Zimtsternträume - Sue Moorcroft - E-Book
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Zimtsternträume E-Book

Sue Moorcroft

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Beschreibung

Es kribbelt in Hannahs Bauch, als sie Nico nach vielen Jahren wiedersieht. Damals, in ihrem kleinen englischen Dorf, waren sie gute Freunde. Als sie sich jetzt in der winterlichen Altstadt von Stockholm begegnen, werden Gefühle wach, die für beide neu sind. Bisher hat Hannah in der Liebe eher Pech gehabt. Und Nico versucht als alleinerziehender Vater Kind und Job unter einen Hut zu bringen. Während Weihnachten näher rückt, müssen sich beide fragen: Haben sie den Mut, zusammen einen Neuanfang zu wagen? Und können sie auf den Rückhalt ihrer Familien hoffen? An diesem Weihnachtsfest entdecken sie, was im Leben wirklich zählt.

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Sue Moorcroft

Zimtsternträume

Roman

Roman

Aus dem Englischen von Sylvia Spatz

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelDanksagung

Für meinen Bruder Trevor Moorcroft – dafür, dass er die Middledip-Bibel geschaffen und für mich viele Recherchen übernommen hat.

Erstes Kapitel

»Und wie geht’s Robs blöder Schwester?« Die englische Stimme war tief mit einem ganz leichten schwedischen Akzent.

Hannah, die gerade die riesigen Stapel mit Kisten voller neuer Ware betrachtet hatte, schnellte herum, und ihr Blick fiel auf einen hochgewachsenen mageren Mann in der Mitte ihres Ladens, der Hannah-Anna-Butik. Der Schneeregen an jenem winterlichen Oktobernachmittag in Stockholm hatte auf seinem schwarzen Mantel weiße Tupfer hinterlassen. Die Kapuze war zurückgeschoben und gab den Blick auf verstrubbeltes, blondes Haar frei, die Augen waren von einem intensiven Blau.

Sie starrte ihn an. »Nico?« Als er lächelte, verflog jeder Zweifel. »Nico Pettersson!« Ihre Teenagerjahre in Cambrigdeshire mochten fast zwei Jahrzehnte zurückliegen, aber dieses schiefe Lächeln und seine Belustigung darüber, dass Rob und sie sich gegenseitig liebevoll als »idiotischer Bruder« beziehungsweise »blöde Schwester« bezeichneten, waren unverändert. Sie war sich unsicher, ob sie ihm die Hand geben oder ihn umarmen sollte, und lächelte ihn einfach strahlend an. »Wow, was für eine tolle Überraschung! Unglaublich, dass du einfach so vorbeikommst!«

Die Winterkälte konnte ihm hier drinnen nichts mehr anhaben, und so knöpfte Nico seinen Mantel auf und zog sich den Schal vom Hals. »Du bist wirklich der einzige Mensch, den ich kenne, der Hannah Anna heißt. Wie nennt man so ein Wort noch mal, das sich vorwärts genau so liest wie rückwärts?«

»Palindrom.« Sie verdrehte die Augen. »Hab ich meiner verrückten Mum zu verdanken – und meinem Dad, der immer gemacht hat, was sie wollte. In den Englischstunden musste mein Name immer als Beispiel herhalten, aber wenigstens ist er hübsch, und man kann ihn sich gut merken. Hannah Anna Goodbody. Wer könnte den vergessen?«

Er grinste. »An deine Familie erinnere ich mich noch gut. Sie waren supernett zu mir.«

»Und du warst Robs bester Freund«, sagte sie. Wie exotisch dieser schwedische Junge damals gewesen war, der mit ihrem älteren Bruder und den anderen Kindern aus Middledip rumgehangen hatte. Er hatte eine internationale Schule besucht, und so war sein Englisch bereits gut gewesen, als er mit vierzehn zu ihnen ins Dorf zog. Sein Dad, Lars Pettersson, war gekommen, um das Eishockey-Team Peterborough Pirates zu trainieren, und vier Jahre lang war Nico das Aushängeschild der Peterborough Plunderers gewesen, der Juniorenmannschaft, in der auch schon Rob mitspielte. Dann hatte Nico ein Sportstipendium der Minnesota State University bekommen und war nach Amerika gegangen. Hannah, die auf dem Eis sicher genug gewesen war, um beim Kindertraining auszuhelfen, hatte es vermisst, ihn über die Eisbahn rasen zu sehen, wenn er voller unbewusster Anmut mit seinen Kufen beim Bremsen, Wenden und Drehen schimmernde Kristalle aufwirbelte. Vier Jahre jünger als er, war sie damals gerade alt genug gewesen, um sich zu fragen, ob sie dabei war, sich in ihn zu verlieben, als er auch schon wieder aus ihrem Leben verschwunden war. Sie hatte noch gewusst, dass er die USA ein Jahr früher als geplant verlassen und in Schweden seinen Abschluss gemacht hatte. Dann war auch zwischen Rob und ihm der Kontakt abgebrochen.

Gerade betrachtete er die Regale und Ständer voller bunter Schals, schimmernder Gürtel und schicker Lederhandtaschen, qualitativ hochwertige Geschenkartikel. »Verstehe, ein Shop für luxuriöse Accessoires mitten in der Altstadt. Echt beeindruckend.«

»Luxusartikel sind hier begehrt, es läuft ganz okay«, sagte sie. Eigentlich kam sie gerade so über die Runden, aber die Weihnachtssaison stand vor der Tür, und sie war optimistisch. Albin, ihr Freund, war Fundmanager, bei ihm liefen die Geschäfte mehr als nur okay, und deshalb stand auch sein Name im Mietvertrag. So hatte sie sich nicht mit Bürgschaften herumschlagen müssen, wo sie ja auch keine schwedische Staatsbürgerin war. Aber in der letzten Zeit hatte sie sich gefragt, ob sie nicht eine andere Lösung hätte finden sollen. Ihre Beziehung war so seltsam geworden, Spaß und Zuneigung gab es plötzlich nicht mehr. Besorgt und verunsichert, versuchte sie, mit Albin ins Gespräch zu kommen, aber er ließ sie immer wieder abblitzen und schob seinen Job vor. Und sobald es um seinen Job ging, schlug er neuerdings sofort einen herablassenden Tonfall an und sagte etwas von »superfordernd« und »stressig«. Dabei war er nur zwei Jahre älter als sie, nämlich zweiunddreißig. Und so hatte sie wenig Lust, das Thema Beziehung mit ihm zu diskutieren, aber unterschwellig ließ es sie nicht los.

In Nicos blauen Augen stand ein Lächeln. »Wie lustig, dass du ausgerechnet in meiner Heimat gelandet bist. Så du talar svenska nu?

Sie lachte und antwortete auf seine Frage, ob sie Schwedisch spreche: »Ja, jag klarar mig. Ja, ich komme klar. Ursprünglich bin ich hergekommen, um bei IKEA zu arbeiten, aber in England hatte ich meinen eigenen Laden und dann habe ich schnell gemerkt, dass ich gerne wieder meinen Namen auf dem Schild über der Tür stehen haben wollte.« Auch wenn ihr Tonfall unbeschwert klang, war ihr eine unerfreuliche Tatsache nicht entgangen.

Nico war nicht mehr der Goldjunge von damals.

Er war auffallend mager, seine Wangenknochen traten stark hervor, sein ganzes Gesicht war ausgezehrt. Auf seinem abgetragenen Sweatshirt prangte ein Fleck, groß wie eine Landkarte, seine Jeans waren schmuddelig. Die schweren Arbeitsschuhe, die er trug, sahen so aus, als hätte er sie aus einem Altkleidercontainer gezogen; er war unrasiert, die Fingernägel schwarz vor Dreck und sein Haar zu lang und ohne Schnitt.

Was war nur aus diesem strahlenden, exotischen Jungen geworden, der damals jeden in seinen Bann gezogen hatte? Groß, schlank und sportlich, war er für die Jungs ein Idol gewesen und für die Mädchen ein Schwarm.

»Und was machst du so?«, fragte sie. Dann schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht gerade harte Zeiten durchmachte und eine derart direkte Frage nur ungern beantwortete. Sie unterbrach sich hastig. »Hast du schon was vor? Ich wollte heute Abend die neue Ware auspacken und umdekorieren. Deshalb mache ich jetzt kurz zu, um noch eine Kleinigkeit zu essen. Warum kommst du nicht mit, dann können wir ein bisschen reden?« Sie drückte sich eilig an ihm vorbei und drehte das Türschild von öppet auf stängt. Er verströmte einen Geruch nach Erde und Vegetation, der sie zurückschrecken ließ, nicht vor ihm, aber vor dem Gedanken, er könnte die Nächte unter freiem Himmel verbringen. Bei diesem Schneeregen musste das fürchterlich sein. Sie erschauderte. Das hier war ihr dritter Winter in Schweden, und in Albins Wohnung an der begehrten Straße Nybrogatan hatte sie bereits einen ganzen Schrank voller Mäntel, Schals, Stiefel zum Wandern und für den Schnee sowie haufenweise Thermokleidung.

Und was hatte Nico gegen die Winterkälte?

Ihr Lächeln musste mittlerweile aufgesetzt wirken, und sie suchte hinter dem Tresen Zuflucht. »Ich könnte dir erzählen, wie es Rob so geht … und so weiter.« Ihr Redefluss verebbte. Falls Nico sich in Stockholm wirklich gerade nur so über Wasser hielt, war es vielleicht nicht sehr taktvoll, ihm von Robs Liebesglück mit seiner umwerfenden Verlobten Leesa in Cambrigdeshire zu erzählen. Aber sollte sie ihn nicht trotzdem wenigstens zu einer warmen Mahlzeit einladen? Dann war ein Fast-Food-Snack unter alten Freunden ungezwungener als ihn in das schicke Apartment in Östermalm mitzunehmen, das aus Steuergründen der Firma von Albins Mutter überschrieben war.

»Ich sehe nicht gerade ordentlich aus«, sagte er und blickte stirnrunzelnd an seinen kaputten Jeans herunter, die nicht wirklich modisch waren. Er knöpfte seinen Mantel wieder zu, als wäre ihm gerade wieder bewusst geworden, wie er aussah.

Die Vorstellung, dass er, hungrig und ausgezehrt wie er war, wieder in die eiskalte Abenddämmerung verschwinden könnte, war Hannah unerträglich. »Macht überhaupt nichts.« Sie dimmte das Licht herunter und hakte sich bei ihm unter. »Ich esse nicht gern allein. Ich hänge dann nur bei Instagram rum oder antworte auf E-Mails. Ein bisschen zu plaudern ist schön.«

Sie dachte einen Augenblick lang schon, er würde ablehnen, aber er murmelte, »okay«, und ließ sich bereitwillig aus dem Laden dirigieren, und während sie die Tür abschloss, wartete er, ganz in seinen Mantel verkrochen und die Hände in den Taschen vergraben.

Der Schneeregen stach Hannah ins Gesicht, aber ihr war klar, dass die Kälte der späten Oktobertage nichts war im Vergleich zu Schnee und Eis, die der kommende Winter bringen würde. Sie zog die Kapuze hoch, lief die Köpmangatan hinunter, bevor Nico doch noch seine Meinung ändern konnte, und plaudernd überquerten sie den Stortorget, einen mit Kopfsteinpflaster bedeckten Platz, auf dem bald der Weihnachtsmarkt stattfinden würde. Die hohen kunstvoll verzierten Gebäude in Salbeigrün, Aprikosen- und Ockergelb, die schmalen Häuserfronten mit geschwungenen Giebeln, erinnerten sie an das Bild auf der alten Quality-Street-Dose, die ihre Großmutter in der Küche aufbewahrte.

»Ich bin gerade erst dabei, mein Geschäft aufzubauen. Meine Assistentin Julia, die an diesem Wochenende frei hat, spricht neben Schwedisch auch Deutsch und English, und so können wir uns mit den meisten Touristen verständigen. Sie ist ein absoluter Glücksfall.« Dieser Satz stammte eigentlich von Albin, er hatte Julia nämlich auch gefunden, vielleicht war sie in seinen Augen deswegen ein Glücksfall. Julia, in Schwedisch wie Yule—ee-ah ausgesprochen, mit Betonung auf der ersten Silbe, war eine hübsche fröhliche Schwedin und geduldiger als Albin, wenn es darum ging, Fehler in Hannahs Schwedisch zu korrigieren.

Sie liefen bergab über kopfsteingepflasterte Straßen zwischen schmalen Häusern und hell erleuchteten Schaufenstern mit Bernsteinschmuck, Souvenirs aus Kupfer, kleinen Elchen oder tomte – verschmitzte Gnome mit Zipfelmützen, die angeblich unter schwedischen Dächern lebten und Haus und Hof beschützten. Sie kamen an netten Cafés und Restaurants vorbei, die auf Tafeln fika – die berühmte schwedische Kaffeepause – und andere verlockende Mahlzeiten anboten. Aber Hannah ließ sie alle links liegen, weil ihr bewusst war, dass Nico sich wegen seines Erscheinungsbilds unwohl fühlte. Sie redete, und Nico hörte zu.

Als sie auf die Hauptstraße der Altstadt, die Västerlånggatan einbogen, auf der es trotz der abendlichen Stunde noch immer von dick vermummten Touristen und Einkaufenden wimmelte, überraschte sie ein frostiger Wind. Erst als sie die rote Fassade von Burger Town erreichten und Hannah in den hellen, von Stimmengewirr erfüllten Innenraum trat, knöpfte sie ihren Mantel auf. »Ich nehme Halloumi-Ecken mit Pommes, Kaffee und einen Brownie. Was ist mit dir?«

Nico trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, während er einen Blick auf die erleuchtete Speisekarte über dem Tresen warf. »Nur einen Kaffee.«

Er wirkte derart betreten, dass Hannah ganz unwohl wurde. »Nichts zu essen?«, und aufmunternd fügte sie hinzu: »Ich lade dich ein.«

Er schaute sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen. »Kein Essen«, wiederholte er. Und dann, sehr knapp. »Danke.«

»Okay, hab verstanden.« Ihre Wangen glühten. Mist, sie war sofort in den ersten Fettnapf getreten. Nico ging natürlich davon aus, dass sie ihm einen Gefallen tun wollte, und das ließ sein Stolz nicht zu. Verdammt. Sie wollte ihn doch nicht beleidigen, sondern nur helfen. »Such uns doch schon mal einen Platz, während ich mich anstelle.«

Er nickte, ging zu einem Tisch und zog sich seinen Mantel aus.

Hannah bestellte viel mehr, als sie essen konnte: ein großes Menü, dazu Town Wings als Beilage und zwei kanelbullar, schwedische Zimtschnecken. Auf dem Weg zum Tisch nahm sie noch Ketchup und Mayo mit. Selbst abgerissen und unterernährt zog Nico noch Frauenblicke auf sich. Die zwei Frauen am Nachbartisch unterhielten sich offenbar über ihn und kicherten wie Schuldmädchen.

Hannah zog ihren Mantel aus, setzte sich und hoffte, seine Bewunderinnen nicht allzu sehr zu enttäuschen. Sie machte sich daran, den ersten Burger auszuwickeln: »Die haben einen Fehler gemacht und mir eine große Portion anstatt einer mittleren gegeben. Und von den Zimtschnecken bekommt man zwei zum Preis von einer, also dachte ich, vielleicht willst du ja eine. Wenn nicht jetzt, dann kannst du sie ja einpacken und mitnehmen.« Sie merkte, dass sie schon wieder dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden, also griff sie schnell nach einer Pommes, tauchte sie in den Ketchup und schob sie sich in den Mund. Die war heiß, und sie verbrannte sich die Zunge, und als sie die Schale mit den Pommes einladend über den Tisch in Nicos Richtung schob, klang ihre Stimme rau. »Magst du ein paar? Wir brauchen nichts übrig zu lassen.«

Nico angelte sich eine Fritte und aß sie. Dann nahm er den Deckel von seinem Kaffee ab und trank einen Schluck.

Hannah fühlte sich unwohl. Als Nico in ihrem Laden aufgekreuzt war, schien er trotz seines Pennerlooks erfreut, sie zu sehen. Aber jetzt saß er stirnrunzelnd da, warf missbilligende Blicke auf ihre Mahlzeit, und sie traute sich mittlerweile kaum noch, ihn zum Mitessen zu ermuntern. Vielleicht sollte sie sich nach seiner Familie erkundigen, besonders nach seinem Vater Lars, den sie damals recht gut gekannt hatte. Aber kappten Menschen, die in Schwierigkeiten steckten, nicht oft alle Verbindungen zu den Verwandten?

Jetzt stellte Nico seinen Kaffeebecher mit einem Ruck ab, stützte die Arme auf den Tisch, lehnte sich zu ihr herüber und unterbrach ihre Gedanken. »Ich bin sicher, du meinst es gut, Hannah«, sagte er leise und hastig. »Aber es bringt nichts, jemanden zum Essen zu zwingen. Offenbar hat Rob dir von meinen Problemen erzählt. Dass er mein Vertrauen derart missbraucht, überrascht und enttäuscht mich, aber ich nehme an, dass er mit den Gedanken nur noch bei seiner Hochzeit ist.«

Hannah musste erst ihren Bissen herunterschlucken, bevor sie etwas erwidern konnte. »Von deinen Problemen?«, fragte sie vorsichtig und schob dann wahrheitsgemäß nach: »Ich wusste gar nicht, dass du und Rob Kontakt habt.«

Er seufzte übertrieben, als sei ihm klar, dass das nur eine Ausrede sein konnte, und schob sich noch näher über den Tisch an sie heran. Sein erdiger Geruch war ihr nicht unangenehm. »Wenn du’s genau wissen willst – das Scheitern meiner Ehe hat bei mir erneut Essstörungen hervorgerufen. Aber es geht mir gut. Mein Körpergewicht ist normal, und ich bin fit.«

Hannah fiel aus allen Wolken. »Essstörungen?«, fragte sie, ihre Stimme piepsig vor Erstaunen. »Ich dachte, du lebst auf der Straße.« Dann wurde ihr klar, dass sie ihre geheimen Gedanken ausgeplaudert hatte und stotterte: »Na, das vielleicht nicht, aber …«

»Als Penner?« Er wirkte verblüfft, seine blauen Augen leuchteten. »Wie kommst du denn darauf?«

Hannah schob ihre Käseecken auf dem Teller herum. Was sollte sie darauf antworten? Du siehst aus wie ein halb verhungerter Straßenköter?

Er rollte mit den Schultern, als müsste er Spannung abbauen. »Ich lebe nicht auf der Straße. Ich bin Key-Account-Direktor bei der Londoner Niederlassung eines schwedischen Unternehmens. Artikel für Sportfans und Werbeveranstaltungen sind unser Markt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Wintersport, aber wir sind dabei zu erweitern. Ich lebe in London Islington mit meiner Tochter Josie, arbeite in Holborn und reise ein bis zwei Mal pro Monat nach Schweden.«

Dann blickte er an sich runter, und sein Gesichtsausdruck hellte auf. Er lachte sogar. »Ah, du meinst meine Klamotten! Das ist wegen der Initiative, die Schulen bei allen möglichen außerschulischen Aktivitäten unterstützt. Und weil ich wegen Konferenzen ohnehin am Freitag und Montag hier sein muss, bin ich übers Wochenende hiergeblieben und habe heute mitgemacht. Wir haben eine ganze Busladung Kinder nach Skytteholmsparken gekarrt. Ich habe mit Acht-bis Zehnjährigen draußen Sport gemacht und bin durch den Wald gelaufen. Und ich bin unter Bäume gekrochen und habe Löwe gespielt.« Die zornigen Furchen um seine Augen entspannten sich und wurden zu Lachfältchen.

»Jetzt verstehe ich«, sagte Hannah und stieß einen etwas übertriebenen Seufzer der Erleichterung aus. Es war großartig zu wissen, dass er nicht auf der Straße schlief, aber für einen Mann seiner Größe war er trotzdem untergewichtig. Es fehlten mindestens fünfzehn Kilos. Vielleicht sogar zwanzig. Hannah wusste nicht viel über Essstörungen, aber es war sicher keine gute Idee, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er ein Hungerhaken war. Stattdessen wandte sie sich einem Thema zu, das er bereits angesprochen hatte. »Du hast mit Rob gesprochen?«

Er griff nach seinem Kaffeebecher, lehnte sich zurück und hob ein wenig die Stimme, um den Lärm in der Burger-Bar zu übertönen. »Ich habe mich bei der Facebook-Gruppe unserer alten Schule angemeldet und ihn wiedergefunden. Wir haben ein paar Mal lange miteinander telefoniert.«

»Ach, ich war schon seit Monaten nicht auf der Bettsbrough-Comp-Gruppenseite, ich bin einfach zu sehr mit meinem Laden beschäftigt.« Und damit, mich zu fragen, was mit Albin los ist, ergänzte sie in Gedanken. »Rob hat mir gar nichts davon erzählt.«

Nico senkte den Blick und fingerte an einer weißen Serviette herum. »Er meinte, es wäre doch lustig, wenn ich dich überraschen würde. Als ich ihm gesagt habe, dass ich in Stockholm sein würde, hat er vorgeschlagen, dass ich mal bei dir vorbeischaue.«

Hannah horchte auf. »Vorbeischauen? Skytteholmsparken liegt aber doch außerhalb der Stadt. Von dort aus bis zum Laden ist es eine halbe Stunde Fahrt.« Sie war an Sonntagen im Sommer ein paar Mal mit Albin dort gewesen, und sie hatten Kindern dabei zugeschaut, wie sie geturnt, auf Gerüsten geklettert und im Pool geplanscht hatten.

Er zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich hat Rob gedacht, ich wäre in der Nähe. Er wird Stockholm nicht so gut kennen.«

»Er war sogar überrascht zu hören, dass Stockholm eigentlich aus einer Inselgruppe besteht«, sagte sie langsam. »Er wusste nur, dass es hier viele Brücken und Wasser gibt.« Sie beäugte Nico, der mit dem Deckel seines Kaffeebechers spielte und ihrem Blick auswich. »Du hast also gar nicht zufällig den Laden mit dem Namen Hannah Anna entdeckt und sofort an mich gedacht. Rob hat dich geschickt.« Sie runzelte die Stirn. »Du kannst mir ruhig auch sagen warum, ansonsten rufe ich ihn sowieso an und frage ihn.«

Nico seufzte, legte den Deckel weg und wischte sich die Hände ab. Er lächelte sie schief an. »Ich glaube, er ist ein bisschen besorgt, dass du allein zu seiner Hochzeit kommst, und wollte wissen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

»Er hat dich geschickt, um mich zu überprüfen?« Hannah verlor zusehends den Appetit an ihrer Mahlzeit, die mittlerweile ohnehin nur noch lauwarm war. »Ich bin eine unabhängige Frau, und mir geht es prima allein. Die wollen doch nur, dass die Besetzung an ihrem Brauttisch ausgewogen ist und nur deshalb soll ich einen Mann mitbringen.« Ihre Empörung war vorgeschoben, in Wahrheit hatte sie keine Lust mit Nico über Albin zu reden. Wer hätte schon gerne eingestanden, dass der Freund, mit dem man seit über zwei Jahren zusammenlebte, die Einladung ausgeschlagen hatte, weil englische Hochzeiten angeblich unerträglich kitschig seien und Middledip am Arsch der Welt? Sie wolle ihn ohnehin nicht dabeihaben, wenn er das so sehen würde, und überhaupt trage er die Nase gegenüber ihrem freundlichen Völkchen viel zu hoch, hatte sie zurückgeschossen. Albins wohlhabende Familie hatte ihn als Kind auf das exklusive Internat Sigtuna geschickt, für sie war »eng verbunden« offenbar gleichzusetzen mit »plump vertraulich«.

Weil sie also nicht wollte, dass ihre wundervoll warmherzige Familie sich durch Albins Hochnäsigkeit verletzt fühlte, schon gar nicht während der aufregenden liebevollen Vorbereitungen für die Hochzeit von Rob und Leesa, hatte sie seine Absage damit entschuldigt, dass er keinen Urlaub nehmen könne. Jetzt war Nico offenbar vorgeschickt worden, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Nach Albin hatte er bislang noch nicht gefragt – hatte Rob ihm nichts von Albin erzählt, damit er Hannah unvoreingenommen in Augenschein nehmen konnte?

Nico nahm achselzuckend einen Schluck Kaffee und wechselte das Thema. Er erzählte Hannah von seiner achtjährigen Tochter Josie. »Sie lebt eigentlich bei mir, aber an diesem Wochenende ist sie bei ihrer Mutter Loren und ruft mich mit ihrem Tablet über FaceTime an, um zu erzählen, was sie macht. Eine richtige Plaudertasche.« Seine Stimme klang weich und warm.

Hannah versetzte seine offensichtliche Liebe zu seiner Tochter einen Stich. »Du bist bestimmt ein wunderbarer Vater.« Im Gegenzug erzählte sie ihm von ihrem Baby, dem Laden. »Ich bereite mich schon auf die Geschenkesaison vor. Es ist noch zu früh für die Weihnachtsdekoration, Halloween ist ja noch nicht vorbei, aber ich habe schon mal meine Lagerbestände für die ganz Eifrigen aufgestockt, die an den Oktoberwochenenden nach Stockholm kommen und schon mit ihren Weihnachtseinkäufen anfangen.«

»Macht es dir gar nichts aus, den Samstagabend zu opfern, um dein Lager zu sortieren?« Nico hatte seinen Kaffee ausgetrunken, aber offenbar keine Eile.

»Ich arbeite gerne viel, solange es Erfolg verspricht. Und ich würde gerne expandieren, vielleicht in einen größeren Laden in einer Lage gehen, die noch mehr Kunden anzieht, wie in der Västerlånggatan oder der Österlånggatan.« Bei den Verhandlungen um den Laden hatte der Makler immer wieder betont, dass Touristen gerne durch enge Straßen wie die Köpmangatan flanierten. Bis jetzt schien sich das zu bewahrheiten, aber Hannah wollte in der Vorweihnachtszeit so viele schwedische Kronen in der Kasse klingeln hören wie möglich und nichts dem Zufall überlassen. Selbst wenn Albin an diesem Wochenende nicht auf Elchjagd in Värmland gewesen wäre, hätte sie an diesem Abend gearbeitet. Der Laden machte sie glücklich, und beim Gedanken an Elchjagd drehte sich ihr der Magen um. »Morgen werde ich früh kommen, damit ich noch umdekorieren kann, bevor ich um elf Uhr dann für die Sonntagskunden öffne. Gamla Stan« – sie benutzte das schwedische Wort für Altstadt – ist an sieben Tagen die Woche geöffnet.«

»Dann lasse ich dich besser wieder an deine Arbeit gehen.« Die Deckenbeleuchtung betonte das Blau seiner Augen. Er griff bereits nach seinem Mantel. »Ich begleite dich zurück zum Laden.«

»Kein Problem, danke«, sagte sie, obwohl ihr seine aufmerksame Art gefiel. Nico hatte immer zu den Leuten gehört, die anderen die Tür aufhielten.

Als sie in die Eiseskälte der Västerlånggatan hinaustraten, wo die meisten Geschäfte gerade schlossen, es war ja bereits kurz vor sieben, schien es so, als wollte er protestieren. Aber sein Handy klingelte, und er zog es heraus und lächelte. »Josie.«

Obwohl sie es jetzt schade fand, dass der Abend mit ihm so abrupt endete, nahm sie es mit einem Lächeln hin. »Ich geh zurück zum Laden. Mach’s gut. Es war schön, dich wiederzusehen.«

Während er den Anruf entgegennahm, drehte sie sich um und ging davon. Sie zog die Kapuze ihres Parkas gegen den Schneeregen auf, der ihr ins Gesicht stach wie ein Insektenschwarm, und eilte die gepflegten Straßen entlang. Goldener Laternenschein fiel von eleganten hochgiebligen Häusern auf das Kopfsteinpflaster. Hin und wieder schweifte ihr Blick zu dem grünen, hoch aufragenden Turm der tyska kyrkan, der Deutschen Kirche. Als sie den Stortorget überquerte, bemerkte sie, dass über die pfirsichfarben leuchtende Fassade der ehemaligen Börse, heute Sitz der Schwedischen Akademie, des Nobelmuseums und der Bibliothek, eine Lichterkette gespannt war.

Sie war nicht als Einzige voller Vorfreude auf Weihnachten!

Schon bald bog sie in die Köpmangatan ein und blieb vor einem Laden zwischen einer Kunstgalerie und einem Antiquitätenhändler stehen – die Hannah-Anna-Butik. Sie schloss auf, trat ein und freute sich darauf, den Abend in ihrem Laden zu verbringen, in dem es verführerisch nach einem Gemisch aus Leder, Seide und Pappkartons duftete.

Für sie der schönste Duft der Welt.

Zweites Kapitel

Am Sonntag starrte Hannah auf ihre neue Ware. Sie war mit der Präsentation nicht zufrieden. Das hatte sie schon mal besser gemacht, fand sie. Aber wie sollte man kreativ sein, wenn man Liebeskummer hatte.

Sie überlegte gerade, wie sie mit originellen Ideen Kunden in den Laden locken könnte, als Nico Pettersson klopfte. »Hej, hej«, grüßte sie ihn überrascht, als sie die Tür öffnete, um ihn hineinzulassen. Das Schild stängt schwang hin und her.

Heute sah er hundertmal besser aus. Der Mantel war ausgebürstet, das Haar gewaschen und gekämmt, er hatte sich rasiert, und sowohl seine Jeans als auch die Stiefel waren sauber. »Vielleicht kann ich dir helfen, deine Umsätze zu verdoppeln«, sagte er ohne Einleitung und inspizierte sofort die neuen Taschen und Gürtel.

Sie musste lachen. »Und wie soll das gehen? Indem man die Preise verdoppelt? Oder durch Zauberei?«

»Viel besser. Durch die magische Macht optischer Verkaufsförderung.« Er zwinkerte ihr zu und ließ seinen Blick über die halbleeren Regale wandern, die aussahen, als wäre ein Orkan hindurchgefegt.

»Du brauchst Stil und visuelle Gestaltung. Harmonie. Zugleich Dynamik, was die Farben angeht.«

Hannah stützte, halb belustigt, halb verärgert, die Hände in die Hüften. »Entschuldige … aber, sieht mein Laden so aus, als hätte ich Beratung nötig?«

Er hörte auf, weiter die Regale zu inspizieren und lächelte sie zerknirscht an. »Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen. Ich bin heute Nacht aufgewacht und mir ist klargeworden, dass du gestern nur versucht hast, mir zu helfen. Obwohl ich aussah wie ein Penner und wir uns seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen hatten. Und als Wiedergutmachung dafür, dass ich mich abweisend und unfreundlich benommen habe, möchte ich dir jetzt helfen.« Der Blick aus seinen durchdringend blauen Augen schien sie zu bitten, sein Angebot anzunehmen.

Sie konnte ihm nicht widerstehen. »Und wie?«

Er blickte sich wieder im Laden um. »Meine erste Stelle hatte ich in einer Kaufhauskette als Assistant Account Manager. Während des Trainings durchlief ich verschiedene Abteilungen und arbeitete eine Zeitlang mit einer exzellenten Fachfrau für Verkaufsförderung zusammen – früher hieß das Schaufensterdekorateurin. Sie war einfach brillant, als wäre sie es persönlich, die den Regenbogen in den Himmel malte. Selbst an meinen freien Tagen war ich im Geschäft, um von ihr über Textur und kühne Formgebung zu lernen. Ich war schon kurz davor, meine Berufspläne über den Haufen zu werfen. Lass mich mal machen, die Leute werden nicht widerstehen können, das verspreche ich dir.«

Sie blickte auf die Schals, Taschen und Gürtel – ein einziges Durcheinander. »So furchtbar sieht es sonst nicht aus«, protestierte sie. Aber sie wollte unbedingt, dass dieses erste Weihnachten umsatzmäßig ein Erfolg wurde. Und den Laden noch bis elf Uhr in Ordnung zu bringen, war eine riesige Aufgabe. Auch ohne die Albin-Problematik war sie mit dem Look der Hannah-Anna-Butik nicht richtig zufrieden. Sie präsentierte ihre Ware gut, aber wo war dieser magische Touch, der die Leute tief in die Tasche greifen ließ?

Nico stieß leicht mit seinem Schuh eine Schachtel mit Geldbörsen an. »Wenn’s dir nicht gefällt, sagst du mir einfach, wie du es haben willst, und ich folge deinen Anweisungen. Was ist dein wichtigster Artikel? Etwas mit einer guten Gewinnspanne?«

»Åberg-Lederwaren.« Sie zog die entsprechende Kiste nach vorne. »Sie machen auch einen Vorschlag zur Präsentation …«

Er nahm die Ware entgegen, verschwendete keinen Blick auf das Präsentationsschema und zog eine handtellergroße Box aus seiner Manteltasche. »Ich habe Musik mitgebracht.« Er tippte auf sein Handy, und sofort erklang ein Hit der Imagine Dragons. Dann hängte er seinen Mantel auf und begann auf und ab zu gehen.

»Was machst du da?«, fragte sie.

»Ich schaue mir den Raum an.«

Offenbar überflüssig, fühlte Hannah sich ein bisschen wie gegen den Strich gebürstet und räumte schon mal die pastellfarbene, leichte Sommerware in den Lagerraum neben ihrem Büro – wobei das Büro nichts als eine Kammer mit einem Tisch war, in dem sie in einer Ecke auch Tee kochen konnte.

Während sie hin und her lief, blieb Nico an verschiedenen Stellen im Raum stehen, den Blick hochkonzentriert. Mittlerweile lief nicht mehr Imagine Dragons, sondern Yungblud. Stirnrunzelnd schaute er das Durcheinander aus halb entrollten Gürteln und wogenden Schals an, ging nach draußen, wo er, ungeachtet des eisigen Windes, der ihm das Haar in die Augen blies, das Schaufenster inspizierte.

Schließlich schob er alle Verkaufsständer und Displays in die Ladenmitte, und zurück blieben die beiden Regale an den langen Wänden, eines davon unterbrochen durch das Fenster. Er warf Hannah einen Blick zu. »Hast du einen sauberen Staubwedel?« Als sie ihm einen reichte, säuberte er damit systematisch alle Regalbretter und Auslageflächen. Hannah kochte Kaffee und er nahm Haken von einem Verkaufsständer und befestigte sie in genau gleichen Abständen an den Regalen. Dann begann er, Handtaschen auf die Regalböden zu positionieren.

»Positionieren« beschrieb es übrigens genau – jede Tasche wurde abgewischt oder gebürstet und dann präzise diagonal ausgerichtet. Er begann mit der größten und stellte die übrigen nach Größen und Farben geordnet auf – schwarz, blau, grün, naturbraun, braun, bronzefarben, rot, golden, gelb und zuletzt beige und weiß. Auf dem kürzeren Regal auf der anderen Seite des Fensters ordnete er die Unterarm- und Abendtaschen sowie die Geldbörsen nach dem gleichen Prinzip an.

Dann kam an jeden Haken ein Schal, immer mit dem gleichen Knoten, dem gleichen Bodenabstand und in der Farbe passend zur Handtasche darüber. Mit den Gürteln verfuhr er auf der anderen Regalseite genauso.

Die Lederwaren aus Åberg erhielten einen eigenen Verkaufsständer neben der Tür. Die Taschen, Geldbörsen, Gürtel, Brieftaschen, Tagebücher, Notizbücher, Planer, Federmäppchen, Schreibunterlagen, Necessaires, Schreibmappen, Computertaschen sowie die Hüllen für den Flachmann und Reisepass waren in den Saisonfarben Burgunderrot und Limoengrün gehalten, dazu die klassischen Farben Schwarz und Naturbraun. Er arrangierte sie in Lagen, Stapeln, Fächerform oder Gruppen. Nicos Arrangement war wunderschön, es übertraf den Vorschlag des Herstellers um Längen.

Offenbar gefiel es ihm selbst auch, denn er machte eine Pause und spielte auf einer Luftgitarre zur Musik – jetzt Fall out Boy. Hannah musste lachen. Nico grinste und wandte sich dann der monochromen Gestaltung der Thekenaufsteller zu und arrangierte Hüte zu einem bunten Karussell.

Zuletzt kam das Schaufenster an die Reihe. Er stellte die Beleuchtung um, schuf ein schwungvolles Muster aus Seidenschals und ein kontrastreiches geometrisches Muster aus Taschen. »Wie wär’s mit Halloween-Dekoration?« Er nippte an seiner zweiten Tasse Kaffee, der erste war kalt geworden.

»Ich habe noch keine«, gestand sie. »Julia ist morgen wieder zurück, dann habe ich Zeit, etwas zu besorgen.«

Das schien ihn nicht sonderlich zu beruhigen. »Die Schweden lieben Halloween. Nutz das voll aus, bevor du für Weihnachten umdekorierst.«

Die unterschwellige Kritik hatte gesessen. Sie sah ihm dabei zu, wie er aus schwarzen Seidenschals Fledermäuse kreierte und sie an unsichtbaren Fäden von der Decke hängen ließ. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass du so kreativ warst.«

»Spätzünder.« Er lächelte kurz, und ihr fiel auf, wie gelöst er wirkte. Damit wurde er zwar nicht fülliger, aber die Furchen in seinem Gesicht waren nicht mehr so sichtbar. Während Hannah den Teppich saugte und die Glasflächen putzte, bastelte Nico kunstvolle Spinnweben aus Paketschnur, die im Licht der Schaufensterbeleuchtung einen ätherischen Schimmer bekamen.

Er kletterte aus dem Schaufenster, warf noch einmal einen Blick auf jedes Regal und jeden Ständer und sah dann Hannah an. »Okay?«

»Ich glaube, dafür wurde das Wort ›phantastisch‹ erfunden«, sagte sie überwältigt. Sie bewunderte die akribisch platzierte Ware, den geschickten Einsatz der Farbtöne und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Mein Laden sieht dermaßen luxuriös aus, ich erkenne ihn gar nicht wieder.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Und genau rechtzeitig fertig.«

»Mir hat’s Spaß gemacht«, sagte er leise. Er stellte die Musik ab, griff nach der Minibox und zog seinen Mantel an. »Wir sehen uns bei der Hochzeit von Rob und Leesa.«

Sein plötzlicher Aufbruch verwirrte sie, aber die letzten Worte ließen sie aufhorchen. »Du kommst auch zur Hochzeit?«

Er öffnete die Tür und drehte das Schild um, öppet. »Rob war so nett, Josie und mich einzuladen. Verkauf gut!« Und schon war er in den hellen kalten Morgen verschwunden. Sein Haar glänzte golden in der Wintersonne, und sie rief ihm ein letztes Dankeschön hinterher.

 

Als Nico gegangen war, trudelten bereits die ersten Kunden ein.

Ein Paar erzählte, dass es ihren Laden noch nie gesehen hatte – Hannah sagte nicht, dass sie bereits seit zehn Monaten geöffnet hatte –, und ein anderer rief sogar Freunde an, sie sollten die Västerlånggatan vergessen und sich in der Hannah-Anna-Butik umsehen, ein wahres Juwel von einem Laden. Wenn sie nicht gerade kassierte, beeilte sie sich, verkaufte Ware in entsprechender Farbe und Größe zu ersetzen, um Nicos Zauber zu bewahren.

Sie wünschte, sie hätte seine Handynummer, um ihm eine Nachricht zu schicken: Du Magier! Die Ware flog nur so aus den Regalen. Und auch wenn es mit der Zeit etwas ruhiger wurde, riss der Kundenstrom nie ab. Ihr Umsatz hatte sich zwar nicht verdoppelt, doch als sie sich die Zahlen bei Ladenschluss um fünf Uhr nachmittags ansah, war klar, dass das ihr bester Sonntag seit Eröffnung gewesen war. Der Umsatz war um ganze sechzig Prozent im Vergleich zum letzten Sonntag gestiegen.

Sechzig Prozent!

Ihr Herz machte einen Freudensprung. Ob es an den frühen Weihnachtseinkäufen lag, an einem Kreuzfahrtschiff, das einkaufshungrige Passagiere ausspuckte, oder Nicos magischem Merchandising, ihr Umsatz war jedenfalls nach oben geschnellt. »Weiter so, dann bist du in einem Jahr in der Västerlånggatan«, sagte sie sich.

Die Ladentürglocke läutete, und sie sah kurz auf und wollte schon auf Schwedisch sagen, dass es ihr leidtat, aber sie bereits geschlossen hatte. Jetzt musste sie lachen. Nico stand in der Tür, unter jedem Arm einen Kürbis.

»Letzte Handgriffe«, sagte er und schob die Tür mit einem Fuß hinter sich zu. Einen Kürbis legte er vorsichtig ins Schaufenster, den anderen oben auf den Drehständer mit den Hüten. Dabei hörte er den begeisterten Schilderungen ihres Verkaufstags zu. »Klar«, sagte er, als hätte er nichts anderes erwartet. »Hast du Hunger?«

Hannah zögerte. Was sollte diese Frage? Nach dem gestrigen Abend konnte er sie das doch nicht ernsthaft fragen.

»Ich kenne da ein kleines Restaurant«, fuhr er fort.

Da er seinen Blick weiter auf den Kürbis gerichtet hielt, konnte Hannah nicht einschätzen, ob ihre Reaktion richtig war oder nicht. Sie warf einen Blick nach draußen, wo es trotz der Nachmittagsstunde bereits dunkel war, und dachte an ihre Wohnung, in der sie bis zur Albins Rückkehr allein sein würde. Er würde sicher spät kommen und sich erschöpft ins Bett fallenlassen. »Essen wäre nicht schlecht«, sagte sie beiläufig und begann mit den üblichen Vorbereitungen für den Ladenschluss. Nico fühlte sich nach der morgendlichen Arbeit im Laden offenbar bereits wie zu Hause und füllte ein paar Regalflächen auf, wozu sie noch nicht gekommen war.

Sie knöpften ihre Mäntel zu, und Nico spazierte mit ihr über den Stortorget, wo das Kopfsteinpflaster bereits vom Nachtfrost glitzerte, und von dort gingen sie bergab und einmal quer über die Västerlånggatan. Sie kamen an geschlossenen Läden vorbei, in denen winterliche Strickwaren und Holzclogs auslagen, und nahmen schließlich eine Gasse, die so schmal war, dass sie hintereinander gehen mussten, bis sie auf die breitere Nora Nygatan kamen. Vor einer dunkelgrünen Fassade blieb er stehen, in goldenen Lettern prangte der Name: Hörnan – Ecke. Drinnen führte eine steile Treppe in ein Kellerbistro mit Backsteingewölbe und holzverkleideten Wänden. Kerzen in Flaschen standen auf Tischen mit rotkarierten Tischdecken, und der Duft von Kaffee umhüllte Hannah und Nico, als sie sich an einen Platz an der getäfelten Wand setzten.

Hannah war neugierig. Nico hatte sie tatsächlich zu einem Restaurantbesuch eingeladen. Dabei hatte er am Tag zuvor gerade mal eine einzelne Pommes gegessen.

Vielleicht erriet er ihre Gedanken, denn sobald sie Platz genommen hatten, kam er auf das Thema zu sprechen: »Du hast mich gestern mit deiner Reaktion auf mein Erscheinungsbild ein bisschen aus der Fassung gebracht. Mein Pennerlook kann nicht der einzige Grund dafür gewesen sein. Also nehme ich an, du findest, ich wirke zu dünn?«

Ihr Herz kam bei seinem eindringlichen Tonfall kurz aus dem Takt, aber sie glaubte nicht, dass sie ihm mit einer Notlüge weiterhelfen würde. »Dünn ist das richtige Wort«, sagte sie ernst. »Wenn ich ehrlich sein soll, abgemagert.«

Er blinzelte kurz. Vielleicht hatte er auf eine andere Antwort gehofft, aber was er darauf sagte, klang aufrichtig. »Ich habe mich im Trainingsraum des Hotels gewogen. Ich bin zehn Kilo unter dem Minimalgewicht für meine Körpergröße.«

Hannah rechnete die Kilos in Pfund um. »Das kommt ungefähr hin«, sagte sie zurückhaltend.

Er schob die Augenbrauen zusammen. »Ich bin in mich gegangen. Meine Tochter braucht mich in einem gesunden Zustand, ich werde also mehr auf meine Ernährung achten. Und darauf achten, dass ich nicht so aussehe, als hätte ich in einem Straßengraben übernachtet.« Er hob eine Hand, als wollte er einem Einwand von Hannah zuvorgekommen. »Um ganz ehrlich zu sein, fühle ich mich in Burgerrestaurants nicht wohl. Das ist genau das Essen, das während meiner Eishockeyzeit auf der roten Liste stand, also war ich damals natürlich genau darauf scharf. Ich habe es gegessen, um es hinterher … wieder loszuwerden. Für mich war das damals eine schwierige Zeit, mit dem ständigen Wechsel von Ländern und Schulsystemen. Mum wollte nicht mit nach England, wo Dad seinen Job hatte, und so haben sich meine Eltern getrennt, und mein Bruder Mattias blieb in Schweden bei meiner Mum. Ich hatte wegen des Hockeys immer schon mehr Zeit mit meinem Dad verbracht, aber die beiden haben mir natürlich sehr gefehlt. Ich nehme mal an, das Essen war eine Art Trost für mich, und hinterher musste ich es wieder loswerden, um mein Gewicht zu halten.« Er griff gedankenverloren zu einer der blassgrünen Speisekarten. »Gestern Abend bin ich, als ich Burger auf der Karte sah, sofort wieder mental in einer Einbahnstraße gelandet und fühlte mich in die alten Zeiten zurückversetzt. Ich war wahrscheinlich ziemlich abweisend.«

Vor Mitgefühl war ihr die Kehle wie zugeschnürt. »Es tut mir so leid.«

Nicos Augen blitzten. »Nein, das muss es nicht! Du hast mich dazu gebracht, mich selbst anzusehen, bevor ich wieder krank werde. Ich habe dir zu danken!«

Sie winkte ab. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass dein Dad darauf bestanden hat, dass Rob eine spezielle Diät einhalten sollte, als er Hockey gespielt hat. Er hat sich zwar nicht dauernd mit Fritten und Eiscreme vollgestopft, aber er hat auch nicht darauf verzichtet.«

Nico verzog das Gesicht. »Dad war mein Dad, aber auch mein Coach. Und ich wollte ihm alles recht machen. Er war nicht streng oder autoritär – das liegt uns Schweden nicht. Aber er hat mich immer als Beispiel für einen athletischen Körperbau mit geringem Körperfett angeführt. Als er herausfand, dass ich mir regelmäßig den Finger in den Hals steckte, ist für ihn eine Welt zusammengebrochen. Wir haben zusammen eine Therapie gemacht, und ich habe damit aufgehört. Zum Glück hatte ich das Problem noch nicht so lange, das war von großem Vorteil.« Er seufzte. »Aber dann habe ich es damit kompensiert, dass ich gewisse Nahrungsmittel überhaupt nicht mehr zu mir genommen habe, zum Beispiel Kohlenhydrate und Fette. Ich habe viel zu wenig gegessen. Nach weiteren Therapiesitzungen habe ich dann gelernt, dass nicht ich Kontrolle über das Essen hatte, sondern das Essen über mich. Ich musste Strategien entwickeln und Mittel und Wege finden, um mich ausgewogen zu ernähren.«

»Aber manchmal klappt es nicht, oder?«, erriet sie. Sie musste ihn nur ansehen.

Er nickte, sein blondes Haar schimmerte im Kerzenlicht. »Bei Stress kehre ich sofort zu meinen alten Gewohnheiten zurück. Und die letzten drei Jahre waren hart. Eine Ehe zu beenden, ist richtig mies. Meine Exfrau Loren war dagegen. Sie wollte sich nicht trennen.«

Er schüttelte mit einer Kopfbewegung eine Strähne aus den Augen. »Mein Verhältnis zum Essen ist kompliziert. Wenn ich wieder an einen kritischen Punkt komme, treffe ich mit mir selbst eine Vereinbarung. Meine jetzige lautet, ich esse nur, wenn ich gesund essen kann – so wie in diesem Restaurant hier, wo es gute Auswahl gibt. Auf diese Weise werde ich weniger getriggert.«

Hannahs Wangen und Ohren glühten. »Tut mir leid, dass ich dich ausgerechnet zu Burger Town eingeladen habe. Ich habe dich nicht mal gefragt, was du gerne isst.«

Er machte eine ungeduldige Geste. »Ich bin für meine Ernährung selbst verantwortlich. Und ein Burger hin und wieder sollte eigentlich kein Problem sein und mich nicht sofort in schlechte Stimmung versetzen. Aber ich hatte gestern einen miesen Tag.« Sein Blick verdunkelte sich. »Ich hatte vorher mit Josie über Facetime gesprochen. Sie ist ja bei ihrer Mum. Als ich ihr erzählt habe, dass ich den Tag mit Kindern in Skytteholmsparken verbringen würde, hat sie geweint und gesagt, sie würde mich vermissen. Am liebsten hätte ich den nächsten Flug genommen, um bei ihr zu sein. Aber das ging natürlich nicht. Die Leute hier wären ohne mich nicht klargekommen, und außerdem ist es Lorens Wochenende mit Josie. Manchmal ist es schwierig zwischen den beiden, aber ich darf mich nicht in ihre Beziehung einmischen. Ich war ziemlich fix und fertig. Und wenn es mir schlechtgeht …« Er machte eine Handbewegung, als wollte er etwas verscheuchen. »Aber ich habe später noch mal mit Josie telefoniert, und da klang sie wieder ganz fröhlich.«

Hannah hörte ihm zu. Nico war so angespannt und hatte sich derart unter Kontrolle, dass es ihr schwerfiel, in ihm den lachenden, lebhaften, hart trainierenden Teenagerstar der Peterborough Plunderers wiederzuerkennen. Ihr fiel ein, dass Leute manchmal stehengeblieben waren, um ihm bei seinen anmutigen und selbstvergessenen, meisterhaften Vorwärts- und Rückwärtssprints, Drehungen und Kehrtwenden auf dem Eis zuzuschauen. Hannah hatte sein Niveau niemals auch nur annähernd erreicht.

Und unter dieser Fassade des vitalen Sportlers hatte sich die ganze Zeit ein zwiespältiges Verhältnis zum Essen verborgen.

Ein Kellner in einer grünen Weste nahm ihre Bestellung auf. Nico wählte ein Gericht mit Lachs, Hering, Krabben, Eiern, Käse, Butter und Brot, dazu ein kleines Glas Wein. Hannah entschied sich für Roastbeef mit Dillkartoffeln und ein großes Glas Wein. Sie war zu Fuß unterwegs und brauchte nur von Gamla Stan nach Östermalm zu laufen. Also musste sie sich wegen Alkohol keine Sorgen machen. Sie hatte kein eigenes Auto, hätte aber jederzeit Albins Porsche nehmen können, wenn er ihn nicht gerade selbst brauchte. Sie machte nur selten davon Gebrauch. Was, wenn die makellose silbergraue Karosserie einen Kratzer abbekam?

»Klingt so, als hättest du ein wunderbares Verhältnis zu deiner Tochter«, sagte Hannah, als der Kellner wieder verschwunden war.

Sein Gesicht nahm weiche Züge an. »Sie ist süß, witzig und stellt in einem fort Fragen. Blond, mit blauen Augen, richtig hübsch.«

»Ein Mini-Nico?«, scherzte Hannah. Der Wein wurde gebracht, und sie hielt inne, um an der roten Flüssigkeit zu nippen.

An Nicos Augenwinkeln zeigten sich Lachfältchen. »Was Haare und Augen angeht, könnte das stimmen. Und ihre Mutter ist hübsch, das hat sie von ihr.«

Hannah überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass er zwar ein paar Kilo zulegen könnte und ein bisschen öfter lächeln, aber trotzdem sehr attraktiv war. Aber sie entschied sich für sicheres Terrain. »Ich wette, Josie liebt Sport.«

»Sie liebt Einhörner und Prinzessinnen«, sagte er trocken. »Aber das ist in Ordnung. Ich bin kein ehrgeiziger Vater.«

»Aber sie ist ein Papakind?«, wagte Hannah sich vor.

Er schenkte ihnen beiden Wasser ein. »Vielleicht. Wir waren uns, als wir uns getrennt haben, einig, dass sie bei mir bleiben sollte.« Er zögerte. »Josie hat jetzt eine kleine Schwester, Maria, die gleich nach der Trennung auf die Welt gekommen ist. Loren hat nach beiden Geburten unter schwerer postnataler Depression gelitten. Josie fühlt sich bei mir sicher. Ich kann mir eine Tagesmutter leisten, und meine jüngere Cousine Emelie studiert in London, lebt bei uns und hilft ebenfalls aus. Zusammen geben wir Josie ein gutes, liebevolles Zuhause.«

»Das ist wunderbar«, sagte Hannah. »Hast du denn eine neue Partnerin?« Sie errötete – klang das nicht zu sehr nach Anbaggern?

»Nein. Das Leben ist auch so schwer genug«, scherzte er. Und dann ernster: Loren übrigens auch nicht. Ich nehme an, dass sie deswegen auch die Scheidung immer noch nicht richtig akzeptiert hat … Naja, obwohl …« Er unterbrach sich und wirkte nervös. Dann atmete er tief durch. »Ich werde dir erzählen, wie es war, denn Dinge zu verheimlichen ist keine gute Angewohnheit. Loren wurde von einem anderen Mann schwanger, als wir verheiratet waren. So ist Maria entstanden. Das konnte ich nicht ertragen. Ich musste akzeptieren, dass es zwischen uns keine Liebe mehr gab und es an der Zeit war, sich zu trennen. Ich war voller Zweifel, aber Loren war nicht mehr die Frau, mit der ich leben konnte. Sie zurückzuweisen fiel mir nicht leicht. Das eigentliche Ende war auf tausend Arten schwierig. Wir hatten ein Kind. Und Loren war daran gewöhnt, dass ich mich um sie kümmerte, und nicht davon überzeugt, dass ich mich umgewöhnen könnte. Wenn ich ihr damals angeboten hätte, weiterzumachen wie bisher und Maria zu adoptieren, wäre sie damit einverstanden gewesen.«

Hannah war schockiert. »Das muss schwer gewesen sein«, sagte sie mitfühlend.

Er rutschte auf seinem Stuhl tiefer, als würde das Gewicht der Erinnerungen ihn niederdrücken. »Sie hat damals viel getrunken, und wahrscheinlich gar nicht gewollt, dass das passierte. Sie hat damals nicht mehr mit mir geschlafen, Maria konnte also nicht von mir sein.« Der Kellner in der grünen Schürze brachte das Essen und sagte freundlich: »Varsågoda, hoppas det smakar! Guten Appetit, hoffe, es schmeckt euch.« Nico dankte ihm, aber er starrte gedankenverloren auf seinen Teller.

Hannah griff zum Besteck. »Und wie ist Josie damit klargekommen?« Der erste Bissen vom Roastbeef mit der duftenden Dillsauce war köstlich.

Er ließ sich Zeit, griff aber irgendwann ebenfalls nach seiner Gabel. »Überraschend gut. Josie liebt Maria über alles, das macht es leichter. Maria ist inzwischen zwei Jahre alt. Immer wenn Josie von Loren zurückkommt, hat sie neue Fotos oder Videos von der kleinen Schwester dabei.« Er schob das Essen auf dem Teller hin und her und aß ein bisschen von seinem Lachs.

Hannah ließ ihm Zeit zum Essen, bevor sie fortfuhr: »Dürfte ich?«

»Die Fotos von Maria ansehen? Ja klar, sie ist die Schwester meiner Tochter. Unsere verkorkste Beziehung ist ja nicht der Fehler der armen Kinder. Maria nennt mich Meindad, weil Josie immer sagt, dass sie zu ihrem Dad nach Hause geht, und Maria denkt, das sei mein Name. Meindad. Irgendwie berührend, wo ich doch nicht ihr Dad bin. Loren hat versucht, ihr Nico beizubringen, aber sie ist schnell wieder zu Meindad übergegangen. Sie ist wirklich niedlich.« Er nahm einen Schluck Wein. »Josie hat letzten Monat ihren achten Geburtstag gefeiert, und Maria stand auf der Partyliste ganz oben. Loren war auch da. Wir haben uns benommen wie zivilisierte Menschen.« Sein Tonfall drückte beim letzten Satz leises Bedauern aus. Hannah vermutete, dass sich hinter seinem ruhigen Äußeren viel Aufruhr verbarg.

Er wechselte das Thema. »Wie gefällt dir das Leben in Schweden? Ich erinnere mich noch, wie lustig es war, als ich versucht habe, dir und Rob damals Schwedisch beizubringen. Aber jetzt kannst du es.« Er schob sich eine Krabbe in den Mund.

»Es war auf jeden Fall nützlicher als Französisch, damit habe ich mich wirklich abgemüht«, sagte sie leichthin, war aber überrascht, dass er sich noch so gut an sie erinnerte. Es war verständlich, dass sie noch ein klares Bild von ihm hatte. Nico Pettersson, der ausländische Athlet, war jedem ein Begriff gewesen. Mädchen hatten Hannahs Nähe gesucht, nur um an ihn heranzukommen, weil er mit ihrem Bruder Rob eng befreundet war. »Wie geht’s deinem Vater?«, fragte sie. »Erinnerst du dich noch, dass er den Leuten gesagt hat, sie könnten ihn Lasse nennen, und sie haben es Lassie ausgesprochen?«

Er lachte. Er hatte fast die Hälfte seines Essens aufgegessen, und er wirkte ruhiger. »Leute, die Lars heißen, werden von Freunden oft Lasse genannt. Er war sich aber nie sicher, ob Lassie ihn zu einem Mädchen oder einem Hund machte, und so hat er alle aufgefordert, es doch wieder mit Lars zu versuchen.« Er nippte an seinem Wein. »Es geht ihm gut. Er lebt in der Nähe von Nässjö, in der Region Småland in Südschweden, der See Vättern liegt ganz in der Nähe. Mein Bruder Mattias wohnt mit seiner Freundin nicht weit von Huskvarna. Und meine Mutter am Stadtrand der Kleinstadt Älgäng. Mein Vater arbeitet nur noch für lokale Vereine als Hockeytrainer, er ist in Rente. Mattias ist kuratorischer Assistent im Werksmuseum von ›Husqvarna‹. Dieses Unternehmen hat eine bewegte Geschichte und hat von Musketen bis hin zu Nähmaschinen schon vieles hergestellt, jetzt vor allem Motorräder und Rasenmäher.«

»Siehst du deine Familie oft?« Sie aß mittlerweile langsamer, denn wenn sie vor ihm fertig wurde, würde er sein Besteck ebenfalls sofort weglegen, fürchtete sie. In dem Bistro war jetzt nach Ladenschluss richtig viel los. Viele Gäste aßen hier noch eine Kleinigkeit, bevor sie weiter in eine Bar zogen. Jedes Mal, wenn sich oben am Treppenende die Tür öffnete, zog kalter Wind herein und erinnerte sie sofort an den Herbst draußen.

Er nickte und blickte auf seinen Teller. Auf Hannah wirkte es, als würde er mit seinem Essen schweigend Zwiesprache halten. Er schob sich einen kleinen Bissen in den Mund. »Mum und Dad sehe ich mehrmals im Jahr, aber normalerweise besuche ich sie, sie kommen nur selten nach Stockholm. Mattias treffe ich weniger. Im Dezember fahre ich mit Josie zum Luciafest nach Hause. Sie freut sich schon darauf, mit meiner Mutter saffransbullar, Safrangebäck, und pepparkakor, Ingwerplätzchen, zu backen. Am liebsten wäre sie die Lucia mit Kerzen im Haar.«

Hannah hatte mittlerweile lang genug in Schweden gelebt, um von den Lucia-Prozessionen am dreizehnten Dezember gehört zu haben, bei denen symbolisch Licht in die dunklen Wintertage gebracht wurde. »Vielleicht könnte sie als Magd anfangen und sich langsam vorarbeiten?«

Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Ach, nicht nur die Rolle der Lucia, auch die der Mägde und Sternenjungen sind immer schon Monate vorher vergeben. Aber es ist immer eine wunderschöne Zeit, und in unserer Familie hat dieses Fest mindestens den gleichen Stellenwert wie Weihnachten. Für Josie ist es besser, Weihnachten in England zu verbringen, damit sie auch bei ihrer Mutter sein kann.« Er lenkte das Gespräch wieder auf Hannah. »Und dir gefällt es, wieder dein eigener Chef zu sein?«

»Auf jeden Fall.« Sie war mit dem Essen fertig und legte ihr Besteck auf den Teller. »Das ist mein zweites Abenteuer dieser Art. Beim ersten hatte ich eine kleine Textildruckfirma für T-Shirts bei den Creative Lanes unten am Flussufer in Bettsbrough. Erinnerst du dich noch an The Embankment?«

Er nickte. »Auf der Straße von Bettsbrough nach Middledip?«

»Creative Lanes ist ein Zusammenschluss von mehreren kleinen Unternehmen. War gar nicht so einfach, den Laden profitabel zu machen, obwohl ich den perfekten Nachnamen dafür habe und ihn Goodbodies genannt habe. Also habe ich auch noch als Assistant Manager für die Lanes gearbeitet. Mein damaliger Freund Lukas war mit im Geschäft und hat aus alten Sachen neue gemacht, aus Uhren zum Beispiel Briefbeschwerer oder aus Gabeln Armbänder. Bei unserer Trennung war er unmöglich und hat sich über meine Arbeit als Assistant Manager so lange beschwert, bis ich ihm meinen Anteil überlassen und bei Ikea angefangen habe. Etwas komplett anderes im Vergleich zu meiner kleinen Firma. Ich habe dort viel über Verkauf, Kundensupport und Kundenansprache allgemein gelernt. Und wegen Ikea bin ich dann nach Schweden gekommen und musste natürlich Schwedisch lernen. Auch wenn viele Leute hier wirklich richtig gut Englisch sprechen.«

Nico hatte mittlerweile fast alles aufgegessen. Er schob den Teller von sich, als wollte er zeigen, wer hier der Meister war, und Hannah musste sich ein Kompliment verkneifen. »Ich mag Stockholm, aber ich habe es so sehr vermisst, wieder mein eigenes Geschäft zu haben.« Sie legte ihre Handflächen auf den Tisch. »Und jetzt habe ich es geschafft.«

Jetzt, wo sie mit dem Essen fertig waren, schob Nico seinen Stuhl zurück und schlug seine langen Beine übereinander. »Und kann ich Rob dann wenigstens berichten, dass du glücklich bist?«

»Er weiß, wie sehr ich meine Hannah-Anna-Butik liebe«, erwiderte sie. Wieder verschwieg sie, dass ihre Beziehung mit Albin den Bach runterging. Rob würde dann sofort den großen Bruder spielen. Aber er hatte es verdient, sich in seine Hochzeitsvorbereitungen zu stürzen, ohne für sie in irgendeine Bresche zu springen.

Nico nickte und gab dem Kellner ein Zeichen, um Kaffee zu bestellen. »Wie geht es deiner Großmutter, Nan Heather? Ich weiß noch, dass wirklich jeder in Middledip sie kannte.«

Hannah musste bei dem Gedanken an ihre Nan unwillkürlich lächeln – zierlicher Körper, breites Lächeln, und unter dem grauen Haar strahlende Augen, die durch die Brille noch vergrößert wurden. Wie ihre Stimme immer leicht knarrte. »Weil sie als Pflegemutter so viele Kinder großgezogen hat. Für die Pflegekinder war sie erst Tante Heather, aber als ich und Rob auf der Welt waren und Nan sagten, nannten sie sie Nan Heather.«

»Sie kann doch nicht immer noch Pflegekinder haben?« Nicos Augen waren halb geschlossen, als hätte er viel mehr getrunken als nur ein kleines Glas Wein. Verführerisch.

Hannah schüttelte den Gedanken ab. Nicht, dass sie sich da noch in irgendetwas reinsteigerte. Vielleicht lag es nur daran, dass er authentisch war, voller Leben, im Gegensatz zu Albin mit seiner gelackten Großspurigkeit. »Sie ist gerade neunzig geworden. Bei Mums Geburt war Nan dreißig Jahre alt. Mit zwanzig hat sie geheiratet. Sie dachte, sie würde keine Kinder bekommen und hat sich jahrelang um Pflegekinder gekümmert. Und dann kam Mum. Sie ist mit vielen Kindern zusammen aufgewachsen, aber sie hat keine Geschwister.«

»Neunzig!« Nico lächelte. »Wie schön.« Ihr Kaffee kam, seiner war stark und schwarz. Der Duft stieg ihnen in die Nase.

»Sie lebt allein. Dad erledigt die Gartenarbeiten und Mum einmal pro Woche die Einkäufe, aber ansonsten ist sie auf niemanden angewiesen. Mum und Dad sind übrigens seit kurzem in Rente. Dad baut seit Jahren einen alten Camper um, einen VW, und nach Robs Hochzeit wollen er und Mum quer durch Europa fahren. Ich dachte eigentlich, sie würden auf den Sommer warten, aber sie wollen den Winterzauber in der Schweiz und Österreich miterleben. Nan sagt, dass die beiden ruhig über Weihnachten weg sein können, weil sie im Dorf genug zu tun hat. Sie hat auch einen Partner, Brett, aber die beiden leben nicht zusammen. Er ist erst achtzig, also ihr junger Geliebter.«

»Fährst du über Weihnachten nicht nach England?« Nicos Augenbrauen hoben sich fragend.

»Wie die meisten Läden in Schweden ist meiner auch nur am Weihnachtsabend und am ersten Feiertag geschlossen. Und ich kann wirklich nicht erwarten, dass Julia für mich einspringt, außerdem ist es die erste Feiertagssaison für die Hannah-Anna-Butik. Ich werde das Fest in Middledip vermissen, aber ein eigener Laden verlangt einem nun mal Opfer ab.« Außerdem hatte Albin bereits angekündigt, dass er Weihnachten sicher nicht wieder in England verbringen würde. Im letzten Jahr hatte er sich dazu überreden lassen, aber bei jeder Zusammenkunft am Rand gesessen und ein Gesicht gemacht, als ob ihm das alles völlig unverständlich wäre. Das hatte Hannahs Freude am Spaß mit der Familie sehr gedämpft.

Sie fragte sich gerade, ob Albin und sie an Weihnachten überhaupt noch ein Paar sein würden, als Nico einen Blick auf seine Uhr warf. »Tut mir leid, ich muss unseren gemeinsamen Abend beenden, fürchte ich. Ich habe Josie versprochen, dass ich sie noch über Facetime anrufe, bevor sie ins Bett geht. Mit der Zeitverschiebung komme ich gerade noch rechtzeitig ins Hotel, wenn ich jetzt sofort aufbreche.« Er macht dem Kellner ein Zeichen, dass er zahlen wollte, und bestand darauf, sie einzuladen.

»Aber ich möchte mich bei dir für deine Hilfe im Laden revanchieren.«

Er winkte ab und bezahlte mit Karte. »War ja meine Idee.« Er zog seinen Mantel an.

Sie tat es ihm gleich und sagte: »Na dann, vielen Dank. Dann spendiere ich dir auf der Hochzeit einen Drink.«

An der Treppe ließ er ihr höflich den Vortritt. »Ich freue mich darauf, deine Familie wiederzusehen. Josie und ich übernachten übrigens in dem Hotel, in dem auch die Hochzeit stattfindet.«

»Port Manor? Meine Familie und ich auch. Ist schon etwas übertrieben, wenn man bedenkt, dass es bis Middledip nur zwei Kilometer sind. Aber ich freue mich schon darauf, mich spätnachts ins Bett fallenzulassen und nicht noch auf ein Taxi warten zu müssen.« Bei dem Gedanken an die Hochzeit, die ihre ganze Familie zusammenbringen würde, musste Hannah unwillkürlich lächeln. Sie liebte Schweden, aber sie fuhr auch gerne in ihre Heimat.

Auch er lächelte, als sie in den dunklen Abend hinaustraten. »Tut mir leid, dass ich es so eilig habe.« Er umarmte sie kurz und freundschaftlich, trabte los und warf ihr über die Schulter noch ein »bis bald« zu.

Hannah sah ihm noch nach, bis er um eine Straßenecke verschwunden war, dann zog sie eine leuchtend blaue Strickmütze aus ihrer Manteltasche. Bei der Arbeit hatte sie ihr Haar hochgesteckt. Aber jetzt nahm sie die Spange heraus und genoss es zu fühlen, wie sich ihre Kopfhaut entspannte. Dann setzte sie ihre Mütze auf. Ihr Atem gefror in der kalten Luft. Sie verließ Gamla Stan und überquerte die Brücke. Das Straßenpflaster glitzerte wie von Diamantsplittern übersät, und das Wasser unter ihr reflektierte die vielen Lichter, als wären die Sterne vom Himmel hineingefallen.

Frostiger Wind spielte mit ihrem Haar, und ihre Hände und Füße waren bald taub vor Kälte. Mit schnellen Schritten ging sie an Kaufhäusern, Parkanlagen, Kanälen und alten Gebäuden vorbei, bis sie die breite Nybrogatan erreichte. An einem fünfstöckigen honiggelben Wohnhaus in der Nähe der Metrostation gab sie den Türcode ein, ignorierte die silberglänzende Aufzugtür, lief hinauf in den ersten Stock und schloss die Wohnungstür auf. Wie erwartet war Albin noch nicht zu Hause, sein Reich, in dem weißes Leder und dunkler Granit dominierten, lag verlassen. Jeder ihrer Schritte hallte wider. Sie hätte seinen monochromen Minimalismus gerne mit lebhaften, warmen Stoffen und Farben aufgelockert, aber Albin lehnte das kategorisch ab. Und weil die Wohnung seiner Familie gehörte, hatte sein Geschmack Vorrecht. Vor kurzem hatten sie sogar über die Handtücher im Bad gestritten.

Hannah konnte es nicht fassen, wie sich ihre leidenschaftliche Romanze gewandelt hatte. In den letzten Monaten war Albin distanziert und kühl geworden. Er war nicht länger der Albin, der von ihrer unprätentiösen Bodenständigkeit hingerissen war und über ihre Scherze lachte, der von ihr nicht genug bekam und ihr von der Arbeit aus eindeutige Nachrichten schickte, jener Albin, der sie glücklich machen wollte und ihr den Laden ermöglichte, indem er den Mietvertrag unterschrieben hatte. Sie erinnerte sich noch gut an jenen Tag, daran, wie sie ihm auf ihre Weise gedankt hatte und er ihr zugeflüstert hatte: »So bleibst du hier in Schweden«.

Rob hatte sie mal gefragt, ob sie vielleicht mehr in Albins Lebensstil verliebt war als in den Mann. Sie hatte das vehement verneint. Sie hatte Albin auch ohne sein luxuriöses Apartment attraktiv gefunden, wo sie in einem bezaubernden Hof im Sommer draußen essen konnten und wo sich an jeder Ecke Restaurants befanden, und sie das nötige Kleingeld hatte, um sich einen Einkauf im Öko-Gourmet-Supermarkt ICA Esplanaden leisten zu können. Hannah mochte ehrgeizig sein, wenn es um ihre eigenen Leistungen ging. Aber nicht, wenn es darum ging, einen wohlhabenden Mann zu ergattern. Ein Anzug war ein Anzug und ein Haarschnitt ein Haarschnitt – egal, wie teuer sie waren.

Jetzt musste sie sich eingestehen, dass Rob vielleicht etwas gesehen hatte, das sie nicht hatte wahrhaben wollen. Und die schmerzliche Wahrheit war, dass Albin sein Interesse an ihr verloren hatte. Mittlerweile konnte sie nackt durch die Wohnung laufen, ohne dass er von seinem Handy aufblickte. Das tat weh, und es war, fand Hannah, eigentlich höchste Zeit, sich dieser Wahrheit zu stellen. Zur Wahrheit gehörte aber auch, dass sie wegen seines Desinteresses nicht am Boden zerstört war. Es war die ganze Zeit nur eine Verliebtheit gewesen.

Sie kickte ihre Stiefel in den Wandschrank im Flur, machte sich eine dampfend heiße Schokolade und entspannte sich eine halbe Stunde lang in der Spa-Badewanne und genoss die flauschigen, rubinroten Handtücher, die sie trotz der allgemeinen Farbgestaltung der Wohnung dort hingehängt hatte. Prompt hatte Albin gesagt: »Ich lass die nur dort hängen, weil ich ohnehin lieber das Bad direkt neben dem Schlafzimmer benutze und dort dusche, und da muss ich sie ja nicht sehen.«

Heißes Wasser sprudelte, und sie schloss die Augen. Es fühlte sich an, als würde sie mit weichen, flauschigen Handschuhen geboxt. In diesem Augenblick beneidete sie Albin, der durch feuchtes Unterholz kroch, um wunderschöne Tiere zu töten, wirklich nicht. Wenigstens bestand er nie auf ihrer Begleitung.

Ihre Gedanken wanderten weiter zu Nico – erst zum ausgezehrten Nico im Pennerlook und dann weiter zum rasierten und geduschten Nico, der mit prüfendem Blick erst ihren Laden inspiziert und dann umgestaltet hatte. Jetzt waren ihre Waren wunderschön und elegant präsentiert.

Schon komisch, aber ausgerechnet einen Schweden in Schweden zu treffen, ließ sie an England denken – an Nico, wie er ständig bei ihnen zu Hause in Middledip war und wie er mit seinem Lächeln und seinen guten Manieren die Herzen von Hannahs Eltern und ihrer Nan erobert hatte. Hannah selbst war immer eine besondere, wenn auch viel jüngere Freundin von ihm gewesen, wofür sie die älteren Mädchen, die immer in der Eishalle rumhingen, glühend beneidet hatten.

Als Hannah irgendwann aus ihrer Badewanne geklettert war und sich in einen Bademantel gehüllt hatte, öffnete sie ihren Laptop für ein Facetime-Treffen mit ihren Eltern, Mo and Jeremy Goodbody.