Zu Hause ist anderswo - Monika Kunze - E-Book

Zu Hause ist anderswo E-Book

Monika Kunze

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Klaus ist sich so sicher, dass er Martina mit dieser spontanen Reise ins Tschechische eine Freude macht. "Das müsste doch für Dich wie eine Heimkehr sein?" vermutet er. Doch was tut seine Frau? Sie schweigt, was sie sonst selten tut. Ihr Gesicht verschließt sich immer mehr, je näher sie jenem Ort kommen, wo ihr Vater nach Kriegsende bestialisch ermordet worden war - vor den Augen seiner Familie. Darüber hat sie bisher noch mit niemandem gesprochen. Klaus fängt an zu bohren, was er sonst auch nie tut. Als Martina endlich imstande ist, ihr Schweigen zu brechen, sind sie endlich Zwei – auf der Suche: nach Wurzeln, nach Wahrheit, nach Schuld, nach Sühne? * Eine ungewöhnlich dicht und differenziert erzählte Geschichte: von Liebe und Hass, von Leben und Tod. Aufregend, anregend und ungeheuer spannend. Auch so gut wie ihre anderen Bücher? Nein, besser, ihr reifstes Werk. (Sudetendeutsche Zeitung)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 333

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Kunze

Zu Hause ist anderswo

NEU überarbeitete Fassung

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Fragwürdige Reise

2. Mehr als zwei Seelen

3. Leben ohne Vergangenheit?

4. Heißer Sommer in diesem Jahr

5. Ein Mord und Margots Hölle

6. Bloß nicht heulen, Martina!

7. Hilfe, wir wollen noch nicht sterben

8. Pause am Neuteich

9. Notdürftiges Nachtlager

10. Massaker an der Kirche

11. Die Großeltern um Hilfe bitten

12. Wein und Wahrheit

13. Hornhaut auf den Seelen

14. Angst vor der eigenen Courage?

15. Heim ins Reich!

16. Trügerische Idylle

17. Trotz Leid auch Licht …

18. Ankunft in einer fremden Stadt

19. Die Riedels aus dem Böhmerwald

20. Die Weckers vom Gutmannsschacht

21. Oh, mein Papa …

22. Namensvetter mit vier Beinen

23. Walter und die Liebe seines Lebens

24. Rupert und Karl – zwei unterschiedliche Brüder

25. Nicht den zweiten vor dem ersten Schritt

26. Fremdes Land, fremdes Haus, fremde Menschen …

27. Weder Hass noch Genugtuung …

Statt eines Epilogs

Impressum neobooks

Prolog

Das Mädchen versucht die Augen zu schließen, als könne sie damit alles ungeschehen machen. Aber ihre Lider gehorchen ihrem Willen nicht, sie bleiben geöffnet. Ihr Kopf dröhnt, ein stechender Schmerz durchfährt die Schädeldecke. Was ist passiert? Wo befindet sie sich überhaupt?

Sie spürt, wie etwas Kaltes, nicht Greifbares sie niederzwingt.

Angst? Genau dieselbe Angst, die ihr vor Minuten noch befohlen hatte zu laufen, weit wegzulaufen vor dem Grauen?

Aber sosehr sie sich auch anstrengt, sie kommt nicht von der Stelle. Ihre Beine sind einbetoniert. Jeder Versuch sich zu befreien, macht alles nur noch schlimmer.

Tränen laufen ihr übers Gesicht.

Was machen die fremden Männer hier? Sie kommen näher … sie glaubt, die Bedrohung mit den Händen greifen zu können. Aber warum haben die Ungeheuer keine Gesichter?

Plötzlich taucht eine Frau auf. Auch sie ist ohne Gesicht, doch die Kleine weiß auch so, wer sie ist. Die Hände und die Kleidung der Frau sind blutverschmiert. Sie schreit wie eine Furie.

"Lasst das Mädel! Nicht auch noch das Mädel!"

Für einen Moment gelingt es ihr, die Männer wegzureißen.

Das Mädchen windet sich und stöhnt. Aus allen Poren rinnt der Schweiß. Sie versucht, ihre Hände schützend vors Gesicht zu schlagen. Vergeblich.

Ihr Herz beginnt zu rasen, weil sie weiß, dass sie man sie zwingen wird, alles noch einmal mit anzusehen.

Wenigstens will sie nichts hören, versucht sich die Ohren zuzuhalten. Vergeblich.

Sie hört jede Einzelheit.

Sie will schreien, aber sie bringt kaum ein Flüstern zustande.

Die beiden fremden Männer lassen von der Frau ab, die auf dem Boden liegt und schlagen dafür wieder auf den dünnen Mann ein, mit Fäusten, Knüppeln und Gewehrkolben. Dabei stoßen sie ein unmenschliches, unartikuliertes Gebrüll aus.

Wütend zerren die Gesichtslosen ihr Opfer hoch und schlagen den ausgemergelten Körper gegen eine Wand.

Das Kind zuckt zusammen bei jedem der klatschenden Geräusche …

Aufhören! Aufhören, schreit es in ihr, aber sie bringt noch immer kein Wort heraus. Die fremden Stimmen werden immer lauter und drohender. Den Sinn des Gebrülls versteht sie nicht.

Ein Stöhnen? Sie lauscht. Nein, kein Stöhnen, überhaupt kein Geräusch, nur Stille. Gespenstisch.

Ein beißender Geruch steigt in ihre Nase. Schwefel und Blut? So muss es in der Hölle stinken, denkt sie. Dann hört sie ein Knacken, Splittern und Bersten, ein Geräusch, als bisse ein Hund in einen Knochen.

Mit einem Mal weiß sie, dass die Qual für den dünnen Mann zu Ende ist.

Doch was ist mit ihrer eigenen Qual?

Ist es nicht endlich an der Zeit, das Schweigen zu brechen?

1. Fragwürdige Reise

Martinas Hände fühlten sich kalt und feucht an. Hin und wieder spürte sie, wie Klaus sie forschend ansah.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Warum kam ihr heute kein Wort der Bewunderung für diese sanfte Hügellandschaft über die Lippen?

Sie wollte sich zusammennehmen und zwingen, den Bergketten des Czornebohs, des Kottmar oder des Bielebohs wenigstens einen anerkennenden Blick zu schenken. Es gelang nicht.

Gleich darauf nahm sich Martina vor, an die schönen Geschichten und Sagen aus der Oberlausitz zu denken. Meine Güte, wie oft hatte sie diese gelesen, Kindern daraus vorgelesen, manchmal beim Erzählen allerdings fast ungehörig abgewandelt. Zu ihrer eigenen und zur Freude der Kinder.

Klaus schaute wieder leicht verärgert in ihre Richtung, sagte aber selbst auch keinen Ton. Noch immer schien er es für besser zu halten, seine Frau in solchen Momenten, da sie alles um sich her vergessen zu haben schien, nicht anzusprechen. Wie wenig er sie doch kannte.

Martina konnte sich ausmalen, wie sehr ihr Gebaren ihn befremdete. Er war schließlich hier geboren. Die Oberlausitz war seine Heimat! Jedes Mal, wenn sie hier entlanggefahren waren, war sie ins Schwärmen geraten. Nie hatte sie einen Hehl daraus gemacht, wie gut ihr dieser Landstrich gefiel. Klaus war zwar nicht so euphorisch veranlagt, aber Martinas Schwärmerei für seine Heimat gefiel ihm. So hatten sie einander verstanden. Sonst. An normalen Tagen. Bei normalen Reisen …

Aber heute war kein solch normaler Tag. Und ihre Reise? Auch alles andere als normal. Jedenfalls für sie. Das wusste und fühlte sie. Und Klaus? Woher sollte ihr Mann das wissen, wenn sie nicht imstande war, mit ihm darüber zu sprechen?

Überhaupt hatte sie bisher mit niemandem über jene Zeit sprechen können.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, Stillschweigen bewahren zu müssen. Das war ihr nicht einmal schwergefallen. Sie hielt nichts davon, alte Wunden aufzureißen.

Als ein flüchtiger Blick das Thermometer streifte, erschrak sie. Achtundzwanzig Grad? Wieso fror sie dann so entsetzlich?

Plötzlich fühlte sie wieder jene Angst, wie sie sich drohend in der Magengegend einnistete, die Haut zusammenzog, bis die blonden Härchen an den Unterarmen sich aufrichteten. Ein Gefühl, das sie seit ihrer Jugend kannte. Es kam ihr zwar so vor, als habe die Intensität mit den Jahren nachgelassen, als seien die Abstände zwischen den Attacken immer größer geworden. So war alles nach und nach immer mehr in Vergessenheit geraten. Manchmal hatte sie sogar geglaubt, es sei vorbei. Endlich und endgültig.

Und jetzt? Ihr Glaube, die Angst irgendwann ganz zu besiegen, war soeben wieder in seinen Grundfesten erschüttert worden.

Martina versuchte, dem unangenehmen Gefühl mit Vernunft beizukommen. Sie fragte sich, wovor sie Angst hatte. Was sollte ihr denn schon passieren? Schließlich war sie nicht allein, Klaus war bei ihr.

Das klang alles sehr vernünftig in ihren Gedanken. Doch kann der Verstand gegen so ein so starkes Gefühl überhaupt jemals etwas ausrichten?

Ganz unerwartet wurde ihr bewusst, dass sie plötzlich noch etwas anderes empfand: Einsamkeit. Kaum hatte sie das erkannt, schalt sie sich auch schon töricht. Wie konnte sie denn einsam sein, wenn ihr Mann nicht einmal einen halben Meter von ihr entfernt hinter dem Steuer saß? Sie brauchte ja nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren.

Ihn anzufassen, davor scheute sie jedoch zurück. Warum auch immer. Doch sie schaute zu ihm hinüber und fand, dass er für sein Alter sehr gut aussah. Er hatte noch dichtes, volles Haar, auch wenn es schlohweiß war, eine normale Figur mit kleinem Bauchansatz, kräftige Arme und Hände, die zupacken konnten. Sein bisheriges Leben hatte so gut wie keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Das war schon erstaunlich, denn er hatte ja auch schon einiges durchmachen müssen, woran vielleicht manch anderer zerbrochen wäre.

Schon zu Beginn ihrer Reise hatte sie ihm seine Hemdsärmel bis über die Ellenbogen aufgekrempelt. Das tat sie immer, ein Mann wie er fror schließlich nicht bei achtundzwanzig Grad im Schatten. Der Beweis: Schweißperlen rannen ihm am Ohr entlang. Da sie nicht wollte, dass er die Hände vom Lenkrad nahm, tupfte sie ihm die kleinen Rinnsale vorsichtig ab.

Er dankte es ihr mit seinem ganz speziellen Lächeln.

2. Mehr als zwei Seelen

Martina fragte sich wieder und wieder: Ist das richtig, was wir hier tun? Kann es denn überhaupt richtig sein? Sollten sie nicht besser umkehren?

Heimkehr, dachte sie mit einem bitteren Geschmack im Mund, was denn für eine Heimkehr? Was hatte er sich nur bei seinem spontanen Vorschlag gedacht? Ihr Elternhaus – und vielleicht auch das der Großeltern – wollten sie suchen. Einfach so. Im Tschechischen!

„Das müsste doch für dich wie eine Heimkehr sein.“

Diese Vermutung, am Morgen beim Rasieren mitten aus dem Schaum gemurmelt, erschien ihm wohl über jeden Zweifel erhaben, denn er hatte Martina gleich darauf unternehmungslustig in die Seite geknufft und ihr Beifall heischend zugeblinzelt.

Sein typisches Lächeln, bei dem die Mundwinkel nur einmal kurz nach oben zuckten und die Oberlippe sich kaum merklich kräuselte, sein Blinzeln und, zugegeben, auch ein wenig ihre eigene Neugier, hatten schließlich ihre Bedenken zum Schweigen gebracht, bevor sie sie überhaupt aussprechen konnte. Also hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung eingewilligt in diese Wahnsinnsidee.

Jetzt war es allerdings sowieso zu spät, nach der Richtigkeit ihres Vorhabens zu fragen, denn ihr Auto rollte schon unaufhaltsam jenem Ort entgegen, in dem das Unaussprechliche passiert war.

Zum Teufel mit dieser Kleinstadt im Tschechischen! Martina fühlte, wie ihr Blutdruck anstieg und ihr Herz ein paar unregelmäßige Hüpfer vollführte.

Du bist dort geboren worden!

Ja doch, das wusste sie selbst … Aber was tat das schon zur Sache? Ganze acht Monate hatte sie dort gelebt.

Du hast das alles auch mit ansehen müssen!

Mit einem Mal wusste Martina, woher sie jene Stimme kannte, die sie nun schon zum zweiten Mal zu hören glaubte. Die Worte ihrer Schwester Margot klangen so deutlich in ihren Ohren, als säße sie neben ihr. Die Bilder, die sich im Laufe der Jahre daraus immer dichter zusammengefügt hatten, ließen sich nicht mehr länger zurückdrängen.

Sie hob die Hände vors Gesicht, als könnte sie so das nackte Entsetzen besser abwehren, das die Schilderungen ihrer Schwester in ihr ausgelöst hatten.

Doch stimmten diese Bilder überhaupt? Und wenn ja, sollte man jetzt, mehr als 60 Jahre danach, nicht endlich alles auf sich beruhen lassen?

Es waren wieder einmal weit mehr als zwei Seelen, die sich in ihrer Brust stritten.

Martina fühlte sich diesem Streit ohnmächtig ausgeliefert und begann zu zittern. Schnell sah sie zu Klaus hinüber, aber er schien von ihrer Seelenpein bis jetzt noch nichts mitbekommen zu haben.

Er machte vielmehr einen ganz entspannten Eindruck, schmunzelte sogar ein wenig. Anscheinend gab es im Radio etwas Heiteres. Vielleicht sollte sie auch endlich einmal zuhören anstatt die Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören.

Klaus stieß ein glucksendes Lachen aus, denn der "Kleine Nils" nahm wieder einmal mit seinem Anruf jemanden auf die Schippe.

Martina zuckte die Achseln. Wie hätte sie es ihrem Mann auch verdenken können, dass er sich amüsierte? Er konnte ja nicht wissen, wie sie sich gerade fühlte. Ja, nicht einmal ahnen konnte er etwas von ihren Ängsten und Zweifeln oder gar von dem, was im tschechischen Lom, das damals noch deutsch war und Bruch hieß, vorgefallen war.

Das, was damals vorgefallen war! Kaum hatte sie das gedacht, spürte sie auch schon einen ekligen, faden Geschmack im Mund. So also schmeckte Feigheit?

Sie hatte nicht einmal den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, nicht einmal in ihren Gedanken?

Martina, der man sonst durchaus eine gewisse Redseligkeit nachsagte, musste sich wieder einmal eingestehen, dass sie bis jetzt weder willens noch in der Lage gewesen war, mit einem anderen Menschen über jene Ereignisse zu sprechen. Auch nicht mit ihrem Mann. Mit ihm am allerwenigsten. Ihm gegenüber empfand sie immer noch eine gewisse Scheu, obwohl sie schon so lange zusammen waren.

Immer, wenn sie das Grauenhafte in ihren Albträumen wiederzuerkennen glaubte, hatte es ihr die Kehle zugeschnürt.

Bei Tageslicht stellten sich dann allerdings wieder Zweifel ein. Ihr stets voller Terminkalender hatte überdies jahrelang dafür gesorgt, dass ihre schlimmen Träume nicht die Oberhand gewannen.

So war sie mit der Zeit ein wahrer Meister in der Kunst des Verdrängens geworden.

Die Narben auf ihrer Seele waren trotzdem erkennbar geblieben, aber nur für jemanden, der ganz genau hinschaute. Doch über so etwas sprach man nicht mit anderen Menschen.

Martina sah Auguste, die Mutter ihrer Pflegemutter, wieder vor sich: klein, dünn, das schüttere Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten und wie eine Schnecke zusammengerollt. Allein schon die Vorstellung von ihrem durchdringenden Blick, dem nichts verborgen blieb, ließ Martina erschauern.

Und dann diese wie in Stein gehauenen Auguste-Regeln! Wie oft hatte sie sich mit rot gewaschenen Fingern gegen die ausgemergelte Brust geklopft und ihre Lebensweisheit an ihre angenommene Enkelin weitergegeben: „Wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an! Merk dir das!“

Mochten ihr auch jetzt die Worte der Großmutter sehr operettenhaft vorkommen, damals taten sie ihre Wirkung. Wenn Ermahnungen in der Kindheit nur oft und nachdrücklich genug wiederholt werden, tragen sie irgendwann Früchte. Diese werden im Laufe der Zeit so verinnerlicht, dass man sie auch als Erwachsene kaum abzustreifen vermag. Um das zu erkennen, brauchte sie keinen Psychologen, die Erfahrung war ihr Lehrmeister.

So hatte es sich Martina schon beizeiten abgewöhnt, ihr Herz auf der Zunge zu tragen.

Wenn andere das taten, bitte schön. Ihre Verschlossenheit bildete ihrer Meinung nach keinen Widerspruch zu ihrer Neigung, stets kontaktfreudig zu sein. Ihr Leben lang hatte sie sich gern mit anderen Menschen unterhalten und tat das immer noch. Wenn auch die „Unterhaltung“ bei ihr fast ausschließlich im Zuhören bestand. Zur Freude der anderen – und zum Leidwesen ihres Mannes. Martina verstand schon, dass es ihren Klaus nervte, denn es wurden ja tatsächlich immer mehr, die sich bei ihr ausheulten, wie er es wenig zimperlich zu nennen pflegte.

Klaus schaute jetzt fragend zu ihr herüber. Seine hochgezogenen Brauen sagten alles. Ihre Schweigsamkeit ging ihm gehörig gegen den Strich, denn er kannte sie eigentlich ganz anders: meistens fröhlich, unkompliziert und immer mal mit einem frechen Spruch auf der Lippe. So mochte er sie.

Martina wusste das, konnte aber heute seinen Erwartungen nicht entsprechen. Noch während sie nach ein paar unbefangenen Worten suchte, mit denen sie ihn (und sich selbst) etwas ablenken könnte, kam er ihr zuvor.

„Sag mal, wie war das denn eigentlich damals, als ihr rausmusstet?“, fragte er, als ginge es um etwas ganz Alltägliches.

Martina zuckte zusammen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit solch einer Frage aus seinem Mund! Wie auch? Bisher hatte er sich doch noch nie für ihre Vergangenheit interessiert.

Im selben Moment wusste sie, dass seine unverhoffte Frage eine Lawine ins Rollen bringen würde, die niemand mehr aufhalten konnte. Nicht einmal sie selbst.

3. Leben ohne Vergangenheit?

Klaus konnte absolut nicht verstehen, warum seine Frau nun schon seit Stunden so schweigsam und in sich gekehrt war, wo er ihr doch mit der Reise ins Tschechische eine Freude bereiten wollte. Aber ein Blick in ihr Gesicht verriet, dass seine Idee von ihr wohl doch nicht so freudig aufgenommen worden war.

Du meine Güte, was war denn in sie gefahren? Irgendwie musste er sie ja mal aus ihrer schweigsamen Reserve locken. Ganz schwach erinnerte er sich, dass sie irgendwann einmal etwas von „Vertreibung“ erwähnt hatte. Das war aber mehr als zehn Jahre her. Und ihm fiel ein, dass er seinerzeit sehr erstaunt war über dieses Wort aus ihrem Mund, denn in den vierzig Jahren DDR hatte es dafür lediglich die Bezeichnung Umsiedlung gegeben, humane Umsiedlung.

Als er sie damals darauf aufmerksam gemacht und sie gefragt hatte, ob sie das etwa schon vergessen habe, war er unangenehm berührt gewesen über ihre karge, aber unmissverständliche Antwort.

„Humane Umsiedlung? Das war eine Lüge, wie so vieles andere auch!“

Sie schien ihm damals selbst fast noch erschrockener als er gewesen zu sein über ihren bitteren Unterton und hatte sofort angefangen, über etwas Belangloses zu plappern.

Seit jenem Tag hatten sie das Thema gemieden wie der Teufel das Weihwasser.

War das vielleicht sogar der Tag gewesen, als er ihr zu erklären versucht hatte, dass sie ihm nichts aus ihrer Vergangenheit erzählen müsse? Er war sich aber nicht sicher, wie sie seine Worte aufgefasst haben könnte: „Für mich hat mit dir ein ganz neues Leben angefangen, dein Leben vor meiner Zeit gehört dir! Es interessiert mich nicht.“

Auf der anderen Seite war es ihm wichtig, dass auch sie keine allzu große Neugier bekundete, wenn es um seine eigene Vergangenheit ging. Er war froh, dass sie das so schnell gelernt hatte, was er sich wünschte. Ihre anfänglich munter hervorsprudelnden Fragen waren jedenfalls schnell versickert gewesen.

Er fuhr jetzt ziemlich forsch an einen grünen Skoda heran, blinkte kurz, um ihn gleich darauf zu überholen.

Martina war ganz blass geworden. Sie hatte sich wohl von seiner beiläufigen Frage noch immer nicht erholt. Doch ihm kam es so vor, als bemühe sie sich um Contenance. Sie schaute angestrengt geradeaus, tat so, als interessiere sie nichts mehr als sein Überholmanöver.

Dabei überschlugen sich die Fragen in Martinas Kopf. Woher kam plötzlich dieses Interesse? Was, um alles in der Welt, sollte sie ihm antworten?

Seit so vielen Jahren waren sie nun schon zusammen, doch bisher hatte er sich jedes Mal dagegen verwahrt, sobald sie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählen wollte. Im Hinblick auf die Geschehnisse in ihrer Geburtsstadt war ihr das zwar gerade recht gewesen. Aber im Hinblick auf ihr sonstiges Leben hätte sie sich manchmal schon etwas mehr Interesse gewünscht.

Seine Worte klangen ihr noch im Ohr.

„Für uns hat jetzt ein neues Leben angefangen!“

Sie solle ihm bloß nicht mit irgendwelchen alten Geschichten kommen …

Dabei hatte er seine Meinung stets so nachdrücklich vertreten, dass niemand es gewagt hätte, dem eine anders lautende entgegenzusetzen. Und Martina, die jeder als konfliktscheu kannte, schon gar nicht.

Mit der Zeit hatte sie es aufgegeben, ihm von sich, ihrer gescheiterten Ehe oder den Konflikten mit ihrem Sohn erzählen zu wollen. Schließlich erzählte Klaus auch kaum etwas von sich, seinem Leben mit seiner Frau, die so jung gestorben war. Ebenso nebulös blieb auch das Bild von seinen Kindern. Seine Tochter lebte in Bayern, sein Sohn in Schleswig-Holstein. Sie schienen keinen Wert auf Kontakte zu legen, ebenso wenig wie ihr Vater seinerseits.

Martina wagte es dann bald nicht mehr, nach dem Warum zu fragen, nachdem er sie wegen ihrer neugierigen Fragerei in die Schranken verwiesen hatte.

Es hatte sie nicht zu interessieren, was früher war …

Da sie, wenn auch widerstrebend, sich an seine aufgestellte Regel hielt, glaubte er wohl, dass seine Frau seine diesbezüglichen Prinzipien ebenfalls verinnerlicht habe. Manchmal war sie schon drauf und dran gewesen, es selbst zu glauben. Immerhin: Es war ihr mit der Zeit immer besser gelungen, ihr Interesse für sein Leben (und vor allem das seiner Familie) nicht zu offenkundig zu äußern.

Sie hatte ja auch irgendwie ihre Prinzipien. Eines davon war, andere Menschen nicht umzuerziehen oder mit den eigenen Auffassungen zu bedrängen. So gelang es ihr, seine Ansichten zu akzeptieren, ohne sie jedoch in jedem Falle zu teilen.

Zu all dem wollte die eben gehörte Frage einfach nicht passen.

Woher kam der plötzliche Sinneswandel? An seinem Gesichtsausdruck konnte sie keinen Grund ablesen.

Vielleicht hatte ihr Mann seine Frage auch schon längst wieder vergessen?

Sein Blick war ruhig nach vorn gerichtet, seine Hände jedoch umschlossen so fest das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das verriet ihn.

Sie bemerkte, wie wieder winzige Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten, über die Schläfe rannen, dicht am grauen Haaransatz vorbei. Diesmal hütete sie sich davor, ihm den Schweiß abzutupfen, hielt ihm stattdessen ein Papiertaschentuch hin. Für einen Moment musste er eine Hand vom Lenkrad lösen, um sich den Schweiß abzuwischen.

Martina fielen die weiß hervorgetretenen Knöchel wieder ein und sie glaubte nun zu wissen, dass er trotz seiner zur Schau getragenen Gelassenheit noch immer gespannt auf ihre Antwort wartete. Oder war hierbei nur ihr eigener Wunsch der Vater des Gedankens?

Seine Frage gar noch einmal zu wiederholen, würde ihm sowieso nicht in den Sinn kommen. Soweit kannte sie ihn.

Plötzlich hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: „Klaus, ich weiß das alles doch selbst nicht so genau, ich war ja noch ein Baby, als wir dort wegmussten.“

Es hatte sie einige Anstrengung gekostet, ihre Stimme so gleichmütig wie möglich klingen zu lassen, denn ihm waren solche melodramatischen Geschichten, als die er die ihre ganz bestimmt bezeichnen würde, schon immer ein Gräuel gewesen.

Martina kurbelte das Schiebedach zurück. Nun spürte auch sie die Hitze, die langsam unerträglich zu werden begann.

Ob er wohl gemerkt hatte, wie viel Kraft sie aufbringen musste, um bei ihm einen glaubhaften Eindruck von Gelassenheit zu erwecken?

Ob er wohl ahnte, dass ihr „weiß nicht so genau“ eigentlich einen Schutzschild darstellte, um nicht über die Einzelheiten des Geschehens reden zu müssen, über dieses grelle, bizarre, schmerzhafte Mosaik?

Und wenn? Würde sie es überhaupt fertigbringen, mit ihm über dieses dunkle Kapitel im Leben ihrer Familie zu reden?

Sie wusste nicht, ob die Unsicherheit oder ihr Unwille stärker war. Bisher war er doch schließlich auch mit ihren knappen Informationen, dass sie kurz nach dem Krieg wie ein Paket in einem Krankenhaus abgegeben, aber nie wieder abgeholt worden und bei einer Pflegemutter aufgewachsen war, durchaus zufrieden gewesen.

Wieso genügte ihm das plötzlich nicht mehr?

Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie griff hinter ihren Sitz, fischte nach der Wasserflasche, fand sie aber nicht.

Sie wollte Zeit gewinnen und dehnte das Kramen aus.

Zeit?

Wofür?

Klaus schien ihr vergebliches Bemühen, die Wasserflasche zu finden, wenig amüsiert aus den Augenwinkeln zu beobachten, aber er sagte nichts dazu. Nur die Musik aus dem Radio und die Geräusche des Fahrtwindes zerteilten die Stille.

Martina begann langsam an der Realität ihrer Wahrnehmungen zu zweifeln. Hatte ihr Mann tatsächlich nach jenen Ereignissen nach Kriegsende gefragt oder hatte die Angst ihr etwa wieder einen Streich gespielt? Würde das denn niemals aufhören?

Klaus wirkte jetzt so nervös, so angespannt.

Martina fühlte sich in die Enge getrieben, wusste aber nicht einmal mehr genau, ob sie seine Fragen wirklich so sehr fürchtete. Vielleicht sehnte sie sie ja sogar herbei, wollte es sich nur nicht eingestehen?

Ungeduldig hantierte Klaus nun an den Knöpfen und Tasten des Autoradios. Musikfetzen wechselten sich ab mit zerstückelten Nachrichten. Er suchte offenbar nach Musik, die seinem Geschmack entsprach. Vergeblich, wie es schien.

Missmutig brummte er so etwas wie „wieder keine Beatles in diesem Kasten“.

Vielleicht hatte er ja seine Frage tatsächlich schon vergessen? Fast wollte sich Erleichterung bei Martina einstellen.

Da endlich rollte die lauwarme Plastikflasche in ihre Hände.

„Willst du auch einen Schluck?“

Schon ärgerte sie sich über ihre überflüssige Frage, sie wusste schließlich, dass er lauwarme Selters verabscheute, andererseits hielt sie eine solch belanglose Frage für eine unverfängliche Möglichkeit, das inzwischen wohl für beide bedrückende Schweigen zu durchbrechen.

Prompt schüttelte Klaus den Kopf. Martina setzte, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, die Flasche an die Lippen, ließ das lauwarme Wasser die Kehle hinunter rinnen, schluckte angewidert. Mit Erfrischung hatte das wahrlich nichts zu tun.

Sie war ihrem Mann jetzt fast dankbar, dass er nichts weiter fragte, denn je mehr Zeit verstrich, desto spürbarer wich dieser unangenehme Druck von ihr. Sie lehnte sich im Sitz zurück und atmete tief durch. Beiläufig bemerkte sie wieder einmal, dass die Kopfstütze für sie viel zu hoch angebracht war. Trotzdem lehnte sie sich an und schloss die Augen, vielleicht würde es ihr ja gelingen, sich irgendwie zu entspannen. Sie wollte an etwas Schönes denken, an die Wiesen voller blutroter Mohnblumen zum Beispiel, denen sie heute nicht die gebührende Beachtung geschenkt hatten …

Doch mit einem Mal kamen die Mosaiksteinchen zurück, purzelten durcheinander, verschoben sich in Farbe und Form, bis sich die Bilder schließlich, irgendeinem rätselhaften Gesetz folgend, in rasanter Geschwindigkeit zusammenfügten. Das schien leicht, viel zu leicht, fast tänzerisch. Aber das Bild mit den schreiend grellen Farben, auch blutrot, wie Mohn, war darunter, legte sich wie eine schwere Last auf ihre Brust. Sie konnte ein Aufstöhnen nicht mehr zurückhalten, und plötzlich wusste sie, dass sie gar nicht mehr imstande sein würde, diese Last noch länger allein zu tragen.

„Es muss so ein Tag gewesen sein wie heute“, begann sie leise und war selbst überrascht vom heiseren Klang ihrer Stimme. „Heiß und schwül. Es war der 26. Juli. Hochsommer.

Unser Vater soll in einem Lager gewesen sein, wie Tausende andere auch in dieser Zeit. Warum weiß ich nicht so genau. Meine Geschwister meinten später, dass die Tschechen wohl damals alle deutschen Männer sicherheitshalber erst einmal eingesperrt haben, auch solche wie meinen Vater, den Ofensetzer, der nie im Krieg war und sich auch nichts hatte zuschulden kommen lassen.“

Klaus zeigte zunächst keinerlei Überraschung, als sie nun doch zu erzählen begann. Aber beim letzten Satz kam schon sein erster Einwand.

„Na, ich weiß ja nicht, so ohne Weiteres werden die ihn doch auch nicht eingesperrt haben ...“

Klaus sah zwar nur ganz kurz zu ihr herüber, aber seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten ihr mehr als jedes weitere Wort, wie zweifelhaft ihm die Sache vorkam. Auch Martina war bei seinem Blick fast geneigt, seine Skepsis zu teilen. Aber andererseits: Warum sollte ihr Vater nicht unschuldig eingesperrt gewesen sein? So etwas soll es doch schließlich, wie ihre späteren Nachforschungen ergeben hatten, damals – wie zu anderen Zeiten und an anderen Orten auch – tausendfach gegeben haben. Deshalb quittierte sie seinen Einwand lediglich mit einem Achselzucken.

„Mutter soll gerade beim Wäscheaufhängen gewesen sein, als plötzlich wieder Schüsse fielen, wie so oft in diesen Tagen. Von friedlicher Nachkriegsstille habe damals wirklich keine Rede sein können, hat meine Schwester erzählt“, fuhr Martina unbeirrt fort. Der Stein war nun einmal ins Rollen gekommen.

Hinter den Autoscheiben rauschten Bäume und Sträucher vorbei. Vor ihrem satten Grün flanierten die Bordsteinschwalben, Fräuleins, wie es ein Kollege von Martina jedes Mal vornehm zu umschreiben pflegte, um das Wort Nutten nicht in den Mund nehmen zu müssen. Zierlich die einen, extrem vollbusig die anderen, grell geschminkt fast alle.

Klaus schenkte den Fräuleins keinerlei Beachtung.

Sie hatten inzwischen schon den einstigen Grenzübergang passiert.

Vor einem der typisch holprigen Bahnübergänge nahm er das Gas zurück. So langsam und vorsichtig fuhr er in Deutschland schon seit Langem nicht mehr über die Gleise.

Martina berührte leicht seinen braun gebrannten Arm und lächelte ihn dankbar an. Sie war auch im Sitzen viel kleiner als er, deshalb konnte er wohl ihren wieder wenig exakten Scheitel in dem dunklen Haar wahrnehmen. Dieser Anblick hatte ihn immer berührt, und auch jetzt huschte für einen Moment wieder sein sprödes Lächeln übers Gesicht. Ob er versuchte, sich vorzustellen, wie sie wohl im zarten Alter von acht Monaten ausgesehen haben mochte? Womöglich als dickes Baby mit großen Augen und dunklem, mittels Zuckerwasser steif nach oben gekämmten Haarschopf?

Ach was, damals, kurz nach dem Krieg, waren die meisten Leute zwangsläufig mager. Auch die Kinder. Das wüsste doch ihr Mann besser als sie.

Klaus hatte seinen Blick schnell wieder von ihrem Zick-Zack-Scheitel gelöst, schaltete das Radio aus und brummte: „Was denn eigentlich für Schüsse? Ich denke, der Krieg war schon seit Monaten aus und vorbei?“

Sie hörte seine Stimme und konnte sich nicht erklären, wieso sie ihm mit einem Mal dankbar war für sein Interesse, dafür, dass er ihr offensichtlich das Erzählen erleichtern wollte.

Die Zweifel blieben trotzdem. Sie fragte sich, mit welchem Recht sie ihm denn eigentlich einen Teil ihrer eigenen Last aufbürden durfte.

Anderseits war es war wohl gerade die Aussicht, einen Teil ihrer Last loszuwerden, die sie zögernd weiter sprechen ließ.

„Hm, das schon, der Krieg war vorbei, aber dort wurde eben auch im Sommer noch geschossen, sie führten wohl nach den furchtbaren Erlebnissen des Krieges noch ihren eigenen Feldzug. Noch viele Monate.“

Jenen vom damaligen und aus dem englischen Exil zurückgekehrten Präsidenten Bene? angeregten und für recht befundenen Rachefeldzug ... aber das behielt sie für sich.

„Jedenfalls soll meiner Mutter bei den Schüssen vor Schreck ein Wäschestück aus der Hand gefallen sein ...“

4. Heißer Sommer in diesem Jahr

1945. Es war einer dieser lichtblauen, flimmernden Sommertage, an denen kein Wölkchen den strahlend blauen Himmel zu stören wagte. So ein Tag, der bei den meisten Menschen Freude und Dankbarkeit auslöste.

Am 26. Juli 1945 in Bruch, Bezirk Brüx, wahrscheinlich ebenso wie anderswo auf der Welt und zu anderen Zeiten.

Aber es gab nicht bei allen nur Freude und Dankbarkeit über das von den meisten herbeigesehnte Kriegsende. Es gab bei vielen auch Schmerz und Trauer, Wut und Zorn über verlorene Söhne, Väter, Ehemänner und Brüder. Bei dem einen oder anderen wird es auch den Wunsch nach Vergeltung gegeben haben … und manchmal nicht nur den Wunsch …

Hella fand, dass sie keinen Anlass zum Trauern hatte. Ihr Vater und ihr Schwiegervater lebten, ihre beiden Brüder waren schon im Säuglingsalter verstorben, ihre Schulkameraden lebten. Das Wichtigste jedoch: Ihr Ruppert lebte. Wenn auch in einem Lager – wie fast alle deutschen Männer der Stadt, ganz unabhängig davon, ob sie jemals an der Front gewesen waren oder nicht, ob sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten oder nicht. Ihr geliebter Mann lebte! Er war wegen seines Ohrenleidens untauglich gewesen für den Tod für Volk und Vaterland. Dieser Gedanke ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen. Er hatte niemandem etwas Böses getan, da war sie sich ganz sicher. Er würde bald heimkommen zu seiner Frau und seinen Kindern! Ihr Glaube daran war unerschütterlich.

Das herrliche Wetter sah sie wohl eher von seiner praktischen Seite. Dennoch schaute sie erfreut zum Himmel, blinzelte und hielt es geradezu für frevelhaft, an solch einem Tag keine Wäsche zu waschen.

Was für ein alberner Gedanke, dachte sie und lächelte wieder, denn sie musste doch sowieso jeden Tag waschen. Immerhin war sie Mutter von sechs Kindern, obwohl sie erst einundzwanzig Jahre zählte. Geboren hatte sie seit ihrem siebzehnten Lebensjahr zwar nur vier, aber ihr Mann hatte noch zwei Mädchen aus seiner ersten Ehe mitgebracht. Margot und Mathilde waren nur neun, beziehungsweise zehn Jahre jünger als ihre Stiefmutter und konnten deshalb schon so manche Aufgabe in Haus und Garten oder bei der Geschwisterbetreuung erledigen, was dem praktischen Sinn von Hella sehr entgegenkam.

Diese junge Frau war nicht das, was man im herkömmlichen Sinne unter schön verstehen mochte, aber hübsch, das war sie in jeglichem Sinne. Wie konnte sie mit ihrer dunkelblonden Lockenfülle, den ausdrucksvollen grauen Augen, die Iris von einem fast schwarzen Rand umsäumt, ihrer schmalen Taille und dem vollen Busen die Männer bezaubern! Das wusste sie sehr wohl. Und doch wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, einen anderen Mann als ihren eigenen auch nur anzuschauen.

Aber zurück zur Schönheit. Wollte man der Wahrheit die Ehre geben, so gab es doch untrügliche Zeichen für eine vorzeitige Alterung. Die vier kurz aufeinander folgenden Geburten hatten sie schon über Gebühr gezeichnet. Ihre Züge schienen ein wenig härter und ihre Haut schlaffer zu sein als bei ihren Altersgefährtinnen.

An jenem heißen Sommertag allerdings machte Hella einen heiteren, nein, sogar einen glücklichen Eindruck. Sie genoss trotz der vielen Arbeit den herrlichen Tag. Das konnte jeder hören, der am Haus vorbeiging. Sie sang aus voller Kehle. Sie war mit ihrem Lied „Im Frühtau zu Berge ...“ noch nicht einmal beim „vallera“ angelangt, als ihr plötzlich das Blut in den Adern stockte und die Töne auf den Lippen erstarben. Sie glaubte, eine ganze Salve von unerklärlichen Schüssen gehört zu haben. Bellend, unpassend, zerstörerisch.

Mit der harmonischen Ruhe des Vormittags, zu der auch das Wäschewaschen und -trocknen ebenso wie das Singen gehört hatten, war es mit einem Schlag vorbei.

Vorsichtig schaute sich Hella um, aber die Kinder hatten wohl von den Schüssen nichts mitbekommen. Die beiden Großen spielten mit Fritz und Christiane weiter hinten auf dem Hof, Robert und Martina, die Babys, schliefen noch im Haus.

Angstvoll schaute Mutter Hella zum Tor, das unterdessen quietschend aufgeflogen war. Aber es war zum Glück nur Klara, die Nachbarin.

Sie wohnten seit Jahren Tür an Tür, wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Klara war eine resolute, willensstarke, aber dennoch sehr beherrschte Person, die in ihrem Haushalt ebenso auf Reinlichkeit bedacht war wie auf ihre eigene gepflegte Erscheinung. Nie ging sie zum Beispiel ohne Hut aus dem Haus.

Aber wie sah sie heute aus? Ihr auf Lockenwickler gedrehtes Haar war teilweise aufgelöst, ihre Bewegungen ungewohnt ruckartig. Sie rannte atemlos auf Hella zu und schrie mit unnatürlich schriller Stimme abgehacktes, wirres Zeug. Zwischendurch schnappte sie immer mal wieder nach Luft, bevor sie wieder ein paar Wörter ausstieß.

„An der Kirche … die Schüsse, ach, dort haben sie gerade viele von uns erschossen ... wir müssen weg hier ... komm Hella, du und die Kinder ... denk an die Kinder!“

Ihr Schürzenband hatte sich gelöst und flatterte im Wind, während sie aufgeregt noch näher kam. Ein weiterer silbern glänzender Lockenwickler fiel aus dem frisch gewaschenen Haar, kullerte durch das Gras und blieb, von niemandem beachtet, an einem saftig grünen Kleepolster liegen.

Aber Hella tat, als hätte Klara überhaupt nichts gesagt oder als hätte sie deren Worte nicht verstanden. Ungerührt griff sie zum nächsten Hemd, schüttelte es kräftig aus, als wollte sie mit den klatschenden Geräuschen alle anderen übertönen.

Dann erklärte sie, von der man in der Stadt erzählte, dass sie sich schnell über alles Mögliche aufregen würde und auch nicht auf den Mund gefallen sei, scheinbar völlig ruhig und gefasst: „Nein, ich bleibe! Rupert ist schließlich auch hier!“

Klara riss ärgerlich die Augen auf. So viel Unverstand wollte ihr nicht in den Kopf. Hier ging es schließlich um Leben und Tod! In den zurückliegenden Wochen hatte sie schon genug erschütternde Nachrichten gehört. Viele Deutsche waren einfach aus ihren Häusern geworfen worden, ihr Hab und Gut geplündert, Frauen, Kinder und Greise waren geschlagen und gefoltert worden. Wollte es Hella darauf ankommen lassen? Doch sie kannte ihre Nachbarin gut genug, sodass sie wusste: Jedes weitere Wort wäre so oder so überflüssig. Klara zuckte also nur mit den Schultern und ging, den Kopf hoch erhoben, diesmal maßvollen Schrittes, vom Hof. Dabei vergaß sie trotz der ihr nachgesagten Gründlichkeit die Pforte zu schließen, die schwang nun leise und dennoch unangenehm quietschend im aufkommenden Wind.

Der Lockenwickler blieb liegen, wo er lag, denn es gab jetzt für Klara Wichtigeres, als einen Lockenwickler vom Rasen aufzuheben. Sie hatte bestimmt schon ein paar Sachen zusammengepackt „für den Fall aller Fälle“.

5. Ein Mord und Margots Hölle

Margot, die ältere von Hellas beiden Stieftöchtern, war ganz aufgeregt.

„Geht zum Spielen hinters Haus, an den Bach“, rief sie ihren jüngeren Geschwistern zu.

„Und du, Mathilde, pass auf die Kleinen auf!“

Sie hatte Angst, ohne eigentlich richtig zu wissen, warum. Auf die Schüsse hatte keiner von den Kindern geachtet. Margot hatte jedoch Klaras Worte überdeutlich gehört. Sie mussten also wieder auf der Hut sein. Wie vor einigen Monaten, als es noch Fliegeralarm gab, dachte sie.

Ohne Widerrede waren die drei losgetrottet. Selbst Mathilde, nur ein Jahr jünger als Margot, die sich sonst eigentlich von ihrer Schwester, die zwar älter, aber mindestens zehn Zentimeter kleiner war als sie, überhaupt nichts sagen ließ.

Doch Margot hatte keine Zeit, sich lange über Mathildes Fügsamkeit zu wundern, denn ihre Gedanken kreisten um Tante Klara und deren Worte. Die hat bestimmt Recht, dachte sie, es wäre ganz sicher besser, wenn sie sich alle für eine Weile verstecken würden. Aber auch Margot wusste, dass da bei Hella nichts zu machen war: Wenn ihre Stiefmutter hierbleiben wollte, dann würde sie das tun – um jeden Preis. Das Mädchen war noch nicht einmal ganz zwölf Jahre alt, aber mit Hellas Unnachgiebigkeit hatte sie schon öfter, als ihr lieb gewesen wäre, Bekanntschaft machen müssen.

Sie fand es klüger, sich in diesem Fall nicht in die Angelegenheiten der Erwachsenen einzumischen. Gegen ihre umsichtige Hilfe würde aber die Stiefmutter bestimmt nichts einzuwenden haben. So griff sie unaufgefordert nach der inzwischen leeren Emailleschüssel. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, ob ihr Vorhaben auch Zustimmung fände und trug dann, als sie in Hellas Gesicht nichts Gegenteiliges entdecken konnte, die Schüssel eifrig ins Waschhaus. Dabei ging sie kerzengerade, Kopf hoch, Kinn nach vorn gereckt, Bauch rein, Brust raus. Von ihrer Angst, ausgelöst durch die Worte der Nachbarin, wollte sie sich auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen. Heulen bringt nix, das wusste sie längst.

In der Waschküche hing noch der Dunst von der Kochwäsche. Margot mochte diesen Geruch nach Sauberkeit und sog ihn mit aufgeblähten Nasenflügeln ganz tief in sich ein, bis sie niesen musste.

Als sie sich bückte, um die Schüssel unter die lange, von der Feuchtigkeit schon an manchen Stellen schwarzfleckige, Holzbank zu schieben, ließ ein schwaches, scharrendes Geräusch sie herumfahren.

„Vater!“

Sie wollte schreien, aber sie brachte nur ein Flüstern zustande. Der magere Mann, der hinten in der Ecke, neben dem Waschkessel, hockte, bedeutete ihr mit einer stummen Geste, um Himmels willen still zu sein. Die Tochter erschrak, als sie sah, wie knochig der Zeigefinger auf dem schmalen Mund des Vaters aussah, wie eingefallen seine Wangen wirkten.

„Hol Mutter!“, flüsterte er ihr nun fast tonlos, aber dennoch mit Nachdruck zu, und Margot rannte sofort los.

„Mutti, Mutti, komm schnell!“, rief sie aufgeregt über den ganzen Hof. Die Gebärden ihrer Stiefmutter, die sie zum Schweigen bringen sollten, übersah sie einfach, und sie konnte auch nicht verhindern, dass es weiter aus ihr heraussprudelte: „Vati ist da, er ist wohl ausgerissen aus dem Lager, und er ist so furchtbar dünn ...“

Weiter kam sie nicht. Drei fremde Männer standen plötzlich, wie aus dem Boden gestampft, neben ihr, stießen sie brutal beiseite, sodass sie taumelte und zu Boden stürzte. Schnell waren sie im Waschhaus angelangt, zerrten den Vater an seinen zerlumpten Sachen heraus und schlugen sofort auf ihn ein, mit Fäusten, mit Knüppeln, mit einem Gewehrkolben. Dabei stießen sie ein unmenschliches, unartikuliertes Gebrüll aus.

Das muss tschechisch sein, konstatierte Margot automatisch. Sie hatte in den letzten Wochen schon recht viele Wörter dieser Sprache gelernt.

„So“, hatte ihre tschechische Freundin Helena gesagt, „wir mussten die ganze Zeit Deutsch lernen, jetzt lernt ihr tschechisch!“

Trotzdem konnte Margot nicht verstehen, was diese Ungeheuer brüllten.

Als sie sich wieder hochgerappelt hatte, sah sie mit Entsetzen und Scham, dass ihr Vater viel zu schwach war, um sich zu wehren. Sie konnte aber ihren Blick auch nicht abwenden, sah deshalb im nächsten Moment, wie Hella ihrem Mann zu Hilfe eilte, im nächsten Moment selbst von den harten Fäusten getroffen wurde und lang hinschlug. Ihr durchdringendes Jammern und die furchtbare Schlägerei jagten Margot so viel Angst ein, dass sie instinktiv losrannte, nur fort von diesem Anblick. Hinter dem Holunderstrauch, links neben dem Waschhaus, am Zaun, suchte sie Zuflucht, aber auch die dichten Holunderblätter konnten nicht ganz verbergen, wie die dunkelhaarigen, bärtigen Männer den Vater immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand schlugen. Der andere, ein Russe offenbar, denn er hatte eine Uniform an, die sie eigentlich in angenehmerer Erinnerung hatte, stand dabei. Von einem Soldaten in so einer Uniform hatte sie vorige Woche erst eine ganze Kanne voll Milch bekommen. Jetzt stand so einer da, das Bajonett drohend im Anschlag, als müsse er das ganze Grauen überwachen. Die beiden Bärtigen schrien immer noch wild durcheinander. Margot schloss die Augen, sie wünschte sich sehnlichst ihre Schulfreundin Helena her, damit sie ihr das Geschrei übersetze, aber keine Menschenseele ließ sich blicken.

So müssen wilde Flüche klingen, grübelte Margot und schämte sich für diese Männer, denn Großmutter hatte ihr beigebracht, dass es sich nicht gehört zu fluchen.

Schnell ballte das Mädchen eine Hand zur Faust, drückte diese mit aller Kraft gegen den Mund und nahm auch noch die andere Hand zu Hilfe, um nicht schreien zu müssen – oder, was auch sehr schlimm gewesen wäre, womöglich selbst noch zu fluchen. Ein, zwei Flüche hatte sie durchaus auch in deutscher Sprache schon gehört, davon durfte Großmutter allerdings auf keinen Fall etwas erfahren.

Als Margot die Augen wieder öffnete, bot sich ihr ein entsetzliches Bild. Alles war voller Blut: der Rasen, die Wand und selbst die frisch gewaschene Wäsche. Aufhören! Aufhören, schrie es in ihr, aber sie brachte kein Wort heraus. Ihr schauderte bei den klatschenden Geräuschen, die es machte, wenn der ausgemergelte Körper des Vaters wieder gegen die Wand oder den Wäschepfahl geschleudert wurde. Ihr schauderte es beim rauen Klang der fremden Stimmen, die immer lauter und drohender wurden. Ihr schauderte es bei dem Stöhnen, das sich aus der Brust des Vaters quälte und letztlich schauderte es ihr bei diesem unbegreiflichen Geruch. Er schien aus Schwefel und Blut zu bestehen, so musste es in der Hölle riechen, vermischt jedoch mit etwas ganz Vertrautem. Sommerblumen?