvor. Unheimliche, wirre Bilder kamen aus dem Nichts und ließen ihr Herz rasen. So musste sie mit ansehen, wie ihr kleiner Sohn in hohem Bogen durch die Luft flog. Seine Schreie schnürten ihr vor Entsetzen die Kehle zu. Als fast noch unerträglicher empfand sie die Stille, die nach seinem Aufprall an der Uferböschung herrschte.

Plötzlich tauchte die Schönberg-Oma auf, entriss ihr die kleine Birgit und schwebte mit ihr davon. Ihre Tochter schaute sich nicht ein einziges Mal nach ihrer Mutter um. Marlenes Beine waren einbetoniert, sodass sie den beiden nicht nachlaufen und ihre Tochter zurückholen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte.

Dann wieder sah sie Karsten seltsam lächeln, während er einen riesigen Berg aus Marmelade hinabrutschte. Die Marmelade verwandelte sich in der nächsten Minute vor ihren Augen in dampfenden braunen Schlamm. Karstens Hände suchten in der übel riechenden Masse vergeblich nach einem Halt. Immer tiefer wurde er in den Schlamm gezogen. Erst, als er ganz und gar zu versinken drohte, schrie er wie ein Ertrinkender nach seiner Mutter. Sie wollte sofort zu ihm laufen, aber sie kam auch jetzt wieder nicht von der Stelle.

Verzweifelt streckte sie die Arme aus, aber sowohl Karsten als auch Birgit entfernten sich immer weiter von ihr, wurden immer kleiner, bis sie schließlich in einem wabernden Nebel verschwanden. Es war grauenvoll!

Als Marlene tränenüberströmt und schweißgebadet erwachte, war es draußen vor dem Fenster stockdunkel. Das Krankenzimmer war durch ein kleines Nachtlicht notdürftig erleuchtet.

Eine Nachtschwester beugte sich über sie, wischte ihr mit einem kühlen Waschlappen den Schweiß von der Stirn und versuchte sie zu beruhigen, die am ganzen Körper zitterte.

»Schon gut, schon gut, Sie haben nur schlecht geträumt, Frau Altmann«, redete die Schwester auf Marlene ein.

Doch das Schluchzen wollte nicht aufhören, salzige Tränen rannen ihr über die Wangen.

So viele Fragen hatte sie, so viel hätte sie gern noch gesagt. Ob sie jemals wieder auf die Beine käme, laufen und sprechen könnte? Sie musste doch ihren Kindern sagen, wie sehr sie sie liebte und vermisste.