Sterben. Die Gebrauchsanleitung - Sabine Stengel - E-Book

Sterben. Die Gebrauchsanleitung E-Book

Sabine Stengel

0,0

Beschreibung

Er stöhnte und atmete so schwer, rasselnd. Jeder Atemzug schien eine Qual zu sein. Keiner im Krankenhaus hatte mir gesagt, das ist die "Rasselatmung", schwer zu ertragen, für diejenigen, die nicht wissen, woher das kommt: Das Sekret kann nicht mehr abgehustet werden, es sammelt sich in den Bronchien. "Das ist ein sicheres Anzeichen, dass Ihr Vater im Sterben liegt", das hätten mir die Ärzte sagen müssen. 24 Stunden später war er tot. Sechs Wochen vorher, kurz nach Weihnachten 2008, war er ins Krankenhaus gekommen. Alt, betagt, rüstig. Ich saß an seinem Bett, hielt seine Hand und versprach ihm: ich bin bei dir, ich lass dich nicht allein. Ich wusste nichts vom Sterben. Schlimmer als meine eigene Hilflosigkeit war das große Schweigen. Wie kann das sein, fragte ich mich, dass wir alle nicht wissen, wie Sterben "funktioniert"? Warum reden wir nicht darüber. Was passiert da? Weshalb müssen Sterbende kaum noch essen und trinken. Hilft Sauerstoff gegen die Atemnot? Und: Wie können wir ihnen die letzten Wochen und Tage leichter machen? Diese sechs Wochen an der Seite meines sterbenden Vaters haben mein Leben verändert. Ich schrieb auf, was ich gelernt und ausprobiert hatte, wühlte mich durch Berge von Fachliteratur, fragte Experten und Praktiker und sammelte alles in einem Buch: "Sterben. Die Gebrauchsanleitung". Alles was Sie wissen müssen, um Sterbende gut zu begleiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 205

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sabine Stengel Sterben. Die GebrauchsanleitungAlles, was wir wissen müssen, um Sterbende gut zu begleiten

Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN ebook: 978-3-746770-12-3

© 2018

Texte:

© Copyright by Sabine Stengel

Umschlaggestaltung:

© Copyright by Kraft plus Wiechmann Grafikdesign, Berlin

Layout Printausgabe:

Infotext GbR, Berlin

Lektorat und Korrektorat:

Katharina Frier-Obad, Berlin

Verlag:

Sabine Stengel

Die Ideenretterin

Sonntagstr. 29

10245 Berlin

Sabine [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Einleitung

1. Warum tun wir uns so schwer mit dem Thema Sterben?

1.1 Wer kennt sich aus mit dem Sterben?

1.1.1 Medizinische Experten: Ärzte, Pflegende, Apothekerinnen

1.1.2 Seelsorger: Sozialarbeiter, Psychologen, Pfarrer, spirituelle Begleiter

1.1.3 Palliativ- und Hospizbewegung

2. Wo sterben?

2.1. Sterben im Krankenhaus

2.2. Sterben im Pflegeheim

2.3. Sterben im stationären Hospiz

2.4. Sterben auf der Palliativstation

2.5 Sterben zu Hause

2.5.1 Allgemeine Ambulante Palliativversorgung (AAPV)

2.5.2 Die Rolle der Hausärztin

2.5.3 Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV)/Palliative Care

2.5.4 Was tun im akuten Notfall

2.6. Ambulante Sterbebegleitung

3. Der Sterbeprozess

3.1 Was passiert beim Sterben?

3.2. Woran erkennen wir, dass jemand stirbt?

3.3. Eintritt des Todes: Organtod

3.4. Verstorben – was ist zu tun?

3.4.1. In Ruhe verabschieden

3.4.2. Totenschein

3.4.3. „Muss ich jetzt nicht sofort den Notarzt rufen?“

3.5 Sterbephasen aus psychologischer/seelischer Sicht

4. Wie stirbt man gut? Sterbende unterstützen

4.1 Heißt gut sterben schnell sterben?

4.2 Kriterien eines „guten“ Todes

4.2.1 Geborgenheit, Orientierung und Halt

4.2.2 Nicht leiden müssen

4.2.3 Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit

4.2.4 Respekt und Würde

4.2.5 Selbstbestimmung

4.2.6 Letzte Dinge regeln

4.2.7 Trost auf spiritueller Ebene

4.2.8 In Frieden gehen dürfen

4.3 Die Radieschen-Liste

5. Praktische Unterstützung Sterbender

5.1 Erleichterung im Alltag

5.2 Kommunikation ohne Worte

5.3 Kein Appetit und Essen

5.4 Durst und Trinken

5.5 Mundpflege

5.6 Hören

5.7 Sehen

5.8 Riechen

5.9 Körperpflege und Hautpflege

5.10 Müdigkeit und Erschöpfung

5.11 Tabletten geben

5.12 Dekubitus (Wundliegen)

5.13 Kalte Hände und Füße

5.14 Behutsame Massage von Händen und Füßen

5.15 Körperwahrnehmung und Bewegung

5.16 Sterben und Demenz

6. Atemnot und Schmerzen – palliativmedizinische Unterstützung

6.1 Atemnot (Dyspnoe)

6.1.1 Atemnot medikamentös lindern

6.1.2 Atmung nichtmedikamentös unterstützen

6.1.3 Opioide gegen Atemnot

6.1.4 Schleim absaugen

6.1.5 Zu viel Flüssigkeit

6.1.6 Hilft Sauerstoff?

6.2 Schmerzen wirksam behandeln

6.2.1 Schmerzen ernst nehmen

6.2.2 Schmerzen erkennen

6.2.3 Die vier Dimensionen des Schmerzes

6.2.4 Das Schmerzmittel Morphin (Morphium)

6.2.5 Schmerzen nichtmedikamentös behandeln

6.3 Weitere Symptome

6.3.1 Verdauungsstörungen – Verstopfung (Obstipation)

6.3.2 Übelkeit, Erbrechen

6.3.3 Halluzinationen und Delir

7. Was ist „Sterbehilfe“?

8. Was hilft Angehörigen und Begleiterinnen?

8.1 Kinder trauern anders

8.2 Trauen Sie sich das zu?

8.3 Informieren Sie sich

8.4 Suchen Sie sich Unterstützer!

8.5 Sorgen Sie gut für sich

9. Danksagungen

10. Anhang

Literaturverzeichnis

Literatur zum tieferen Eintauchen

Filme und TV-Beiträge

Links und Websites

Quellenverzeichnis

Einleitung

Warum dieses Buch?

Das Sterben naher Angehöriger, der Tod von Menschen, die wir lieben, versetzt uns in einen Ausnahmezustand und bringt uns an unsere Grenzen. Dieses Buch soll Sie in dieser Situation mit den wichtigsten Fakten unterstützen. Strukturiert und Schritt für Schritt erfahren Sie, was Sie wissen müssen und was genau in welcher Situation zu tun ist.

Warum fällt es den meisten Menschen so schwer, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen oder sogar darüber zu reden? Dank der Hospizbewegung der vergangenen 25 Jahre sind Sterben und Tod in unserer Gesellschaft kein Tabu mehr. Doch haben die meisten Menschen Angst, sich mit der Vergänglichkeit ihres eigenen Lebens oder dem ihrer nächsten Angehörigen und Freunde auseinanderzusetzen. Tod und Trauer sind kein Schulfach, obwohl sie jeden von uns unser ganzes Leben lang betreffen. Einerseits ist Sterben aus sicherer Distanz in den Medien allgegenwärtig. Andererseits wird über den Tod und das Sterben nicht geredet und wenig informiert. Unwissenheit macht unsicher, Halbwissen schadet.

Was bringt mich zu diesem Thema? Tod, Sterben und Trauer sind Begleiter meines Lebens. Trauer habe ich als Kind durchlitten. Nach tränenreichen Abschieden von zahlreichen Haustieren starb, als ich 14 Jahre alt war, meine Großmutter zu Hause. 1987 erkrankte eine Freundin an Lungenkrebs. Ich war damals Mitte 20 und völlig überfordert. Trotzdem unterstützte ich sie nach Kräften, bis sie ein Jahr später starb. Das war mein erster Kontakt mit der Begleitung einer Sterbenskranken. Vor einigen Jahren wurde mein Vater, damals 86-jährig und immer kerngesund, ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einer Notoperation versuchte die Medizin ihn wieder „fit“ zu kriegen. Ich stand ihm in der Zeit rund um die Uhr zu Seite, bangte und hoffte mit ihm. Nach sechs Wochen starb er.

Ich bin medizinische Laiin. Ich habe mit dem „System Medizin“ und Krankenhäusern nichts zu tun und keinerlei Erfahrung. Wenn ich damals schon all das, was ich heute weiß, gewusst und anwenden hätte können, dann hätte ich vieles anders eingeordnet und meinem Vater (und mir) viel Leid erspart. Ich hätte erkannt, dass er nicht „krank“ war und es nicht darum ging, ihn wieder „gesund zu machen“. Weder die Ärzte noch das Pflegepersonal sprachen jemals davon, dass er „altersschwach“ sei, „im Sterben liegt“ oder dass alle Anzeichen auf die „Finalphase“, den bevorstehenden Tod hindeuten. Heute erst verstehe ich, warum diejenigen, die sich doch mit dem Sterben hätten auskennen sollen, die Krankenhausärzte, uns damals keine Hilfe waren, eher im Gegenteil.

Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätten wir eine Patientenverfügung vorgelegt, in der alles im Detail geregelt gewesen wäre. Dann hätte ich dafür gesorgt, dass er zu Hause oder im Hospiz sterben kann; hätte mich gegen die „Bemühungen“ der Ärzte gewehrt und unsinnige Quälereien wie Schleimabsaugen, Infusionen, Trinkprotokolle und die künstliche Ernährung über einen Venenkatheter am letzten Tag vor seinem Tod verweigert. Dann hätte ich mich viel stärker gegen die Ärzte durchgesetzt und dafür gesorgt, dass er Medikamente gegen die panische Angst vor dem Ersticken bekommt. Hätte, hätte ...

Instinktiv wusste ich damals, dass wir Abschied nehmen müssen. Meinem Vater zur Seite zu stehen war emotional sehr intensiv, wir haben gemeinsam viel geweint, noch viel mehr aber gemeinsam gelacht, auch über so manch abgründiges Erlebnis in der Krankenhauspflege.

Jahre nach seinem Tod erinnerte ich mich an die Intensität dieser Begleitung und machte eine Ausbildung zur ambulanten Sterbebegleiterin. Die intensive Begleitung von Menschen an ihrem Lebensende bis zu ihrem Tod hat mein Leben bereichert. Dabei geht es nicht immer um tiefgründige Gespräche über den Sinn des Lebens oder die Angst vor dem Tod. Meist kommt es einfach nur darauf an, „da“ zu sein, den anderen anzunehmen wie er ist und ihm zur Seite zu stehen. Und zu lernen, die eigene Hilflosigkeit auszuhalten.

Um Angehörige zu unterstützen, bin ich jetzt auch ausgebildete Trauerbegleiterin und ehrenamtlich für junge und alte Menschen in ihrer Trauer da. Und dabei bin ich einfach nur eine von 100.000 ambulanten Sterbebegleiterinnen in Deutschland. Tod und Sterben sind für mich persönlich genauso schwer zu (er)tragen wie für die meisten für uns. Doch ich kann nun mit Leichtigkeit darüber reden und anderen von meinen Erfahrungen erzählen.

In vielen Gesprächen mit Freunden und Bekannten, die jetzt in ähnlichen Situationen sind wie ich damals, stelle ich fest, dass sie alle die gleichen Fragen haben. Es gibt Fachliteratur und Erfahrungsberichte, aber wenig kompakte Zusammenfassungen für Nicht-Profis, in denen die wichtigsten Fakten und Antworten zu Sterben, Tod und Trauer verständlich und pragmatisch zusammengestellt sind: quasi in Form einer Gebrauchsanleitung. Meine kompakte, dreiteilige Buchreihe richtet sich an alle, die als Angehörige oder Freundin einen Menschen begleiten, der aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder altersbedingt im Sterben liegt.

Im vorliegenden Teil 1 geht es um das Sterben an sich. Das Buch räumt mit den kursierenden Halbwahrheiten und Vorurteilen auf und stellt die wichtigsten Fakten vor: Wer kennt sich aus mit dem Sterben, wo kann man sterben, wie verläuft der Sterbeprozess und woran erkenne ich, dass jemand stirbt? Wie kann ich Sterbende psychisch und ganz praktisch unterstützen? Wer lindert die Atemnot? Macht Morphium gegen Schmerzen abhängig und warum müssen Sterbende nur noch wenig essen und trinken? Wie rede ich mit Kindern über das Thema, wie gestalten wir gemeinsam den Abschied mit der Sterbenden? Und wer hilft eigentlich mir als Angehöriger? Ziel dieses ersten Teils ist es, Wissenslücken zu füllen und Orientierung zu geben, um damit die eigene Hilflosigkeit zu überwinden und ins Tun zu kommen. Im Anhang gibt es eine umfangreiche Link- und Literaturliste, für alle, die sich noch tiefergehend mit einzelnen Themenbereichen beschäftigen möchten.

Teil 2 ist die Gebrauchsanleitung zu den Themen Tod und Trauer. Nach dem Tod haben wir als Angehörige oder Freundin der Familie zahlreiche Dinge zu erledigen. Auch hier gibt es viele Falschinformationen, die längst überholt sind und mit denen aufgeräumt wird: Was ist sofort nach Eintritt des Todes wirklich zu tun? Was muss ich am ersten und am zweiten Tag unbedingt organisieren und was hat Zeit? Wer ist gesetzlich für die Bestattung zuständig und woran muss ich bei der Vorbereitung der Trauerfeier denken? Und wer „eröffnet“ ein Testament und wie funktioniert das? Die nach Wichtigkeit und Dringlichkeit der Aufgaben priorisierten Checklisten helfen Ihnen dabei, den Überblick zu behalten, was nach dem Tod eines Menschen wann zu erledigen ist. Alle Listen finden Sie auch online als pdf-Datei zum Herunterladen und Ausdrucken.

Wenn die wichtigsten Aufgaben erledigt sind, wird der Alltag irgendwann wieder ruhiger – und die Trauer um die Verstorbene kommt an die Oberfläche. Aber wie trauern Sie „richtig“ und wann hört die Trauer wieder auf? Ergänzend finden Sie hier Tipps zum Umgang mit Ihrer eigenen Trauer sowie Anlaufstellen, bei denen Sie sich Unterstützung holen können.

Teil 3 ist eine Art Aufräum-Buch. Wenn wir Sterbende begleiten, lernen wir viel darüber, was vor und nach dem Sterben zu bedenken und zu organisieren ist. Um es unseren Liebsten leichter zu machen, wenn wir selbst sterben, können wir vorher viel tun. Im dritten Teil finden Sie umfangreiche Fragebögen und Dokumente, die Ihnen die Vorsorge und die Vorsortierung Ihres eigenen Nachlasses erheblich erleichtern. Auch dieses Buch ist von einer Praktikerin geschrieben. Als nützliches Nachschlagewerk soll es dazu ermutigen, all die unangenehmen „Vorsorge“-Aufgaben mit Schwung und Leichtigkeit anzugehen. Dass sie unangenehm sein können, steckt schon im Begriff der Vor-Sorge – als solle man sich bereits vor der Zeit sorgen. Tatsächlich erzeugt es bei vielen Menschen ein gutes Gefühl, die eigenen Angelegenheiten in Ruhe geregelt zu haben.

Ich lade Sie ein, dieses Buch als Arbeitsbuch zu nutzen. Überblättern Sie, was Sie nicht brauchen und markieren Sie zutreffende Stellen. So sehen Sie auf den ersten Blick, was für Sie wichtig ist.

Ein Hinweis zur geschlechtergerechten Sprache: Die Verwendung beider Formen, der Arzt und die Ärztin, bremst den Lesefluss. Daher verwende ich die Geschlechtsform abwechselnd und bunt gemischt. Wenn ich von Frauen spreche, gilt das ebenso für die Männer, die Ärzte fühlen sich bitte auch angesprochen, wenn ich von Ärztinnen schreibe, und andersherum. Egal, welche Geschlechterform wir wählen und welche Sprache wir sprechen: Wir sind alle Menschen.

Leben heißt Lernen, ein Buch schreiben bedeutet permanente Verbesserung und Veränderung. Bitte schreiben Sie mir, was Ihnen an diesem Buch gefallen hat und was Sie in der nächsten Auflage gern verbessert hätten. Berichten Sie mir, was Sie gelernt haben oder was Sie berührt hat.

Schreiben Sie mir eine E-Mail an: [email protected]

„[…] die Menschen, die wir am Lebensende betreuen dürfen, lehren uns, dass die Vorbereitung auf das Sterben die beste Vorbereitung für das Leben ist.”

(Borasio 2012, 10)

1. Warum tun wir uns so schwer mit dem Thema Sterben?

Es gibt nur zwei Dinge im Leben, die absolut sicher sind: Wir werden alle sterben. Und: Wir wissen nicht, wann. Wir alle wissen das. Doch wenn Sterben das Einzige ist, was in unserem Leben wirklich sicher ist, warum tun wir uns dann so verdammt schwer damit, uns mit diesem Thema zu beschäftigen?

■  Uns fehlt die Erfahrung

Der Tod ist kein Tabu, er scheint allgegenwärtig in Nachrichten, TV-Krimis, Büchern und den Schlagzeilen der Boulevardpresse. Er fasziniert uns – wenn er weit weg ist. In früheren Generationen war der Tod überall: Gestorben wurde auf dem Schlachtfeld, im Kindbett, durch Seuchen, sterbenselend alleine oder im Kreise der Familie. Das Sterben gehörte so selbstverständlich zum Leben wie eine Geburt oder eine Hochzeit. Und das Sterben war früher bei Weitem nicht so sanft und friedlich, wie wir es heutzutage gern verklären: Die Sterbenden wimmerten und brüllten vor Schmerz.

Seit Anbeginn der Menschheit sind auf diesem Planeten mehr als 200 Milliarden Menschen gestorben.1 Alleine in Deutschland sterben pro Jahr fast eine Million Menschen.2 Doch nur wenige von uns haben bereits Erfahrungen mit Sterben, Tod und Trauer gemacht. In diesem Teil Europas haben wir das große Glück, seit 70 Jahren in Frieden leben zu dürfen, Kriegstote kennen wir nur aus Erzählungen oder der allabendlichen Kriegsberichterstattung. Die meisten von uns haben noch nie eine Tote gesehen. Immer weniger Menschen sterben im Kreise ihrer Familie. Das liegt auch daran, dass sich die Familienstrukturen verändern und die Anzahl der Singlehaushalte in Deutschland rasant steigt. Uns fehlen die Wissenden, die Vorbilder, die wir nach ihren Erfahrungen im Umgang mit Sterbenden fragen könnten.

Früher wurde das Wissen um den Umgang mit Sterbenden, meist in Form religiöser Rituale, von Generation zu Generation weitergegeben. Religiöse Sterbeliteratur im Mittelalter wie die Ars moriendi (wörtlich: die Kunst zu sterben) zeigte Sterbenden, wie sie sich auf den nahenden Tod vorbereiten konnten. Heute können wir in Millionen von Webseiten nach Antworten suchen und finden doch keine Substanz. Der Tod passt nicht in unsere Leistungsgesellschaft, in der wir uns scheinbar selbst optimieren und alles kontrollieren können. Die Strukturen der Hochleistungsmedizin binden uns an Apparate in Krankenhäusern, sie zögern den Tod hinaus und machen das Sterben zu einer Angelegenheit von Experten. So wird es in unserem Alltag unsichtbar. Und auch nach dem Tod unserer Familienangehörigen wollen wir so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren und lagern alles Unangenehme an externe Dienstleister und Bestattungsunternehmen aus. Für die Trauer, das Nichtfunktionierenkönnen ist in unserer schnellgetakteten Welt kein Platz.

■  Die Bedrohung des unwiderruflichen Verlustes macht uns Angst

Der erste echte Tote im direkten Umfeld ist für jeden Menschen ein gewaltiger Einschnitt. Sind Menschen betroffen, die uns nahestehen, erschüttert er uns bis ins Mark. Von einer Minute auf die andere scheint es, als bliebe die Welt stehen, während für die anderen der Alltag weiterläuft, als wäre nichts passiert.

In unserem Gesellschaftssystem unterliegen wir der Illusion, alles planen zu können. Unsere größte Angst ist der Kontrollverlust. Wenn wir uns nur genug anstrengen, so wird uns glauben gemacht, können wir alles erreichen. Nur: Der Tod lässt sich nicht planen – außer für diejenigen, die selbst den Moment ihres Todes noch kontrollieren möchten. Er kommt immer zum falschen Zeitpunkt. Wir glauben aber unbeirrbar weiter daran, dass am Ende „alles gut wird“. Das wird es oft, zum Glück. Aber eben nicht immer. Verlust und Abschied gehören zum Leben dazu. Und die Erfahrung dieses Verlustes ist so existenziell, dass wir den Schmerz und die Heftigkeit der Trauer erst verstehen, wenn wir sie selbst durchlitten haben.

Die meisten Menschen haben Angst vor dem Sterben – aber nur wenige haben Angst vor dem Tod. Die Mehrheit hat also Angst davor, was auf sie zukommen könnte, vor dem Leid und dem Schmerz. Sie sind unsicher, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn wir uns mit dem Sterben beschäftigen, verlieren wir einen Großteil unserer Angst.

Die Furcht vor dem Tod macht ihn erst so furchtbar. Es ist paradox: Nichts und niemand, auch nicht die ausgefeilteste Medizintechnik, kann uns am Ende das Leben retten, aber trotzdem tun wir so, als würde das unausweichliche Ende immer nur die anderen betreffen. Es ist unangenehm, auf die eigene Endlichkeit hingewiesen zu werden. Wir alle möchten den Gedanken an den Tod verdrängen – so lange, bis wir uns mit ihm beschäftigen müssen! Denn der Tod betrifft, ob wir das wollen oder nicht, jede und jeden von uns. Er ist Bestandteil des Lebens: Wir alle sterben, vom Tag unserer Geburt an, und wir alle wissen nicht, wann wir sterben. Aber inzwischen gibt es Möglichkeiten zu entscheiden, wie und wo wir sterben wollen, und damit ist nicht die Sterbehilfe gemeint.

Aus Angst, die Worte Sterben oder Tod auszusprechen, finden wir klangvolle Begriffe und konstruieren phantasievolle Bilder wie „sie ist von uns gegangen“ oder „sie hat die letzte Reise angetreten“. Das Fatale daran: Speziell Kinder nehmen diese Bilder wortwörtlich, sie können nicht abstrahieren, und das macht ihnen die Beschäftigung damit, was tatsächlich geschieht, umso schwerer. Dabei macht das Ver-Schweigen, das Drumherumreden und die Geheimniskrämerei alles noch viel schlimmer. Wie hilfreich wäre eine wahre und klare Sprache, wenn es um das Lebensende geht? Und doch fällt es uns so unsagbar schwer, mit unseren nahen Angehörigen, Eltern, Freundinnen über das Sterben zu reden.

Wir wollen uns nicht mit unserer Endlichkeit beschäftigen und verschließen die Augen davor, wie ein Kind, das sich die Hand vor die Augen hält, um nicht gesehen zu werden. Doch das Wegschauen bewirkt nur eines: Die Angst vor dem Unbekannten wird noch größer. Manche Menschen fürchten sogar, sie würden schon alleine, indem sie nur darüber reden, den Tod in ihr Leben holen. Da wird leise über die Nachbarin geflüstert, die Krebs im Endstadium hat. Vielleicht stammt dieser tief sitzende Aberglaube aus dem Mittelalter, als der Tod in Form von Pest und anderen ansteckenden Krankheiten ganze Familien und Dörfer ausgelöscht hat. Schluss mit dem Mumpitz, wir leben nicht mehr im Mittelalter. Oder haben Sie schon einmal selbst erlebt, dass eine Frau schwanger wurde, nur weil sie darüber geredet hat?

■  Annähern statt verdrängen

Kennen Sie Herrn Tur Tur, den Scheinriesen aus Michael Endes Buch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer? Je weiter weg Herr Tur Tur ist, desto riesiger wird er. Sobald wir uns ihm nähern, je genauer wir hinschauen, desto deutlicher sehen wir aber, dass er gar nicht so riesig ist, wie wir dachten.3 Andererseits ist Verdrängen ein wichtiger Abwehrmechanismus. Er hilft, in Ausnahmesituationen die Angst zu beherrschen. Zwingen Sie daher niemandem Gespräche über das Sterben auf.4 Wenn jemand den Tod nicht wahrhaben will, dann lassen Sie es. Diese Entscheidungen müssen wir respektieren. Die Erfahrung zeigt aber: Wenn wir uns dem Tod langsam nähern, Schritt für Schritt seine Existenz akzeptieren, dann können wir das, was auf uns zukommt, nach und nach verarbeiten.

■  Fehlendes Wissen macht unsicher

Es ist kaum zu glauben: Die Geburt als Beginn des Lebens ist umfassend erforscht und dokumentiert, es gibt eine riesige Auswahl an Ratgebern, Geburtsvorbereitungskurse und eine perfektionierte Geburtsinfrastruktur – doch was genau bei Sterben und Tod passiert, ist noch immer ein wenig bekanntes Gebiet. Die Sterbeforschung hat in den letzten 60 Jahren viel geleistet. Bei weit über 90 Prozent aller sterbenskranken Menschen kann die moderne Palliativversorgung die Symptome inzwischen so weit abschwächen, dass sie zumindest erträglich werden. Doch dieses Wissen um ein schmerzarmes und menschenwürdiges Sterben ist den meisten Menschen nicht geläufig. Dennoch werden hochemotionale Debatten über die Reformierung der Sterbehilfe geführt. Aufklärungskampagnen wie die ARD-Themenwoche Leben mit dem Tod von 2012 sind gut und hilfreich und ein kleiner Fortschritt. Im weltweiten Netz sind verlässliche Fakten schwer zu finden, stattdessen werden völlig veraltete Informationen und Halbwahrheiten immer wieder kopiert und weiterverbreitet. Gegen die Angst hilft Wissen – Wissen, auf das man sich verlassen kann. Gegen die Unsicherheit hilft Information durch Gespräche zwischen der Ärztin, dem Sterbenden und Ihnen als Angehörige. Gegen die Ohnmacht hilft Orientierung, welche Etappen zu erwarten sind, was auf Sie zukommt und auch, wie Sie den geliebten Menschen in dieser schweren Situation bestmöglich unterstützen können.

■  Wissen im Schnelldurchlauf

Wie können Sie sich dieses Wissen aneignen? Die USA, mit Großbritannien Vorreiter in der Hospizbewegung, sind deutlich weiter, wenn es darum geht, das Sterben beziehungsweise den Umgang damit zu lernen. Die Kean University in New Jersey bietet ihren Studierenden das Seminar Death in Perspective über Tod und Sterben an. „Der Lehrplan reicht von den biologischen Grundlagen des Sterbens über Exkursionen in eine Leichenhalle und ein Krematorium, bis hin zur Frage, wie man ein Begräbnis organisiert“.5

Von verschiedensten konfessionellen und nichtkonfessionellen Trägern können Sie sich zur ambulanten Sterbebegleiterin ausbilden lassen. Diese Hospizbegleiter-Weiterbildung ist seit vielen Jahren erprobt und richtet sich nach dem Curriculum der Deutschen Gesellschaft für Hospiz- und Palliativmedizin. Sie umfasst meist 120 bis 160 Ausbildungsstunden, die sich über sechs Monate erstrecken. Die Bewerberinnen werden auf ihre Eignung geprüft, sie müssen psychisch in der Lage sein, diese nicht immer einfache Aufgabe zu bewältigen (siehe auch 2.6. Ambulante Sterbebegleitung).

In Deutschland können Sie in sogenannten Angehörigenschulen Kurse zu Pflege und Begleitung Pflegebedürftiger besuchen. Die Kurse werden über die Pflegeversicherung finanziert. Sie vermitteln Basiswissen zur Krankenpflege, pflegerische Maßnahmen, die Sie für die Pflege zu Hause selbst durchführen können. Ergänzend hierzu können Sie sich durch einen ambulanten Pflegedienst beraten lassen oder einen Pflegekurs der Wohlfahrtsverbände in Ihrer Region besuchen. Sie müssen übrigens nicht Angehörige im eigentlichen Sinne sein, auch als Nachbarin oder Freundin können Sie einen solchen Kurs besuchen.

In 170 Stunden über zwei Jahre kann man Sterbeamme werden. Bei dieser privaten, staatlich noch nicht anerkannten Ausbildung der Heilpraktikerin Claudia Cardinal lernt man unter anderem die naturheilkundliche Schmerzlinderung.6

Nur 10 Prozent der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Sterbebegleiter sind männlich, die Ausbildung zum Sterbe- und Trauerbegleiter sei meist weiblich geprägt und spricht die Männer nicht an, sagt Dr. Martin Kreuels. Daher bietet er eine Ausbildung speziell für Männer an.7

Seit ein paar Jahren gibt es den Letzte-Hilfe-Kurs nach dem Vorbild der Erste-Hilfe-Kurse. Entwickelt wurde das Seminar von dem Palliativmediziner und Notarzt Dr. Georg Bollig. In vier Unterrichtseinheiten wird dort das Basiswissen zur Palliativversorgung vermittelt, wie man als Angehörige mit der Situation umgeht und was Sterbenden hilft.8

Seit Herbst 2018 biete ich, zunächst in Berlin, einen zweitägigen interaktiven Workshop an. Angehörige von Sterbenden lernen hier pragmatisch, kompakt und interaktiv das Wichtigste, was sie wissen müssen, um ihre Liebsten zu begleiten. Neben inhaltlichem Input gibt es viel Raum für praktische Übungen, zum Erfahrungslernen und zum Austausch.

Neben diesen kompakten Angeboten zur Weiterbildung und Selbsthilfe finden Sie im Folgenden einen Überblick über die Experten, die sich von Berufs wegen mit dem Sterben beschäftigen.

1.1 Wer kennt sich aus mit dem Sterben?

2017 starben in Deutschland 933.000 Menschen.9 Die häufigsten Todesursachen waren Krebs und Herz-Kreislauf-Versagen. Fast eine Million Menschen sterben also pro Jahr in Deutschland – wer sind die Expertinnen, die mit diesen sterbenden Menschen zu tun haben?

1.1.1 Medizinische Experten: Ärzte, Pflegende, Apothekerinnen

Die Behandlung und Pflege Sterbender ist historisch schon immer ein wichtiger Teil des Arztberufes und der Kranken- und Altenpflege gewesen. Viele Ärztinnen kümmern sich voller Engagement um Sterbende, Pflegende tun alles, um Todkranke liebevoll zu begleiten. Beispielsweise internistische und onkologische Fachärzte – also solche, die auf Krebserkrankungen spezialisiert sind – greifen auf ein breites Netzwerk von unterstützenden Einrichtungen zu, wenn sie ihren Patientinnen nicht mehr heilend helfen können.

Viele der neuen Erkenntnisse aus der Palliativforschung und Hospizbewegung sind in den letzten zehn Jahren in Praxen und Krankenhäusern angekommen. Doch leider gibt es bei einigen Ärzten und Pflegenden noch immer Wissenslücken. Warum ist das so?

■  Sterben ist heutzutage nicht vorgesehen

Ärzte sind dazu ausgebildet, Patienten wieder gesund zu machen oder, bei chronischen Erkrankungen, ihre Lebenszeit zu verlängern. In früheren Generationen waren die medizinischen Möglichkeiten nicht gegeben, einen Menschen mit Herzinfarkt zu retten oder das Wachstum eines Tumors durch eine Chemotherapie zu stoppen oder zu verlangsamen. Die Menschen starben einen „natürlichen Tod“, ohne dass vorher ein Infarkt oder eine Krebserkrankung überhaupt diagnostiziert wurden. Der Sterbeprozess dauerte oft nur wenige Tage oder Wochen, da blieb mitunter bis zum Eintritt des Todes gar keine Zeit mehr, um schmerzhafte Symptome zu entwickeln. Betagte Menschen starben früher an Altersschwäche, heute ist ein natürlicher Tod in der Medizin gar nicht mehr vorgesehen: Im System der internationalen Klassifizierung der Diagnosen (ICD-10) wird jede Krankheit durch einen Code definiert. Ein natürlicher Tod aus Altersschwäche, ohne vorherige Erkrankung, existiert in diesem System nicht.10

■  Kein Klartext in der Kommunikation

Ärzte sind Fachleute für Medizin, verständliche Kommunikation ist nicht ihr Fachgebiet. Für viele Mediziner ist das Sprechen über den Tod ebenso unangenehm wie für uns alle. Manche Ärzte verstecken ihre Unsicherheit in belastenden Patientengesprächen hinter medizinischen Fachbegriffen und Kauderwelsch – in der Hoffnung, dass die Patientin nichts versteht und sich nicht traut nachzufragen. Statt klar zu sagen: „Die Patientin hat Krebs und der kann nicht geheilt werden. Es tut mir leid, wir können nichts mehr tun, genießen Sie die Zeit, die Ihnen mit der Patientin bleibt“, schreiben sie auf den Überweisungszettel: „Im aktuellen Allgemeinzustand kann die Behandlung momentan nicht fortgesetzt werden. Wir bitten um Wiedervorstellung bei Verbesserung.“11 Doch diese Art der Kommunikation ist für medizinische Laien nicht geeignet und lässt Patientinnen wie Angehörige im Unklaren. Im schlimmsten Falle verlieren sie viel Zeit – Zeit, die am Ende des Lebens ein immer knapperes Gut wird. Eine Checkliste mit den wichtigsten Punkten, die Sie beim Arztgespräch unbedingt beachten sollten, finden Sie bei Borasio 2012, 122f.

■  Das Wissen hat sich verändert