Sternenkinder - Stephen Baxter - E-Book

Sternenkinder E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Seit Jahrtausenden hat sich parallel zu unserer Zivilisation eine andere Form der menschlichen Evolution entwickelt, unerkannt bisher. Doch als es in der Galaxis zu einem Konflikt mit einer außerirdischen Spezies kommt, wird das Geheimnis gelüftet: Die Sternenkinder sind längst unter uns!

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Seitenzahl: 870

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Das Buch

Fünfundzwanzigtausend Jahre sind vergangen, in denen die Menschheit sich im gesamten Universum ausgebreitet hat. Dank gewaltiger technischer Fortschritte und strenger genetischer Selektion nehmen die Menschen eine herausragende Stellung in der Galaxis ein. Doch es herrscht Krieg – ein Jahrtausende währender Machtkampf um die Vorherrschaft im Kosmos, der ohne jede Aussicht auf einen Sieg immer weiter geführt wird. Fernab von Familienverbänden wachsen unzählige Kinder zu Soldaten heran, die an der Front gnadenlos verschlissen werden. Als der junge Pilot Pirius mit seinem Kampfschiff weit in feindliches Gebiet vordringt, gelingt es ihm in einem waghalsigen Manöver, erstmals einen feindlichen Xeelee-Nachtjäger zu kapern. Doch statt nach seiner Rückkehr zur Basis als Held gefeiert zu werden, wird er strafversetzt; der Regierung missfällt seine zur Schau gestellte Eigeninitiative. In einer anderen Zeitlinie begegnet er seinem früheren Selbst, einem ehrgeizigen Jungen, der an der Seite des exzentrischen Wissenschaftlers Nilis zur Erde reist. Nilis vertritt die Theorie, dass Pirius’ individuelle Prägung den Schlüssel zum Sieg über den Feind in sich bergen könne – nach einem zwanzigtausend Jahre langen Krieg eine gewagte Hypothese, die bei so manchem Politiker nicht unbedingt auf Gegenliebe stößt. Tatsächlich ersinnt Pirius mit seinen Gefährten bald einen verwegenen Plan, der ihn direkt ins Zentrum der Galaxis führen soll – die Festung der Xeelee …

Mit »Sternenkinder« setzt Stephen Baxter seine atemberaubende Zukunftssaga fort, die mit »Der Orden« begann.

Der Autor

Der Engländer Stephen Baxter, geboren 1957, zählt zu den weltweit bedeutendsten Autoren naturwissenschaftlich-technisch orientierter Science Fiction. Aufgewachsen in Liverpool, studierte er Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Baxter lebt und arbeitet in Buckinghamshire.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungERSTER TEIL
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18
ZWEITER TEIL
Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34
DRITTER TEIL
Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59
Copyright

Für Gregory Benford

ERSTER TEIL

In dem Bemühen, unseren Platz im Universum zu verstehen, haben wir Menschen früher Götter erfunden und angebetet.

Doch nun haben wir das Universum in seiner ganzen räumlichen und zeitlichen Ausdehnung gesehen. Und wir wissen, dass es keine Götter gibt.

Wir sind die Schöpfer der Zukunft. Und die einzigen anbetungswürdigen Wesen sind unsere Nachfahren, die dank unseres selbstlosen Strebens die verwaisten Throne der Götter einnehmen werden.

Zunächst einmal müssen wir jedoch eine Galaxie erobern.

Die Lehren von Hama Druz (5408 d.Z.; Jahr Null der Dritten Expansion der Menschheit)

1

Weit vorn, ins Licht des galaktischen Zentrums getaucht, stiegen die Nachtjäger empor.

Von seiner Position aus sah Pirius, wie sich die schwarzen Gebilde von den Wänden ihrer Zuckerwürfelträger lösten. Sie breiteten anmutige Schwingen aus, so schwarz, dass sie wie aus dem glühenden Hintergrund des Kerns ausgeschnitten wirkten. Einige von ihnen hatten eine Spannweite von mehreren Kilometern. Es waren Xeelee-Nachtjäger, aber bei Strike Arm hießen sie immer nur »Fliegen«.

Sie hielten auf die vordersten Schiffe der Menschen zu, und Pirius sah kirschrotes Licht aufflammen.

Sein fragiles Grünschiff schwebte über dem zerklüfteten Boden eines Steinbrockens. Dieser Steinbrocken war ein schwarzgrauer Asteroid mit einem Durchmesser von einem Dutzend Kilometern. Seine gesamte Oberfläche war von miteinander verbundenen und sich kreuzenden Schützengräben durchzogen, sodass er wie ein freigelegtes Gehirn aussah. Lichtfunken krochen durch dieses Liniengeflecht: Infanteriesoldaten, die unablässig gruben und gruben und sich auf ihre eigenen Zusammenstöße mit dem Schicksal vorbereiteten. Es würde noch eine gute Stunde dauern, bis dieser Steinbrocken und Pirius’ Grünschiff das Schlachtfeld erreichten, doch auch jetzt schon kämpften und starben Männer und Frauen.

Er konnte nichts anderes tun als zuschauen und vor sich hingrübeln. Man spürte nicht einmal eine Bewegung. Der pulsierende Unterlichtantrieb der Assimilator’s Claw vermittelte ihm den Eindruck, als hinge er regungslos im überfüllten Herzen der Galaxis. Pirius fragte sich besorgt, welche Wirkung die Warterei wohl auf seine Besatzung hatte.

Pirius war neunzehn Jahre alt.

Er befand sich tief in der Masse, wie die Piloten es nannten  – offiziell die zentrale Sternenmasse, ein Dschungel aus Millionen von Sternen, die in eine Kugel von nur dreißig Lichtjahren Durchmesser gestopft waren, ein Kern innerhalb des Kerns. Vor ihm hing ein Sternenschleier vor einem Hintergrund aus turbulentem leuchtendem Gas; er sah Lichtjahre lange Fäden und Streifen, die vom Magnetfeld der Galaxis auseinander gezogen wurden. Dieses stellare Chaos blubberte und brodelte in höheren Raumzeitdimensionen als jenen der Menschen, so als wäre er im Zentrum einer eingefrorenen Explosion gefangen. Der Himmel war hell, voller Sterne und Wolken, nirgends war auch nur ein Fitzelchen Dunkelheit auszumachen.

Und hinter den Sternen sah er den Hohlraum, eine durch gewaltige astrophysikalische Kräfte von sämtlichen Gasen befreite zentrale Blase, und darin wiederum die Babyspirale, einen Wirbel aus Sternen und molekularen Wolken, wie eine Spielzeugversion der Galaxis selbst, fraktal in die größere Scheibe eingebettet. Das war das galaktische Zentrum, eine in Schichten aufgebaute astrophysikalische Maschinerie, deren Motor Chandra war, das brütende schwarze Loch im innersten Herzen der Galaxis.

Diese ungeheure Sternenfülle hätte einen Erdenbürger überwältigt – aber die Erde mit ihrer geduldigen, langlebigen Sonne draußen in der ordentlichen Sternenfabrik der Spiralarme war achtundzwanzigtausend Lichtjahre von hier entfernt. Pirius allerdings war mit solchen Anblicken aufgewachsen. Er war das Produkt von hundert Generationen, die den Gebärtanks der Bogen-Basis – offizielle Bezeichnung: Basis 2594 – ein paar Lichtjahre außerhalb der Masse entstammten. Dennoch war er ein Mensch mit menschlichen Instinkten. Und als er zu der dreidimensionalen Komplexität hinausschaute, die sich um ihn herum erstreckte, krallte er die Hände in das abgewetzte Material seines Sitzes, als verlöre er sonst womöglich das Gleichgewicht.

Wohin Pirius’ Blick in diesem astrophysikalischen Diorama auch fiel, überall sah er Zeichen des Krieges.

Sein Schiff war einer von hundert grünen Funken, zehn kompletten Staffeln, die allein als Eskorte dieses einen Steinbrockens abgestellt waren. Als Pirius aufblickte, sah er weitere Steinbrocken, einen ganzen Strom, ausgesandt von den um die Masse herum errichteten riesigen menschlichen Stützpunkten.

Jeder wurde von einem eigenen Schwarm von Grünschiffen begleitet. Stromaufwärts und stromabwärts wurde die Kette der Steinbrocken immer kleiner, bis sich kilometerdicke kleine Welten wie Kiesel im grellen Lichtschein verloren. Hunderte von Steinbrocken, tausende vielleicht, waren für diesen einen Angriff aufgeboten worden. Es war ein gigantischer Anblick, eine eindrucksvolle Zurschaustellung menschlicher Macht.

All dies wurde jedoch von dem Feind in den Schatten gestellt. Der Asteroidenstrom war auf eine Flotte von Zuckerwürfeln gerichtet, wie man die Xeelee-Raumfahrzeuge nannte, riesige kubische Schiffe, die selbst hundert Kilometer Durchmesser hatten – manche waren sogar noch größer, und einige glichen Schachteln, in die man eine ganze Welt packen konnte.

Die Taktik war primitiv. Die Steinbrocken wurden kurzerhand auf die Zuckerwürfel abgeschossen, und ihre Verteidiger bemühten sich, sie so lange zu schützen, bis sie nah an die Würfel herankamen und ihre mächtigen Monopolkanonen zum Einsatz bringen konnten. Wenn alles gut ging, würden die Xeelee Schaden nehmen, und die Steinbrocken würden um eine geeignete Sternenmasse herumgeschleudert und wieder zur Peripherie hinauskatapultiert werden, wo man sie sodann neu ausrüstete, bemannte und für einen weiteren Angriff präparierte. Wenn es nicht gut ging – nun, in diesem Fall hatten sie wenigstens ihre Pflicht getan.

Während die Claw sich stetig der Zone des aufblitzenden Kampfgeschehens näherte, tauchte ein Schiff aus der Formation ab, stieß im Sturzflug auf den Steinbrocken hinunter und drehte eine Reihe von Rollen, während es über ihn hinwegschoss. Das musste Dans sein, eines von Pirius’ Kadergeschwistern. Pirius war bereits zweimal mit ihr geflogen, und jedes Mal hatte sie eine solche Show abgezogen und den sich abrackernden Bodentruppen die mühelose Überlegenheit von Strike Arm und insbesondere der Bogen-Staffeln demonstriert  – und dabei jedermanns Kampfgeist gehoben.

Aber es war eine winzige menschliche Geste, die in dem monumentalen Panorama unterging.

Pirius sah die Mitglieder seiner Crew in ihren eigenen Blasen: seine Navigatorin Cohl, eine schlanke Frau von achtzehn Jahren, und seinen Ingenieur, Bleibende Hoffnung, einen ruhigen, stämmigen jungen Mann, der zwar erst siebzehn Lenze zählte, aber älter aussah. Im Vergleich zu den Anfängern Cohl und Hoffnung war der neunzehnjährige Pirius bereits ein Veteran. Bei den Grünschiffbesatzungen betrug die durchschnittliche Überlebensrate eins Komma sieben Missionen. Dies war Pirius’ fünfte Mission. Er schuf sich allmählich einen Namen als vom Glück begünstigter Pilot, zu dessen Crew man gehören wollte.

»Hey«, rief er jetzt. »Ich weiß, wie ihr euch fühlt. Man sagt immer, das sei der schlimmste Teil der Schlacht, die neunundneunzig Prozent, in denen man nur wartet, die reine, ätzende Langeweile. Wenn jemand das kennt, dann ich.«

Bleibende Hoffnung schaute zu ihm herüber und winkte. »Und wenn ich kotzen will, muss ich vorher das Visier hochklappen. So macht man das doch, oder?«

Pirius rang sich ein Lachen ab. Ein Witz, immerhin. Wenn auch kein guter.

Bleibende Hoffnung: Wider alle Vorschriften ließ sich der Ingenieur nicht mit seinem richtigen Namen anreden, den er zugeteilt bekommen hatte – einer willkürlichen Abfolge von Buchstaben und Silben –, sondern mit einem ideologischen Slogan. Er war ein »Freund«, wie er sich nannte, Mitglied einer ganz und gar illegalen Sekte, die in den dunkleren Winkeln der Bogen-Basis und, wie es hieß, unmittelbar an der Front gedieh, jener ausgedehnten Konfliktsphäre um das Herz der Galaxis herum. Illegal hin oder her, in diesem Moment, in dem die Fliegen aufstiegen und die Menschen vor ihren Augen zu sterben begannen, schien sein Glaube ihm Trost zu spenden.

Navigatorin Cohl, die nach vorn in die Kampfzone schaute, war jedoch völlig in sich versunken.

Die Claw war ein Grünschiff, eine schlichte Konstruktion, das Arbeitspferd von Strike Arm; Millionen ihresgleichen waren überall in der Kampfzone im Einsatz. Das zentrale Element ihres Rumpfes war eine knollige Kapsel, die den größten Teil der Schiffssysteme beherbergte: die Waffenbank, den Überlichtantrieb und die beiden Unterlichtantriebssysteme. Vom vorderen Teil der Hülle ragten drei Spiere nach vorn, die dem Schiff das Aussehen einer Klaue mit drei Krallen gaben, und an der Spitze jeder Kralle war eine Blase, eine durchsichtige Kugel, die eines der drei Besatzungsmitglieder der Claw beherbergte. Für Grünschiffcrews zählten lediglich die anderen Besatzungsmitglieder; sie waren nur zu dritt, auf sich allein gestellt in einem gefährlichen Himmel – Drei gegen den Feind, wie das Motto von Strike Arm lautete.

Pirius wusste, dass es gute Gründe für die dreizackige Grünschiffkonstruktion gab. Es hatte mit Redundanz zu tun: Selbst wenn das Schiff zwei seiner drei Blasen verlor, konnte es seine Aufgaben noch erfüllen – zumindest theoretisch. Aber im Augenblick wäre Pirius gern imstande gewesen, diese transparenten Wände mit der Hand zu durchstoßen und seine Kameraden zu berühren.

»Navigatorin?«, sagte er. »Bist du noch bei uns?«

Er sah, wie Cohl flüchtig zu ihm herüberschaute. »Wir liegen voll auf Kurs, Pilot.«

»Ich habe nicht nach dem Kurs gefragt.«

Cohl zuckte die Achseln, als wäre sie verärgert. »Was soll ich denn sagen?«

»Du hast all das hier beim Briefing gesehen. Du wusstest, dass es so kommen würde.«

Das stimmte. Die Kommissare hatten ihnen eine Vorschau der gesamten Operation mit detaillierten virtuellen Darstellungen  – so genannten »Virts« – bis auf die festgesetzte Sekunde genau gezeigt. Das war keine Prophezeiung und auch keine bloße Vermutung, sondern Vorherwissen: eine Voraussage auf der Grundlage von Daten, die tatsächlich aus der Zukunft durchgesickert waren. Die Offiziere wollten die Angst ihrer Untergebenen dämpfen, indem sie sie schon im Vorhinein mit den Einzelheiten der Kampfhandlungen vertraut machten. Aber nicht jeder schöpfte Trost aus dem Gedanken, dass sein Schicksal vorherbestimmt war.

Cohl starrte durch ihre Blasenwand nach draußen, die Lippen zu einem kalten, humorlosen Lächeln verzogen. »Ich komme mir vor, als träumte ich«, sagte sie leise. »Wie in einem Wachtraum.«

»Sie ist nicht in Stein gemeißelt«, sagte Pirius. »Die Zukunft.«

»Aber die Kommissare …«

»Kein Kommissar hat je den Fuß in ein Grünschiff gesetzt  – dazu sind sie nicht dünn genug. Es ist erst real, wenn es passiert. Und es passiert jetzt. Es liegt in unseren Händen, Cohl. In deinen. Ich weiß, du wirst deine Pflicht tun.«

»Und ihnen Feuer unterm Arsch machen!«, rief Bleibende Hoffnung.

Endlich sah er Cohl grinsen. »Jawohl, Sir!«

Ein grüner Blitz lenkte Pirius ab. Ein Schiff schoss aus der Formation hervor. Einer der drei Spiere war ein Stumpf; die Blase fehlte. Als es vorbeisegelte, erkannte Pirius das knallige, aufgemotzte Tetraedersymbol an seiner Seite. Es war Dans’ Schiff.

»Dans?«, rief er. »Was …«

»Vorherbestimmung, dass ich nicht lache«, brüllte Dans über die Leitung von Schiff zu Schiff. »Das hat niemand kommen sehen.«

»Was denn?«

»Sieh selbst.«

Pirius’ Blick schweifte über den berstend vollen Himmel, und er ließ sich vom Virtualgenerator dreidimensionale Schlachtfelddaten in den Kopf einspeisen.

In den Sekunden, in denen er sich mit seiner Crew beschäftigt hatte, hatte sich alles verändert. Die Xeelee waren nicht auf ihre ursprünglichen Zuckerwürfel beschränkt geblieben. Ein Schwarm stieß aus dem Nichts von oben herab und hielt geradewegs auf Pirius’ Steinbrocken zu.

Pirius hatte ihn nicht gesehen. Sehr unaufmerksam, Pirius. Ein Fehler, und du bist tot.

»Das hätte nicht passieren sollen«, sagte Cohl.

»Vergiss die Projektionen«, fuhr Pirius sie an.

Es würde nur noch Sekunden dauern, bis die Fliegen den Steinbrocken angriffen. Er sah wimmelnde Aktivität in seinen Rinnen und Gräben. Die armen Seelen dort unten wussten ebenfalls, was auf sie zukam. Pirius umklammerte die Steuerelemente und versuchte, sein Herzklopfen zu ignorieren.

Vier, drei, zwei.

Die Xeelee – oder »Sili«, wie man es aussprach – waren die ältesten und mächtigsten Feinde der Menschheit.

Den Gerüchten in den Ausbildungslagern und den riesigen offenen Kasernen auf der Bogen-Basis zufolge, gab es nur drei Dringe, die man über die Xeelee wissen musste.

Erstens: Ihre Schiffe waren besser als unsere. Man brauchte nur eine Fliege in Aktion zu sehen, um das zu erkennen. Manche behaupteten, die Xeelee seien ihre Schiffe, was sie wahrscheinlich noch stärker machte.

Zweitens: Sie waren klüger als wir und hatten erheblich mehr Mittel zur Verfügung. Die Operationen der Xeelee, so glaubte man, wurden in Chandra selbst, dem supermassiven schwarzen Loch im Zentrum der Galaxis, ausgerüstet und gesteuert. Tatsächlich bezeichneten die Militärstrategen Chandra als den Hauptradianten der Xeelee. Wie konnte irgendetwas von uns damit konkurrieren?

Und drittens: Die Xeelee wussten, was wir tun würden, noch bevor wir selbst uns darüber klar geworden waren.

Der interstellare Krieg wurde auf beiden Seiten mit Überlichttechnologie ausgefochten. Doch wenn man schneller flog als das Licht, durchbrach man die Grenzen der Kausalität; ein Überlichtschiff war eine Zeitmaschine. Darum war dies ein Zeitreisekrieg, in dem Informationen über die Zukunft fortwährend in die Vergangenheit durchsickerten.

Aber die Informationen waren nie vollkommen richtig. Und hin und wieder gelang es der einen oder anderen Seite, dem Gegner eine Überraschung zu bereiten. Dieses neue Manöver der Xeelee war in den ausführlichen Projektionen der Kommissare nicht enthalten gewesen.

Pirius merkte, wie er die Lippen zu einem wilden Grinsen verzog. Das Drehbuch war weggeworfen worden. Heute war alles offen.

Doch jetzt flammte überall um den zerklüfteten Horizont des Steinbrockens herum kirschrotes Licht auf.

Über Funk prasselten die Befehle der Staffelführer auf ihn ein. »Haltet eure Positionen. Das ist eine neue Taktik, und wir sind noch dabei, sie zu analysieren.« – »Nummer acht, bleiben Sie an Ihrem Platz. Bleiben Sie an Ihrem Platz.«

Pirius umklammerte seine Steuerelemente so fest, dass ihm die Finger wehtaten.

Der grellrote Lichtschein breitete sich überall um die klobige Silhouette des Steinbrockens herum aus – eine bösartige Dämmerung. Von Pirius’ Position aus gesehen, spielte sich das Geschehen größtenteils auf der anderen Seite des Steins ab. Schon allein das sah den Xeelee ganz und gar nicht ähnlich; für gewöhnlich neigten sie dazu, in Schwärmen über jeden von ihnen angegriffenen Stein herzufallen.

Die Claw würde vor ihrem Angriff geschützt sein, jedenfalls für den Augenblick. Das bedeutete, dass Pirius sich am falschen Ort befand. Er war nicht hier, um sich zu verstecken, sondern um zu kämpfen. Aber er musste seine Stellung halten, bis er andere Befehle bekam.

Pirius erblickte eine Fliege in einigem Abstand von ihrem Zielobjekt. Sie breitete nachtdunkle Flügel aus – angeblich waren sie nicht stofflich, sondern Fehler in der Raumstruktur selbst – und sandte einen kirschroten Sternzertrümmerer-Strahl aus. Die saubere Geometrie dieser tödlichen Linien besaß eine gewisse kalte Schönheit, fand Pirius, obwohl er wusste, welch eine Hölle für jene Unglücklichen entfesselt wurde, die auf der ungeschützten Oberfläche des Steinbrockens festsaßen.

Nun stieg jedoch ein wild wogender Nebel über den Horizont des Asteroiden und trübte die gradlinige Perfektion des Sternzertrümmerer-Strahls.

»Was ist das für ein Dunstschleier?«, fragte Cohl. »Luft? Vielleicht stoßen die Sternzertrümmerer zu den verschlossenen Hohlräumen durch.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Bleibende Hoffnung ruhig. »Es ist Gestein. Ein Nebel aus geschmolzenem Gestein. Sie vergasen den Asteroiden.«

Geschmolzenes Gestein, dachte Pirius grimmig, zweifellos versetzt mit Spuren ehemals komplexer, nun aber vollständig verbrannter organischer Verbindungen.

Trotz aller Verwüstungen, die sie anrichteten, tauchten die Xeelee jedoch nicht über dem Horizont auf. Sie konzentrierten ihre gesamte Feuerkraft auf eine Seite des Steinbrockens.

Pirius wartete immer noch auf Befehle, aber die taktische Analyse dauerte zu lange. Auf einmal kamen fliehende Menschenschiffe um die Krümmung des Steinbrocken, helle, erdgrüne Funken vor dem stumpfen Grau der Asteroidenoberfläche. Die Formation war also trotz der unablässig gebrüllten Befehle der Staffelführer zusammengebrochen. Und unten auf dem Stein schwärmten die kleinen Lichtpunkte aus – jeder ein im tödlichen Feuer gefangener Mensch – und verteilten sich aus dem Grabensystem übers offene Gelände. Selbst von hier aus wirkte es wie ein panischer, ungeordneter Rückzug.

Es wurde noch schlimmer. Überall auf der sichtbaren Halbkugel des Asteroiden gab es Implosionen, als würde er von unsichtbaren Meteoriten bombardiert. Dann aber platzten die Sohlen dieser kurzlebigen Krater auf und brachen in sich zusammen, und unter einem Nebel aus grauem Staub stieg eine tiefere Glut aus dem Innern des Asteroiden empor. Die Oberfläche schien sich aufzulösen; es war, als brenne sich rosaweißes Licht durch die Steinhülle hindurch. Die Xeelee, dachte Pirius: Die Xeelee brannten sich einfach durch den Asteroiden.

Bleibende Hoffnung begriff eine halbe Sekunde vor Pirius, was dort unten geschah. »Lethe«, sagte er. »Bring uns hier weg, Pilot. Hoch, hoch!«

»Aber unsere Befehle …«, wandte Cohl kraftlos ein.

Doch Pirius zog bereits an seinen Steuerelementen. Überall um ihn herum lösten sich Schiffe aus dem Verband und zogen sich zurück.

Noch während der Asteroid unter ihnen wegfiel, sah Pirius das Ende kommen. Der Steinbrocken hielt noch einen letzten, erstaunlichen Moment lang zusammen, und dieses innere Licht hob das komplexe filigrane Muster des Grabennetzes hervor, als wäre sein Antlitz von einer Landkarte aus leuchtenden Fäden überzogen. Der unregelmäßige Horizont des Asteroiden stieg auf und wölbte sich.

Und dann flog der Steinbrocken auseinander.

Auf einmal befand sich die Claw inmitten eines Hagelschauers aus weiß glühenden Trümmern, die von unten heraufgeschossen kamen. Um diesen tödlichen invertierten Sturm zu überstehen, tanzte das Grünschiff um sämtliche Achsen. Trotz der Trägheitsschirme, die es umschlossen, spürte Pirius tief in den Knochen einen geisterhaften Rest der schnellen, ruckartigen und beunruhigenden Bewegungen seines Schiffes.

Auf dem Stein waren jetzt bestimmt schon alle tot, dachte er, während das Schiff ihn zu retten versuchte. Es war ein schrecklicher, monströser Gedanke, der ihm schwer zu schaffen machte. Und das Sterben war noch nicht vorbei.

Pirius’ Staffelführerin verlangte Disziplin; ihre Teams sollten sich neu gruppieren und dem Feind Widerstand leisten. Aber dann wurde die Verbindung unterbrochen.

»Fliegen!«, kreischte Cohl. »Da kommen sie …«

Pirius sah sie: einen Schwarm Fliegen, die aus dem Kern des geborstenen Steinbrockens emporstiegen wie Insekten aus einer Leiche und ihre nachtschwarzen Flügel entfalteten. Sie hatten sich ihren Weg durchs Innere eines Asteroiden gebrannt. Einige Grünschiffe warfen sich schon wieder ins Xeelee-Feuer. Aber die Xeelee setzten ihre Sternzerstörer-Strahlen ein; beinahe liebevoll berührten die tödlichen Zungen die flüchtenden Grünschiffe.

Pirius hatte keine brauchbaren Anweisungen erhalten. Also ergriff er die Flucht. Die Claw entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit von dem zerstörten Steinbrocken. Die Trümmerwolke lichtete sich, und die ruckartigen Bewegungen der Claw ließen nach. Doch als Pirius zurückschaute, sah er eine massive schwarze Wand, eine Phalanx von Xeelee-Nachtjägern.

Er hatte keine Ahnung, wohin er floh, wie er den Xeelee entkommen konnte. Er floh trotzdem.

Und die Xeelee setzten ihm nach.

2

Aus weiter Ferne beobachteten kalte Augen und in geordneten Bahnen denkende, geduldige Gehirne die Schlacht im Zentrum der Galaxis.

Port Sol war ein Kuiper-Objekt, ein Eismond. Er gehörte zu hunderttausend solchen Objekten, die in der Dunkelheit am Rand des Sol-Systems kreisten. Er war nicht das größte; hier draußen gab es monströse kleine Welten, die größer waren als der Pluto. Aber er war mindestens ebenso weit von anderen Planetesimalen entfernt wie die Erde vom Mars.

Dieser gewaltige Gürtel war ein Überbleibsel der Geburt des Sonnensystems. Um die schnell wachsende Sonne herum hatten sich Staub- und Eispartikel zu ganzen Scharen solcher kleinen Himmelskörper akkretiert. In der Nähe des unruhig brennenden jungen Sterns war die Planetesimaldichte so hoch gewesen, dass sie anschließend zu Planeten verschmolzen waren. Weiter draußen jedoch – hier draußen –, war zu viel Platz gewesen. Die Entstehung größerer Körper war zum Stillstand gekommen, und die uralten Planetesimale hatten überdauert und trieben nun weiter in der Dunkelheit und der Stille dahin.

Port Sols menschliche Geschichte hatte begonnen, als ein eigenartiges Sammelsurium von Ingenieuren, Prospektoren, Flüchtlingen und Dissidenten aus dem inneren Planetensystem seine weit verstreute Asteroidenfamilie bevölkert hatte. Seither waren über zwanzigtausend Jahre verstrichen. Die große Zeit von Port Sol war längst vorbei. In seinen von gewaltigen Ruinen bedeckten Eislandschaften herrschte wieder Stille.

Dennoch funkelten Lichter auf seiner Oberfläche.

Diese einsame kleine Welt war die Heimat von Luru Parz, und zwar schon länger, als sie zurückdenken wollte. Manchmal fühlte sie sich genauso alt wie Port Sol, und ihr Herz kam ihr ebenso kalt vor wie sein urgeschichtliches Eis. Doch von hier aus beobachtete sie die Aktivitäten der Menschen von den belebten Welten des Sol-Systems bis hin zum Herzen der Galaxis.

Und jetzt beobachtete sie Pirius, Dans und deren Teams, die ihren Xeelee-Verfolgern zu entkommen trachteten. Das Geschehen, das ihr von geduldigen, halbintelligenten Monitoren zur Kenntnis gebracht wurde, entfaltete sich in einem virtuellen Bild, einer gleißend grellen Lichtscheibe aus dem Zentrum der Galaxis hier am Rand des Sol-Systems.

Faya, ihre Cousine, war bei ihr. »Sie sind verloren«, seufzte Faya.

»Mag sein«, sagte Luru. »Aber wenn sie es schaffen, am Leben zu bleiben – und sogar, wenn nicht –, entdecken sie vielleicht etwas Nützliches für die Zukunft.«

»Die Möglichkeit besteht immer.«

»Schau …«

Das kleine, ferne Drama nahm seinen Lauf.

3

An Bord der Claw kehrte eine seltsame Ruhe ein. Im Funk herrschte jetzt völlige Stille, bis auf das hektische Atmen von Pirius’ Besatzungsmitgliedern. Aber hinter ihnen kam die schwarze Wolke der Xeelee-Schiffe unablässig näher.

Ein weiteres Schiff tauchte längsseits der Claw auf. Es war stark beschädigt. Eine Strebe war brutal amputiert worden, und eine zweite Blase schien voller Rauch zu sein; aber die Pilotenblase war ein heller Lichtfunke. Pirius schaute sich um, aber niemand sonst folgte ihnen: nur sie beide.

Pirius erkannte das Zeichen des anderen Schiffes. »Dans?«

»In voller Lebensgröße, Pirius.«

»Ich hab dich an deiner lausigen Fliegerei erkannt.«

»Ja, ja. Und, warum seid ihr noch nicht tot?«

»Sei still.« Das war Cohl. »Halt den Mund.«

»Immer mit der Ruhe, Navigatorin.«

»Müssen wir uns diesen Müll anhören, ausgerechnet heute?«

»Ausgerechnet heute können wir das echt gebrauchen«, meinte Bleibende Hoffnung.

Pirius sagte: »Dans, deine Crew …«

»Ich bin allein«, sagte Dans grimmig. »Aber ich fliege noch. Tja. Man lernt doch nie aus, stimmt’s? Diese Xeelee haben immer noch ein Ass im Ärmel. Falls sie Ärmel haben.«

»Ja. Im Rückblick ist es eine nahe liegende Taktik.«

Das stimmte. Die übliche Vorgehensweise der Xeelee bestand darin, einen Steinbrocken mit Feuer zu überziehen, um die Schützengräben zu säubern und an die Monopolkanonen heranzukommen, ständig bedrängt von Grünschiffen und anderen Abwehrkräften. Diesmal hatten sie ihren Angriff auf eine Seite des Asteroiden konzentriert und die dortigen Verteidigungslinien mühelos durchbrochen. Und sie hatten sich mithilfe ihrer Sternzertrümmerer mitten durch den Asteroiden gegraben, bis sie auf der anderen Seite wieder herausgekommen waren, hatten den Stein dadurch zerstört und waren ohne Vorwarnung über die verbliebenen Verteidiger hergefallen.

»Wir werden uns überlegen müssen, was wir dagegen tun können«, meinte Pirius. »Vielleicht brauchen wir Aufklärer in größerer Distanz.«

»Ja«, sagte Dans. »Und flexible Formationen, die dorthin ausschwärmen, wo der erste Angriff stattfindet.«

»Aber ohne uns«, erwiderte Cohl grimmig.

»Du bist doch noch nicht tot, Kleine«, rief Dans. Sie war zwanzig, ein Jahr älter als Pirius und mit nicht weniger als sechs Missionen bis zu diesem Tag bereits eine kampferprobte Veteranin.

»Schaut euch diesen Schwarm hinter uns an«, sagte Cohl. Die Fliegen kamen weiterhin näher. »Wir können ihnen nicht entkommen. Eigentlich sollten wir’s auch gar nicht versuchen; unsere Befehle lauten, hier zu bleiben und zu kämpfen. Wir sind schon tot. Es ist unsere Pflicht, tot zu sein. ›Ein kurzes Leben brennt hell.‹«

Das war der älteste Slogan der Expansion. Angeblich hatte Hama Druz persönlich ihn vor abertausend Jahren geprägt, als er in den Trümmern der besetzten Erde stand. In der Zeit eines nicht enden wollenden Krieges war es ehrenhaft, jung und im Kampf zu sterben, und ein Verbrechen, unnötig alt zu werden.

In einer solchen Zeit war der Kindersoldat die höchste Form des Menschen.

Aber Dans erwiderte grob: »Ich wusste, dass du das sagen würdest.«

Pirius hörte, wie Cohl nach Luft schnappte.

»Meinetwegen kannst du mich gern melden«, sagte Dans. »Hör mal, Navigatorin, ein kurzes Leben ist ja gut und schön, aber weder Hama Druz noch einer seiner zahllosen Apologeten in den vergangenen Jahrtausenden hat behauptet, dass wir unser Leben wegwerfen sollen. Wenn wir den Kampf mit diesem Fliegenschwarm aufnähmen, würden sie uns nicht mal bemerken. Was soll das für einen Sinn haben?«

»Pilotin …«

»Sie hat Recht, Cohl«, sagte Pirius.

»Ganz egal, wie nun die richtige Auslegung lautet«, mischte Bleibende Hoffnung sich ein, »darf ich darauf hinweisen, dass sie uns einholen? In drei Minuten haben sie uns …«

»Dans«, sagte Pirius angespannt, »ohne dein Ego noch mehr aufblähen zu wollen: Ich nehme an, du hast einen Plan?«

Dans holte tief Luft. »Klar. Wir gehen auf Überlicht.«

»Unmöglich«, blaffte Cohl.

Diesmal sprach die Technikerin in ihr, und Pirius wusste, dass sie wahrscheinlich Recht hatte. Die Aktivierung des Überlichtantriebs bedeutete einen Eingriff in die tiefste Struktur der Raumzeit, und es war stets ratsam, dies in einem ruhigen, flachen Raumsektor zu tun, wo es keine hohen Materiekonzentrationen gab. Das galaktische Zentrum bot wenige solche Möglichkeiten, und wenn man den Überlichtantrieb hier gefahrlos einsetzen wollte, erforderte dies sorgfältige Planung.

»Klar ist das riskant«, sagte Dans rasch. »Aber immer noch besser als der sichere Tod. Und außerdem werden die Xeelee uns höchstwahrscheinlich nicht folgen. Die sind nicht so dumm wie wir.«

»Welche Richtung?«, fragte Bleibende Hoffnung.

Von Dans heruntergeladene Virts flackerten in ihren Blasen auf. »Ich schlage vor, wir durchqueren die Masse Richtung Sag A Ost …«

Die leuchtende Materie der Galaxis beschränkte sich weitgehend auf eine flache Scheibe; die zarten Spiralarme lagen in einer Ebene, die im Verhältnis zu ihrem Umfang so dünn war wie ein Blatt Papier. Aber in ihrem Herzen befand sich ein Kern, ein Sternklumpen mit einem Durchmesser von rund fünfhundert Lichtjahren. In dieser Region wimmelte es von menschlichen Fabrikwelten und Militärposten. Der Kern enthielt wiederum die zentrale Sternenmasse, Millionen von Sternen, die in eine Kugel von rund dreißig Lichtjahren Durchmesser gepfercht waren. Die beiden hellsten Radioquellen in dieser Masse hießen Chandra – oder offiziell Sag A*, das schwarze Loch genau im Zentrum – und Sag A Ost, ein Überrest einer alten Explosion.

Solche Namen, so hatte Pirius einmal von einer ungewöhnlich mitteilsamen Kommissarin erfahren, waren selbst Überbleibsel noch weiter zurückliegender Phasen der Menschheitsgeschichte. Die Soldaten, für die das Zentrum der Galaxis eine Kriegszone war, kannten seine geografische Beschaffenheit. Aber nur wenige wussten, dass »Sag« für Sagittarius stand, und noch weniger, dass Sagittarius früher einmal ein Muster in den wenigen verstreuten Sternen bezeichnet hatte, die von der Erde aus zu sehen gewesen waren.

»Zwei Minuten bis zum Abfangzeitpunkt«, meldete Cohl nervös.

»Kurze Sprünge«, sagte Dans mit Nachdruck. »Vierzig Minuten für ein paar Dutzend Lichtjahre nach Osten. Vielleicht finden wir dort Unterschlupf. Wir formieren uns neu, reparieren unsere Schiffe, fliegen nach Hause – und sterben ein andermal. Kommt schon, was haben wir zu verlieren? Für euch wird es ein Leichtes sein! Ihr habt wenigstens noch eine Navigatorin.«

Sternzertrümmerer-Strahlen flimmerten um Pirius herum. Die Nachtjäger kamen in Schussweite; jeden Moment konnte einer dieser Strahlen seine Blase treffen. Er würde sterben, ohne es überhaupt zu merken.

»Wir tun es«, sagte er.

Dans lud eilig einen Synchronisationsbefehl herunter. »Also, wir beide. Auf mein Kommando. Zwei – eins …«

Der Raum krümmte sich.

Die Sterne in der Nähe erloschen. Der allgemeine Hintergrund blieb bestehen, doch nun wurde Pirius von einem neuen Muster heißer junger Sterne empfangen, einer neuen dreidimensionalen Konstellation.

Der Raum krümmte sich.

Er sprang erneut und sah eine weitere Konstellation vor sich.

Dann noch einmal, und unmittelbar vor ihm ragte ein blauweißer Superriese auf, über dessen ausladende Oberfläche gewaltige Eruptionen züngelten, aber er verschwand und wich einer dritten unordentlichen Sterngruppe, die ihrerseits verschwand …

Hopp, hopp, hopphopphopphopp …

Als die Sprünge schließlich zu schnell für Pirius’ Augen erfolgten, bekam der Flug eine illusionäre Kontinuität. Ferne Sterne zogen langsam an ihnen vorbei, und Pirius hatte sogar das Gefühl, dass sein Schiff sich bewegte.

Er rief sich erfolglos ins Gedächtnis, dass sich die Raumzeit bei jedem Sprung durch ihre höheren Dimensionen drehte und die Philosophen auch Jahrtausende nach dem ersten Einsatz dieser Technik nach wie vor uneins waren, ob man wirklich mit Fug und Recht behaupten konnte, dass das Wesen, das am Endpunkt jedes Sprungs herauskam, »er« sei.

Immer eins nach dem anderen, Pirius.

Er ließ den Blick rasch über seine Systeme und seine Crew schweifen. »Alles in Ordnung.« Er zeigte der Pilotin des anderen Schiffes den hochgereckten Daumen und sah durchs Sterngefunkel auf dem Blasenpanzer, wie sie ihm mit derselben Geste antwortete.

»Wir atmen noch«, sagte Bleibende Hoffnung. »Aber schaut euch mal um.«

Die Wolke von Xeelee-Schiffen war verschwunden. Doch ein einzelner, hartnäckiger Jäger war noch da. Seine schwarzen Flügel waren weit ausgebreitet, ein eleganter Bergahornsamen.

Dans sagte: »Sture Mistkerle, was?«

»Immerhin haben wir ein bisschen Zeit gewonnen«, meinte Hoffnung.

»Ja. Noch dreißig Minuten bis Ost«, sagte Pirius. Er fuhr mit den Händen durch virtuelle Konsolen und initiierte Eigendiagnose- und Reparaturroutinen im ganzen Schiff. »Jetzt habt ihr ein bisschen Zeit für euch«, verkündete er seiner Crew. »Esst und trinkt etwas. Geht pinkeln. Schlaft, wenn es sein muss. Benutzt eure Med-Umhänge, falls ihr sie braucht.«

»Essen? Schlafen?«, sagte Cohl verständnislos. »Wir werden sterben. Wir sollten uns lieber noch mal vor Augen führen, weshalb wir sterben müssen.«

»Lethe, mein Kind«, meinte Dans, »hier draußen gibt es keine Kommissarenärsche, in die du reinkriechen könntest. Findest du nicht auch, dass die Doktrinen ein schwacher Trost sind?«

»Im Gegenteil«, sagte Cohl.

Pirius warf einen raschen Blick zu Cohls Blase hinunter. Er stellte sie sich dort drin vor, in ihren Hautanzug gehüllt, von Maschinen umgeben, wie sie sich an die erbarmungslose Logik der Doktrinen klammerte.

Viele tausend Jahre waren seit dem ersten interstellaren Flug eines Menschen und dem Beginn des machtvollen Vormarschs der Menschheit durch die Galaxis vergangen, den man als Dritte Expansion bezeichnete. Die Expansion war ein ideologisches Programm, das titanische Projekt einer Menschheit, die Hama Druz nach ihrer Beinahevernichtung mit seinen Doktrinen vereinigt hatte. Im grellen Licht der menschlichen Entschlossenheit waren weniger starke Spezies verbrannt. Zuletzt war nur noch ein einziger Gegner übrig geblieben: die Xeelee, der machtvollste Feind von allen, mit ihrer Konzentration im Zentrum der Galaxis.

Schon vor mehreren Jahrtausenden hatte die Dritte Expansion das Zentrum eingeschlossen. Aber die Xeelee antworteten auf gleiche Weise und genauso entschlossen. Die Front hatte sich in eine große, zum Stehen gebrachte Welle der Zerstörung verwandelt, eine kugelförmige Reibungszone zweier Imperien. Und auf den im Umkreis von hundert Lichtjahren verstreuten Fabrikwelten färbte das Licht des endlosen Krieges den Himmel rosa.

Die Xeelee ließen sich auf keine andere Form des Umgangs mit der Menschheit ein als auf den Krieg. Es gab keine Verhandlungen, keine Annäherung, keinen Kontakt, der nicht mit dem Tod endete. Für die Xeelee waren die Menschen Ungeziefer – und sie hatten das Recht, so zu denken, weil sie den Menschen in jeder nur messbaren Weise überlegen waren. Darum würde die Menschheit als Ganzes nur überleben können, wenn jeder einzelne Mensch vorbehaltlos bereit war, sein Leben fürs Gemeinwohl zu opfern. Diese doktrinelle Philosophie wurde in Seminaren, Kadergruppen und Akademien überall in der Galaxis gelehrt: Wenn man Menschen zu Ungeziefer abstempelte, so kämpften und starben sie auch wie Ungeziefer.

Jahrtausendelang hatten die sich schnell fortpflanzenden Menschen große Mühe darauf verwendet, die Galaxis zu füllen. Ganz gleich, welchen Stern man sich nun am vollen Firmament aussuchte, man konnte sich darauf verlassen, dass es dort Menschen gab. Und jahrtausendelang hatten Menschen sich ins Feuer der Xeelee geworfen, Ungeziefer, das auf die einzige ihm mögliche Weise zurückschlug, mit seinen Körpern und Seelen, in der Hoffnung, die Xeelee durch seine schiere Menge zu besiegen.

Pirius kannte viele Kämpferinnen und Kämpfer, die so dachten wie Cohl. Diese Denkschule hatte die Menschheit über Millennien hinweg geeint und unverändert erhalten, hatte also offensichtlich ihren Zweck erfüllt. Viele Soldaten fürchteten, alles bräche zusammen, wenn die Doktrinen jemals auch nur infrage gestellt würden, und die Niederlage oder etwas noch Schlimmeres wäre die unausweichliche Folge. Gegenüber diesem Risiko erschien die entfernte Möglichkeit eines Sieges als irrelevant.

»Und was ist mit dir, Tuta?«, fragte Dans heiter.

»Ich heiße Bleibende Hoffnung«, sagte der Ingenieur. Offenbar war er nicht beleidigt.

»Oh, ich vergaß. Du bist einer dieser Unendlichkeitsgrübler, stimmt’s? Also, was glaubst du? Wird ein großer Held aus der fernen Zukunft im Sturzflug angesaust kommen und dich retten?«

Pirius hatte versucht, das Thema von Bleibende Hoffnungs eigenartiger Sekte – »Wigners Freunde«, wie sie sich nannte – zu meiden. Pirius hielt sich für pragmatisch; er war bereit, sich mit Nonsense-Namen abzufinden, wenn es seinen Ingenieur glücklich machte. Aber die »Freunde« verletzten das doktrinelle Gesetz allein schon durch ihre Existenz.

»Mach dich ruhig lustig«, sagte Hoffnung. »Du verstehst eben nichts davon.«

»Dann erklär’s mir«, erwiderte Dans.

»Das alles« – Hoffnung machte eine ausgreifende Handbewegung  – »ist nur eine erste Fassung. Jeder weiß das. In diesem Krieg der Überlichtschiffe und der Zeitreisen sammeln wir Eventualitäten im Archiv der Zukünfte auf der Erde. Die Geschichte ist nur ein Entwurf – ein Entwurf, den wir permanent verändern.«

»Und wenn die Geschichte veränderbar ist …«

»Dann ist nichts unabwendbar. Nicht mal die Vergangenheit.«

»Das verstehe ich nicht«, gestand Pirius.

»Wenn man die Geschichte umschreiben kann, lässt sich alles in Ordnung bringen«, erklärte Dans. »Er denkt, auch wenn er heute stirbt, wird die Geschichte irgendwie und irgendwann korrigiert, und dann werden solche bedauerlichen Irrtümer allesamt rückgängig gemacht.«

»Stimmt das, Hoffnung?«

»So ungefähr.«

»Pirius, dieser Glaube widerspricht den Doktrinen«, raunzte Dans, »aber er ist genauso eine Falle wie sie. Ein Druz-Junkie glaubt, Tod und Niederlage stärkten die Kraft der Doktrinen. Ein ›Freund‹ glaubt, die Niederlage sei belanglos, weil eines Tages alles gelöscht werde. So oder so, man kämpft nicht, um zu siegen. Verstehst du? Weshalb ist dieser verdammte Krieg sonst so lange nicht von der Stelle gekommen?«

Angesichts dieser Häresie war Pirius unbehaglich zumute – selbst jetzt, sogar hier.

Mit einem Anflug von Bosheit sagte Hoffnung: »Aber du bist genauso zum Tode verurteilt wie wir, Pilotin Dans.«

»Was ist mit dir, Pirius?«, fragte Cohl. »Was willst du erreichen?«

Pirius überlegte. »Ich will, dass man sich an mich erinnert.«

Er hörte Dans’ leisen, ironischen Applaus.

»Das ist ja so was von antidoktrinell!«, brummte Cohl.

»Na, vielleicht bekommst du ja deine Chance, Pilot«, murmelte Hoffnung. »Sag A Ost liegt direkt vor uns. Gehen auf Unterlicht.«

Hopphopphopphopp hopp — hopp — hopp …

Als die Überlichtsprünge nicht mehr ganz so schnell aufeinander folgten, durchflogen sie ein flackerndes Sternenfeuerwerk, und schillernd blaues Licht flammte um sie herum auf: Die Piloten nannten es Überlicht, ein Nebenprodukt der Energie, die das Schiff abgab und die zu flüchtigen exotischen Partikeln verschmolz. Froh darüber, sich wieder praktischen Dingen widmen zu können, prüfte Pirius die Kontrollen des Grünschiffs und ließ die beiden Unterlichtantriebe — darunter auch den GUT-Antrieb – ein kleines Bäuerchen machen. Der GUT war ein Notantrieb, eine altehrwürdige menschliche Konstruktion; aus Angst, Quagmiten anzuziehen, zündete man ihn nur, wenn es gar nicht mehr anders ging.

Während Pirius arbeitete, hatten die anderen die Aussicht betrachtet. »Lethe«, sagte Dans leise.

Pirius schaute auf.

Sagittarius A Ost war eine von Schockwellen erhitzte Gasblase mit einem Durchmesser von mehreren Lichtjahren, angeblich das Überbleibsel einer ungeheuren Explosion im Herzen der Galaxis. Plötzlich befand sich Pirius mitten in einem Lichtsturm.

Dans rief: »Und schaut euch das an!« Sie lud Koordinaten herunter.

Eine Nadelspitze aus purpurrotem Licht leuchtete direkt vor ihnen, eingebettet in glühenden Nebel. Ihren ersten Messungen zufolge war es ein Neutronenstern, ein Stern mit der Masse der Sonne, aber einem Durchmesser von nur zwanzig Kilometern.

»Das ist ein Magnetar«, sagte Dans. »Und ich glaube, er wird bald explodieren.«

Pirius verstand nichts davon. »Was macht das für einen Unterschied …?«

»Da kommt der Xeelee«, bellte Cohl.

»Teilen wir uns auf«, rief Dans.

Die Grünschiffe lösten sich voneinander. Der einzelne Nachtjäger, der aus seiner eigenen Serie von Überlichtsprüngen herauskam, schien einen Herzschlag lang zu zögern, als fragte er sich, welches seiner weichen Ziele er als Erstes verfolgen solle.

Er wandte sich der Claw zu.

»Pech gehabt«, sagte Bleibende Hoffnung leise.

»Festhalten«, befahl Pirius. In Ermangelung eines besseren Fluchtwegs jagte er mit dem Schiff auf den Neutronenstern zu. Der Xeelee folgte ihnen trotzdem.

Während die Claw durch den Raum schoss, rief Pirius ein vergrößertes Bild auf. Der Neutronenstern war eine abgeflachte, ziegelrote Kugel mit glatter Oberfläche, jedenfalls innerhalb der Vergrößerungsgrenze. Blauweiße elektrische Stürme zuckten über sein Antlitz.

»Dieses Ding dreht sich alle acht Sekunden um sich selbst«, sagte Cohl.

Dans hielt sich in einiger Entfernung, sah Pirius auf seinen taktischen Displays. Sie beobachtete die fliehende Claw und den dunklen Schatten ihres Verfolgers. »Hilf mir, Dans«, sagte Pirius leise.

»Ich lass euch schon nicht allein. Geht mit eurem Schiff beim Flyby so nahe wie möglich an die Oberfläche des Sterns heran.«

»Warum?«

»Vielleicht könnt ihr den Xeelee abschütteln.«

»Und vielleicht gehen wir dabei drauf.«

»Die Möglichkeit besteht immer … Die Kruste ist tatsächlich massiv, weißt du«, sagte Dans. »Er hat eine Atmosphäre aus normaler Materie, nicht dicker als dein Finger. Du kannst so nah herangehen, wie du willst. Eure Schirme werden euch vor den Gezeiten, dem Strahlungsstrom und dem Magnetfeld schützen. Es ist einen Versuch wert.«

»Okay, Jungs«, wandte sich Pirius an Cohl und Bleibende Hoffnung. »Ihr habt gehört, was Dans gesagt hat. Stellen wir einen neuen Rekord auf.«

Dafür erntete er zotige Kommentare. Aber er sah, dass sowohl Cohl als auch Hoffnung neue Displays aufriefen und sich über ihre Arbeit beugten. Für ein solches Manöver mussten sie alle drei eng zusammenarbeiten; Pirius würde die Flugbahn kontrollieren, Cohl den Abstand der Claw zur Oberfläche des Sterns und Hoffnung die Fluglage und die Schiffssysteme. Als sie sich ihren Aufgaben zuwandten – und dazu ihre Doktrinen-Lehrbücher, verbotenen Gebetsperlen oder wie auch immer gearteten Trostspender beiseite legten –, war Pirius beruhigt. Es war eine gute Crew, und sie war am besten, wenn jeder von ihnen mit vollem Einsatz tat, wozu er ausgebildet war.

Licht loderte über seine virtuellen Displays. »Wow …«

Die Oberfläche des Sterns hatte sich verändert. Spalten klafften auf, und aus dem Innern fiel helleres Licht heraus. Ein paar Sekunden lang gab es Turbulenzen, als die ganze Oberfläche zerbrach und schmolz; übrig gebliebene Bruchstücke schwammen herum. Dann hörte die Bewegung jedoch genauso plötzlich auf, wie sie begonnen hatte, und die Kruste verschmolz und glättete sich erneut.

»Dans – was war das?«

»Ein Sternbeben«, sagte Dans in munterem Ton.

»Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du mir erklärst, was ein Magnetar ist …«

Bei seiner Geburt hatte sich dieses Überbleibsel einer Supernova-Explosion, die es hervorgebracht hatte, zufällig sehr schnell gedreht – tausendmal pro Sekunde, vielleicht sogar noch schneller. In den ersten paar Millisekunden seines Neutronensternlebens war die Konvektion im Innern enorm stark gewesen, und die heißen Strömungen hatten in ihrer Umgebung gewaltige elektrische Ströme erzeugt. Das ganze Ding war eine Art natürlicher Dynamo, und die ungeheure Elektrizität erzeugte ein starkes Magnetfeld. Als der Stern dann durch Gravitation und elektromagnetische Strahlung Energie verlor, verlangsamte sich seine Drehung. Aber ein gut Teil der gigantischen Rotationsenergie strömte in das Magnetfeld.

»Das Feld ist noch vorhanden«, sagte Dans. »Es umspannt das Innere des Sterns. Es wird rasch zerfallen – ›rasch‹ bedeutet, so etwa in zehntausend Jahren. Doch solange der Stern noch jung ist …«

»Und das Krustenbeben?«

»Der Magnetismus umspannt die massive Oberfläche und verbindet sie fest mit den inneren Schichten. Aber der Stern wird immer langsamer, und das rotierende Innere zerrt an der massiven Kruste. Hin und wieder gibt etwas nach. Das passiert ständig – das heißt, etwa stündlich. Manchmal bricht das Magnetfeld aber auch völlig zusammen, dann gibt es eine Eruption, und … Lethe!«

»Was?«

»Pirius, ich habe einen anderen Plan.«

»Macht euren Flyby über diesen Koordinaten.« Daten schnatterten in die Systeme der Claw.

»Weshalb?«

»Weil es dort bald einen Flare geben wird.« Sie lud ein virtuelles Kurzinfo herunter: ein schwerer Zusammenbruch des Magnetfelds, weitere Verwerfungen in der Kruste – und ein riesiger Feuerball aus dem degenerierten Stern, eine Faust aus komprimierter Materie, die explosionsartig aus seinem Innern hervorstieß. Das Magnetfeld würde den Feuerball auf seinem Weg zur Oberfläche des Sterns umschließen und in einem manischen Tanz herumwirbeln.

Wie es schien, würde die dadurch freigesetzte Energie ausreichen, um in der Atmosphäre von Planeten in der gesamten Galaxis Ionosphäreneffekte zu verursachen. »Stell dir vor«, flüsterte Dans. »Diese Eruption wird sogar die oberen Lufthüllenschichten der Erde treffen – wenn auch erst in rund achtundzwanzigtausend Jahren. Und du wirst mitten auf ihr sitzen.«

»Erklär mir, wieso das eine gute Nachricht ist«, bat Pirius grimmig.

Dans blätterte virtuelle Daten durch und schickte Pirius Kopien von allem. »Im Zentrum dieses Flares ist die Raumzeitstruktur verzerrt, Pirius. Wir wissen, dass Xeelee-Schiffe fliegen, indem sie durch die Raumzeit schwimmen, dass sie im Grunde aus kontrollierten Raumzeitdefekten bestehen. Das kann unter Garantie nicht mal ein Xeelee überleben.«

»Und das heißt …«

»Das heißt, dass ihr mitten durch den Flare fliegt. Siehst du, wie er sich durchs Magnetfeld krümmen wird? Wenn ihr den richtigen Kurs nehmt, könnt ihr die schlimmsten Bereiche meiden, während ihr die Xeelee mitten hineinführt.«

»Aber wenn ein Xeelee das nicht überleben kann«, wandte Bleibende Hoffnung berechtigterweise ein, »wieso dann wir?«

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte Pirius.

»Vier Minuten bis zur größten Annäherung«, sagte Dans.

Pirius fuhr mit den Fingern durch virtuelle Displays. »Cohl, ich schicke dir Dans’ Koordinaten. Steuern wir diesen Flare an. Mehr als sterben können wir nicht, und es ist zumindest eine Chance. Dans – wir brauchen Zeit, um das Manöver zu planen. Wie lange wird die Eruption dauern?«

Dans zögerte. »In voller Länge nur etwa eine Sekunde. Ein Neutronenstern ist ein kleines, sehr energiereiches Objekt, Pirius. Da geht alles schnell … Oh.«

Einen Moment lang hatte Pirius tatsächlich einen Anflug von Hoffnung verspürt; jetzt aber erlosch dieser warme Funke. Es ging einfach zu schnell. »Okay. Wir haben also nur diese Millisekunde, um unseren Kurs zu berechnen, ihn einzugeben und das Manöver auszuführen.«

»Unsere Bord-KI würde zehn bis zwanzig Sekunden brauchen, um so einen Kurs zu berechnen. Selbst wenn wir vorher Daten über die Form des Flares hätten. Die wir nicht haben. Ein Xeelee könnte das natürlich.«

»Drei Minuten«, sagte Hoffnung gelassen.

Pirius seufzte. »Weißt du, einen Moment lang hab ich wirklich gedacht, es könnte klappen, Dans.«

»Lethe«, blaffte Dans ungeduldig, »was seid ihr bloß für Jammerlappen. Vielleicht gibt es trotzdem einen Weg. Hast du schon mal was vom Bruns-Manöver gehört, Pirius?«

»Nein.«

»Pilotenschultratsch. Jemand hat es versucht – ist vielleicht ein Jahr her.«

Pirius hatte nichts davon gehört. Aber bei den Piloten in der Bogen-Basis herrschte eine enorme Fluktuation; es gab nicht viel Gelegenheit, Praxiserfahrungen weiterzugeben.

»Es hat nicht funktioniert.«

»Wie beruhigend.«

»Aber es hätte funktionieren können«, meinte Dans. »Ich hab’s mir angesehen. Hab ein paar Simulationen durchgeführt. Dachte, es könnte vielleicht irgendwann nützlich sein.«

»Zwei Minuten dreißig Sekunden.«

»Hör mir zu, Pirius. Haltet euren Kurs; steuert auf die Eruption zu. Aber bleibt weiter auf Empfang. Ich berechne den Kurs für euch. Einen Weg durch den Flare.«

»Das ist unmöglich.«

»Unsinn. Und wenn ich die neue Flugbahn runterlade, solltet ihr bereit sein, sie sofort in eure Systeme einzugeben.« Dans entfernte sich.

»Wo willst du hin?«

»Haltet lieber ein bisschen Abstand – falls es nicht klappt.«

»Dans!«

»Die sehen wir nicht wieder«, sagte Bleibende Hoffnung lakonisch.

»Zwei Minuten«, sagte Cohl. »Eins neunundfünfzig …«

Pirius brachte sie zum Schweigen.

Lautlos fiel die Claw durch den Raum; es fühlte sich an, als stünde sie still. Der Xeelee rückte langsam näher, geräuschlos und unspektakulär. Selbst der Neutronenstern würde bis auf ein paar Sekunden, in denen sie ihm am nächsten waren, nicht zu sehen sein. Es war, als glitten sie eine ebene, unsichtbare Straße entlang.

Die Crew arbeitete ruhig weiter; alle drei riefen einander Zahlen und kurze Anweisungen zu. Die Assimilator’s Claw war bis zum Rand mit empfindungsfähiger und anderer künstlicher Intelligenz angefüllt, und ihre Systeme konnten Daten viel schneller verarbeiten als das menschliche Gehirn. Aber diese Systeme sollten den Menschen lediglich helfen, Entscheidungen zu treffen, ihnen die Entscheidungen jedoch nicht abnehmen. Darauf basierte die Konstruktion der Grünschiffe, was wiederum die Politik der Koalition unter der Herrschaft der Doktrinen widerspiegelte. Dies war ein von Menschen geführter Krieg, und das würde auch immer so bleiben.

Pirius hatte nicht das Gefühl, in tödlicher Gefahr zu schweben. Und dennoch würden diese Sekunden, die in seinem Kopf erbarmungslos abliefen, wahrscheinlich die letzten seines Lebens sein.

Direkt vor ihnen loderte blaues Licht auf – Überlicht-Blau –, dann ein grüner Strahl. Es war ein Grünschiff, das ihre Bahn kreuzte. Auf einmal ergoss sich ein Datengeschnatter in die Systeme der Claw: eine neue Flugbahn für die größtmögliche Annäherung an den Magnetar.

Pirius sah, wie Cohl sich erstaunt aufrichtete. »Wo kommt das denn her? Pilot …«

»Kurs laden, Navigatorin.«

Ein Virt formte sich vor Pirius: Dans Kopf, körperlos. Ihr Gesicht war klein, rund und hübsch, mit einem breiten, sinnlichen Mund, einem Mund, der fürs Lachen gemacht war. Jetzt grinste dieser Mund Pirius an. »Buh!«

»Dans, was …«

»Das bin nicht ich. Es ist eine runtergeladene Virtuelle. Die echte Dans wird gleich auf der Oberfläche des Sterns aufschlagen. Moment …« Sie schloss die Augen, und das Bild wackelte; würfelförmige Pixel flimmerten, als konzentrierte sie sich. »Drei, zwei, eins. Plopp. Adieu.«

Trotz seiner Angst, seiner Verblüffung und seines Adrenalinschubs verspürte Pirius einen Anflug von Bedauern. »Tut mir Leid, Dans.«

»Es gab keinen anderen Weg – keine andere Flugbahn.«

»Woher?«

»Aus der Zukunft natürlich. Noch zwanzig Sekunden bis zu eurer größtmöglichen Annäherung, Pirius.«

Er erhaschte einen flüchtigen Blick von einem roten Klecks, der an der Blase vorbeiwirbelte. Es war der Neutronenstern.

»Ihr müsst euren GUT-Antrieb zünden. Auf mein Kommando …«

»Das ist doch Wahnsinn, Dans.« Und ob es das war. Auf den antiquierten GUT-Antrieb griff man nur im äußersten Notfall zurück.

»Ich wusste, dass du Einwände erheben würdest. Euer Unterlichtantrieb wird nicht funktionieren. Na los, Arschloch. Zwei, eins …«

Im tiefsten Innern des GUT-Antriebs waren Materiepartikel zu Bedingungen komprimiert, wie es sie nur kurz nach dem Urknall gegeben hatte; aus ihrem Gefängnis befreit, schwollen diese Partikel gewaltig an. Das war die Energie, die früher einmal die Ausdehnung des Universums angetrieben hatte; jetzt erhitzte sie Asteroideneis zu zischendem Dampf und presste ihn dann durch die Düsen von Raketentriebwerken. Ein GUT-Antrieb war nichts anderes als eine Wasserrakete, ein Stück Technik, das selbst Ingenieure auf der Erde vor Beginn des Rahmfahrtzeitalters, vor fünfundzwanzigtausend Jahren, erkannt hätten.

Aber es funktionierte, sogar hier. Ein neues Licht loderte hinter dem Schiff auf, ein gespenstisches Grauweiß, das Licht des GUT-Antriebs.

Dans zwinkerte Pirius zu. »Wir sehen uns auf der anderen Seite.« Das Virt zerfiel zu einer Wolke sich auflösender Pixel.

Der Neutronenstern schoss wie eine Kanonenkugel auf Pirius zu. Er war auf einmal riesengroß, eine abgeplattete, dreidimensional sichtbare Orange mit einer von elektrischen Stürmen gesprenkelten Oberfläche. Er glitt unter dem Bug der Claw hindurch, und einen Moment lang zogen Kontinente aus orangebraunem Licht unter Pirius’ Blase vorbei. All diese Eindrücke ballten sich in einer Sekunde, oder noch weniger. Doch jetzt zeichnete sich ein stärkeres Licht über dem Horizont ab, gelbweiß: Es war der Ort des Flares, ein grimmiges Morgengrauen, das auf sie zukam.

Und im selben Moment erbebte die Claw; sie schüttelte sich, und ihr Antrieb stotterte. Was war das? Eine Diagnosemeldung erschien vor Pirius’ Augen. Um ein virtuelles Bild des GUT-Antriebskerns herum wimmelte es von schattenhaften Gestalten, Quagmiten, wie er sah: jenen seltsamen Wesen, die von jedem Einsatz eines GUT-Antriebs in dieser Region angezogen wurden – möglicherweise lebendige Geschöpfe, auf jeden Fall aber Plagegeister, die sich von der primordialen Energie des GUT-Antriebs ernährten und das gewaltige Triebwerk zum Stottern brachten.

»Die Fliege greift an!«, schrie Cohl.

Als Pirius einen Blick auf die Heckprojektion warf, sah er den Xeelee-Jäger. Seine nachtdunklen Schwingen schlugen Funken sprühend, während er durch den Raum hinter der Claw herschwamm. Noch nie hatte er einen Xeelee aus so großer Nähe gesehen, außer in Sims: Er kannte niemanden, der eine solche Begegnung überlebt hatte. Der Xeelee war mehr als nichtmenschlich, dachte er, mehr als nur außerirdisch; er war ein dunkles, urtümliches Ding, nicht aus dieser Zeit. Aber er war vollkommen an diese Umgebung angepasst, im Gegensatz zu den Menschen mit ihren schwerfälligen Gerätschaften.

Und er war ihm immer noch auf den Fersen. Pirius konnte nichts anderes tun, als das Schiff zu fliegen; er war völlig machtlos gegen den Xeelee.

Vor ihm flammte Licht auf. Ein gewaltiger Defekt in der Sternenkruste kam über den Horizont herauf und raste auf ihn zu, ein mehrere Kilometer großer Teich aus blauweißem Licht, aus dem ein senkrechter Strom von Sternenmaterie emporstieg. Im Bruchteil einer Sekunde strahlte er so viel Energie ab wie die Sonne der Erde in zehntausend Jahren. Ein kilometerhoher, gelbweißer Bogen formte sich über dem stark gekrümmten Horizont des Sterns. An einigen Stellen faserte der Bogen aus und flatterte; er zeichnete die Linien des Magnetfelds nach, die ihn gefangen hielten.

Auf einem Neutronenstern ging alles immer sehr schnell. Der Riss in der Oberfläche schloss sich bereits wieder, der Bogen brach beinahe so rasch zusammen, wie er entstanden war, und sein Material wurde vom herrischen Schwerefeld des Sterns herabgezogen.

Und die Claw flog direkt unter ihm hindurch.

Pirius’ Blase erbebte, als reiße sie sich selbst in Stücke. Die eigentümliche gesprenkelte Oberfläche sauste unter ihm vorbei, und der Bogen hing bedrohlich über ihm. Noch nie hatte er ein solches Gefühl purer Geschwindigkeit erlebt. Er würde es vielleicht nicht überleben, aber Lethe, es war ein echter Höllenritt.

Er bekam einen Stoß ins Kreuz, der schwache Abglanz mehrerer hundert g, als sich die Claw aus dem Gravitationsfeld des Sterns herauskatapultierte.

Der Neutronenstern verlor sich in der Dunkelheit. Der Bogen war bereits zusammengebrochen.

Und im letzten Moment erhaschte er einen Blick auf den Xeelee hinter ihm. Nicht länger ein unnachgiebiger, immer näher kommender Feind, faltete er sich in selbst zusammen, als würden seine eleganten Schwingen von einer unsichtbaren Faust zerdrückt.

Fern von dem Neutronenstern hing die Assimilator’s Claw im leeren Raum. Die Besatzungsmitglieder behandelten ihre leichten Verletzungen und versuchten sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie noch am Leben waren. Sie kümmerten sich um die Systeme ihres Schiffes; die Begegnung mit den Quagmiten hatte dem GUT-Antrieb nicht geringen Schaden zugefügt.

Und sie rekonstruierten, was während dieser entscheidenden Augenblicke bei dem Magnetar geschehen war.

Das Magnetfeld, das den Flare umschloss, war in seinem Kern so stark gewesen wie nur irgendein Magnetfeld seit den ersten Momenten des Universums. Bei solchen Feldstärken wurden sogar Atome zu dünnen Zylindern verzerrt; keine normale Molekülstruktur konnte das überstehen. Protonen wurden gespalten und kombiniert. Selbst die Raumzeitstruktur wurde verzerrt: Sie wurde doppelbrechend, wie Pirius lernte, kristallin.

Diese letztere Eigenschaft hatte dem Xeelee wahrscheinlich das Genick gebrochen. Niemand wusste genau, wie der Unterlichtantrieb eines Nachtjägers funktionierte, aber er schien die Raumzeit selbst zu manipulieren. An einem Ort, wo die Raumzeit kristallisierte, war das nicht mehr möglich – aber der viel primitivere GUT-Antrieb der Claw hatte trotz der Quagmiten weiterhin funktioniert.

All das war nicht weiter kompliziert. Schlichte Physik.

»Aber was mir einfach nicht in den Kopf will«, erklärte Pirius Dans’ virtuellem Bild, »ist, wie du aus dem Nichts aufgetaucht bist und uns die komprimierten Informationen für das richtige Ausweichmanöver rübergeschickt hast. Die beruhten ja auf dem Wissen über die Entwicklung des Flares, bevor er auftrat.«

»Das war bloß eine Anwendung der Überlichttechnologie«, sagte Dans blechern. »Du weißt ja, jedes Überlichtschiff …«

»Ist eine Zeitmaschine.« Jedes Kind lernte das, bevor es seinen ersten Kader verließ.

»Ich habe mich verdrückt und mir aus sicherer Entfernung den gesamten Ablauf der Eruption angesehen und sie aufgezeichnet. Dann habe ich in aller Ruhe die optimale Flugbahn für euch ausgearbeitet – auf der ihr der Vernichtung entgangen wärt, wenn ihr die Zeit gehabt hättet, sie zu ermitteln.«

»Aber das war reine Theorie«, sagte Pirius. »Du hast die Lösung erst gefunden, als wir schon tot waren.«

»Und ich musste euch sterben sehen«, sagte Dans wehmütig. »Als es vorbei war und der Xeelee das Feld geräumt hatte, bin ich per Unterlicht auf etwa ein Drittel der Lichtgeschwindigkeit gegangen. Dann habe ich den Überlichtantrieb gezündet.«

Cohl verstand. »Du bist in die Vergangenheit zurückgesprungen  – zu dem Augenblick, unmittelbar bevor wir von der Eruption erfasst worden sind –, und hast uns das Manöver eingespeist, das du in aller Ruhe ausgearbeitet hattest. Mithilfe der Zeitreise hast du dir die Zeit verschafft, die du für die Ermittlung der Flugbahn brauchtest.«

»Und das ist das Bruns-Manöver«, erklärte Dans mit Genugtuung.

»Es ist eine Rechenmethode«, sinnierte Cohl. »Mit den richtigen Vektoren könnte man ein beliebig schwieriges Problem in endlicher Zeit lösen – es in einzelne Komponenten aufspalten und diese von neuem in den Verarbeitungsprozess einspeisen …«

Pirius versuchte immer noch, die Sache zu durchdenken. »Von Zeitparadoxa bekomme ich Kopfschmerzen«, gestand er. »Im ursprünglichen Entwurf der Zeitlinie ist die Claw durch die Eruption zerstört worden, und du bist weggeflogen. Im zweiten Entwurf bist du rechtzeitig zurückgekommen, um uns durch den Flare zu lotsen, und dann bist du – oder ist diese Kopie von dir – in den Neutronenstern geflogen.«

»Ging leider nicht anders«, sagte Dans.

Offensichtlich wartete sie darauf, dass er es begriff. »Aber das bedeutet, dass wir in diesem neuen Entwurf der Zeitlinie überlebt haben. Also brauchtest du gar nicht rechtzeitig zurückkommen, um uns zu retten. Wir sind schon gerettet worden.« Er war verwirrt. »Habe ich Recht?«

»Aber das wäre ein Paradoxon«, meldete sich Hoffnung zu Wort. »Wenn sie nicht in die Vergangenheit zurückkehrt, wäre die Information, die diese Zukunfts-Dans gebracht hat, aus dem Nichts gekommen.«

Cohl sagte: »Ja, es ist ein Paradoxon. Aber so etwas passiert ständig. Ein Schiff kommt angeschlagen aus einer verlorenen Schlacht zurück. Wir ändern unsere Strategie, und die Schlacht findet gar nicht erst statt – aber das Schiff, seine Besatzung und ihre Erinnerungen bestehen weiter, gestrandet ohne Vergangenheit. Die Geschichte ist elastisch. Sie hält es aus, wenn man ein bisschen an ihr herumpfuscht, und erträgt auch ein paar paradoxe Relikte aus verschwundenen Zukünften oder Informationshäppchen aus dem Nichts.« Cohl hatte offenbar eine bodenständige Einstellung zu ZeitreiseParadoxa. Als Überlichtnavigatorin brauchte sie die auch.

Pirius’ einzige Sorge galt jedoch Dans. »Und kannst du dich nun retten?«

»Ach«, sagte Dans sanft. »Leider nicht. Schließlich war nicht nur ein Xeelee hinter uns her. Wenn ich nicht dageblieben wäre, um euren Kurs auszuarbeiten, hätte ich entwischen können. Ich fürchte, ich bin alles, was noch übrig ist – ein bisschen Pixel-Ich …«

»Dans …« Pirius schüttelte den Kopf. »Du hast dein Leben für mich gegeben. Zweimal.«

»Ja, hab ich. Also merk’s dir.«

»Was?«

Sie funkelte ihn an. »Finger weg von meinen Sachen, wenn du wieder in der Bogen-Basis bist.« Und sie verschwand abrupt.

Mehrere lange Minuten saßen die drei schweigend in ihren Blasen.

»Da ist noch was«, sagte Cohl schließlich. »Um von hier aus zur Bogen-Basis zurückzukommen, müssen wir eine weitere GZK-Trajektorie hinter uns bringen.«

»Was für eine … oh.« Einen weiteren Sprung auf einer geschlossenen zeitartigen Kurve in die Vergangenheit.

»Wir werden zwei Jahre vor unserem Aufbruch zu dieser Mission ankommen.« Ihre Stimme klang ehrfürchtig.

»Ich werde mein früheres Ich treffen«, sagte Hoffnung. »Lethe, ich hoffe, ich bin nicht so schlimm, wie ich mich in Erinnerung habe.«

»Und, Pirius«, sagte Cohl, »es wird eine jüngere Version von Dans geben. Eine dritte Version. Dans muss nicht sterben. Nichts von alledem wird real sein.«

Pirius verabscheute Zeitparadoxa wirklich zutiefst. »Zeitschleifen hin oder her, wir haben es erlebt. Wir werden uns daran erinnern. Es ist real genug. Würdest du diesen Kurs eingeben, Navigatorin?«

»Klar …«

Hoffnung sagte trocken: »Vielleicht sollten wir die Heimreise noch ein bisschen aufschieben, Pilot. Schaut euch das an.« Er projizierte ein Virt in ihre Blasen.

Es war ein Gebilde, das im Raum trieb. Pirius erkannte einen schlanken Rumpf mit zusammengefalteten, zerknitterten Flügeln. »Das ist die Fliege«, flüsterte er.

»Wir müssen sie zur Basis mitnehmen«, sagte Hoffnung.

»Haben wir wirklich einen Xeelee gekapert?«, staunte Cohl. »Das ist noch niemandem gelungen. Pirius, du wolltest dir doch einen Namen machen. Tja, vielleicht hast du’s geschafft. Wir werden Helden sein!«

Hoffnung lachte. »Ich dachte, Heldentum ist antidoktrinell?«

Pirius wendete das Grünschiff und flog zu dem treibenden Wrack hinüber. »Erst müssen wir mal rauskriegen, wie wir dieses Ding an die Leine nehmen können.«

Doch als sie den Xeelee schließlich zu fassen bekommen hatten, ihn mit einigen Schwierigkeiten überlichtflugsicher vertäut und zur Basis im Bogen-Cluster geschleppt hatten, mussten sie feststellen, dass sie alles andere als Helden waren.

4

Dies war das energiereiche Herz einer großen Galaxie, ein Strahlungsbad, in dem die Menschen nur mithilfe technischer Höchstleistungen verhindern konnten, dass ihre zerbrechlichen Kohlenstoffchemiekörper gebraten wurden. Für die Quagmiten, Überlebende eines heißeren, schnelleren Zeitalters, war es jedoch ein kalter, toter Ort in einer trüben, unerfreulichen Zeit.

Der Neutronenstern zog sie an, denn sein Inneres aus degenerierter Materie bot ihnen ansatzweise die Bedingungen des warmen und hellen Universums, das sie früher einmal gekannt hatten. Doch selbst hier war alles vergleichsweise zu Eis erstarrt. Sie waren wie Menschen, die auf einem Eismond gestrandet waren, einem Ort, wo Wasser, der Stoff des Lebens, so hart gefroren war wie der Felsgrund.

Trotzdem blitzte hin und wieder etwas Helleres auf – wie das winzige Glühwürmchen, das aus dem Nichts angeflogen gekommen war und fast die Oberfläche des Neutronensterns gestreift hatte. Die Quagmiten lebten schnell, sogar in dieser energiearmen Zeit. Für sie waren die Sekundenbruchteile der größten Annäherung an den Neutronenstern lang und ausgedehnt. Sie hatten reichlich Zeit, um nah an das Schiff heranzukommen, in der Wärme seines GUT-Antriebs zu baden und zu fressen.

Und wie es ihre Art war, hinterließen sie ihre Spuren im Rumpf des Schiffes, der gespenstischen, gefrorenen Hülle, die jenen winzigen, strahlenden Fleck umgab.

Als das Schiff fort war, zerstreuten sich die ewig hungrigen, ewig übellaunigen Quagmiten auf der Suche nach noch mehr urtümlicher Hitze.

Auf Port Sol wandte sich Luru Parz mit stiller Befriedigung an ihre Cousine.

»Ich wusste, dass sie überleben würden«, sagte sie. »Und in der Technik, auf die sie gestoßen sind, sehe ich eine ganz leise Chance. Ich muss fort.«

»Wohin?«

»Zur Erde.« Luru Parz tappte davon. Ihre Schritte waren beinahe lautlos.

5

Für ein Kind der Bogen-Basis war es nichts Besonderes, seinem künftigen Ich zu begegnen.

Die Basis diente nur einem einzigen Zweck: Vom Augenblick seiner Geburt an wurde man dazu ausgebildet, Überlichtschiffe zu fliegen. Und jeder wusste, dass ein Überlichtschiff eine Zeitmaschine war. Die meisten Menschen kamen von selbst darauf, dass sie infolgedessen eines Tages vielleicht einer Kopie der eigenen Person aus der Zukunft begegnen würden – oder aus der Vergangenheit, je nachdem, von welcher Seite aus man es betrachtete.

Pirius, ein siebzehnjähriger Ensign, hatte diese Begegnung mit sich selbst immer für eine interessante Prüfung gehalten, die ihm eines Tages bevorstehen würde, so wie andere denkwürdige Ereignisse auch: sein erster Soloflug, sein erster Kampfeinsatz, seine erste Sichtung eines Xeelee und sein erster Geschlechtsverkehr. Doch als dann aus heiterem Himmel sein künftiges Ich auftauchte, erwies sich die Sache in der Praxis als weitaus komplizierter.

Der Tag begann schon schlecht. Das Etagenbett erbebte, und Pirius schreckte aus dem Schlaf hoch.

Über ihm knurrte Torec: »Lethe, werden wir etwa angegriffen? – Oh. Guten Morgen, Captain.«