Sternschnuppenfunkeln - Sue Moorcroft - E-Book
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Sternschnuppenfunkeln E-Book

Sue Moorcroft

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Beschreibung

Ein bezaubernd festlicher Weihnachtsroman von Bestseller-Autorin Sue Moorcroft Als Laurel frisch geschieden in ihr Heimatdorf zurückkehrt, möchte sie Ruhe finden und auftanken. Nur ist das Leben in Middledip alles andere als beschaulich, denn ihre Familie hält sie ziemlich auf Trapp. Dann taucht auch noch Laurels Jugendliebe Grady wieder auf – und alte Gefühle werden wach. Bald fühlt es sich an, als wären die beiden nie voneinander getrennt gewesen. Doch Laurel wird immer wieder daran erinnert, warum sie Middledip einst verlassen hat. Es geht um eine dunkle Nacht vor vielen Jahren … Kann Laurel die Vergangenheit hinter sich lassen? Oder wird ein gemeinsames Weihnachtsfest mit Grady nur ein Traum bleiben? Laurel muss sich entscheiden, ob sie bereit ist, neu anzufangen.

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Seitenzahl: 554

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Sue Moorcroft

Sternschnuppenfunkeln

 

Aus dem Englischen von Tanja Hamer

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Als Laurel frisch geschieden in ihr Heimatdorf zurückkehrt, möchte sie vor allem Ruhe finden und auftanken. Aber das Leben in Middledip ist alles andere als beschaulich. Laurel hat kaum eine ruhige Minute, weil ihre Schwester Rea sie mit ihren Problemen in Atem hält. Dann taucht auch noch Laurels Jugendliebe Grady wieder auf – und plötzlich bleibt ihre Welt stehen. Bald fühlt es sich an, als wären sie nicht zwanzig Jahre voneinander getrennt gewesen. Doch dann erinnert sich Laurel daran, warum sie Middledip einst verlassen hat. Es geht um eine dunkle Nacht vor vielen Jahren …

Kann Laurel die Vergangenheit hinter sich lassen? Oder wird ein gemeinsames Weihnachtsfest mit Grady nur ein Traum bleiben? Laurel muss sich entscheiden, ob sie bereit ist, neu anzufangen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

SUE MOORCROFT ist SPIEGEL-Bestsellerautorin. In Deutschland geboren, verbrachte sie ihre Kindheit auf Malta und Zypern und lebt nun in England. Ihr Roman »Winterzauberküsse« stand mehrere Wochen auf der Bestsellerliste. Auch die folgenden Weihnachtsbücher zeigen, dass Sue Moorcroft Weihnachten einfach zauberhaft findet. Neben dem Schreiben entwirft sie Kurse für die London School of Journalism und ist als Bloggerin aktiv.

TANJA HAMER, Jahrgang 1980, hat ihr Anglistikstudium in Mainz absolviert und arbeitet seit 2012 als selbständige Übersetzerin. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für meine Familie

Hier oder nicht hier

Nah oder fern

In meinem Herzen

Ist es, wo ihr seid

Erstes Kapitel

»Also, während ich mich durch den Supermarkt gekämpft habe, hast du im Bastelgeschäft nicht nur Christbaumkugeln und Draht besorgt … sondern auch ein Weihnachtsmannkostüm?«

Laurel richtete den Blick kurz von der gewundenen Straße nach Middledip auf ihre vierzehnjährige Nichte Daisy, die neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Die Scheibenwischer ihres Autos schoben die winzigen Schneeflocken zur Seite, die vom bereits dunkler werdenden Nachmittagshimmel fielen.

Daisy kicherte. »Ich weiß, es ist erst Mitte November, aber ich muss langsam anfangen, Adventskränze zu basteln. Für die aus frischem Tannengrün ist es zu früh, die sind bis Weihnachten zu trocken, aber die aus Kugeln und Plastikzweigen mache ich jetzt schon. Das Weihnachtsmannkostüm ist für die Weihnachtsfeier der Siebtklässler, da helfe ich der Schule bei der Planung. In fünf Wochen beginnen schließlich schon die Ferien.«

»Dann gehen wohl auch schon bald die Weihnachtsveranstaltungen los«, sagte Laurel. »Huch! Was ist denn hier los?«

Ruckartig stieg sie auf die Bremse. Ein Mann war plötzlich mitten aus dem Schneegestöber aufgetaucht und wedelte wild mit den Armen.

»Wo kommt der denn her?« Daisy schnappte nach Luft, als der SUV ins Schlingern geriet und auf dem Rücksitz die Einkaufstüten geräuschvoll herumrutschten.

»Da am Straßenrand steht ein Auto. Vielleicht ist es liegengeblieben. Mach bloß nicht das Fenster auf!«, fügte Laurel hastig hinzu.

»Da ist noch ein anderer Mann bei dem Auto.« Daisy lugte durch die Scheibe und kniff unter ihrem dunkelbraun gelockten Pony angestrengt die Augen zusammen. Sie kicherte. »Was macht der denn da? Es sieht so aus, als würde er sich am Türgriff festhalten. Und er hat eine Jacke umgebunden. Sieh mal, seine Beine sind ja ganz nackt. Und er trägt keine Schuhe.«

»Das ist wirklich seltsam.« Laurel kaute auf ihrer Lippe, während sie die bizarre Szene betrachtete. Wäre es nicht besser, den Mann zu ignorieren und einfach weiterzufahren? Sie befanden sich immer noch fünf Kilometer von Middledip entfernt, auf einer abgelegenen Straße, die nur von den Scheinwerfern ihres Autos erhellt wurde. Sofort hatte sie Bilder von Autoentführungen vor Augen. Immerhin hatte sie ihre Nichte dabei, für die sie verantwortlich war.

Der Mann, der ihnen vors Auto gerannt war, lief nun auf sie zu und klopfte ans Fenster. Laurel zuckte zusammen, als sie erkannte, um wen es sich handelte.

Grady Cassidy.

Sie wusste zwar, dass Grady noch in Middledip wohnte – Daisy war mit seinem Neffen Niall befreundet –, doch er hatte früher mal einen besonderen Platz in ihrem Herzen gehabt, so dass sie nicht verhindern konnte, dass sein plötzliches Auftauchen ihr einen Schock versetzte.

Im nächsten Moment prustete Daisy, die immer noch den anderen Mann bei dem Auto anstarrte, los vor Lachen. »Das ist Nialls Dad, Mac Cassidy, unser Stufenleiter in der Schule. Anscheinend haben sie ihm einen Streich gespielt!«

Laurel fuhr herum und starrte Gradys Bruder Mac an, der halbnackt vor seinem Auto stand, die kurzen Haare wehten im stürmischen Wind. Es war tatsächlich Mac Cassidy – ohne Hose. Was zum Teufel tat er da?

Langsam drehte sie sich wieder zu Grady um. Er war nicht mehr der brave, rehäugige Teenager, an den sie sich erinnerte. Die glatten Haare trug er schulterlang und hatte sie hinter die Ohren gestrichen, die dunklen Augenbrauen waren buschig. Sein Anblick war vertraut, aber seine Schultern deutlich breiter, das Kinn mit Bartstoppeln übersät und die Stirn, die er nun angestrengt in Falten legte, während er versuchte, etwas im Inneren des Autos zu erkennen, höher.

Bis Laurel mit sechzehn Jahren das Dorf verlassen hatte, waren sie und Grady durchaus so etwas wie ein Paar gewesen. Ihm hatte sie ihre Träume von einem Künstlerleben anvertraut, und die hohle, alles verschlingende Trauer, die sie nach dem Tod ihrer Mutter zwei Jahre zuvor durchlitten hatte. Im Gegenzug hatte er bei ihr seine Sorgen abgeladen, wenn die Familie mal wieder von den Konflikten zwischen seinem rebellischen Bruder und seinem dominanten Dad erschüttert wurde. Bis zu dem Ereignis in jener Nacht …

»Können Sie uns helfen?«, rief Grady durch die Scheibe. »Jemand hat uns zum Anhalten gebracht und unsere Handys gestohlen. Mein Bruder ist halb erfroren.« Grady schlang fröstelnd die Arme um sich, er trug nur einen Kapuzenpullover. Vermutlich hatte er seine Jacke Mac gegeben.

Mit unangenehm klopfendem Herzen ließ Laurel die Scheibe ein paar Zentimeter runter, und Grady kam näher. In seinem Blick lag kein Erkennen, doch es war auch neunzehn Jahre her, und Laurel wusste, dass sie sich verändert hatte.

»Ein paar junge Kerle haben uns überholt und dann so getan, als hätten sie einen Motorschaden. Als wir angehalten haben, um ihnen zu helfen, sind sie rausgesprungen – sie waren zu fünft. Während die einen mich festgehalten haben, hat der Rest sich über Mac hergemacht, ihm seine Jeans und Stiefel ausgezogen und ihn dann mit Kabelbinder an der Autotür festgebunden. Die fanden das extrem lustig«, fügte er verbittert hinzu.

Laurel schaute wieder zu Mac, der ihnen notgedrungen den Rücken zuwandte, jedoch versuchte, den Kopf zu drehen, als wollte er ihr Gespräch mitbekommen, die Augen gegen den Schneesturm zusammengekniffen, der ihm ins Gesicht blies. »Sie haben eure Handys geklaut?«, wiederholte Laurel und stellte sich kurz vor, wie es wäre, einfach davonzufahren und Mac Cassidy in seiner misslichen, unwürdigen Lage zurückzulassen. Die Rache wäre so süß, dass ihre Finger tatsächlich über der Gangschaltung zuckten. Dann wurde ihr bewusst, dass sie inzwischen zu alt war für solche Rachephantasien, egal, wie sehr der ältere Cassidy-Bruder es verdient hatte. Sie zog die Handbremse und schaltete die Warnleuchten ein. »Im Kofferraum habe ich Werkzeug, mit dem wir ihn befreien können. Dann können Sie nach Hause fahren.«

»Die Mistkerle haben auch Macs Autoschlüssel mitgenommen«, sagte Grady, während er zurücktrat, damit sie die Autotür öffnen konnte. »Meinen eigenen Schlüssel hab ich zwar noch, aber das hilft uns nicht viel, mein Auto steht vier Kilometer weit weg.« Dann fügte er hinzu, als ob Laurels Schweigen eine Frage gewesen wäre: »Ich weiß, ich hätte ins Dorf laufen können, aber es wäre zu gefährlich gewesen, meinen Bruder hier allein am Straßenrand zurückzulassen. Was, wenn ein Autofahrer ihn übersehen hätte?«

Laurel musste zugeben, dass er damit nicht ganz unrecht hatte. Der Wagen parkte direkt hinter einer Kurve. Dann sah sie, wie Daisy ihr Handy unauffällig mit der Kamera in Richtung des unglücklichen Mac ausrichtete. »Hör auf damit«, zischte sie ihr zu. »Ich meine es ernst, Daisy. Es ist mir egal, ob er euer Stufenleiter ist und dir mal Nachsitzen aufgebrummt hat. Das gibt dir nicht das Recht, solche Fotos in Umlauf zu bringen.«

»Ich wollte sie doch bloß an Niall schicken.« Daisy grinste, ließ jedoch die Hand mit dem Telefon sinken.

»Bleib bitte im Auto«, setzte Laurel an.

Doch Daisy sprang bereits mit einem fröhlichen »Hallo, Grady! Guten Abend, Mr. Cassidy« aus dem Wagen.

»Mist«, murmelte Laurel und kletterte so schnell wie möglich aus dem Auto, wobei sie sich hastig die Kapuze gegen die eisige Luft über den Kopf zog.

Sie bekam nicht mit, ob Mac auf Daisys Begrüßung reagiert hatte, denn sie eilte bereits zum Kofferraum, wo ihr Leatherman-Multitool-Werkzeug lag, mit dem sie normalerweise beim Malen die verkrusteten Farbentuben wiederverwendbar machte. Sie fragte auch nicht nach, wieso die Angreifer es nur auf Mac abgesehen hatten. Es war vermutlich immer noch so wie früher: Grady war der Kumpeltyp, Mac derjenige, der Ärger machte. Sie klappte das Werkzeug auf, bis sie die Schere gefunden hatte, die sie dann an Grady weitergab, und achtete darauf, zu Mac den größtmöglichen Abstand zu bewahren.

Erleichterung machte sich auf Gradys Gesicht breit, als er das Werkzeug entgegennahm. »Danke.« Sein Mund entspannte sich zu einem plötzlichen Lächeln. »Sie sind ein Engel.«

Laurel nickte, und Grady ging zu Mac, den er mit ein paar geschickt platzierten Schnitten erlöste.

»Danke.« Mac nickte in Laurels Richtung, war aber gleichzeitig damit beschäftigt, seine Handgelenke zu reiben und dabei nicht den Griff um die Jacke zu verlieren. Keiner der beiden Männer schien sie zu erkennen.

Daisy öffnete die hintere Tür von Laurels Auto und steckte den Oberkörper hinein, nur um Sekunden später mit einem triumphierenden Ausdruck auf dem Gesicht wieder aufzutauchen. »Bitte schön, Mr. Cassidy. Das habe ich gerade für die Weihnachtsfeier der Siebtklässler gekauft, Sie können es gerne ausleihen.« Strahlend überreichte sie Mac die rote Hose des Weihnachtsmannkostüms.

»Oh, ähm, danke, Daisy«, murmelte Mac verdrossen.

Er nahm die gefaltete Filzhose mit solch augenscheinlichem Widerwillen entgegen, dass Laurel spürte, wie ein irrer Drang zu kichern in ihr aufstieg wie ein mit Helium gefüllter Luftballon. Mit bebender Stimme sagte sie zu Daisy: »Komm, wir gehen zurück ins Auto, damit Mr. Cassidy sich in Ruhe anziehen kann.«

Mac murmelte ein schwaches »Danke«, doch Grady schob sich an ihm vorbei und lugte in die Tiefen von Laurels Kapuze, als versuchte er, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Äh … ich will nicht undankbar klingen oder so, aber Sie haben jetzt nicht vor, wegzufahren und uns hier zurückzulassen, oder?«

Daisy saß bereits wieder auf dem Beifahrersitz, und Laurel zögerte genau den einen Moment lang, den sie brauchte, um sich genau das vorzustellen. In ihrem Kopf hörte sie den sanften Tonfall der Stimme ihrer besten Freundin Fliss: Ich verstehe, wie schlimm das ist, was dir passiert ist, aber weiter an deinen negativen Gefühlen festzuhalten, wird dir nur schaden und dich davon abhalten, dich weiterzuentwickeln. Du bist nicht mehr das verletzte Mädchen von damals, Laurel. Du bist eine starke Frau. Du hast Selbstverteidigung und Sicherheitstechniken gelernt. Fliss hatte sie selbst darin unterrichtet, und Laurel war eine ihrer besten Schülerinnen gewesen. Aber … sie war auch nur ein Mensch und genoss es, die beiden Männer einen Moment zappeln zu lassen.

Die Fliss in ihrem Kopf fügte sanft hinzu: Manchmal läuft das Leben nicht so, wie man es sich erhofft. Du musst lernen, deine Vorstellungen von früher loszulassen, und das schätzen, was du erreicht hast.

Mac hatte sich inzwischen hinter dem Auto in die Weihnachtsmannhose gezwängt, die ihm viel zu kurz war und über den Socken endete, und starrte sie jetzt an. Um sie herum fiel der feine Schnee und bedeckte die Sträucher, so dass jeder Zweig wirkte, als wäre er mit Puderzucker bestäubt worden.

Grady lächelte sie an. Er schien sich nicht wirklich vorstellen zu können, dass sie vorhatte, einfach ohne sie davonzufahren. Und immerhin war er einmal ihr Freund gewesen … Sie zeigte auf ihr Auto. »Macht es euch auf dem Rücksitz bequem. Ihr müsst euch den Platz allerdings mit den Einkäufen teilen. Der Kofferraum ist voll.« Sie war erst gestern, am Freitag, zurück nach Middledip gezogen und hatte ihre persönlichen Dinge in ihr altes Zimmer unter dem Dach geräumt, mit dem Fenster in der Gaube, das auf gepflügte Felder und Reihen von Pappeln hinausging. Ihre Bilder waren alle verpackt und vorausgeschickt worden, doch Farben, Pinsel und Staffeleien warteten noch im geräumigen Kofferraum ihres SUVs. Es gab allerdings keinen Grund, diese Details mit den Cassidys zu teilen. Oder die Tatsache, dass sie noch damit kämpfen musste, dass sie Alex und ihr kleines blaues Haus im Westen Londons nach zehn Jahren verlassen hatte – neun gemeinsamen und einem getrennten, aber freundschaftlich unter einem Dach lebenden Jahr. Doch dann hatte Alex ihr seine Freundin Vonnie vorgestellt, eine trendige Brille gekauft und sich einen neuen Haarschnitt verpasst. Laurels geliebte Schwester Rea, Daisys Mum, litt zunehmend unter ihrer Agoraphobie, und dann hatte Daisy angefangen, völlig untypisch für sie die Schule zu schwänzen. Laurel wusste einfach, dass es an der Zeit war, in ihr Heimatdorf zurückzukehren … ob es ihr gefiel oder nicht. So würde Alex die Gelegenheit bekommen, sein Leben weiterzuleben und mit Vonnie vielleicht das zu erreichen, was ihm mit Laurel verwehrt geblieben war. Sie erinnerte sich gut an ihre letzten Worte an ihn: Du bist ein guter Kerl, Alex Lasienko. Er konnte schließlich nichts dafür, dass sie keine Babys in die Welt setzen konnte.

»Danke.« Die Stimmen der Cassidy-Brüder rissen sie aus ihren Gedanken, und sie öffnete die Fahrertür. Laurel klopfte sich den Schnee ab und setzte sich hinters Steuer.

Mit einem flüchtigen Blick auf Daisy, die ein breites Grinsen auf dem runden Teenager-Gesicht hatte, ließ Laurel den Motor an und nahm die Fahrt in Richtung Middledip wieder auf. Vermutlich hätte ihr nicht einmal Fliss in diesem Moment helfen können, nach vorne zu schauen, wenn ein so unangenehmer Teil ihrer Vergangenheit hinter ihr im Auto saß.

Die ersten paar Kilometer herrschte Stille, abgesehen vom Rauschen der Reifen auf dem nassen Asphalt und dem Geräusch der Scheibenwischer, die den Schnee von einer Seite zur anderen schoben. Dann sagte Grady, als wäre ihm sein gutes Benehmen wieder eingefallen: »Wie geht es dir, Daisy?«

Daisy drehte sich im Beifahrersitz um und strahlte. »Gut. Werden Sie eigentlich das Kunstausstellungsprojekt im Dorf leiten?«

»Sieht so aus. Ich hoffe, du machst mit.« Gradys Stimme klang warm und freundlich.

Daisy nickte. »Cool, das werde ich, wenn es für Mum okay ist.« Dann fügte sie fröhlich hinzu, während sie sich zu Laurel drehte: »Vielleicht machst du ja auch mit, wo du jetzt schon mal hier bist, Tante Laurel.«

»Laurel?«, sagten beide Cassidy-Brüder wie aus einem Mund. Grady klang erstaunt, Mac geschockt.

»Hi«, sagte sie lakonisch. Ihr rechter Fuß lag plötzlich schwer auf dem Gaspedal, und sie schossen viel zu schnell ins Dorf hinein. Sie musste sich zwingen, auf die Bremse zu treten und tief Luft zu holen. »Könnt ihr mir sagen, wo ich euch absetzen soll?«

Grady antwortete: »Am besten bei Macs Haus. Es liegt in der Port Road 148.«

Gut. Wenigstens war das nicht zu nahe bei Great End, wo das Haus von Laurels Familie stand. Sie bog scharf rechts ab, von der Hauptstraße in die Ladies Lane. »Nummer 148? Muss ich da am Ende rechts abbiegen? Oder links?«

»Rechts, bitte«, antwortete Grady, als Mac schwieg. Dann fügte Grady zögerlich hinzu: »Schön, dich zu sehen, Laurel. Tut mir leid, dass wir dich nicht erkannt …«

»Es ist dunkel, und ich bin fast zwanzig Jahre älter«, unterbrach sie ihn hastig. »Es muss doch hier gleich sein, oder?«

»Da, bei der Straßenlaterne«, bestätigte Grady. »Danke noch mal. Ich glaube, Mac hätte sich ordentlich unterkühlt, wenn ihr uns nicht geholfen hättet.«

Laurel antwortete etwas freundlicher: »Es hätte bestimmt jemand anderes angehalten.« Sie parkte das Auto und beobachtete, wie der Schnee auf der Windschutzscheibe winzige Sternenexplosionen zeichnete, während die Männer mit ihren Gurten hantierten.

Daisy und Grady verabschiedeten sich. Mac, der völlig verstummt war, seit Laurels Identität enthüllt worden war, brachte ein heiseres »Danke vielmals«, hervor, ehe er davoneilte. Die Brüder hinterließen Fußabdrücke im Schnee, der den Pfad zum Haus bedeckte, die Weihnachtsmannhose schlackerte um Macs Waden. Laurel hoffte, sein Schweigen hatte damit zu tun, dass ihn ihr Auftauchen so bestürzte. Sie wollte, dass er sich ängstigte.

Daisy lachte. »Unglaublich, wie der arme Mr. Cassidy in seinen Boxershorts am Straßenrand festsaß.« Sie fischte ihr Handy hervor, während Laurel das Auto wendete.

»Daisy«, sagte Laurel ernst. »Warte noch kurz, bevor du irgendjemandem davon erzählst.« Sie spürte Daisys überraschten Blick mehr als sie ihn sah, doch immerhin war ihr die Genugtuung vergönnt, dass sie aus dem Augenwinkel mitbekam, wie der Bildschirm von Daisys Handy schwarz wurde. Drei Minuten später hielten sie vor dem Haus ihrer Familie, das am Rande der Felder lag, die das Dorf umgaben. Seltsam geformte Fenster durchbrachen schiefe Wände, und ein wildes Reetdach bedeckte das breite Häuschen, ein Rebhuhn aus Reet war an einem Ende geformt. Das Haus lag etwas abseits vom Rest von Great End. Es und das dazugehörige Studio im Garten hatten Isla gehört, Laurels und Reas Mutter, weshalb sie es beide geerbt hatten. Rea hatte wenig Interesse an dem Studio, und Laurel plante, dort ihren Arbeitsbereich einzurichten.

Laurel schaltete den Motor aus, knipste die Innenbeleuchtung des Autos an und sah ihrer Nichte in die dunklen, lebhaften Augen. »Ich kann dich nicht davon abhalten, deinen Freunden zu schreiben oder etwas zu posten, aber ich empfehle dir, vorher gut darüber nachzudenken. Jemanden zu demütigen ist falsch.« Auch wenn es hier um Mac Cassidy ging und er sich verdammt glücklich schätzen konnte, dass Laurel ihm diesen Gefallen tat. »Außerdem ist er der Dad deines Freundes.«

Daisy senkte den Blick und seufzte theatralisch. »Ach, faaaaaark.« Laurel wusste genau, dass »faaaaaark« Daisys schlecht getarnter Versuch war, damit durchzukommen, »fuck« zu sagen. Rea mochte es nicht, doch da Daisy eine Mum hatte, die schon bei dem Gedanken daran, das Haus zu verlassen, Panik bekam, und eine Tante, die Middledip aus guten Gründen den Rücken gekehrt hatte und nicht vorgehabt hatte, jemals zurückzukehren, fand Laurel, dass das Pseudofluchen ihrer Nichte nichts war, worum man sich Sorgen machen sollte. Daisy murmelte: »Niall würde wissen, dass es als Scherz gemeint ist.«

»Auch, wenn es um seinen Dad geht?«, fragte Laurel vorsichtig.

Daisy schob ihr Handy in die Tasche. »Aber Mr. Cassidy ist mein Stufenleiter, und ihm wurde die Hose geklaut und er war mit Kabelbinder am Auto festgebunden. Und ich habe ihn dazu gebracht, meine Weihnachtsmannhosen zu tragen.«

Laurel grinste über Daisys gekränkte Miene und lehnte sich über die Mittelkonsole, um ihre Nichte mit einer Umarmung zu belohnen. »Es ist schwer, sich nicht zu rächen, wenn man die Gelegenheit dazu hat. Ich bin auch kein großer Fan von Mac Cassidy, aber du hast mir erzählt, dass sein Bruder Grady immer nett zu dir ist, und ich habe ihn auch noch als guten Kerl in Erinnerung. Lass es uns für ihn tun und nicht für Mac, okay?«

»Oh. Na gut.« Daisy öffnete die Beifahrertür. »Grady ist echt toll, er macht coole Sachen.«

Laurel fragte nicht nach, was für Sachen das waren. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Pfade sich nicht mehr so oft kreuzen würden. Es war neunzehn Jahre her, dass sie befreundet gewesen waren, und der Grund, weshalb die Beziehung damals geendet hatte, war nichts, an das sie sich gern zurückerinnerte.

»Also, du bist mit Macs Sohn befreundet, obwohl Mac ein Lehrer an deiner Schule ist? Wie ist das denn so für dich?« Sie stieg aus und achtete darauf, nicht auf dem Schnee auszurutschen.

Daisy zuckte die Achseln. »Er ist mein Stufenleiter, was seltsam ist, aber er ist auch Nialls Stufenleiter, was noch seltsamer ist. Kinder, deren Eltern Lehrer sind, müssen mit so seltsamen Situationen eben umgehen.« Sie schielte zu ihrer Tante hinüber. »Warum kannst du Mac nicht leiden? Magst du Grady auch nicht?«

Sie begannen, die Einkäufe aus dem Auto zu holen. Laurel hing sich drei Tüten über den Arm. »Ich war mit Grady befreundet, aber mit Mac habe ich mich nie gut verstanden.« Sie hatte damals aufgehört, mit Grady befreundet zu sein, um ihn zu beschützen – genauso wie sich selbst. Sie wechselte das Thema. »Deine Mum wird sich freuen, dass wir alle Zutaten für ihr Weihnachtsbacken besorgt haben.«

Daisy mühte sich mit ihrem Teil der Einkaufstüten ab, während sie versuchte, auf dem gefrorenen Schnee Schlittschuh zu laufen. »Glaubst du, es hat mit ihren Ängsten zu tun, dass sie wollte, dass wir die Zutaten für ihre Weihnachtspasteten und die Würstchen im Schlafrock so früh besorgen? Es sind doch noch sechs Wochen bis Weihnachten. Ich wette, sie macht sie eh erst in der Woche davor.«

Laurel hatte keine Ahnung. Vielleicht versuchte Rea, die Kontrolle über Teile ihres Lebens zu behalten, weil sie die über andere verlor? Wenn das so war, hätte Laurel Daisy besser nicht in ihr Auto verfrachtet, um mit ihr auf Einkaufstour zu gehen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war, vierzehn zu sein und mit schrecklichen Lebenserfahrungen umgehen zu müssen, deshalb gab sie Daisy die beste Umarmung, die sie mit den Einkaufstüten in der Hand hinbekam, und bemühte sich um einen möglichst ermutigenden Tonfall. »Ich denke, sie will nur, dass wir ein richtig schönes Weihnachten feiern, und da möchte sie eben bestens vorbereitet sein.«

Laurel hätte nichts gegen ein schönes Weihnachtsfest. Im vergangenen Jahr war sie nicht besonders glücklich gewesen, weil sie kurz davor das endgültige Scheidungsurteil erhalten hatte, und Alex war es genauso ergangen. Die Weihnachtsfeste davor waren ebenfalls fast allesamt getrübt gewesen. Einmal hatte sie eine Woche vor Weihnachten eine Fehlgeburt erlitten. In einem anderen Jahr war sie sicher gewesen, schwanger zu sein, doch dann war der Test negativ ausgefallen. Das schlimmste Jahr war jedoch das gewesen, in dem sie schwanger gewesen war, es jedoch nicht gewagt hatte zu hoffen, dass alles gut ging. Am Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag hatte sie das Baby dann verloren. Schlimme Dinge schienen an Weihnachten immer noch schlimmer zu sein. Dieses Jahr, fand sie, war es an der Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen.

Wenn es ihr gelang.

Grady folgte seinem Bruder durch den langgezogenen Vorgarten des großen viktorianischen Hauses mit den roten Backsteinen, in dem Mac mit seiner Frau Tonya und seinem Sohn Niall lebte. Die Wärme ihres Zuhauses umfing ihn, als er den Schnee von den Stiefeln geklopft und durch die Tür getreten war, und nach der Dreiviertelstunde Zittern am Straßenrand fühlte es sich gleich noch gemütlicher an. Er war vollkommen durchgefroren. Mac musste es noch schlimmer ergehen, doch er hüllte sich in grimmiges Schweigen und hielt den Blick gesenkt.

Grady hatte auch ein paar Dinge zu sagen, doch das konnte warten, bis Mac sich umgezogen hatte.

Geräusche aus dem Fernseher schallten vom Wohnzimmer bis in den Flur, gemischt mit dem rauen Gelächter von Niall, Macs vierzehnjährigem Sohn, dessen Stimme im vergangenen Monat deutlich tiefer geworden war. Mac fuhr herum und zischte Grady zu: »Ich will nicht, dass Niall mich so sieht.« Dann sauste er die Treppe nach oben, auf seinen nassen Socken und der zwei Nummern zu kleinen Weihnachtsmannhose, die ihn bestimmt an empfindlichen Stellen ziemlich einengte.

Grady hörte Tonyas Stimme, die besorgt und höher als sonst klang, dazu Macs gegrummelte Antwort, die sie wohl beruhigen sollte, in der jedoch ein gewisser Frust mitschwang. Grady zuckte innerlich zusammen. Er mochte seine launische Schwägerin sehr, aber ihr zu erklären, wo das Auto war und warum ihr Ehemann Weihnachtsmannhosen trug? Eine Sache, die Grady sicherlich nicht vermisste, seit seine Beziehung zu Pippa letzten Februar in die Brüche gegangen war, waren die unangenehmen Fragen.

Grady war gerade dabei, ins Wohnzimmer zu schlendern, um mit seinem Neffen eine weitere Folge The Mandalorian zu schauen, als Mac von oben leise seinen Namen rief. Er warf einen sehnsüchtigen Blick ins Wohnzimmer, wo ein behagliches Feuer im Kamin knisterte, und ging zurück zur Treppe, wo sein Bruder über das Geländer gebeugt nach unten schaute. Grady stapfte missmutig die mit Teppich bedeckten Stufen nach oben. Tonya stand mit in die Hüfte gestemmten Händen da, die Augen im spitzen Gesicht weit aufgerissen. Sie erinnerte Grady an eine hübsche (wenn auch etwas verärgerte) Elfe mit pinken Haaren, die von den Seiten her hochgegelt waren, um sich in der Mitte zu treffen.

Mac, immer noch mit Weihnachtsmannhose und in seine Jacke gehüllt, schielte zu Grady hinüber und nickte dann in Richtung seiner Frau. »Erzähl ihr, was passiert ist. Sie glaubt, ich denke es mir aus.«

Tonya ließ Grady gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich sage nicht, dass er lügt, Grady, ich verstehe es nur einfach nicht. Er war zu spät. Ich habe euch beide auf dem Handy angerufen, aber ihr seid nicht drangegangen. Dann lagen plötzlich eure Telefone und Macs Autoschlüssel auf der Fußmatte im Flur. Ich habe die Haustür geöffnet, und da waren auch Macs Jeans und seine Stiefel. Wie in einem Horrorfilm. Ich war schon kurz davor, die Polizei anzurufen.«

»Unsere Handys und der Schlüssel sind durch den Türschlitz geschoben worden?«, wiederholte Grady ungläubig. Er warf Mac einen Blick zu. »Das ist gut. Aber wir sollten trotzdem die Polizei verständigen, oder? Sobald du etwas Warmes angezogen hast.« Dann, als ihm auffiel, dass er Tonya noch eine Erklärung schuldig war, sagte er: »Wir waren auf dem Heimweg vom Peterborough-Spiel und haben angehalten, um ein paar Typen auszuhelfen. Sie hatten uns kurz vorher überholt, und es sah so aus, als wäre ihr Auto liegengeblieben.«

Tonyas helle Augenbrauen hoben sich in Richtung ihrer nach oben gekämmten Haare. »Ihr habt mitten im Nirgendwo angehalten?«

»Es waren Teenager«, wandte Mac ein. »Und genau, weil es mitten im Nirgendwo war, haben wir angehalten. Es hat geschneit.«

Grady steckte die kalten Finger in die Hosentasche. »Du hast recht, es war wie in so einem Thriller, wo unschuldige Leute völlig grundlos zur Zielscheibe werden. Wir sind aus dem Auto ausgestiegen, und drei von denen haben sich auf Mac gestürzt und zwei auf mich.«

»Muss ja höllisch kuschelig gewesen sein in diesem alten Fiesta mit fünf Mann«, kommentierte Mac mürrisch, während er immer noch sichtlich am Bibbern war.

Grady fuhr fort: »Sie haben mich einfach ans Auto gedrückt, ich konnte mich nicht rühren, geschweige denn, mich wehren.« Es war furchtbar gewesen, sich so hilflos zu fühlen, auch wenn es nur ein paar Minuten gedauert hatte. »Sie haben meine Taschen durchsucht und mein Handy genommen. Ich dachte erst, sie wollten uns ausrauben, aber mein Geldbeutel hat sie nicht interessiert … und jetzt sagst du, die Handys wurden hierhergebracht?«

»Ja, sorry. Ich kann gerade nicht klar denken.« Hastig zog Tonya sein Handy aus der Tasche und reichte es ihm.

Er bedankte sich und erweckte mit einem Tippen das Display zum Leben. Das Telefon schien unbeschädigt zu sein, er nahm sich aber vor, später das Passwort zu ändern. »Ich habe Mac etwas zugerufen, und er hat geflucht und geschrien, und die Kerle haben gelacht. Dann haben sie mich ins Gebüsch geschubst.« Er strich sich über einen Kratzer am Hals. »Als ich mich aufgerappelt habe, ist ihr Auto gerade hinter der Kurve verschwunden, und Mac war am Türgriff seines Autos festgebunden – ohne Hosen und Stiefel.«

Tonyas bernsteinfarbene Augen verengten sich, aber sie zwickte Mac in die rote Filzhose. »Du gibst einen süßen Weihnachtsmann ab, aber warum um alles in der Welt haben sie dir die Hose geklaut?«

Mac seufzte. »Ich glaube, es waren ehemalige Schüler. Sie haben mich ›Mr. Cassidy‹ genannt. Ich schätze, es war ein dummer Streich. Ich muss jetzt überlegen, ob ich es der Polizei melden soll.« Er runzelte die Stirn und schaute Grady an. »Ich ziehe mich schnell um. Kannst du mich mit deinem Pick-up zu meinem Auto fahren?«

»Klar.« Um Mac Zeit zu geben, sich in Ruhe umzuziehen, und Tonya eine Chance, die Aufregung über ihr kleines Abenteuer zu verdauen, ging er wieder nach unten, wo er vorhatte, sich zwei Minuten am Feuer aufzuwärmen.

»Hey, Niall«, grüßte er seinen Neffen und ließ sich aufs Sofa sinken, auf der Seite, die dem knisternden Kamin am nächsten war.

»Was geht?«, fragte Niall, ohne den Blick von The Mandalorian abzuwenden. Seine Haare waren nicht schwarz wie die der Cassidys, sondern blond wie Tonyas, wenn diese sie nicht gerade in irgendeiner Regenbogenfarbe gefärbt hatte.

Statt einer Antwort schnappte sich Grady einfach die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

»Hey!«, beschwerte sich Niall, drehte sich dann aber lachend um und warf sich mit seiner schlaksigen Schulter gegen Gradys stabile Brust. »Sei kein Schwanz.«

Von oben waren immer noch Tonyas Fragen und Macs Antworten zu hören. Mac liebte Tonya zu sehr, um ungeduldig mit ihr zu werden. »Sag nicht ›Schwanz‹, du Schwanz«, neckte er ihn und versteckte die Fernbedienung hinter seinem Rücken. »Ich habe gerade Daisy im Auto ihrer Tante gesehen«, sagte er, ohne auf die Umstände einzugehen.

»Ja, Daisy hat erwähnt, dass ihre Tante kommt und bei ihnen wohnt.« Niall grub hinter Grady in der Couch herum, bis er die Fernbedienung erwischte. Er schaltete den Fernseher wieder ein.

Auf das Geräusch von Schritten auf der Treppe folgte ein leises Pfeifen, mit dem Mac offenbar diskret versuchte, Gradys Aufmerksamkeit zu erregen.

Niall schaute sowieso nicht hin. »Ist Dad zu Hause?« Er wirkte mehr interessiert an der Werbung für das Weihnachtsangebot der Xbox, die gerade über den Bildschirm flimmerte, als am Kommen und Gehen seiner Eltern.

Grady wuschelte Nialls Haare zum Abschied. »Genau. Und jetzt geht er wieder. Mach’s gut.«

Mac wartete im Flur, eine Hand schon an der Türklinke. Er hatte zwei Wollmützen in der Hand, von denen er eine Grady zuwarf, ehe sie wieder in die eisige Kälte traten und ihre Kragen hochschlugen. »Brr«, machte Grady, den die Wärme von seinem kurzen Abstecher zum Kamin sofort wieder verlassen hatte. Es schneite jetzt stärker, so dass die nahegelegenen Häuser aussahen, als wären sie mit jeder Menge Puderzucker bestäubt. Sie zogen die Schultern hoch und gingen mit großen Schritten die Port Road hinunter, wo rote und grüne Weihnachtslichter von den Straßenlaternen hingen. Zu Gradys Haus, dem Mistletoe Cottage, an der Ecke der Ladies Lane brauchten sie nur zwei Minuten. In der Einfahrt parkte sein großer Pick-up, auf dessen Seite die Worte »Gradys Autokunst« in wirbelndem Schwarz, Blau und Lila auf dem roten Lack prangten. Das Airbrush-Motiv war selbst durch den Pulverschnee zu erkennen. Grady zog seinen Schlüssel hervor, und kurz darauf brausten sie in Richtung Dorfausgang, alle Heizungen voll aufgedreht – inklusive der in den Sitzen.

Grady sprach an, was beide bisher vermieden hatten. »Also … Laurel Hill ist wohl wieder im Dorf?«

Mac brummte in sich hinein und starrte aus dem Beifahrerfenster, obwohl es wenig zu sehen gab außer dem Schnee, der auf das Dorf hinabfiel, in dem sie beide aufgewachsen waren. Hinter den zugezogenen Vorhängen der Häuser schimmerten die Lichter.

Grady bog aus der Ladies Lane auf die Hauptstraße ab und fuhr in Richtung Bettsbrough, an Weißdornhecken und dunklen Gräben vorbei, während der Schnee im Scheinwerferlicht tanzte. Er dachte an Laurel als Teenager: dunkelrote Haare, die ihr über den Rücken fielen, ihr Lachen, ihre unkonventionelle Familiensituation, in der sie mit ihrer Schwester, die kaum älter war als sie, alleine zurechtkommen musste.

Die meisten Kinder aus dem Dorf waren in Bettsbrough auf die Schule gegangen, doch die Cassidys mussten immer den Weg nach Peterborough zurücklegen, wo sie die katholische Schule besuchten. Nach der Schule verbrachten sie natürlich ihre Zeit im Dorf, und er war viel mit Laurel zusammen gewesen. Sie waren ›über die Felder‹ gegangen, der Ausdruck im Dorf für die Gegend außerhalb des Dorfes, und Laurel hatte sich Ausritte auf einem Pony von der Carlysle Farm erschlichen. Manche Kinder waren eifersüchtig gewesen auf Laurels »Glück«, keine »richtigen« Erwachsenen zu haben, die ihr Vorschriften machten, aber Grady hatte die Wahrheit gekannt. Laurels Vater war früh gestorben, da war sie keine zwei Jahre alt gewesen war. Er hatte irgendeinen Stunt mit dem Motorrad ausprobiert. Als Laurel gerade ins Teenager-Alter gekommen war, starb auch ihre Mum, die aufgrund einer Diabeteserkrankung unter Nierenproblemen gelitten hatte. Das bedeutete, dass Rea einen Job finden musste, anstatt zur Uni zu gehen. Von »Glück« konnte man da wirklich nicht sprechen. Auch wenn Gradys Dad streng gewesen war und Gradys Mum selten dagegen angekommen war, hatten die Cassidy-Eltern ihnen doch ein sicheres Zuhause geschaffen. Grady hatte nie so viel im Haushalt helfen oder gar kochen müssen, zusätzlich zu den Schulaufgaben, wie es Laurel hatte tun müssen.

»Sie besucht vielleicht nur ihre Familie«, sagte Mac unvermittelt.

»Ja.« Grady fuhr langsamer, als die Scheinwerfer die massigen Umrisse von Macs Auto beleuchteten, das am Straßenrand lag wie ein Betrunkener, der den Heimweg nicht mehr fand. »Ich stehe schon seit Jahren auf ihrer Abschussliste.«

Er wusste nicht, warum sie damals aufgehört hatte, mit ihm zu reden. Das Einzige, was ihm einfiel, war, dass er sie bei dem Dorffest versetzt hatte, weil er sich den Knöchel gebrochen hatte. Er hatte sogar schon ein Weihnachtsgeschenk für sie gekauft und eingepackt, doch sobald er wieder auf den Beinen war und bereit, es ihr zu geben, zeigte sie ihm die kalte Schulter. Mac hatte damals gemeint, sie wäre so komisch, weil sie ihm kein Weihnachtsgeschenk kaufen wollte; Mädchen wären nun mal seltsam, Hormonschwankungen und so.

Grady hatte ein neues Kärtchen für das Geschenk geschrieben und es seiner Mum überreicht. Sollte seine Mutter sich darüber gewundert haben, ein Sugababes-T-Shirt geschenkt zu bekommen, hatte sie es wenigstens nicht gezeigt.

Er schmunzelte bei der Erinnerung an sein junges Selbst, das so verwirrt und verletzt gewesen war, nachdem Laurel sich von ihm abgewandt hatte. Und ihrem ernsten, misstrauischen Gesichtsausdruck von heute Abend zufolge hatte sich nichts geändert. Er wandte sich wieder an Mac.

»Glaubst du wirklich, die Kerle unter den Hoodies, die uns angehalten haben, waren deine Schüler?« Er wendete den Pick-up auf der Straße und schaltete dann die Warnleuchte ein.

Mac hatte die Hand bereits am Türgriff, stieg jedoch noch nicht aus. Das rhythmisch flackernde Licht des Warnblinkers spiegelte sich in seinen Augen. »Ich kann mir vorstellen, dass es ehemalige Schüler waren, die mein Nummernschild erkannt haben. Ich meine, die Stimme eines eher schwierigen Schülers herausgehört zu haben, der letztes Jahr von der Schule abgegangen ist.«

Grady verriegelte die Türen, um Mac daran zu hindern auszusteigen, bevor er Gradys Fragen beantwortet hatte. »Also, du wirst damit zur Polizei gehen, oder?«

Mac seufzte. »Das muss ich wohl. Aber der Junge hat inzwischen einen Ausbildungsplatz und eine Chance, etwas aus seinem Leben zu machen. Es widerstrebt mir, ihm Ärger zu bereiten, egal, was er getan hat. Sie haben uns unsere Sachen zurückgegeben, also war es eigentlich nicht mehr als ein dummer Streich.«

»Du alter Softy.« Dass sein Bruder sich so verständnisvoll zeigte, rührte ihn – vielleicht deshalb, weil Mac selbst ein schwieriger Teenager gewesen war.

Mac knurrte. »Lehrer versuchen eben immer, ihren Schülern zu helfen, auch wenn es ihnen gar nicht auffällt oder sie es nicht annehmen können. Ich werde es bei der Polizei als Streich melden.«

»Okay.« Grady zuckte mit den Schultern und wollte gerade das Auto entriegeln, hielt dann aber inne, als ihm etwas einfiel. »Daisy Grove ist auf deiner Schule. Diese Geschichte wird nicht lange geheim bleiben.« Daisy war ein tolles Mädchen, aber er hatte die Schadenfreude in ihren Augen gesehen, als sie Macs missliche Lage erkannt hatte.

Mac zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, bis fast über die Augen. »Dafür braucht es keine Daisy. Die Angreifer haben Fotos und Videos gemacht, weil die Kinder heutzutage offenbar einfach nicht anders können. Kannst du jetzt bitte die Tür entriegeln, damit ich nach Hause fahren und mich aufwärmen kann?«

Grady drückte auf den Knopf, und sie sprangen gleichzeitig aus dem Auto. Mac öffnete seinen Wagen und stieg ein. Er ließ den Motor an und gab den Scheibenwischern Zeit, die Windschutzscheibe vom frischen Schnee zu befreien.

Grady schauderte vor Kälte, während er Mac beobachtete, wie dieser versuchte, das Auto aus dem sumpfigen Gras herauszusteuern. Zweige knacksten, und die Räder drehten durch, doch mehr passierte nicht. Als Mac ihm durch das Fenster einen Blick zuwarf, nickte Grady bloß und ging zu seinem Pick-up, um das Abschleppseil zu holen. Manchmal brauchten er und Mac keine Worte. Mac musste auf die Straße gezogen werden, also übernahm Grady das.

Zweites Kapitel

Normalerweise genoss Laurel es, sonntags mit Croissants und Kaffee gemütlich in den Tag zu starten, doch heute fühlte es sich seltsam an, weil das Frühstück im Haus ihrer Mutter stattfand, gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrer Nichte, anstatt in dem blauen Häuschen mit der Terrasse in Park Royal.

Sie musste unbewusst geseufzt haben, denn Rea fragte: »Wie geht es dir? Ist es seltsam, wieder hier zu sein?« Dabei lugte sie über den Rand einer Ausgabe von Homes & Gardens, dessen Titelseite mit Girlanden aus festlichem Grün illustriert war. Der Titel der Zeitschrift fasste passend zusammen, wo Rea sich wohlfühlte – solange es ihr Haus und ihr Garten war. Laurel hatte mittlerweile herausgefunden, dass Rea seit dem Frühsommer keinen Schritt mehr außerhalb der Einfahrt des Hauses gesetzt hatte, und abends hatte sie mehrere Stunden damit verbracht nachzulesen, wie man Angehörigen mit Agoraphobie helfen konnte. Sie war wild entschlossen, Rea so gut es ging zu unterstützen.

Laurel rümpfte nachdenklich die Nase. »Es ist ein bisschen seltsam. Aber wenn ich erst einmal das Studio eingerichtet habe, wird es bestimmt besser.«

»Wir könnten dir helfen«, bot Rea an. Sie klappte die Zeitschrift zu. »Wenn ich mich nicht so blöd anstellen würde, müsstest du nicht hier sein.« Rea war fünf Jahre älter als Laurel, doch selbst mit ihren vierzig Jahren hatte sie etwas von einem herrenlosen Welpen an sich.

Laurel klopfte sich die Croissantkrümel von den Handflächen, um Reas Arm tätscheln zu können. »Du stellst dich nicht blöd an, du leidest unter Agoraphobie.« Seit Rea wie ein Einsiedler lebte, hatte Daisy angefangen, die Schule zu schwänzen. Manchmal war Daisy einfach nicht da und wurde später in einem leeren Klassenraum gefunden, wo sie herumlungerte. Oder sie war anwesend, klagte dann aber über Regelschmerzen oder Übelkeit und verbrachte die Stunde auf der Toilette. Manchmal erzählte sie den Lehrern, sie wäre zu spät dran, weil sie Medikamente für ihre Mum besorgen oder einkaufen gehen müsste, dabei ließ Rea sich alles nach Hause liefern.

Das Schulschwänzen bereitete Rea Sorgen, was ihre Ängste noch verstärkte und sie noch mehr davon abhielt, die Sicherheit ihres Hauses zu verlassen. Es war ein ewiger Teufelskreis.

Daisy betrachtete ihre Mum und ihre Tante eingehend. »Jetzt wohnen wir alle zusammen, sehen aber nicht einmal so aus, als wären wir verwandt. Mum hat blonde Haare und braune Augen, Tante Laurel hat rotbraune Haare und blaue Augen, meine Haare und meine Augen sind dunkelbraun, und im Gegensatz zu Mum sind wir beide eher kurvig.«

Genau wie Laurel hatte Daisy ihre »Kurven« schon früh entwickelt. Laurel erinnerte sich gut daran, wie unangenehm es für sie gewesen war, als Teenager schon BHs in 80E zu brauchen, und sie fragte sich, ob das der Grund war, weshalb Daisy so oft übergroße Kapuzenpullis trug. Manche Mädchen hätten vielleicht gern so große Brüste gehabt, doch Laurel hatte das Starren und die anzüglichen Bemerkungen schon immer als lästig und unangenehm empfunden, besonders als sie mit den albtraumhaften Nachwirkungen des Todes ihrer Mutter zu kämpfen hatte.

Daisy legte ihr Handy beiseite und fuhr fort. »Und Laurel und ich haben Namen, die wie Adressen klingen. Daisy Grove und Laurel Hill.«

Laurel lächelte. »Ich war als Laurel Hill in der Kunstszene schon bekannt, als ich Alex heiratete, deshalb habe ich Lasienko nicht übernommen. Für Grove musst du dich bei deinem Vater beschweren.«

Daisy schnaubte. »Sollte ich ihn je wiedersehen, werde ich das tun.«

Während ihrer kurzen Ehe hatte Rea mit Ewan Grove gemeinsam in dem Haus gelebt. Daisy war das einzig Gute, was aus dieser Beziehung hervorgegangen war.

Daisy runzelte die Stirn. »Aber Tante Terri ist keine Hill, oder?«

»Nein, sie heißt Chapman«, erklärte Laurel. »Sie war die Schwester unserer Mum – Isla – und hat nie geheiratet. Als ich bei ihr gelebt habe, während ich die Kunstschule in Peterborough besucht habe, anstatt in die Oberstufe zu gehen, ist sie immer mal wieder mit Männern ausgegangen, aber es schien nie etwas Ernstes zu sein.« Auf die Kunstschule in Peterborough zu gehen war nicht der Grund gewesen, weshalb sie bei Terri gelebt hatte – es war nur der Grund, den sie immer angab.

Laurel tippte auf ein glänzendes Foto in Reas Zeitschrift, auf dem ein Wohnzimmer mit Holzbalken und einem gemauerten Kamin zu sehen war, genau wie bei ihnen zu Hause. »Deine Mum hat aus dem Haus etwas gemacht, das aussieht wie aus einer Zeitschrift, aber als unsere Mum es damals gekauft hat, war es völlig heruntergekommen. Gipsstaub und der Geruch nach Farbe waren allgegenwärtig in unserer Kindheit. Einmal an Weihnachten haben wir das Lametta einfach am Tapeziertisch aufgehängt, anstatt ihn zusammenzufalten und wegzuräumen.«

Rea nickte. »Auch wenn es tragisch war, aber Dads Tod hat es uns letztlich ermöglicht, dass wir das Haus kaufen konnten. Als er starb, gab es eine Lebensversicherung, aber auch eine Entschädigung von seinem Arbeitgeber. Er war Sportjournalist, und der Unfall passierte, als er für seine Zeitung unterwegs war. Er ist mit einem Testmotorrad gefahren, was nicht hätte erlaubt sein dürfen. Eine Menge des Geldes ging in den Kauf und die Renovierung dieses Hauses, und glücklicherweise konnten wir auch nach Mums Tod hier wohnen bleiben.«

Laurel sah Rea an. »Du spielst das herunter. Wir hätten nicht bleiben können, wenn du nicht wie eine Blöde geschuftet hättest, obwohl du den Job gehasst hast.«

Daisy machte große Augen. »Was denn für ein Job? So etwas wie Stripperin?«

Laurel grinste. »Nein, das nicht.«

»Ich war Telefonverkäuferin für ein Industrieunternehmen, das Epoxidharzböden herstellt«, erklärte Rea tonlos. »Je teurer der Boden, desto höher der Bonus. Ich habe in einem Callcenter gearbeitet. Und«, fügte sie hinzu, »ich würde nicht sagen, dass ich es gehasst habe.«

Laurel zog die Augenbrauen hoch und widersprach an Daisy gewandt: »Sie hat es gehasst.« Ihr Grinsen erstarb sofort wieder. »Eigentlich hätten wir bei Tante Terri wohnen sollen, doch da Rea diesen Job bekommen hatte, konnten wir das Jugendamt davon überzeugen, dass sie in der Lage war, für mich zu sorgen, was sie auch getan hat, bis ich mich dann zwei Jahre später doch dazu entschlossen habe, zu Tante Terri zu ziehen, und sie hier allein zurückgelassen habe.«

Reas Lachen klang gezwungen. »Was ja für jemanden mit Agoraphobie die perfekten Voraussetzungen sind.« Sie beugte sich nach vorne und umarmte Laurel. »Du bist auf die Kunstschule gegangen. Es war in Ordnung.«

Laurel erwiderte die Umarmung. Sie wussten beide, dass die »Kunstschule« in Wahrheit ein gewöhnliches Community College gewesen war. Laurel hätte auch von zu Hause dorthin pendeln können, und insgeheim hatte sie schon damals gewusst, dass sie Rea im Stich gelassen hatte.

Die Jahre danach war sie dann mit der Uni, einem Kunstprojekt in Cornwall und durch das Leben mit Alex so mit ihren eigenen kleinen Dramen beschäftigt gewesen, dass ihr kaum aufgefallen war, wie sich Reas Zustand verschlechtert hatte. Dass sie nicht mehr nur die Fahrt in die Stadt oder in mehrstöckige Parkhäuser mied, sondern auch Menschenansammlungen und den öffentlichen Nahverkehr umging. Laurel wäre damals nie auf die Idee gekommen, etwas davon als »Phobie« zu bezeichnen. Für sie waren es einfach Situationen, die Rea nervös machten. Doch dann wurde aus der Abneigung echte Angst, und die Auslöser häuften sich.

Seit diesem Frühling hatte Rea regelmäßig Panikattacken, wenn sie das Haus verließ. Sie hatte ihren Job gewechselt, so dass sie von zu Hause arbeiten konnte, und es gab gar keinen Grund mehr für sie, nach draußen zu gehen. Auch wenn Rea Laurel nichts schuldig war, Laurel war ihrer Schwester dafür im Gegensatz eine Menge schuldig, und das war mit ein Grund, weshalb sie zurückgekommen war. Hierher. Wo sie nicht sein wollte. Über die letzten fünf Jahre hatte sie ihre Kunst in Galerien und über das Internet verkauft sowie bei den zahlreichen Veranstaltungen der Ateliers in Chiswick, wo sie auch eines gemietet hatte, und sich damit einen gewisses Ansehen in der Kunstwelt erarbeitet. Mittlerweile konnte sie von überall aus arbeiten. Der Grund, weshalb sie nicht gleich nach der Scheidung aus Alex’ Haus ausgezogen war, war der, dass sie nach einem Atelier im milden Licht von Cornwall gesucht hatte. Später hatte sie geplant, es mit Wales und dann Frankreich oder Italien zu versuchen. Ein solches Vagabundenleben war jetzt erst einmal auf Eis gelegt, bis sie Rea und Daisy mit ihren jeweiligen Problemen geholfen hatte, und möglicherweise würde es Laurel hier ja auch gelingen, ihre Scheidung hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen.

Daisys Blick wanderte unsicher zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante hin und her, und ihre Stimme klang etwas höher als sonst. »Vielleicht gehst du deshalb nicht raus, weil du Omas Werk hier zu Ende bringen willst, Mum?«

»Vielleicht«, stimmte Rea zu, auch wenn ihr Lächeln zögerlich wirkte.

Laurels Herz machte einen Sprung. Es schien, als ob etwas, das sie gesagt hatte, das bereits besorgte Mädchen noch mehr verunsicherte. Jetzt starrten sie und Rea Daisy sorgenvoll an. Vielleicht waren sie drei in einem Teufelskreis aus Sorge umeinander gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab.

Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln.

Sicher würde eine Zeit kommen, in der Rea wieder dazu in der Lage sein würde, ein normales Leben zu führen? Daisy würde wieder regelmäßig am Unterricht teilnehmen, und in einem Jahr oder vielleicht in ein paar Monaten würde es für Laurel keinen Grund mehr geben, in diesem Haus zu bleiben, das ihr zwar zur Hälfte gehörte, das sie aber seit langer Zeit nicht mehr als ihr Zuhause betrachtet hatte. Sie konnte ihre Pläne, ins Ausland zu gehen, jederzeit wieder aufnehmen.

Sie versuchte, die Stimmung aufzulockern. »Willst du Tante Terri zu Weihnachten einladen, Rea?« Als Pensionärin war Terri noch beschäftigter als damals, als sie einen Buchladen geführt hatte. Jetzt reiste sie viel, arbeitete bei Projekten in der Gemeinde mit, las wie eine Verrückte und traf sich regelmäßig mit Freunden zum Mittagessen. »Oder vielleicht feiert sie auch mit Opal«, fügte sie hinzu. Opal war Terris engste Freundin, schon seit vielen Jahren.

Rea wirkte erleichtert über den Themenwechsel. »Ich habe sie schon eingeladen. Sie weiß noch nicht, ob sie an Weihnachten zu Opal gehen soll, weil Opals Mann offenbar manchmal keine Gäste möchte.«

»Ich werde sie mal besuchen, wenn ich mich ein bisschen besser eingerichtet habe, dann kann ich sie vielleicht überreden, für die Weihnachtsfeiertage zu uns zu kommen«, meinte Laurel. Sie empfand große Zuneigung zu ihrer energiegeladenen Tante, und es wäre schön, Weihnachten mit ihr zu verbringen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei Opal zu Weihnachten backen, und Tante Terri liebt die traditionellen Sachen, wie selbstgemachte Pasteten.«

Es läutete an der Haustür.

Rea legte die Zeitschrift beiseite, die jetzt bei einem Bericht zur Weihnachtsdekoration im Garten aufgeschlagen war, und öffnete ihre Türklingel-App auf dem Handy. Laurel hatte Rea zum Geburtstag eine Kamera für die Haustür geschenkt, denn auch wenn Rea mit ihr bekannten Gästen umgehen konnte, fiel es ihr doch ziemlich schwer, Fremden die Tür zu öffnen.

»Oh, es sind die Cassidy-Brüder«, sagte Rea. »Ich nehme an, es geht um gestern Abend. Du solltest besser aufmachen, Laurel.« Laurel und Daisy hatten Rea natürlich von der Rettungsaktion erzählt.

Ein unangenehmer Knoten formte sich in Laurels Bauch. »Ich gehe schon.« Widerwillig verließ sie die gemütliche Küche und hörte noch, wie Rea und Daisy hinter ihr klappernd das Geschirr abräumten.

Die Haustür hatte ein Seitenteil mit Fenster, so dass Laurel zuerst den Vorhang beiseiteschieben und nach draußen lugen konnte. Sie wusste zwar genau, wer da auf der Veranda stand, neben den blattlosen, dornigen Rosenbüschen, der Boden unter ihnen noch vom gestrigen Schnee bedeckt, doch die Besucher sollten wissen, dass sie erst nachsah, wer dort stand, ehe sie öffnete.

Die beiden schauten sie an, ihr Atem formte Zwillingswölkchen vor ihren Gesichtern, was sie daran erinnerte, dass sie die beiden in der Kälte warten ließ.

Laurel ließ den Vorhang los und öffnete die Haustür. »Hallo.«

Sie erwiderten ihren Gruß. Höflich sagte Mac: »Ich wollte fragen, ob ich mit dir und Daisy über gestern Abend sprechen könnte? Ist Rea auch zu Hause?«

Laurel nahm an, es war eine Angewohnheit von Lehrern, immer erst zu fragen, ob ein Erziehungsberechtigter anwesend war, ehe sie mit einem ihrer Schüler außerhalb der Schule sprachen. »Wir sind alle hier«, antwortete sie. »Kommt rein.«

Die Brüder mussten sich beide unter dem tief hängenden Balken über der Tür hindurchducken. Grady warf ihr ein kurzes, höfliches Lächeln zu, und sie verspürte einen Stich im Herz, ließ sich aber nichts anmerken und führte sie in die behagliche Küche, in der es dank des sonnigen Gelbs, in dem Rea die Wände gestrichen hatte, immer fröhlich aussah – viel fröhlicher, als sich Laurel fühlte –, besonders an einem Wintertag wie diesem.

Mac Cassidy so nah zu sein verursachte Laurel Schweißausbrüche.

Die Vergangenheit weigerte sich einfach, dort zu bleiben, wo Laurel sie hinverbannt hatte. Panik stieg in ihr auf, und ihre Atmung ließ sich kaum noch kontrollieren, in ihren Ohren sauste es. Einige Sekunden lang befand sie sich wieder auf dem Sportplatz in dieser dunklen Nacht, als die Hänselei außer Kontrolle geraten war. Sie erinnerte sich an den Biergestank. An Mac und seine fiese Freundin Amie. Zwei von Macs Freunden, Ruben und Jonny. Das kreischende Gelächter. Amies schrille, aufgeregte Stimme, die schrie: »Haltet sie fest!« Laurel schauderte, als sie sich an die bösartigen Hände erinnerte, die sie festgehalten hatten.

Am nächsten Tag, als Laurel immer noch unter Schock und wie in Trance im Schulbus gesessen hatte, hatte Amie ihr zugeraunt: »Du bist in Zukunft lieber vorsichtig, was du sagst, oder Mac wird allen Jungs erzählen, was für eine Schlampe du bist.« Sie tat so, als wäre es Laurels eigene Schuld gewesen. War es das vielleicht sogar? Wieso hatte sie auch nachts allein über das Spielfeld gehen müssen? Um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen, war Amie Laurel damals noch gefolgt und handgreiflich geworden.

Danach hatte Laurel sich zurückgezogen.

Sie gab vor, nicht zu Hause zu sein, wenn Grady anrief. Rea war davon ausgegangen, dass sie sich gestritten und Laurel Liebeskummer hätte. Es war einfacher, sie in dem Glauben zu lassen. Rea hatte ihre eigenen Probleme, um die sie sich kümmern musste – um zu hoch gesteckte Verkaufsziele und hinterhältige Kollegen, die sie regelmäßig zum Weinen brachten. Laurel würde um nichts auf der Welt ihrer tapferen, aber zerbrechlichen älteren Schwester zusätzliche Sorgen aufbürden.

Also erzählte Laurel niemandem davon. Die Scham und die Angst vor Vergeltung oder davor, dass sie die Strafe verdient hatte, war zu viel. Wer hätte ihr geglaubt, wo es doch keine unparteiischen Zeugen gab? Von Fliss wusste sie inzwischen, dass es oft vorkam, dass Frauen Übergriffe dieser Art nicht anzeigten … und der häufigste Grund dafür war, dass sie fürchteten, niemand würde ihnen glauben.

Laurel war gerade noch so lange zur Schule gegangen, bis sie ihre mittlere Reife in der Tasche hatte, und hatte Middledip verlassen, sobald die Tinte auf dem Abschlusszeugnis getrocknet war.

Laurel schluckte schwer und sagte dann: »Mac und Grady wollen mit uns sprechen.«

Rea drehte sich lächelnd um. Während Laurel die Tür geöffnet hatte, hatte sie den Tisch abgeräumt und den Wasserkocher angeschaltet. In ihrem eigenen Zuhause mit Leuten, die sie kannte, konnte sie gut umgehen. Es war Laurel, die das Gefühl hatte, jeden Moment eine Panikattacke zu erleiden.

Grady und Mac zogen sich Stühle heran und setzten sich zu Rea und Daisy an den Küchentisch, während Laurel sich bemühte, die Gedanken an die Vergangenheit zu verdrängen, indem sie sich darauf konzentrierte, Kaffee und heiße Schokolade zuzubereiten. Dann stellte sie fest, dass nur noch zwischen Daisy und Grady ein Platz frei war. Die beiden sprachen gerade über den Dezember, den Kunstmonat des Dorfes und beugten sich dabei über ein Handy, auf dem Google-Maps geöffnet war. Laurel hatte keinen blassen Schimmer, was die beiden Dinge miteinander zu tun hatten.

Mac räusperte sich und wandte sich an Laurel und Daisy, sein Gesichtsausdruck und sein Tonfall waren neutral und nicht zu deuten. »Danke noch mal, dass ihr uns gestern Abend aus dem Schlamassel geholfen habt. Ich bin hergekommen, um euch mitzuteilen, dass ich den Vorfall melden muss. Es kann sein, dass die Polizei sich bei euch meldet.«

»Die Polizei?«, fragte Daisy verblüfft und war wieder ganz der rebellische Teenager. »Für einen Hosenklau?«

Laurel hatte das Gefühl, eingreifen zu müssen. »›Hosenklau‹ trifft es wohl nicht ganz, ich würde eher von einem sexuellen Übergriff sprechen«, korrigierte sie ruhig. »Mr. Cassidy hat recht damit, dass er es meldet.« Sie bemerkte Macs schockierten und alarmierten Gesichtsausdruck, was ihr plötzlich ein überlegenes Gefühl verlieh. Ja, Freundchen, die Wahrheit zu hören tut manchmal weh.

Grady rieb sich das Kinn. »So hatte ich es noch gar nicht gesehen.«

Macs Adamsapfel tanzte auf und ab, ehe er mit ruhiger Stimme fortfuhr. »Manche Schüler zahlen es Lehrern gern heim, gegen die sie etwas haben. Ich denke, das ist hier passiert. Diese Jungs kannten mich, mein Auto und wussten, wo ich wohne. Als wir nach Hause gekommen sind, waren die Handys und der Autoschlüssel durch den Briefschlitz gesteckt worden.« Er sprach weiter, doch es klang gepresst. »Ich werde den Vorfall der Polizei als dummen Streich melden. Uns wurde nicht wirklich etwas gestohlen, und das Auto hat auch nichts abbekommen. Außerdem glaube ich, eine der Stimmen erkannt zu haben, und der Kerl, zu dem sie gehört, strengt sich gerade ziemlich an, etwas aus seinem Leben zu machen.«

Daisys Miene wurde etwas weicher, als wäre sein Standpunkt verständlicher geworden.

Rea meldete sich nun auch zu Wort: »Sie sollten dankbar sein, dass du eine solche Haltung hast, Mac.«

Er zuckte die Achseln und lächelte. »Einige der Kinder haben es verdient, dass man ihnen auch mal etwas durchgehen lässt. Ich hoffe …«, er hielt inne und lächelte Daisy an, »… dass Daisy mir gegenüber genauso entgegenkommend ist.«

Daisys Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen, als sie ihn anstarrte.

Er lächelte weiter. »Ich nehme an, die Versuchung war groß, es deinen Freunden zu erzählen.«

»Oh!« Daisy verstand, und ein Grinsen breitete sich auf ihrem jungen Gesicht aus. »Tante Laurel hat mich gebeten, nicht rumzuerzählen, was passiert war, also habe ich es gelassen.«

Die Überraschung war Mac ins Gesicht geschrieben, und ihm blieb nun nichts anderes übrig, als Laurel anzusehen. »Vielen Dank.«

Obwohl Laurel hörte, wie Grady sagte: »Das war sehr nett von dir«, blieb ihr Blick auf Mac gerichtet, während sie sich eine Erwiderung überlegte, die ihm klarmachen würde, dass sie weder vergeben noch vergessen hatte. »Ich habe ein Problem mit Leuten, die anderen Demütigung zufügen, indem sie deren Körper ohne Einverständnis bloßstellen.« Ihren Worten folgte Stille, doch sie brachte es nicht über sich, sie durch ein Lächeln zu entschärfen. Mac Cassidy nur anzusehen war wie über eine offene Wunde zu reiben.

Ihr Kommentar brachte die Unterhaltung zu einem abrupten Ende, und die Cassidy-Brüder tranken eilig ihren Kaffee aus und erhoben sich.

Als Laurel die beiden durch den kleinen quadratischen Flur schob, den Rea mit hellgrüner Wandfarbe gestrichen hatte und vermutlich noch dekorieren würde, so dass er der Titelseite ihrer Zeitschrift ähneln würde, drehte sich Mac zu ihr um. »Laurel, meinst du, wir könnten mal unter vier Augen sprechen?«

Laurel bemühte sich um einen möglichst neutralen Tonfall. »Ich fürchte, ich erlaube mir selbst nicht, mit einem Mann allein zu sein, außer ich kenne und vertraue ihm.«

Macs Gesicht lief dunkelrot an.

Grady zog verdutzt die dunklen Augenbrauen hoch.

Beiden Männern stand der Schock ins Gesicht geschrieben.

»Auf Wiedersehen«, flötete sie, während sie ihnen die Haustür öffnete und sie anschließend hinter ihnen mit einem leisen, aber bestimmten Klicken wieder schloss. Sie hatte sich für den Schlag unter die Gürtellinie entschieden, aber das war es wert. Ob Mac nun vorgehabt hatte, sich für seine Fehler von damals zu entschuldigen oder sogar ein anderes Gesicht zu zeigen und sie zu warnen, den Mund zu halten – sie ließ ihn einfach schmoren.

Sie schwebte regelrecht zurück in die Küche, ihre Stimmung hatte sich nun deutlich aufgehellt. »Ich werde mal anfangen, Mums Studio auszuräumen, damit ich meine Sachen rüberbringen kann.«

Daisy sprang auf. »Phantastisch!«

Ihre Mutter zog ihre Teenager-Tochter an einer Locke. »Als ich vorgeschlagen habe, dass wir es für dich ausräumen, damit du darin arbeiten kannst, warst du nicht halb so begeistert.«

Daisy lachte. »Da draußen gibt es kein WLAN. Ich arbeite lieber in meinem Zimmer, wo ich nebenbei Netflix schauen kann.«

»Dann werde ich einen Reichweitenverstärker oder einen separaten Router für den Internetzugang brauchen«, sagte Laurel, während sie sich ihre Jacken anzogen und durch die Seitentür in den Garten hinaustraten.

Die Garage befand sich auf der anderen Seite des Hauses, so dass sie gleich im Freien, umgeben von Hecken und Bäumen, auf dem Rasen standen, der sein schmuddeliges Winteroutfit trug. Sie bogen um die Ecke in den Hauptteil des Gartens, und Laurel hielt inne, um die ordentlich getrimmten Nadelbäume, wunderbar gebogenen Lauben und Büsche mit roten und orangefarbenen Beeren und die schönen Holzbänke zu bewundern. »Dein Garten ist wunderschön, Rea, sogar im Winter.«

Rea errötete geschmeichelt und zog ihre Jacke enger um sich, als ein eisiger Wind vom Moorland herüberwehte, das gleich hinter der Hecke begann. »Wie Daisy gesagt hat, ich habe bloß Mums Werk fortgeführt.«

Sie wandten sich gleichzeitig in Richtung des Studios, das sich am Ende einer Steintreppe befand. In dem kleinen Holzhaus hatte Isla viele glückliche Stunden verbracht und Aquarellbilder vom Dorf gemalt. Rea hatte die Fassade in einem schönen dunklen Graublau gestrichen. Schweigend gingen die drei Frauen den Pfad entlang, schlossen die Tür auf und betraten das Studio.

Laurel atmete den vagen Geruch nach alter Farbe ein und schaute zum Fenster hoch, das im schiefen Dach klaffte. Staubpartikel tanzten im schwachen Sonnenlicht, und zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr nach Middledip empfand Laurel so etwas wie inneren Frieden. »Das wird perfekt!«

Eine ganze Armada von Spinnen hatte sich offenbar in dem Häuschen niedergelassen, wenn man von der Menge alter Spinnweben zwischen den Holzbalken ausging. In der Mitte des Raumes waren etliche neue Kisten aufgetürmt. Rea machte eine Handbewegung in die Richtung.

»Als deine Bilder angekommen sind, habe ich sie gleich hier reinbringen lassen.«

»Genial, danke.« Laurel tätschelte die größte der Kisten. »Es gibt allerdings noch jede Menge zu tun, bevor ich bereit bin, sie auszupacken.« Sie öffnete ein Schränkchen an der Wand, wo sie Islas eingetrocknete Farben und Pinsel entdeckte. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht früher mal vorbeigekommen bin, um Mums Sachen auszuräumen, aber ich denke, ich wollte irgendwie an einem Teil von ihr festhalten.«

Daisy öffnete einen anderen Schrank, in dem sie Mappen mit Aquarellbildern fand. Sie nahm eines heraus, um es zu betrachten. »Da steht St. Margarets Kirche, Middledip drauf. Wir haben aber gar keine Kirche.«

»Früher schon, deshalb gibt es auch einen Kirchhof.« Rea legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. »Unser Urgroßvater war dort Pfarrer.«

Daisy schaute sie ungläubig an. »Ich bin die Ururenkelin eines Pfarrers?«

»Reverend Glenn«, bestätigte Laurel. »Die Wurzeln unserer Familie in Middledip reichen weit zurück. Mum liebte es, Szenen aus alten Fotos abzumalen. Seht mal, hier ist der ehemalige Pub, der jetzt zu einem Café geworden ist.« Sie hielt das Bild hoch, so dass die anderen es sehen konnten.

»Wow, ja, das ist unser Café, das Angel.« Daisy kam näher, um das leicht zerknitterte Aquarellpapier von vor über zwanzig Jahren zu betrachten. »Oma war nicht so gut wie du.«

Laurel umarmte sie. »Oma hatte keine besondere Ausbildung und war auch nicht vier Jahre an der Uni. Sie hatte aber einen guten Strich, und mit diesen nostalgischen Aquarellen hat sie sich ein solides zweites Einkommen gesichert. Seht ihr, wie brillant diese Straßenlaterne ist, die in der Dämmerung gerade angeht, oder hier, wie das Licht auf die verzierten Backsteine am Eingang des Pubs fällt? Das Künstlergen liegt auf jeden Fall in der Familie.«

Daisy zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Obwohl Mums Stärke mehr das Dekorieren ist und ich lieber ein bisschen herumwerkele.«

»Das ist alles künstlerisch«, versicherte ihr Laurel. »Rea, erinnerst du dich, wie wir mit Mum hier drinnen gesessen und gebastelt haben? Mit getrockneter Holzkohle, Kreide, Wasserfarben, Öl oder allem, was uns in die Hände gefallen ist?«

Reas Miene verzog sich zu einem verträumten Lächeln. »Sie hat ihre Zeit immer gerecht zwischen uns aufgeteilt, aber du warst die Beste. Deine Klamotten waren immer überall mit Farbe beschmiert.«

»Mums auch. Ich sehe es noch genau vor mir, wie sie vor uns steht und uns anspornt, die Haare auf dem Kopf aufgetürmt.« Sie blinzelte eine Träne weg.

»Ich wünschte, ich hätte Oma noch kennengelernt.« Daisy drehte ein Bild um, das den Titel »The Cross, Weihnachten 1920« trug. Es wirkte befremdlich, dass kein einziges Auto auf der Straße unterwegs war, dafür bot sie umso mehr Platz für einen Weihnachtsbaum, der behängt war mit silbernen Ketten und etwas, das aussah wie Kerzen in Gläsern. »Kann ich das in meinem Zimmer aufhängen?«

»Na, klar«, antwortete Rea. »Wir suchen einen Rahmen.«