Stille(r)s Schicksal - Monika Kunze - E-Book

Stille(r)s Schicksal E-Book

Monika Kunze

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Beschreibung

Was eigentlich ganz harmlos beginnt, entwickelt sich so nach und nach zu einer schrecklichen Tragödie. Ein Krimi im herkömmlichen Sinne ist dieses Buch aber nicht. Die Autorin hat versucht herauszufinden, was auf dem Lebensweg eines bis dato völlig unbescholtenen jungen Mannes passiert sein könnte, ehe er sich vor Gericht für seine furchtbare Tat verantworten musste. Also eine dramatische Schicksalsgeschichte, ein psychologischer Krimi ... oder gar eine ungewöhnliche Liebesgeschichte? Vielleicht erkennt der/die eine oder andere sich in den Nebenfiguren sogar wieder ... beim Wegschauen ... bevor das Verbrechen passiert ...

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Seitenzahl: 310

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Monika Kunze

Stille(r)s Schicksal

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Zwei Jahre zuvor: Vorfreude - leicht getrübt

Neumaiers Straßentheater

Annes Träume

Schein und Sein

Überraschung im Zimmer Nummer Dreizehn

Vertraut und fremd

Allein in der Bar

Romeo und Julia

Geboren, um einander zu suchen …

Absturz aus Wolke Sieben

Umsorgt, gegängelt, erdrückt

Willkommensgrüße und Nachrichten

Zusammenbruch nach der Doppelschicht

Goldene Hände oder doch zwei linke Pfoten?

Geheimniskrämerei

Wiedersehen - freudig und leidvoll

Svens geheimer "Polterabend"

Seltsames Hochzeitsessen

Wenn Sehnsucht den Tumor vergessen lässt …

Mein Gott, das Baby …

Ein glücklicher Vater sieht anders aus …

Krebs - der verfluchte Feind …

Wechselbad der Gefühle

Zwei Kilogramm Leben …

Friede, Freude, Weihnachtskuchen?

Trost im Keller für Sven - und Anne?

Wenn Laura erst bei uns ist …

Fast fünf Pfund Glück mehr im Haus

Laura muss man einfach gern haben - aber Sven?

Überraschungsgast und letzte Fotos …

Geteiltes Leid …?

Ein Kind und keine Frau dazu?

Zufluchtsstätte Keller …

Große Freiheit ohne Laura …

Was denn, Laura kann singen?

Kein Handlungsbedarf?

Angst vor dem eigenen Kind

Ach, Anne … warum?

***

Immer wieder diese Sehnsucht

Steh-auf-Frauchen:

Demnächst erscheinen als E-Book-Neufassungen:

Taschenbücher:

Impressum neobooks

Prolog

Die Luft im Saal 3 des Landgerichts war zum Schneiden. Ungewöhnlich zahlreich drängten sich die Prozessbeobachter in den ersten Zuschauerreihen, dahinter hatten andere Neugierige Platz genommen. Voyeure. Männer und Frauen verschiedenster Alters- und Berufsgruppen waren sogar von weit her (die Nummernschilder der Fahrzeuge vor dem Gerichtsgebäude waren beredtes Zeugnis) angereist, um den letzten Akt des Aufsehen erregenden Dramas hautnah mitzuerleben.

In der hintersten Reihe saß ein Mann um die sechzig mit schütterem grauen Haar und herabhängenden Schultern. Seine Wangen waren eingefallen, seine Lippen fast nur noch ein dünner Strich, sein Kinn jedoch verriet seine Herrschsucht. Das Auffälligste aber waren seine Augen: scheinbar unbeteiligt und eiskalt wirkten sie unter den buschigen Augenbrauen..

Er saß an jedem Prozesstag auf demselben Platz, ganz außen, nahe der Flügeltür, damit er schnell und unauffällig verschwinden konnte, falls ihm übel werden sollte. Kaum eine Minute hatte er den Angeklagten aus den Augen gelassen.

Ein anderer Mann, Anfang dreißig, hatte ebenfalls mit der Übelkeit zu kämpfen. Es würgte ihn schon, wenn er sich den Blick des alten Mannes auch nur vorstellte. Trotzdem musste er auf seinem Platz ausharren, konnte nicht einfach aufstehen und gehen, obwohl auch er nicht weit von der Tür saß.

Er konnte sie schmerzhaft spüren, die Verachtung, mit der ihn der andere musterte. Was hätte er auch anderes erwarten können? War er nicht ein Monster, das sein eigenes Kind misshandelt und schließlich verhungern und verdursten lassen hatte? Jedes Mal, wenn der Staatsanwalt, der Richter oder auch sein Verteidiger den Namen seiner kleinen Tochter erwähnte, sah er Lauras kleinen Körper vor sich. Es war eine grauenvolle Vorstellung, für ihren Tod verantwortlich zu sein …

Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er es bis heute nicht gewagt hatte, den Mann anzusehen, der in der letzten Reihe saß, ganz außen, gleich neben der Flügeltür. .

Heute jedoch, am Tag der Urteilsverkündung, wollte er versuchen, Angst und Scham zu überwinden. Einmal nur wollte er ihm in die Augen schauen. Er musste sich zwingen, seinen Blick zu heben, und als es ihm endlich gelang, sah er etwas, was er bei diesem Menschen niemals für möglich gehalten hatte.

Neben der Verachtung war in den Augen des alten Mannes für einen Moment auch noch etwas anderes aufgeblitzt: ein Fünkchen Liebe und das Bekenntnis von eigener Mitschuld.

Überwältigt von dieser Entdeckung senkte der Angeklagte sofort den Blick und schloss die Augen. Niemand sollte ihm mehr in die Seele schauen können.

Als der Vorsitzende Richter mit monotoner Stimme das Urteil und dessen Begründung verlas, herrschte zunächst eine gespenstische Stille, doch am Ende erhob sich ein empörtes Raunen.

Im Gesicht des Angeklagten und nunmehr Verurteilten regte sich kein einziger Muskel. Man konnte meinen, dass ihm all das Gehörte völlig egal sei und er absolut keine Reue empfände.

Doch verhielt es sich tatsächlich so?

Er hatte unter den Zuschauern auch Leute entdeckt, die ihn von früher kannten. Sie hielten ihn vielleicht auch jetzt noch nicht für ein Monster.

Und dann hatte es ja noch einen Menschen gegeben, der wusste noch besser als jeder andere, wie liebevoll er sein konnte. Doch diesen Menschen gab es nicht mehr. Er hatte Anne, seine Frau, an den Krebs verloren.

Seitdem war er nicht mehr er selbst. Ihm kam es vor, als hätte jemand einen Schalter in seinem Inneren umgelegt. Sobald er das Wort Liebe auch nur von weitem hörte, ergriff er die Flucht.

Liebe? Was sollte das sein? Er konnte sich nicht erinnern. Er spürte es mehr als dass er es wusste: Liebe würde er fortan weder empfangen noch geben können, nicht einmal seiner kleinen Tochter. War es nicht vielmehr so, dass er im Grunde nichts sehnlicher herbeiwünschte als seinen eigenen Tod? Warum also sollte ihn diese Urteilsverkündung noch interessieren?

Der Mann mit der Todessehnsucht hieß Sven Stiller, war gerade im Namen des Volkes wegen fahrlässiger Tötung seiner Tochter Laura zu dreieinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.

Der alte Mann, der den Platz in der hintersten Reihe rechts außen gewählt hatte, damit er den Gerichtssaal schnell und ohne Aufsehen verlassen konnte, falls ihm übel werden sollte, hieß Helmut Stiller und war der Vater des jungen Mannes und der Schwiegervater von dessen Ehefrau Anne Hellwig.

Zwei Jahre zuvor: Vorfreude - leicht getrübt

An einem Freitag im noch frostigen April kam Anne Hellwig wieder einmal recht spät zu ihrem Feierabend. Ihr war klar, dass der Leerlauf an Manuskripten und die Überstunden wie so oft auch heute vermeidbar gewesen wären.

"Macht nichts", murmelte sie, mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr, „morgen packe ich meine Reisetasche und übermorgen bin ich um diese Zeit schon auf der Insel."

Der Gedanke an Teneriffa zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie bemerkte nicht einmal, dass draußen vor dem Fenster, schon wieder Schneeflocken tanzten, obwohl es doch laut Kalender schon längst Frühling sein sollte.

Sie schaute auf den Bildschirm. Die Rechtschreibprüfung huschte über ihren letzten Text für heute, der Cursor blieb stehen und blinkte bei Tippfehlern. Während sie auf die erforderlichen Tasten drückte, registrierte sie mechanisch, dass wieder drei ihrer Fingernägel abgebrochen waren. Das passierte ihr in jüngster Zeit häufig. Doch im Vergleich zu ihren anderen Problemen waren das natürlich Peanuts. Manchmal drohte ein fürchterlicher Schmerz sie fast zu zerreißen. Doch wen ging das etwas an?

Vor einer halben Stunde hatte sie schon ihre Abenddosis an Schmerztabletten eingeworfen und konnte sich nun unbekümmert freuen: Auf den Feierabend, auf den Urlaub, aber zuallererst auf eine heiße Dusche daheim. Sie würde sie ebenso genießen wie die anschließende Körperpflege. Ja, auch ihre ramponierten Fingernägel würde sie sich vornehmen. Alles ganz gemächlich und ohne Stress. Schließlich lebte sie seit einiger Zeit wieder allein in ihrer Wohnung. Es gab also niemanden, dem sie hätte Rechenschaft ablegen müssen über ihr Tun und die Zeit, die sie dafür aufbrachte. An solchen Tagen bereute sie es nicht, sich schließlich doch, nach vielem Hin und Her, für dieses Singledasein entschieden zu haben.

Der Cursor blieb mit einem Ruck stehen. Die Rechtschreibprüfung war zu Ende. Schnell sicherte sie den Text, schaute auf die gelben Rechtecke, die nun in schnellem Wechsel auf dem Bildschirm erschienen. Dann leuchtete das Wort Exit in der untersten Zeile auf, mit Schwung klickte auf diesen Button.

Endlich, dachte sie, endlich Urlaub, jetzt heißt es auch für mich erst einmal Ausstieg ... Exit ... für ein paar Wochen ... aus der Arbeit und aus dem Alltag.

Ganz flüchtig nur streifte sie der Gedanke, dass dieses Wort Exit, nur durch das Anfügen von zwei weiteren Buchstaben, einen anderen Sinn bekam. Schon die Vorstellung, es seien noch ein U und ein S angefügt, ließ sie frösteln.

Schnell verbannte sie das Wort Exitus aus ihren Gedanken. Sie wollte jetzt weder an die Vermutung denken, die ihre Ärztin unlängst geäußert hatte noch an den Verkehrsunfall ihrer Eltern, bei dem beide ums Leben gekommen waren. Schnell schob sie die aufkommende Traurigkeit beiseite, denn Selbstmitleid wollte sie nicht zulassen.

"Dieter, denkst du daran, dass du mich am Sonntag früh zum Flughafen fahren wolltest?" rief sie dem Fotografen durch die offene Tür zu. Er war gerade dabei, die letzten Fotos für die morgige Ausgabe zu bearbeiten. Darunter auch das Wrack eines Autos nach einem Unfall, der heute morgen passiert war.

Solche Fotos ließen ihn auch nach Jahrzehnten, die er nun schon für die Presse arbeitete, nicht kalt. Er wusste aus dem Polizeibericht, dass die junge Fahrerin noch am Unfallort ihren tödlichen Verletzungen erlegen war. Erst, als das Foto auf dem Bildschirm sichtbar wurde, bemerkte er, dass er vergessen hatte, das Nummernschild an dem Unfallfahrzeug unkenntlich zu machen. Schnell brachte er das Versäumte in Ordnung und nahm sich das nächste Foto vor. Anne brauchte solche zerknautschten Autos gar nicht erst zu sehen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie bei solchen Bildern immer noch in Panik geriet, auch wenn sie äußerlich ganz ruhig wirkte.

Als er mit seinem Drehstuhl in Annes Richtung schwenkte, brummte er in seinen Dreitagebart: "Na klar denke ich daran, habe ich denn schon jemals etwas vergessen?" Seine Antwort klang schroff. Aber Anne kannte ihn ebenso gut, wie er sie, um sich etwas daraus zu machen. Seine Schroffheit war meistens nur gespielt. Auch diesmal bestätigte er ihre Vermutung, als er betont wehmütig weitersprach..

"Ach, Anne, am liebsten würde ich ja mitkommen ... Mir täte etwas Insel bestimmt auch ganz gut. War ziemlicher Stress in den letzten Monaten, was?"

Er schickte seiner Frage noch einen tiefen Seufzer hinterher.

Anne beugte sich ein wenig vor und konnte über seinen gequälten Gesichtsausdruck nur lachen.

"Stress in gewissem Maße soll doch sogar sehr gesund sein, das weißt du doch. Aber du weißt doch hoffentlich auch, dass du ganz bestimmt nicht mit mir auf eine Insel willst. Oder?"

Als die Frage heraus war, bereute sie diese auch schon. Musste sie sich so albern aufführen? Mit Dieter verband sie seit Jahren eine aufrichtige Freundschaft. Sonst nichts. Womöglich würde er noch glauben, dass sie mit ihm flirten wolle? Deshalb fügte sie schnell hinzu : "Also, ich verlasse mich darauf, dass du am Sonntag in aller Herrgottsfrühe auf der Matte stehst - tschüs, bis denne!"

Als sie von ihrem Schreibtisch aufstand und zum Fenster sah, nahm sie nun doch das Schneetreiben wahr. Sogleich spürte sie wieder die wachsende Vorfreude auf die südliche Sonne und das Meer.

Dieter Ebert nickte nur, ohne aufzusehen. So ganz sicher war er sich eben keinesfalls, dass er nicht doch eventuell mit Anne …. Aber das brauchte sie nicht zu wissen, er wagte es ja selbst kaum, diesen Gedanken zu Ende zu bringen.

Die Sekretärin steckte ihren blonden Lockenkopf auch beim Chef noch einmal zur Tür hinein.

"Brauchen Sie mich noch, Herr Biesold? Ich würde sonst gehen."

"Nein, nein, gehen Sie nur. Schön, dass Sie sogar noch an die Serviceseite für Montag gedacht haben. Da hat Ihre Vertretung am Sonntag etwas weniger Arbeit. Ach, einen schönen, erholsamen Urlaub wünsche ich Ihnen natürlich! Kommen Sie gesund wieder!"

Horst Biesold stand tatsächlich auf und zwängte sich mit seiner ganzen Fülle mühsam hinter seinem Schreibtisch hervor. Einige, über den Rand des Tisches hängende Manuskripte, flatterten zu Boden. Anne staunte, wie behände er die Blätter aufhob. Unbeachtet warf er sie auf den Tisch, um sich mit Handschlag von seiner Sekretärin zu verabschieden.

Noch auf der Treppe rieb sich Anne die schmerzenden Finger, wunderte sich über das seltsame Gebaren ihres Chefs. Biesold war ihretwegen aufgestanden? Das hatte es ja bisher noch nie gegeben!

Und wie meinte er das mit dem gesund wiederkommen? Ahnte oder wusste er gar etwas? Sie war sich doch eigentlich sicher gewesen, dass weder er noch die Kollegen etwas von ihren unerträglichen Schmerzen wissen konnten.

Während der Heimfahrt merkte nicht einmal sie selbst etwas davon. Vielleicht lag das an den neuen Tabletten - vielleicht aber auch an der Vorfreude, die alles Unangenehme aus ihrer Wahrnehmung ausblendete. Und wenn das so war, dann könnten Urlaubsfreude und Meeresklima ja vielleicht wirklich helfen, wieder richtig gesund zu werden? Oh nein, nur nicht zu euphorisch werden, Anne, rief sie sich innerlich zur Ordnung.

Obwohl: Ihre Hausärztin hatte unlängst ähnliche Hoffnungen geäußert. Vielleicht würde ja nach dem Urlaub sogar der geplante Besuch bei einem Spezialisten überflüssig sein? Anne fühlte sich wieder einmal innerlich völlig zerrissen und erschrak, als sie bemerkte, wie sie auf die Gegenfahrbahn rutschte.

Neumaiers Straßentheater

Anne fasste das Lenkrad ihres roten Polo fester, reckte den Hals und hielt nach einem Parkplatz Ausschau.

Doch sie musste wieder und wieder zwischen den Neubauten umherfahren, bis sie fündig wurde. Den Rest des Weges würde sie zu Fuß gehen müssen. Doch sie würde gern die paar hundert Meter bis zu dem Würfelhaus, in dem sie wohnte, laufen. Von den paar Schneeflocken auf ihrem Gesicht würde sie sich ihre Urlaubsvorfreude nicht nehmen lassen. Im Gegenteil! Sie versuchte mit dem Mund ein paar Flocken aufzufangen und lächelte.

Sie hatte einmal gelesen, dass selbst ein künstlich vor dem Spiegel eingeübtes Lächeln Glückshormone freizusetzen vermochte. Sie lächelte also noch ein wenig breiter, ohne einen besonderen Grund dafür zu haben, mal abgesehen von der Sehnsucht nach Endorphinen.

Das Lächeln war auch noch in ihrem Gesicht, als sie festen Schrittes losging.

Das freute keinen mehr als Opa Neumaier, der mit seinen massigen Brustkorb auf dem Fenstersims lehnte. Diese junge Frau war ihm schon lange aufgefallen, so zart und frisch, wie sie immer aussah - und ein freundliches Wort hatte sie auch stets für ihn übrig gehabt. Er wusste, dass sie als Sekretärin bei der Lokalredaktion arbeitet, wo Überstunden anscheinend an der Tagesordnung waren.

"Na, Fräulein Hellwig, ist heute mal wieder spät geworden", sprach er sie nun direkt an. "Da gibt es wohl an ihrem Haus keinen Parkplatz mehr?"

Er wusste auch, dass die junge Frau in dem ersten Würfelhaus hinten am Park wohnte.

Opa Neumaier schob seinen mächtigen Oberkörper noch weiter über die Fensterbank, damit ihm auch ja nichts von den Geschehnissen in seiner Straße entging. Die Geschehnisse dort zu verfolgen, war für ihn so eine Straßentheater, meist spannend und sehr unterhaltsam, was eine erstaunlich belebende Wirkung auf ihn ausübte.

Außerdem durfte er im Wohnzimmer nicht rauchen. Aber hier hatte seine Frieda nicht einmal etwas dagegen, wenn er mit einer schnellen Bewegung seines Zeigefingers die Asche unauffällig in die Sträucher vor seinem Fenster schnippte.

Anne winkte dem Rentner zu: "Ja, ist halt schwierig mit den Parkplätzen. Zum Einkaufen bin ich auch wieder nicht gekommen, aber alles halb so schlimm! Ich habe ja jetzt Urlaub!"

Noch immer grub das Lächeln kleine Grübchen in ihre Wangen.

Franz Neumaier wollte diesen Anblick noch wenig genießen und fragte deshalb rasch, noch ehe sie womöglich um die Ecke verschwunden war: "Wo soll´s denn hingehen im Urlaub?"

Der alte Mann machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Neugier zu verbergen und lehnte sich erwartungsvoll immer weiter hinaus, während er sich gewohnheitsmäßig über die Stelle am Kopf strich, an der früher einmal eine prächtige Frisur gewesen sein könnte. Jetzt allerdings versuchte er schon seit Jahren, seine paar grauen Strähnen sorgfältig und vor allem gleichmäßig auf der ansonsten spiegelblanken Glatze zu verteilen.

Es muss schwierig sein, neun Haare in sieben Reihen aufzuteilen, dachte Anne belustigt. Doch laut und ein bisschen leichthin sagte sie: "Ach, wissen Sie, Herr Neumaier, ich bin einfach reif für die Insel. Ich fliege am Sonntag nach Teneriffa." So hatte sie nicht nur das Ziel ihrer Reise kundgetan, sondern auch gleich noch den Zeitpunkt. Denn das Wann hätte bestimmt in seiner nächsten Frage gesteckt. Sie aber war heute nicht mehr aufgelegt für sein geliebtes Frage- und Antwortspiel.

Sie drehte sich nur noch ein einziges Mal um, bevor sie in die nächste Querstraße einbog. Dabei stellte sie überrascht fest, wie eilig der Opa es mit einem Mal hatte. Im Nu hatte er das Fenster geschlossen und die Gardine vorgezogen.

Anne konnte natürlich nicht ahnen, dass sie mit ihrer schlichten Auskunft bei den Neumaiers gehörig für Gesprächsstoff gesorgt hatte.

"Diese jungen Leute", schimpfte Neumaier mürrisch vor sich hin, "die müssen ein Geld haben! Frieda, stell dir mal vor, die kleine Hellwig fliegt nach Teneriffa! Muss wohl von ihren Eltern etliches geerbt haben, als die voriges Jahr bei dem Verkehrsunfall umgekommen sind."

Seine Frau saß wie immer um diese Zeit auf dem Sofa, eingehüllt in ihre unvermeidliche, blau-weiß geblümte Nylon-Kittelschürze, und reagierte, auch wie immer, wenn er sie mitten in einem komplizierten Strickmuster ansprach. Nämlich überhaupt nicht. Sie zählte in aller Seelenruhe ihre Maschen weiter: "23-24-25-26." Dann legte sie das angefangene Vorderteil des grünen Pullis zur Seite, quälte sich mühsam aus der Tiefe der Couch in den Stand, humpelte zum Fenster und zog auch noch die Vorhänge zu.

"Alles machst du bloß halb", knurrte sie. Ihre Stimme war in den letzten zehn Jahren immer tiefer geworden. Ein vorwurfsvoller Blick traf ihren Mann. "Sollen uns die Nachbarn auf den Tisch gucken können? Es gehört zur Ordnung, dass man auch die Übergardinen zuzieht, wenn es draußen dämmrig wird."

Und dann, plötzlich und übergangslos, also hatte sie seine Worte von vorhin doch gehört, schniefte sie verächtlich: "Teneriffa! Na und, lass´ sie doch fliegen, die kleine Hellwig. Wird schon sehen, was sie davon hat!"

Sie mochte dieses junge Ding nicht. Trug immer so kurze Röcke, fuhr mit zweiundzwanzig schon Auto! Und ein rotes noch dazu! Wo hätte es das zu ihrer Zeit gegeben! in dem Alter hatte man einen Kinderwagen zu schieben!. Aber heutzutage lebten ja offenbar sowieso viele in einer verkehrten Welt. Das sagte sie jedem, der es hören wollte und den anderen, die es nicht hören wollten.

"Und außerdem," wandte sie sich nun wieder an ihren Mann, "du warst doch auch schon mal im Süden, damals, in Italien. Und mich zieht es da nicht hin ... zu den Makkaronis."

Doch Franz hörte gar nicht richtig hin, schaute, Gott ergeben, zu Boden, zuckte die Achseln und seufzte. Gewohnheitsmäßig griff er sich die Zeitung, als seine Angetraute wieder mit den Stricknadeln zu klappern begann, aber er kam einfach nicht so richtig zum Lesen. Immer wieder musste er an die junge Frau denken, die sich so mir nichts dir nichts in ein Flugzeug setzen würde, um in den Süden, nach Teneriffa, zu fliegen. Darüber kam er einfach nicht hinweg.

Er selbst war allerdings tatsächlich auch schon mal im Ausland, damals, im Krieg und danach in Gefangenschaft, in Italien. Da hatte seine Alte schon irgendwie recht. Wenn das alles auch schon sehr, sehr lange her war, Franz Neumaier erinnerte sich genau an jede Einzelheit.

Und so begann der alte Mann seiner Frau wieder einmal von damals zu erzählen. Wie er mit einem Lastkraftwagen durch ganz Italien gebraust war. Dass er in Rom und Neapel gewesen sei, dass er bis nach Brindisi ("das ist am Hacken vom italienischen Stiefel, weißt du?") gefahren war, um Mehl zu holen, damit wieder Brot für die Gefangenen gebacken werden konnte. Selbstverständlich vergaß er auch nicht Venedig zu erwähnen.

"Also, Frieda, das musst du dir ungefähr so wie im Spreewald vorstellen, nur eben ohne Wald, alles wurde mit dem Kahn transportiert, naja, richtig heißt das ja dort wohl Gondel."

Aber Frieda hatte nur einen müden Blick für ihren Franz übrig, schnell hingeworfen über die Brille, die ihr beim Stricken bis auf die Nasenspitze gerutscht war.

Und ein ausgiebiges Gähnen, das sie auch keineswegs zu unterdrücken versuchte. Ach, sie kannte ja seine italienischen Geschichten schon alle. Nur hin und wieder ließ sie sich zu einem einsilbigen mhm hinreißen, nickte mechanisch zu seinen Worten.

Auch Franz wusste natürlich, dass sie nur so tat, als würde es sie brennend interessieren, was er erzählte. Er sah sehr wohl, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit schnell wieder ausschließlich ihrer Strickerei zugewandt hatte.

Als sie doch noch einmal hochschaute, bemerkte sie, dass die Übergardinen in der Mitte noch immer nicht richtig geschlossen waren. Sie stand unvermutet schnell auf, obwohl ihre Knie knackten und furchtbar wehtaten, und behob den Schaden, noch ehe Franz womöglich etwas bemerken konnte.

Nun hatte niemand mehr auch nur den kleinsten Einblick in ihr Zimmer.

"Frahanz?!"

"Ja doch, was ist denn?" fuhr er auf. Er war wohl über seiner Zeitung kurz eingenickt?

"Franz, es wäre wirklich schön, wenn du dich morgen mal um das Telefon kümmern könntest, es ist nun schon seit drei Tagen gestört..."

"Na, und, macht doch nichts", entgegnete er noch immer etwas schlaftrunken, da haben wir wenigstens unsere Ruhe ... oder erwartest du irgendwelche dringenden Anrufe?"

So sehr sich die alte Frieda auch sonst immer gegen jeden neumodischen Kram sträubte, das Telefon fehlte ihr doch, denn sie hatte schon seit ein paar Tagen nichts mehr von ihrer Tochter Margot gehört. Vor allem hätte sie ja auch zu gern gewusst, ob nun ihr Enkel Sven sein kleines Häuschen in Wiesenberg endlich weiter ausbauen würde oder nicht.

Das gestörte Telefon war schließlich auch der Grund, dass Neumaiers nicht ahnen konnten, dass sich auch ihr Enkel Sven am Sonntag so mir nichts dir nichts in ein Flugzeug setzen würde, um weit weg Urlaub zu machen. Auf Teneriffa.

Annes Träume

"Was nehme ich nur mit?" überlegte Anne laut, denn sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Selbstgespräche absolut kein Zeichen von Verrücktheit seien. Außerdem fühlte sie sich in ihren vier Wänden weder beobachtet noch belauscht. Die Zeiten waren ja zum Glück vorbei.

Momentan sah es ziemlich wüst bei ihr aus. Sie hatte alle Sachen, die sie eventuell mitnehmen wollte, auf der Couch, den Sesseln, dem Tisch und sogar auf dem Fußboden ausgebreitet. In der Küche fiepte der Wasserkocher, ein Zeichen, dass sie ihren Tee aufbrühen konnte. Noch während sie das heiße Wasser in die überdimensionale Tasse mit dem Tee-Ei fließen ließ, klingelte das Telefon.

Sie stellte den Kocher wieder auf den Untersatz, ging in den Flur und nahm den Hörer aus der Station.

"Was ist, warum nimmst du ewig nicht ab?"

Es war Henri. Er wirkte ziemlich ungehalten. Was wollte der denn noch? Sie hatte doch schon vor vier Wochen mit ihm Schluss gemacht.

"Was willst du noch?" fragte sie ihn also direkt. "Kannst du nicht begreifen, dass es aus ist zwischen uns?"

Henri schluckte, wollte aber freundlich bleiben und fragte deshalb ganz harmlos:

"Hast du dir gerade wieder Tee aufgebrüht, als das Telefon klingelte?"

Soweit kannte er sie immerhin, dass er wusste: Ihre Teestunde war ihr heilig, da wollte sie von nichts und niemandem gestört sein.

"Komm, sei doch nicht so grantig", fuhr er fort, "wir hatten uns doch ausgemacht, Freunde zu bleiben. Ich wollte dir eigentlich nur einen schönen Urlaub wünschen. Und komm gesund wieder!"

"Danke!"

Das sagte sie leise und sie merkte selbst, wie erleichtert es klang. Sie spürte auch, wie verlegen sie wurde, denn es tat ihr schonLeid, Henri so abgekanzelt zu haben. Er hatte ja recht, sie waren schon nach ein paar Monaten in aller Freundschaft auseinandergegangen, weil sie gemerkt hatten, dass das Gefühl, das sie füreinander empfanden, nicht für ein ganzes Leben reichen würde. Ihr Anflug von Groll war so schnell verflogen wie er gekommen war. Deshalb legte sie auch nicht sofort wieder auf wie sie es eigentlich anfangs vorgehabt hatte.

"Du bist heute schon der zweite, der mich auffordert, gesund wiederzukommen. Ich gebe mir Mühe - also dann tschüs, ich muss jetzt weiter packen. Vielleicht schreibe ich dir ja eine Karte. Lass´ es dir gut gehen!"

Was redete sie da? Ehe noch mehr aus ihr herauskam, was sie lieber für sich behalten wollte, steckte sie nun das Mobilteil tatsächlich zurück in die Mulde.

Henri würde sich Gedanken machen, das wusste sie. Er sollte es sich gut gehen lassen? Sie konnte wohl derartige Wünsche besser gebrauchen. Sie war fast sicher, dass er sie noch immer mochte, auch, wenn sie ihm nie alles erzählt hatte. Vielleicht war ihm doch nicht entgangen, dass sie immer öfter das Gesicht verzog, wenn sie sich unbeobachtet fühlte? Jedenfalls war so nach und nach an die Stelle von Leidenschaft und Sex, Freundschaft und Mitgefühl getreten. Das hatten beide bemerkt und sich auch offen eingestanden. Sie fand auch nichts dabei, dass er seit einer Woche mit einem anderen Mädchen, einer hübschen, fröhlichen Zahntechnikerin zusammen war. Er hatte ihr ja selbst erzählt, dass Mandy für alle seine Verrücktheiten zu haben sei. So ist sie zum Beispiel genauso gern mit dem Motorrad unterwegs wie er. Bestimmt würde er sie im Juni auch zum Bikertreffen mitnehmen. Davon hatte Henri zwar noch nichts erzählt, aber sie wünschte ihm alles Glück mit Mandy.

Annes Gedanken an Henri und daran, wie aus Liebe Freundschaft geworden war, wurden jäh unterbrochen. Da war es wieder, dieses hartnäckige Stechen im Bauch. Sie musste jetzt Ruhe bewahren, schloss die Augen und lehnte sich noch einen Moment an die Garderobe. Als der Schmerz nach ein paar Minuten immer noch nicht abgeklungen war, gab sie sich einen Ruck und quälte sich bis in die Küche.

Zitternd wühlte sie in ihrer Hausapotheke herum, die aus einem ausgedienten Schuhkarton bestand. Endlich kamen die Zäpfchen hinter Mullbinden, Augenklappen und Hoffmanns Tropfen zum Vorschein.

Anne verschwand erleichtert im Bad und setzte sich nach einer kurzen Verschnaufpause gemütlich in den Sessel. Sie genoss die Stille um sich herum, den Anblick ihrer Grünpflanzen sowie den Duft und den Geschmack ihres heißen Jasmintees.

In Annes kleiner Einraumwohnung brauchte sich niemand darum zu kümmern, ob die Vorhänge richtig zugezogen waren oder nicht. Es gab dort überhaupt keine Gardinen. Vor den Fenstern standen unzählige Blumentöpfe, einige auf dem Fensterbrett, andere auf robusten Holzhockern und die ganz großen, wie zum Beispiel der kleinblättrige Gummibaum und die Dieffenbachie sogar auf dem Fußboden. Anne gefiel dieser gewächshausartige Raum mit den hellen Holzmöbeln, der ihr gleichermaßen als Wohnzimmer, Bibliothek, Esszimmer und Schlafstätte diente.

Gleich würden die Schmerzen aufhören, hoffte sie, dann könnte sie endlich weiter packen.

Es war schon fast Mitternacht, als schließlich alles in ihrer schwarzen Reisetasche mit den blauen Paspeln verstaut war. Die Tasche hatte ihrer Mutter gehört. Kaum war ihr das eingefallen, dachte sie auch schon wieder an ihre viel zu früh verstorbenen Eltern. Ein angetrunkener Fahrer habe ihnen mitten in der Stadt die Vorfahrt genommen, hatte damals im Polizeibericht gestanden, den sie selbst abtippen musste. Seitdem verstand sie noch viel besser, dass es dem Fotografen Dieter nicht leicht fiel, immer wieder schrottreife Autos nach Verkehrsunfällen zu fotografieren. Den Anblick der toten Körper von Vater und Mutter würde Anne wohl in ihrem ganzen Leben nicht vergessen. Sie war sich nicht mehr sicher, dass es richtig gewesen war, noch einmal in die unterste Station des Krankenhauses zu fahren, um sich von ihren Eltern zu verabschieden. Ihre sterblichen Hüllen auf dem wackligen Metallgefährt hatten nichts mehr mit den vor Gesundheit strotzenden Körpern und den lebensfrohen Gesichtern ihrer Eltern zu tun. Trotzdem musste sie beide noch einmal anfassen, um im nächsten Moment vor dieser kalten Glätte zurückzuweichen.

Seitdem fühlte sich Anne meistens verlassen und einsam. Daran änderte sich auch nichts, als sie umgezogen war und es immer mal wieder bei ihr geklingelt hatte. Leute wie ihre Nachbarin Frau Hörentz kamen sie zwar besuchen, aber die Wärme und das Lachen ihrer Eltern konnte wohl niemand ersetzen.

Als sie dann Henri kennengelernt hatte, glaubte sie zunächst wirklich, mit ihm der Einsamkeit entrinnen zu können. Doch so ehrlich sie beide ihren Versuch gemeint haben mochten, er war trotzdem - oder gerade deshalb - schon nach drei Monaten gescheitert. Sie glaubte zwar, dass Henri sie geliebt hat, doch sie hatte irgendwann seine tröstenden Worte zum Tod ihrer Eltern und seine ewigen Fragen, ob sie Schmerzen habe und ob er irgendwie helfen könne nicht mehr ertragen. Sie wollte sein Mitleid nicht, sie fürchtete es geradezu.

Und sie wollte auch nicht länger in der großen Wohnung der Eltern wohnen bleiben, deshalb hatte sie sich diese Einraumwohnung hier am Park gesucht.

Von den elterlichen Möbeln hatte sie auch kaum etwas mitgenommen, außer dem alten, bunt bemalten Bauernschrank und einer hellen Polsterwippe für die Füße.

Mutter und Vater hatten ihr kein Vermögen hinterlassen, aber das Geld aus der Lebensversicherung und vom Verkauf der Möbel reichte aus, um sich die kleine Wohnung nach ihrem eigenen Geschmack einrichten zu können. Und da hatten eben keine wuchtigen, dunklen Möbel Platz, ebenso wenig wie solche aus Pressspan, die mit Hilfe von gemaserter Folie den Eindruck von Holz erwecken sollten.

Das Packen hatte Anne lange ausgedehnt. Jedes Stück hatte sie in die Hand genommen, ein wenig von sich weg gehalten, um es zu begutachten, ob es für ihren Aufenthalt am Meer tauglich war oder nicht. So landete von den unzähligen Kleidungsstücken, die noch vor ein paar Stunden herumgelegen und ihr Zimmer wie einen Basar hatten aussehnen lassen, nur ein Bruchteil in der Reisetasche.

Nachdem alles andere wieder in den Schränken verstaut war, sank Anne müde und zufrieden ins Bett. Die Vorfreude auf Teneriffa nahm sie mit in ihre Träume. Sie sah alles ganz genau vor sich: den schwarzen Strand, die Sonne und das Meer, hörte das Rauschen der Wellen.

Schmerzen? In dieser letzten Nacht vor der Abreise war davon nichts zu spüren. .

Am Tag darauf allerdings sah es zwar schon wieder ganz anders aus, aber auch da sorgten die Medikamente schließlich für schnelle Abhilfe.

In der darauffolgenden Nacht träumte sie erneut, dass sie bereits auf ihrer Insel sei. Sie befand sich in einer felsigen Bucht, hörte andächtig dem Wellengang des Ozeans zu. Sie fühlte sich geborgen, ja glücklich, obwohl niemand in ihrer unmittelbaren Nähe zu sein schien. Sie genoss diese Ruhe, sie fühlte, wie wieder Kraft in ihren Körper floss. Nur von fern hörte sie das Strandgetümmel. Wohlig streckte sie sich aus und konnte die frische Brise spüren, die sanft über ihre Haut strich. Sie lag zwischen den Felsen und ließ den warmen, dunklen Sand gedankenverloren durch ihre Finger gleiten. Kein Wecker würde sie hier stören, kein Telefon klingeln im unpassenden Moment ...

Doch, was war das? Anne schreckte hoch. Hatte doch plötzlich ein Telefon geläutet? Wo war sie, wo war der Sand, der Ozean? Wieder klingelte es. Sie konnte sich nicht so abrupt von ihrem Traum lösen, doch als es zum dritten Mal schellte, erkannte sie endlich den Ton der Klingel.

Schlaftrunken trippelte sie zur Tür, drückte, immer noch ganz benommen, routinemäßig auf den schwarzen Knopf am Öffner und fragte müde in die Sprechanlage: "Ja, bitte, wer ist da?"

"Was ist denn los, hast du verschlafen? Wir wollen doch in einer halben Stunde nach Dresden fahren. Ich dachte, es gibt noch einen Kaffee bei dir?!"

Mein Gott, Dieter! Anne war plötzlich hellwach. Natürlich, es war ja schon Sonntag. Ein Blick zum Radiowecker: 5.30 Uhr! Eigentlich wollte sie schon um fünf aufstehen. Das rote Lämpchen links leuchtete nicht, also hatte sie den Alarmknopf gar nicht aktiviert. Verflixte Axt!

"Gut, dass du da bist, ich mache dir gleich Kaffee", rief sie schnell noch in die Sprechanlage, bevor sie in die Küche eilte. Ehe er die sechs Treppen, einen Lift gab es leider immer noch nicht, erklommen hatte, konnte sie schnell noch duschen. Hastig verschwand sie im Bad. Die Wohnungstür ließ sie nur leicht angelehnt.

"Hm, das riecht ja hier richtig nach Westkaffee", spöttelte Dieter und ließ sich, erschöpft von den Strapazen des Aufstiegs, auf einen Küchenstuhl fallen.

"Gieß dir schon immer ein, ich muss mich noch ein bisschen bemalen", rief Anne, scheinbar munter, aus dem Bad. Dass sie meist blass und kränklich aussah, war Dieter bestimmt schon lange aufgefallen. Seinem fotografischen Blick entging selten etwas.

Anne schaute in den Spiegel und erschrak. Was ihr da entgegen schaute, sollte sie sein? Sie fand sich so grau und erschöpft, als hätte sie wochenlang kein Auge zugetan. Dabei hatte sie doch gerade in dieser Nacht so prächtig geschlafen, sie erinnerte sich wieder an ihren Traum von der wärmenden Sonne auf Teneriffa, an das wohlige Gefühl, das ihren Körper durchströmt hatte.

Aber es war gut, dass Dieters Klingeln sie so abrupt aus ihrem Traum gerissen hatte. Wie hätte sie es sonst schaffen sollen, zwei Stunden vor dem Abflug, wie verlangt, auf dem Flugplatz zu sein?

Dieter hatte unterdessen das Toastbrot mit Schinken belegt, eine andere Scheibe dick mit Butter und Honig bestrichen.

"Willst du auch Käse?" fragte er zur angelehnten Badezimmertür hin, war sich aber nicht sicher, ob sie seine Frage bei dem Krach überhaupt gehört hatte.

"Nein, lass´ nur, ich trinke nur etwas Tee. Mir geht es heute nicht so besonders. Wir müssen ja auch bald los", brüllte sie, um das Geräusch vom Föhn zu übertönen.

Unterwegs, in seinem Opel Astra, hatten sie kaum gesprochen. Anne bemerkte, dass auf der Rückbank neben der Fototasche noch allerhand Kram herumlag: Drei oder vier Kugelschreiber, eine zerknautschte Jacke, ein Kissen, eine nicht gerade sorgfältig zusammen gelegte Decke, unter der ein Apfel hervor lugte, und zwei Handpuppen, die sie sofort an Hänsel und Gretel erinnerten.

Aha, dachte Anne, da war er wohl gestern wieder mit seiner kleinen Tochter unterwegs. Dieter hatte nach langwierigen Auseinandersetzungen mit seiner Exfrau nun endlich die Erlaubnis bekommen, einen Tag im Monat mit der dreijährigen Janine zu verbringen. Anne wusste das, weil Dieter sie gebeten hatte, ihm beim Schreiben der "amtlichen" Briefe unter die Arme zu greifen. Natürlich hatte sie ihm geholfen. Es war eben nicht jedermanns Sache, diese Schreiberei, bei der es auf jedes Wort ankam.

So ein Besuchstag war also gestern gewesen, das hatten ihr Hänsel und Gretel inmitten der anderen bunt durcheinander gewürfelten Utensilien verraten. Doch sie verkniff sich ganz bewusst jede Bemerkung zu seiner Familiensituation, denn sie wusste, dass er in diesem Punkt sehr verschlossen sein konnte, wenn ihn jemand zu sehr mit Fragen zu seinem Privatleben nervte.

Dieter schaltete das Radio ein, ärgerte sich aber anscheinend gleich wieder über die seltsamen Nachrichten, die dieser Sender verlauten ließ ... Wie er die Stirn in Falten zog, sprach jedenfalls Bände.

"Müssen die alles dramatisieren, ich verstehe das nicht", schimpfte er da auch schon los. Und als Anne, die ihr eigenes Elend unter einem gekonnten Make-up versteckt hatte, nichts erwiderte, fuhr er ärgerlich fort: "Was die für merkwürdige Nachrichten machen, ich begreife das nicht. Panik im Birkhuhnnest - wenn ich das schön höre, dabei geht es doch um einen ganz normalen Landschaftsplan. Oder?"

"Ach, ärgere dich doch nicht, so ist das eben heutzutage. In einer seriösen Tageszeitung wird freilich nicht alles künstlich aufgebauscht und problematisiert. Aber guck mal zu dem selben Thema in die Regenbogen-Presse, da wirst du den Landschaftsplan vielleicht sogar als Katastrophenmeldung wiederfinden."

Prüfend sah sie zu ihm hinüber.

War wohl doch nicht so wirksam, ihr Trostversuch, er guckte jedenfalls noch immer grimmig. Verwundert stellte sie wieder einmal fest, wie gut sie sich doch eigentlich verstanden. Sie mochte ihn auch deshalb, weil er sich auch über Dinge den Kopf zerbrach, für die er nicht bezahlt wurde. Darin ähnelten sie einander sehr, das wusste auch Dieter. Dabei war ihr durchaus klar, dass sie als Sekretärin nicht im mindesten für den Inhalt des Blattes verantwortlich zeichnete. Trotzdem war es ihr zu wenig, immer nur die Fremdtexte zu erfassen, die Termine zu kontrollieren und Kaffee zu kochen.

Sie klappte die Sonnenblende herunter, warf einen kritischen Blick in den Spiegel.

"Bist hübsch genug", brummte Dieter und grinste.

Ganz nebenbei schaltete er das Radio aus, Anne war froh darüber, denn die schnarrende, näselnde Stimme des Sprechers hatte sie als ziemlich unangenehm empfunden. Froh war sie auch über sein sprödes Kompliment, ihr Make up war also perfekt, er hatte nichts bemerkt von ihren Tränensäcken und der aschfahlen Haut. Dankbar lächelte sie zu ihm hinüber.

"So, Madame, jetzt gibt´s zum Abschluss noch ein bisschen deutschen Rock mit Herrn Maffay, das ist wenigstens was Reelles!"

In dem Punkt konnte ihm Anne nicht widersprechen, denn auch sie mochte diesen Altrocker und seine Lieder. Ihre Mutter hatte sie wohl mit ihrer Schwärmerei für Maffay angesteckt. Die Musikkassetten aus dem Nachlass hatte sie sich immer wieder angehört. Manchmal war es ihr vorgekommen, als würde sie sich zu spät bemühen, ihre Eltern richtig kennenzulernen.

Aber darin unterschied sich ihre Familie wohl nicht so sehr von den meisten anderen. So richtig trösten konnte sie dieser Gedanke allerdings auch nicht.

"Wir sind gleich da", sagte Anne und klappte den Sonnenschutz wieder hoch.

Dabei warf sie einen Blick in den Rückspiegel.

Nanu? Hatten sie diesen grünen Trabant nicht schon mal überholt? Nun fuhr er hinter ihnen. Kunststück, die Geschwindigkeit musste oft gedrosselt werden, weil es immer wieder Baustellen auf der Autobahn gab. Ein Blick auf das Kennzeichen hatte ihr vorhin schon verraten, dass der Trabbi auch aus ihrem Landkreis stammte.

Schein und Sein

Auf dem Flughafen herrschte das gewohnte Getümmel. Kaum jemanden schien es zu stören, schon Stunden vor dem Abflug da sein zu müssen. Viele hatten sich in den glatten Schalensitzen lang ausgestreckt und schienen zu dösen. Manche packten ihre mitgebrachten Brote aus, die wenigsten nutzten das Angebot an den einzelnen Ständen und Bars. Kein Wunder bei den gepfefferten Preisen, dachte Anne und biss geräuschvoll in einen Apfel.

Amüsiert bemerkte sie, dass einige zwar so taten, als würden sie ganz konzentriert Zeitung lesen. Doch in Wahrheit galt ihr Interesse den anderen Leuten. Doch so intensiv der Herr neben ihr auch die gepflegte Dame gegenüber fixierte, jene wollte wohl einfach keine Notiz von ihm nehmen. Sie schien in das Lösen eines riesigen Kreuzworträtsels vertieft zu sein. Nicht einmal auf die Aufrufe aus den Lautsprechern ließen bei ihr eine Reaktion erkennen.

Anne machte kein Hehl aus ihrer Neugier und schaute sich ganz unverhohlen um. Gut, dass Dieter gleich wieder losgefahren ist