Wunderkerzenzauber - Sue Moorcroft - E-Book
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Wunderkerzenzauber E-Book

Sue Moorcroft

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Beschreibung

Funkeln, Glitzern, Wunderkerzen fürs Herz: der unwiderstehlich romantische Weihnachtsroman von Bestseller-Autorin Sue Moorcroft ("Winterzauberküsse") Georgine liebt die Vorweihnachtszeit. Die Planung für das Weihnachtsspiel in ihrem Dorf lenkt sie von den Sorgen ab, die ihr die Schulden ihres Exfreundes bereiten. Ihr Helfer bei den Proben ist Joe Blackthorn. Auch wenn Joes wechselnde Stimmungen ihr Rätsel aufgeben, spürt sie so ein besonderes Wunderkerzenflackern im Herzen. Doch dann holt auf einmal die Vergangenheit sie ein und alles, was sie sich selbst erarbeitet hat, ist bedroht. Wird es für Georgine zum Fest ein Liebesgeschenk geben? Ein funkelndes Lesevergnügen! "Ich liebe die Romane von Sue Moorcroft." Katie Fforde

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Seitenzahl: 490

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Sue Moorcroft

Wunderkerzenzauber

Roman

Aus dem Englischen von Tatjana Kruse

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigKapitel vierunddreißigKapitel fünfunddreißigKapitel sechsunddreißigKapitel siebenunddreißigEpilogDanksagung

Für all die wunderbaren Mitglieder meiner Gang »Team Sue Moorcroft« mit einem großen Dankeschön für eure Unterstützung. Ihr seid die Besten!

Kapitel eins

Georgine band sich die Schnürsenkel ihrer Laufschuhe zu. Dabei behielt sie besorgt die Ornamentglasscheibe der Haustür im Auge. Und die beiden Männersilhouetten im Novemberlicht.

Einer der Männer klopfte an die Tür. »Miss France? Miss France? Würden Sie uns bitte öffnen.« Er murmelte seinem Begleiter etwas zu.

Der Begleiter antwortete deutlich hörbar: »Noch gebe ich nicht auf.« Er drückte ausdauernd den Knopf der Türglocke und rief über den Klingelton hinweg: »Machen Sie auf, Miss France. Es wird auch nicht lange dauern.«

Alles an diesen Männern und ihre Hartnäckigkeit signalisierte »Schuldeneintreiber«. Obwohl Georgine wusste, dass die nicht so schlimm waren wie Gerichtsvollzieher, die sich rechtmäßig Zutritt verschaffen konnten, keimten zu viele schlimme Erinnerungen in ihr auf, als dass sie die Tür geöffnet hätte – und sei es nur, um ihnen zu sagen, dass Aidan nicht mehr bei ihr wohnte. Sie hätten ihr vermutlich ohnehin nicht geglaubt.

Mit klopfendem Herzen schlüpfte sie in ihre Laufjacke und Handschuhe, dann sah sie in ihrem Rucksack nach, ob sie die Mappe für die Weihnachtsschulaufführung eingesteckt hatte. Ja, da war sie, mitsamt weihnachtlichem Deko-Umschlag. Sie ruhte oben auf ihrer eindeutig weniger weihnachtlichen Arbeitskleidung. Lautlos schulterte Georgine den Rucksack und schlüpfte aus der Hintertür.

Sie seufzte erleichtert auf, als sie den Schlüssel im Schloss drehte. Die Geldeintreiber müssten schon den Fußweg hinter den Reihenhäusern an der Top Farm Road finden und über ihren fast zwei Meter hohen Zaun klettern, um sie abzufangen. Georgine hoffte, dass ihnen das nicht gelingen würde, denn das war nun ihr Fluchtweg.

Ihr Atem formte weiße Wölkchen, als sie über den Rasen schritt. Die Grashalme waren gefroren und knirschten unter ihren Schritten. Ein Sprung auf einen der Gartenstühle, und ihre Handschuhe fanden genug Halt auf dem vereisten Zaun, damit sie sich hinüberschwingen und loslaufen konnte.

An der Kreuzung Scott Road und Top Farm Road legte sie an Tempo zu. Eigentlich hatte sie mit dem Auto zur Arbeit fahren wollen, aber dann waren ihre unerwünschten Besucher zwischen sie und ihren betagten Fiesta gekommen. Jetzt fand sie es aber beflügelnd, durch die beißend kalte Morgenluft zu joggen. Egal, wie viele Männer heute an ihre Haustür klopften, das kratzte sie nicht mehr.

Ihr Atem ging regelmäßig. Sie fand ihren Rhythmus, und ihre Beine trugen sie aus der Siedlung, in der schon vorweihnachtliche Lichterketten und Dekorationen an den Fassaden prangten. Bald ließ sie die letzten Häuser von Middledip hinter sich. Der Bürgersteig endete, und sie joggte in ihren Laufschuhen über den Asphalt der Straße. Dabei versuchte Georgine, sich auf die Requisitenliste für die Weihnachtsaufführung zu konzentrieren, aber jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr, sprang sie auf die Grasnarbe neben der Straße und hielt den Atem an, nur für den Fall, dass die Schuldeneintreiber darin sitzen könnten und irgendwie erraten würden, dass sie die Miss France war, mit der sie unbedingt ein Wörtchen wechseln wollten.

Es war eine Erleichterung, als sie nach einer guten Meile nach links abbog und den Eisenbogen mit dem weißen Schild sah, auf dem in schwarzen Lettern stand:

Acting Instrumental

Akademie für darstellende Künste

Ihre Zuflucht. Der Ort, an dem sie die Wirklichkeit hinter sich lassen konnte. Laufend legte sie die letzten hundert Meter zurück, fädelte sich durch die Studierenden, die vor dem Gebäude standen und sich unterhielten oder mit gesenkten Köpfen auf ihre Smartphones starrten.

Jemand rief in einem ziemlich ausgeprägten amerikanischen Zungenschlag: »Guten Morgen, Mizz Georgina.«

Atemlos lächelnd hob sie eine behandschuhte Hand. Es war Isla, die Tochter von Sian, mit der Georgine zur Schule gegangen war. Isla kannte ihre Familiengeschichte. Damals hatten ihre Mitschülerinnen an der riesigen Gesamtschule im nahe gelegenen Bettsbrough mit Vorliebe den melodischen Akzent ihres Vaters parodiert, der aus dem amerikanischen Bundesstaat Georgia kam. Georgine wünschte, sie hätte jedes Mal, wenn sie als Teenager eine solche Parodie gehört hatte, ein Pfund Sterling bekommen. Mit dem Geld hätte sie vielleicht die furchteinflößenden Männer an ihrer Haustür bezahlen können – wenn es denn ihre Schulden gewesen wären, die sie eintreiben wollten. Aber das waren sie gar nicht.

Vor drei Jahren, als sie den Job als Veranstaltungsleiterin an der Akademie bekommen hatte, da war sie ehrlich überzeugt gewesen, es würde sie finanziell absichern. Aber weil sie ihrem Vater und ihrer Schwester Blair zu unterschiedlichen Zeiten unter die Arme greifen musste und Aidan dann auch noch gefeuert wurde, landete sie in ihrem derzeitigen finanziellen Chaos. Trotzdem verging kein Tag, an dem sie nicht ihren Schutzengeln dafür dankte, dass sie sich von der gestelzten Bürokratensprache in der Anzeige, in der »ein/e Leiter/in für Schulaufführungen« gesucht wurde, nicht hatte abschrecken lassen. In Wirklichkeit umfasste ihre Stelle den Job einer Inspizientin, Produzentin, Händchenhalterin, Brückenbauerin und eines Mädchens für alles.

Das war genau Georgines Ding.

Sie lief auf das Hauptgebäude zu und hielt ihren Ausweis an das Kartenlesegerät. Die Eingangstür glitt auf.

Der Erste, der ihr über den Weg lief, war Norman Ogden, der Direktor der Akademie. Er schlenderte an dem noch ungeschmückten Weihnachtsbaum im Foyer vorbei. Wenn er sie unter seinem Pony ansah, musste Georgine jedes Mal an einen riesigen Schuljungen denken, der Erwachsenensachen gefunden und sich verkleidet hatte. »So kalt, wie es ist, könnte es jeden Moment schneien«, keuchte sie, um die Aufmerksamkeit ihres Chefs davon abzulenken, dass ihr nur noch wenige Minuten blieben, um sich aus ihrer Laufkleidung zu schälen und sich für ihren Job anzuziehen.

»Den Studierenden würde es sicher gefallen, wenn sie wegen Schnee einen Tag zu Hause bleiben dürften«, erwiderte er gutmütig. »Wir müssen übrigens reden. Hast du kurz Zeit für ein Gespräch? In zehn Minuten in meinem Büro?«

»Gern«, erwiderte sie und lief zum Lehrerzimmer. Sinnlos, ihn darauf hinzuweisen, dass sie total im Stress war, weil es nur noch sechs Wochen bis zur großen Premiere von A Very Kerry Christmas waren. Es war die diesjährige Weihnachtsshow der besten Schülerinnen und Schüler – die sechste unter ihrer Leitung, seit sie an die Akademie gekommen war.

Und sie musste Aidan anrufen und ihm einen Anschiss verpassen, weil er sich vor seiner Verantwortung drückte. Es war höchste Zeit, dass er endlich seinen Mann stand und die Folgen seines Handelns ausbadete. Georgine seufzte, als sie in das Umkleidezimmer für die Lehrerinnen trat. Georgine war die Königin des blitzschnellen Duschens. Sie drehte den Wasserhahn auf, schlüpfte aus ihrer Laufkleidung und hängte sie über den Heizkörper, damit sie auf dem Heimweg nicht klamm war. Dann stellte sie sich unter den Wasserstrahl. Kurz drauf zog sie schon die sauberen Sachen an, die sie im Rucksack mitgebracht hatte. Zwei Minuten, um sich die Haare zu bürsten, getönte Feuchtigkeitscreme aufzulegen und sich die Wimpern zu tuschen, dann war sie bereit für ihren Tag.

Als sie in den Flur trat, strömten die Studierenden gerade in die Proben- beziehungsweise Unterrichtsräume. Sie versperrten Georgine mit ihren Rucksäcken und Instrumentenkoffern den Weg und zwangen ihr ein Tempo auf, das sie gern »das Schülerschlurfen« nannte.

Die Luft war erfüllt von Gesprächen. Georgine lächelte. Sie liebte diese Zeit des Jahres. Halloween und die Bonfire Night waren vorüber, und die Studierenden freuten sich auf den Höhepunkt des Semesters: Weihnachten. Es hingen schon überall in Middledip, Bettsbrough und sogar in Peterborough Plakate, die für A Very Kerry Christmas warben.

Einige Studierende riefen »Hallo, Georgine!«, und sie erwiderte die Grüße. Sie blieb erst stehen, als ein hochgewachsener, ernsthafter junger Mann mit einem Gitarrenkoffer über der Schulter sie ansah und mit ernster Stimme erklärte: »Ich habe die Prüfung in Akkustikgitarre bestanden.«

Georgine ließ sich von der Ernsthaftigkeit von Tomasz, einem Schüler, der allgemein als »schwierig« galt, nicht täuschen und hob die Hand, um ihn fröhlich abzuklatschen. »Das ist großartig, Tomasz! Wirklich toll!«

»Ich kriege das Diplom.« Tomasz mochte polnische Wurzeln haben, aber sein Akzent war pures Bettsbrough. Er klatschte sie ab, als ob er das nur ihr zu Gefallen tat, doch kurz bevor er sich umdrehte, sah sie den Triumph in seinen Augen.

Georgine musste immer noch lächeln, als sie das Verwaltungsbüro betrat und Fern im Vorübergehen »Morgen!« zurief, bevor sie pünktlich um 8 Uhr 30 die Tür erreichte, auf der Norman Ogden stand.

»Immer herein«, rief Oggie leutselig und zeigte auf einen der Plastikstühle rund um seinen Schreibtisch. »Erzähle mir das Neueste vom Neuen.«

Georgine setzte sich. Sie suchte schon längst keine verborgenen Bedeutungsebenen mehr in den Gesprächsanfängen von Oggie. Sie wusste, dass er gleichermaßen interessiert Tätigkeitsberichten lauschte wie den Sorgen der Studierenden, persönlichen Neuigkeiten oder einfach nur Klatsch und Tratsch. Georgine hatte zuvor schon viele Jahre in normalen Schulen als Lehrassistentin und Schülerbetreuerin gearbeitet und wusste daher einen Direktor wie Oggie sehr zu schätzen.

Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr sofort seine Unterstützung anbieten würde, wenn sie ihm von den Männern erzählte, die heute Morgen an ihre Tür geklopft hatten, aber allein der Gedanke, etwas derart Beschämendes zu teilen, verursachte ihr Übelkeit, darum kam sie gleich auf das Geschäftliche zu sprechen. »Tomasz hat den Kurs in Akkustikgitarre bestanden. Jetzt wartet er auf sein Diplom.«

Oggie klatschte mehrmals fröhlich in seine riesigen Hände. »Ich gehe gleich nachher zu ihm und gratuliere ihm. Er scheint sich in diesem Semester etwas gefangen zu haben.«

Georgine nickte. »Vielleicht weil es schon sein zweites Jahr ist.« Ihr war bewusst, dass Oggie hinsichtlich der Weihnachtsshow auf dem Laufenden gehalten werden wollte, darum schlug sie ihre Mappe auf und erzählte ihm kurz das Neueste von den Orchester-, Tanz- und Schauspielproben und kam zum Schluss auf das Finanzielle zu sprechen. »Ich habe bessere Konditionen mit dem Raised-Curtain-Theater aushandeln können. Sie stellen uns ihre Beleuchtungs- und Tonanlage zur Verfügung. Das wird eine großartige Erfahrung für alle Mitwirkenden.«

Erfahrung war das derzeitige Modewort an der Akademie.

Georgine schloss die Mappe und rutschte zur Stuhlkante, bereit, mit ihrem Tagesgeschäft anzufangen. Ein Weihnachtsstück mit Musik war eine hervorragende Möglichkeit für die Studierenden, all das zu zeigen, was sie in ihren Kursen gelernt hatten, aber es bedeutete auch viel Schweiß aufseiten der Veranstaltungsleiterin.

Oggie machte es sich bequemer. »Bei uns fängt heute ein Neuer an, und ich würde euch beide gern miteinander bekanntmachen.«

Georgine rutschte auf ihrem Stuhl wieder zurück. »Ein neuer Lehrer? Ich wusste gar nicht, dass du jemanden gesucht hast.«

Oggie wedelte vage mit der Hand. »Offiziell nicht. Aber wenn der Richtige auftaucht … Ich weiß, dass Joe einen wertvollen Beitrag leisten wird.«

»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Georgine höflich. »In welcher Position?«

Oggies Augenbrauen hoben sich, während er über ihre Frage nachdachte. »Das wird sich noch zeigen. Er hat viel Erfahrung mit Bands – als Roadmanager und Techniker und so weiter. Er könnte am Mischpult helfen oder dabei, die Scheinwerfer auszurichten. Ich rufe ihn mal herein. Er muss noch überall in Begleitung sein, wo er auf Lernende treffen könnte, bis seine Zulassung als Lehrkraft offiziell erfolgt ist, darum lade ich ihn vorübergehend bei dir ab.«

Georgine protestierte nicht. Nicht nur, weil Oggie ihr Chef war, sondern auch, weil er der beste Chef der Welt war und einen guten Grund haben musste, wenn er jemanden, der noch gar keine offizielle Zulassung von der zuständigen Behörde hatte, an die Schule holte. Darum sah sie nicht einmal auf ihre Armbanduhr, als er zum Telefon griff. »Joe? Wir sind jetzt bereit für dich. Komm in den Verwaltungstrakt, Fern winkt dich dann zu mir.«

Es war typisch für Oggie, dass er nicht von »seinem Büro« sprach. Georgine hatte auch noch nie gehört, dass er sich als »Direktor« bezeichnet hätte. Er erwartete von den Studierenden auch nur, dass sie die Lehrkräfte mit deren Vornamen ansprachen. Und er wurde von allen Oggie genannt.

Georgine wurde aus diesen Überlegungen gerissen, als Oggies Blick zur Tür wanderte. Er grinste. »Komm rein, Joe.«

Georgine drehte sich auf dem Stuhl um und lächelte freundlich. »Hallo. Ich bin Georgine France.«

Der große, glattrasierte Mann mit den rappelkurzen Haaren blinzelte sie hinter den Gläsern seiner Brille an. Sein Gesichtsausdruck war starr. Dann räusperte er sich und murmelte: »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Joe Blackthorn.« Er nickte höflich und setzte sich auf einen der freien Stühle.

Oggie umriss für Joe die Position, die Georgine an der Akademie einnahm. Georgine beteiligte sich freundlich am Gespräch, merkte aber gleichzeitig, dass ihr neuer Kollege seltsam angespannt wirkte. Irgendwie hatte sie immer angenommen, dass große, gutaussehende Männer Selbstvertrauen ausstrahlen müssten, doch der hier verhielt sich, als ob er unter einer schweren Angststörung litt. Das würde natürlich erklären, warum Oggie sich für eine so zwanglose und unorthodoxe Einführung an die Akademie entschieden hatte.

»Also gut, Joe«, fasste Oggie zusammen, »vorerst hältst du dich immer an Georgine. Sie führt dich rasch durch die Schule und vermittelt dir eine Vorstellung davon, wie es hier bei uns läuft.« Oggie hob seine dunklen Augenbrauen. »Und noch was – wir duzen uns hier alle. Alles klar? Großartig.«

Joe verstand den Wink, stand auf und murmelte in Richtung Georgine: »Danke, dass Sie … dass du dir die Zeit für mich nimmst.«

Georgine nahm ihre Mappe und erwiderte: »Gar kein Problem.« Es war schon etwas mühsam, dass sie ihn nun immer mitschleppen oder ihn wie beim Staffellauf an eine andere Lehrkraft weiterreichen musste. »Wenn wir im Neubau anfangen, können wir den Rundgang hier im Haupthaus beenden.«

»Gern.« Er trat zur Seite, damit sie vorausgehen konnte. Georgine führte ihn zu dem Glasgang, der die Gebäude miteinander verband. Von dort hatten sie freie Sicht auf den gepflasterten Platz vor der Akademie, auf dem sich momentan nichts weiter als Bänke, Blumenkübel und vereiste Flächen befanden.

Am Ende des Ganges wandte sich Georgine ihrem schweigsamen Begleiter zu. Ihr fiel auf, dass er immer einen Schritt hinter ihr blieb, als sei es ihm unangenehm, wenn sie ihm in seine seelenvollen braunen Augen sah. Sie hob die Stimme, um das Trommeln aus einem der Unterrichtsräume zu übertönen: »In diesem Gebäude befinden sich die Tonstudios und Probenräume.« Das Trommeln hörte auf, und man vernahm zwei Stimmen, die sich stritten. Es kulminierte in einem gefauchten: »Du Arsch! Du wusstest, dass sie mir gehört.«

»Hoppla!« Georgine folgte den Stimmen durch eine Tür und stieß auf eine Gruppe Teenager, die rund um zwei schlaksige Kerle mit roten Gesichtern und funkelnden Augen standen. Einer von beiden war Tomasz, dessen gute Laune über sein Diplom nicht angehalten hatte.

»Ist euer Lehrer noch nicht hier?«, fragte Georgine ruhig.

Die beiden Streithähne sahen zu ihr. Sie wirkten beide gleichermaßen angefressen. Tomasz rieb sich das Ohr. »Nein, noch nicht.«

»Wir warten auf Errol. Er unterrichtet jetzt Musiktheorie«, sagte der andere und trat zur Seite, als habe die Schlacht hier nichts mit ihm zu tun.

Georgine bedachte beide mit einem intensiven Blick. »Errol kommt bestimmt jeden Moment. Ich muss ja sicher nicht hier bei euch warten. Oder?«

Die jungen Männer wurden rot und schüttelten die Köpfe.

Georgine strahlte. Die anderen Schülerinnen und Schüler hatten sich auf ihre Plätze gesetzt oder durchwühlten angestrengt ihre Rucksäcke. »Alles okay? Wir sehen uns dann später.« Sie kehrte zu Joe in den Flur zurück.

Er sah zu der jetzt gebändigten Schar junger Leute hinter Georgine. »Müssen wir auf den Lehrer warten?«

»So handhaben wir das hier nicht. Der Große, Tomasz, kann sich Sachen wie Gitarrensaiten nicht immer leisten, und darum schirmt er seine Besitztümer gern ab, aber Oggie behandelt die Studierenden so weit wie möglich als Erwachsene. Ich glaube, sie haben jetzt genug Dampf abgelassen.« Sie öffnete eine Tür.

»Oggie hatte immer schon ein Händchen dafür, junge Menschen so zu behandeln, als seien alle wichtig.« Joe trat in den großen Saal, der sich hinter der Tür erstreckte.

Georgine folgte ihm. »Hast du an Oggies letzter Schule unterrichtet? Ich weiß, dass er eine große Akademie in Kent geleitet hat.«

Joe wandte den Blick ab. »Er hat an meiner Schule in Surrey unterrichtet, als ich ein Teenager war. Oggie hat damals Theaterstücke und Konzerte zur Aufführung gebracht. Ich habe das Bühnenbild hin und her geschoben und auch sonst assistiert. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an der Schule eingelebt hatte, und Oggie hat mir sehr dabei geholfen. Während des Studiums bin ich mit ihm in Kontakt geblieben, und im Laufe der Jahre wurden wir Freunde.«

»Dann kennst du ihn ja schon seit Ewigkeiten«, sagte Georgine ermutigend. »Die Schule in Surrey muss eine seiner ersten gewesen sein.« Sie rechnete das nicht im Kopf nach, weil sie wusste, dass Oggie Mitte vierzig war.

Joe Blackthorn zuckte mit den Schultern.

Man konnte ihm wirklich nicht vorwerfen, eine Plaudertasche zu sein, dachte Georgine. »Das hier ist unsere Studiobühne. Wir können von Glück reden, dass wir sie haben. Meistens proben wir hier, aber unsere Aufführungen finden immer im Raised-Curtain-Theater statt.« Sie sah zufrieden zu einem Schlagzeug, das neben einem Mikrophon und zwei Lautsprecherboxen aufgebaut war. Die ersten Stuhlreihen standen noch, aber der Rest war für die Proben weggeräumt worden.

Georgine trat wieder in den Flur und legte an Tempo zu. »Das Hauptgebäude war früher ein privates Anwesen namens Lie Low. Es diente als Ferienhaus für einen der Hauptdarsteller aus der Carry On-Serie, und danach kaufte es ein zwielichtiger Geschäftsmann.« Sie kamen an den Tanzstudios vorbei. Joe spähte hinein. Während Georgine alles Mögliche dazu erklärte, nickte er nur, was er offenbar als Interaktion mit ihr für ausreichend hielt. »Unsere Akademie ist eine kleine, unabhängige Schule. Derzeit sind vierundachtzig Schülerinnen und Schüler bei uns eingeschrieben, aufgeteilt in drei Jahrgangsstufen. Zur Cafeteria geht es dort entlang. Oggie hat Gelder aufgetrieben, mit denen das Mittagessen subventioniert wird, darum ist da immer mächtig was los.« Sie wandte sich nach rechts. »Das hier ist mein Büro.« Sie lachte, als sie das Lametta sah, das am Türknauf baumelte. »Ich sammle weihnachtliche Requisiten, darum bringen mir die Leute alles, was sie selbst nicht brauchen.« Sie schritt rasch weiter direkt auf einen Tanzraum zu.

An der Tür blieb sie stehen. »Das ist der größte Probenraum. Maddie arbeitet mit den Tanzschülerinnen und -schülern der Kategorie drei momentan an unserem Weihnachtsstück. Unsere Kategorie drei entspricht Einserschülern an normalen Schulen.« Sie trat ein. An einem Ende des Raumes war eine Art Bühne mit gelbem Klebeband auf dem Boden markiert. Dort übte eine kleine Tanztruppe.

Maddie sah zu den Neuankömmlingen hinüber, tanzte aber weiter. Sie war groß und gertenschlank, hatte das helle Haar zu einem Knoten zurückgebunden und schenkte ihnen ein Lächeln, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Teenagern zukommen ließ, die ihre Bewegungen imitierten. Das rhythmische Geräusch ihrer Füße ließ Georgines Herz schneller schlagen.

»Vor und zurück«, rief Maddie. »Eins, zwei, drei, Wechsel, eins, zwei, drei, zurück, Bein anheben und Chassé … So, jetzt sind wir bereit für den letzten Teil des ersten Aktes, zweite Szene. Versuchen wir es mal mit Musik.« Sie betätigte die Fernbedienung in ihrer Hand, und ein flotter Swing-Rhythmus erfüllte den Raum.

»Und los geht’s … eins, zwei, drei und nach vorn …« Die Truppe bewegte sich erstaunlich synchron, die Mädchen in Leggings und die Jungs in Jogginghosen. Alle sahen zu Maddie, außer wenn sie bei einer bestimmten Schrittfolge den Kopf drehen mussten.

»Wunderbar! Konzentriert euch, aber nicht die Stirn runzeln, Chassé, und zurück und Bein heben«, rief Maddie. Gesichter entspannten sich, Gliedmaßen bewegten sich im Rhythmus.

Georgines Zehen wippten. Sie flüsterte Joe zu: »Alle Schülerinnen und Schüler führen ein Fortschrittsprotokoll, in dem sie festhalten, wie sich ihre kreative Reise entwickelt, welche Entscheidungen sie getroffen haben und wie sich das auf das Publikum auswirkt. Wir machen zusätzlich Videos von den Proben und den Aufführungen.«

»Großartig.« Jetzt wirkte sein Nicken definitiv interessierter.

Erfreut fuhr sie fort: »Wir sind echt stolz darauf, dass wir unsere Schülerinnen und Schüler stets selbst entscheiden lassen. Wir fördern sie, spornen sie an, helfen ihnen proaktiv, aus der Musik, dem Tanz oder dem Schauspiel alles herauszuholen, was sie nur herausholen können. Wir nehmen auch Kinder ohne irgendeinen Schulabschluss auf und bieten Wahlfächer vom Einstiegslevel bis zum höchsten Niveau an. Die Einstellung ›alles ist möglich‹ ist wirklich toll.« Sie musste über ihre eigene Begeisterung lachen. »Ich finde es einfach großartig, wie umwerfend gut die Akademie ist.«

Joe musste jetzt tatsächlich lächeln. »Ich bin sicher, du bist stolz darauf, zum Erfolg der Akademie beizutragen.« Für Mr Plaudertasche war das vermutlich überschwängliche Euphorie.

Georgine sah wieder zu der Tanztruppe, die sich zu der einprägsamen Melodie bewegte. »Ich muss mir den Rest dieser Probe ansehen. Ist es für dich okay, hierzubleiben?«

»Klar, gern.« Zu Georgines Überraschung folgte ihr Joe weiter in den Raum, um die Unterhaltung fortzusetzen. »Werden die Tänzer bei der Aufführung Musik vom Band haben?« Er hatte die Hände in die Taschen seiner Jeans gesteckt.

»Nein, das ist nur eine Probeaufnahme. Das Weihnachtsstück wurde von Jasmine geschrieben und komponiert, einer ehemaligen Schülerin, die mittlerweile studiert. Sie hat ein Stipendium gewonnen, das ihr das Studium finanziert. Ihre Kommilitonen an der Uni haben ihre Kompositionen eingespielt und aufgenommen. Wir haben hier zwei Bands an der Akademie, aber die proben die Stücke noch.«

Georgine erwartete, dass Joe von so viel Details eher gelangweilt sein würde, aber seine braunen Augen strahlten zufrieden. »Bestens.«

Maddie beobachtete immer noch die Bewegungen der Tanztruppe, verkündete gelegentlich laut die Schrittfolge, musterte aufmerksam jeden einzelnen Tänzer, jede Tänzerin. Georgine konnte ihre Füße nicht länger im Zaum halten. Sie reichte Joe ihre glänzende Produktionsmappe für die Weihnachtsshow, baute sich hinter Maddie auf und tanzte mit.

Zwei Schülerinnen grinsten ihr zu, und Maddie, die Georgine in der Spiegelwand sah, drehte sich geschmeidig um und tanzte im Duett mit Georgine. Die wiederum vergaß all ihren Stress und ihre Sorgen und lachte laut, während die Truppe nach vorn auf sie zutanzte und sie rückwärtstanzen musste. Sie fühlte sich wie Ginger Rogers mit lauter Fred Astaires … abgesehen davon, dass sie Jeans und Turnschuhe trug anstatt eines Kleids mit Petticoat und Stöckelschuhen.

Am Ende des Segments rief Maddie: »Drei, zwei, eins, cha-cha-cha und ausgleiten und Jazzhände. Phantastisch, Leute! Kurze Pause. Trinkt was, wenn ihr wollt.«

Georgine landete wieder auf dem Boden der Tatsachen. Sie schnappte nach Luft und ging auf ihre Kollegin zu. »Maddie, darf ich dich unserem neuen Kollegen Joe vorstellen? Oggie war früher einmal sein Lehrer, wie sich herausstellte. Er hat Erfahrung als Techniker.«

Maddie nahm große Schlucke aus ihrer Wasserflasche und zwinkerte. »Die Sahneschnitte mit der Designerbrille? Wie ist er so?«

»Ein Augenschmaus«, räumte Georgine ein, »aber verdammt schwer zu knacken. Er spricht kaum ein Wort.«

Doch als sie Maddie zu Joe führte und sie ihm vorstellte, schenkte Joe ihr ein Lächeln, das nicht ansatzweise schüchtern war. »Ich habe es wirklich genossen, bei deiner Stunde zuzusehen«, sagte er zu Maddie und lobte lang und breit, wie großartig ihre Truppe war und wie schade es doch sei, dass nicht mehr Jungs Tänzer werden wollten.

An Georgine gewandt, beschränkte er sich wieder auf das absolute Minimum an Worten. »Oggie hat mir eine Textnachricht geschickt. Ich soll zu Fern und mein Zulassungsformular ausfüllen.«

»Ist gut, ich bringe dich hin.« Georgine drehte sich zur Truppe. »Ihr seid klasse! Ich bin gleich zurück.«

Kurz darauf übergab Georgine Joe den fähigen Händen von Fern, der Frau mit den toupierten grauen Haaren, deren Ruhe unerschütterlich war.

Als Georgine in den Probenraum zurückeilte, versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, dass Joe sich mit einem unverkennbaren Ausdruck der Erleichterung an Ferns Computer gesetzt hatte.

Kapitel zwei

Nachdem Joe alle nötigen Häkchen auf dem Bildschirm gesetzt und er Fern dabei zugesehen hatte, wie sie seinen Online-Antrag überprüft und abgeschickt hatte, dankte er ihr und ging zu Oggies Büro. Dabei tat er so, als würde er den Vorwurf in Ferns Augen nicht sehen, weil er sie nicht um Erlaubnis gebeten hatte. Joe schloss die Tür.

Er ließ sich auf denselben braunen Stuhl fallen, auf dem er zuvor schon gesessen hatte, nahm die Brille ab und hielt sich die Hände vor die Augen.

Oggie musste angesichts von so viel Theatralik lachen. »Was ist los?«

Joe rührte sich nicht. Mit geschlossenen Augen ließ sich die Demütigung leichter ertragen. »Georgine France. Ich war mit ihr an derselben Schule. Und zwar hier, nicht in Surrey. In ihrer Gegenwart benehme ich mich wie ein pubertierender Volltrottel.«

Oggie schaute ernst. »Oh! Wird das ein Problem?«

Joe presste die Handflächen noch fester auf sein Gesicht. Sein frisch geschnittenes Haar und die glattrasierten Wangen fühlten sich unter der Berührung merkwürdig an. Seit er sich rasierte, kam er sich selbst fremd vor. »Ich weiß es nicht.«

»Hat sie dich erkannt?«

»Sie hat sich jedenfalls nichts anmerken lassen. Zwischen vierzehn und vierunddreißig verändert sich jeder. Damals war sie blond und dürr und hat mich immer angesehen, als wäre ich gerade aus einem Müllcontainer gekrochen.«

Oggies Stimme klang mitfühlend. »Du bist heute ein anderer. Hast du sie damals gut gekannt?«

Joe nahm die Hände vom Gesicht. Im kalten Winterlicht, das durch die Fensterscheiben fiel, musste er blinzeln. »Einigermaßen gut.« Aber dann korrigierte er sich, weil er Oggie keinen Unsinn erzählen wollte. »Zwischen elf und vierzehn waren wir befreundet.« Er holte tief Luft. »Ich war tierisch in sie verschossen. Sie gehörte zu den beliebtesten Mädchen an der Schule. Ihr Vater war vermögend, und sie fuhr in den Ferien ins Ausland und hatte nach der Schule noch Tanz- und Gesangsunterricht bei Privatlehrern. Sie war die Prinzessin, ich der Bettler.«

»Eine reiche Prinzessin?« Oggie wirkte überrascht.

»Im Vergleich zu mir. Sie kam im Bus aus Middledip an die Schule oder wurde in einer Edelkarosse gefahren. Ich lebte im schlimmsten Viertel von Bettsbrough mit zwei Alkoholikern, die so taten, als wären sie Eltern. Die Shetland-Siedlung wurde damals nur ›Shitland‹, also Scheißland genannt, weil’s da echt scheiße war, und ich gehörte zur berüchtigten Shitland-Bande. Trotzdem war sie immer nett zu mir.« Joe schluckte schwer. »Ich habe sie sofort wiedererkannt. Nicht einmal Georgines Schwester hatte so eine ungewöhnliche Haarfarbe.« Georgines Haare waren ein »kühles Erdbeerblond«, wie sie ihm auf dem Schulhof mal erklärt hatte, ihre Haut war golden und voller Sommersprossen wie eine Blondine, die man mit einem ganz leichten Sepiafilter fotografiert hatte. Mit Ausnahme ihrer Augen. Die waren weder grün noch grau oder blau, sondern eine Mischung aus allen drei Farben – wie das Meer im Winter.

Im Kunstunterricht hatte er einmal ein Porträt von ihr malen müssen, und der Lehrer hatte geurteilt: »Sehr guter Versuch.« Einige seiner dämlichen Kumpels aus der Shitland-Bande hatten gejohlt, und darum hatte er aus ihren Haaren Würmer gemacht. Durch Herumalbern konnte er gut verbergen, was er für Georgine in Wirklichkeit empfand. Er war der Klassenclown, das Kind, das nie die angesagten Schuhe trug oder die coole Sporttasche hatte. In der ganzen Stadt nannte man seinen Stiefvater nur bei dessen Nachnamen, Garrit, und alle machten sich über ihn lustig, auch Joes Mutter, weil er sich so gut wie jeden Tag mit billigem Bier betrank.

Mit Garrit zusammenzuleben war nicht lustig gewesen.

Nichts an Joes Kindheit und Jugend war lustig. Wenn er sich nicht den Überlebensmechanismus angeeignet hätte, die Leute zum Lachen zu bringen – und zwar mit ihm und nicht über ihn –, dann hätte er ihnen womöglich die Köpfe eingeschlagen, weil sie zu dämlich waren, um zu erkennen, wie unlustig es war, er zu sein.

Joe stand auf und holte sich einen Softdrink aus dem kleinen Bürokühlschrank in der Ecke. »Sie kennt mich nicht als Joe Blackthorn. Sie kennt nicht einmal alle meine Vornamen – John Joseph.« Er wandte seinem Freund den Rücken zu, während er aus der Dose trank. »Du erinnerst dich vielleicht, wie ich dir erzählt habe, dass ich den Nachnamen meines Stiefvaters trug, seit ich zwei oder drei Jahre alt war. Später bekamen alle Mitglieder der Shitland-Gang Spitznamen, und ich hieß ›Rich‹, also ›reich‹, weil ich das eben nicht war. Alle nannten mich immer nur Rich Garrit.«

Er ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und lächelte kläglich. »Tut mir leid, dass ich so durch den Wind bin. Es war ein Schock, Georgine wiederzusehen, nach all dem Mist, der mit der Band in letzter Zeit passiert ist …«

Oggie nickte. Er wollte keine Gemeinplätze absondern und auch keine Fragen stellen. Joe sollte sich all die Zeit nehmen, die er brauchte – wie damals, vor all diesen Jahren. Joes Onkel Shaun hatte ihn aus Cambridgeshire gerettet und ihn an die Schule in Surrey gebracht, wo er zum ersten Mal die richtigen Schulklamotten und die richtige Sporttasche hatte. Sogar die richtige Frisur. Und auch wenn er anfangs nicht mit dem richtigen Akzent sprach, hatte er das bald geändert. Er nahm wieder den Namen auf seiner Geburtsurkunde an, ließ sich aber Joe anstatt Johnjoe nennen, wie seine Mutter ihn genannt hatte. Eine weitere Art, sich von dem, der er gewesen war, zu distanzieren. Oggie erinnerte sich immer noch daran, wie froh und erleichtert Joe war, endlich dazuzugehören.

Da er nicht länger den Clown spielen musste, konnte er sich auf die Themen konzentrieren, die ihm lagen, besonders Musik und Kunst. Oggie war aufgefallen, dass Joe die Pausen immer allein verbrachte, und hatte ihn aufgefordert, das Bühnenbild für die Schulaufführungen zu malen. Das hatte sie zu Freunden gemacht.

Joe hatte Oggie eingestanden, dass sein Onkel ihm Klavier- und Schlagzeugunterricht gab. Daraufhin hatte Oggie Shaun die Teilnahme an den wöchentlichen Gigs einer örtlichen Theatergruppe vorgeschlagen. Oggie hatte dafür gesorgt, dass Joe zusätzlich Musikunterricht bekam, damit er sich für einen Platz an einer Musikhochschule qualifizierte. Dort hatte Joe dann Billy, Liam, Nathan und Raf getroffen, und sein Leben hatte sich noch einmal völlig verändert …

»Wenn du hierbleiben willst, wirst du Georgine ständig über den Weg laufen.« Oggie holte Joe mit seiner Bemerkung in die Gegenwart zurück. »Sie ist das Herz der Schule. Wir hatten ja über die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit gesprochen, dass du hier auf Leute aus deiner Vergangenheit treffen könntest.«

»Stimmt.« Joe trommelte mit den Fingern auf sein Bein. »Aber jeder andere als sie wäre mir lieber gewesen.«

Oggie grunzte. »Vielleicht solltest du darüber nachdenken, wie du dich fühlen wirst, sobald sie sich an dich erinnert. Möglicherweise ist es einfacher, wenn du die Sache von dir aus direkt ansprichst. Dann hast du es hinter dir.«

»Richtig.« Joe versuchte, sich das vorzustellen. Ihre blaugrüngrauen Augen hatten ihn ohne den leisesten Funken des Wiedererkennens angesehen, als ob Rich Garrit nie existiert hätte. Das stimmte ihn gleichermaßen froh wie betrübt. »Vielleicht war diese Erinnerungslücke ihrerseits ein taktisches Manöver. Wir haben uns seinerzeit nicht im Guten getrennt.«

Weil er sich nämlich am letzten Schultag vor Weihnachten wie ein Idiot benommen hatte. Er hatte sie der Lächerlichkeit preisgegeben, aber er wusste, dass die Shitland-Bande sie grausam verspottet hätte, wenn er ihr vor den anderen sein Herz offenbart hätte. Angesichts der Kränkung in ihrem Blick hatte er sich selbst gehasst. Er hatte sich geschworen, sich abends auf der Weihnachtsfeier der Schule bei ihr zu entschuldigen.

Aber Georgine war nicht gekommen. Er hatte draußen gewartet, weil er das Eintrittsgeld nicht aufbringen konnte – und auch nichts zum Anziehen hatte. Geschweige denn ein Wichtelgeschenk.

Zu guter Letzt war er nach Hause gegangen, wo er zu seiner Überraschung auf einen Onkel traf, den er bis dahin nicht gekannt hatte und der sein Leben von Grund auf veränderte.

Onkel Shaun war Joes Weihnachtswunder – männliche gute Fee und Weihnachtsmann in einem. Danach wohnte er bei Shaun in Surrey und sah so gut wie nicht mehr zurück.

Aber wenn er es doch einmal tat, dann nur, um an Georgine France zu denken.

Kapitel drei

Zur Mittagszeit wurde Georgine klar, dass sie das Leben außerhalb der Akademie nicht länger verdrängen konnte. Darum eilte sie nicht mit den anderen in die Cafeteria, sondern zog ihre Jacke an, die kaum vor dem kalten Wind schützte, außer man würde joggen und ging nach draußen. Sie umrundete den Vorbau mit dem großen Probenraum und suchte Schutz hinter dem Hauptgebäude.

Georgine zog die Schultern unter dem sibirischen Wind ein, holte tief Luft und rief Aidan an.

Sie wusste, der Mann, der den Anruf entgegennahm, war ein völlig anderer als derjenige, den sie vor ein paar Jahren bei einem ihrer seltenen Nachtclubbesuche zusammen mit Blair kennengelernt hatte. Seine unbeschwerte Art hatte sie fasziniert, vielleicht weil sie selbst immer so kontrolliert war. Leider erwies sich seine leichtlebige Unbeschwertheit später als ziemlich beschwerlich. Wann immer es schwierig wurde, suchte Aidan Zuflucht bei schlechter Laune und Täuschungsmanövern. Er bediente sich sogar am Inhalt ihres Geldbeutels mit der Begründung, dass man »als Paar alles teilt«. Als ihr klarwurde, dass er seinen Anteil an den Haushaltskosten nicht übernehmen konnte und er sie angelogen hatte, was seine Ersparnisse anging, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es war jetzt schon mehrere Monate her, dass sie die Beziehung beendet und ihn gebeten hatte, aus ihrem Haus auszuziehen, aber sie litt immer noch unter den Folgen.

Aidan meldete sich mit: »Hallöchen, Georgine.« Seine Stimme klang so samtig und tief wie damals, als sie weiche Knie bekommen hatte, wann immer sie ihn hörte, aber jetzt klang er darüber hinaus noch niedergeschlagen und deprimiert.

Er war aber nicht der Einzige, dem es schlechtging. Sie kam gleich auf den Punkt. »Bitte bezahle deine Schulden. Heute morgen haben Schuldeneintreiber an meine Tür geklopft, als ich gerade mein Porridge essen wollte.«

»Ich habe kein Geld«, erwiderte er teilnahmslos.

»Dann sag ihnen das! Du wohnst seit drei Monaten nicht mehr bei mir. Sorg dafür, dass sie nicht länger bei mir klingeln. Oder gib mir eine Adresse, die ich an sie weiterleiten kann.« Sie wartete. »Aidan?« Sie sah auf das Display und runzelte die Stirn. Anruf beendet.

Langsam zählte sie bis zehn. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie Dampf abgelassen hatte. Seit Aidan seine Stelle als Verkaufsleiter eines großen Autohauses verloren hatte, kam er mit Kritik nicht wirklich gut zurecht.

Georgine tigerte drei Minuten auf und ab, dann rief sie ihn erneut an. »Hör mal, Aidan.« Sie legte Schmelz in ihre Stimme. »Mir ist klar, dass du schon geraume Zeit finanziell in Schwierigkeiten steckst, aber mir das nicht sagen konntest.«

»Weil du komisch wirst, sobald es um Geld geht. Ich wollte dich nur schützen«, unterbrach er sie missmutig.

Georgine schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Na schön, stimmt, angesichts einer finanziellen Schieflage bekomme ich Angstzustände.«

»Und trotzdem gibst du Blair Geld. Und deinem Vater.«

Sie bohrte sich die Nägel in die Handfläche. »Du weißt, dass ich mich da verpflichtet fühle.«

»Ja, ich kenne die ganze traurige Geschichte, auch wenn ich sie nicht verstehe.«

Georgine wollte sich nicht dazu verleiten lassen, ihm erneut zu erklären, warum sie ihrem Vater und ihrer Schwester finanziell aushalf, Aidan dagegen nicht mit einem Geldregen überschüttete. »Mir ist klar, dass ich vor dem Gesetz ebenso für die unbezahlten Rechnungen hafte wie du, auch wenn du dafür die Verantwortung trägst. Ich habe den Schmuck, den du mir gegeben hast, verkauft und mit dem Erlös einen Teil der Rechnungen beglichen. Den Rest stottere ich ab. Aber ich kann nicht für alles aufkommen, was du hinter meinem Rücken an Schulden aufgehäuft hast, während du bei mir gewohnt hast, selbst wenn ich das wollte. Also nimm bitte Kontakt mit deinen Gläubigern auf und sag ihnen, dass sie nicht mehr an meine Haustür klopfen sollen. Erklär ihnen, dass du nicht mehr in der Top Farm Road 27 wohnst.«

Aidan seufzte. »Das kannst du denen doch selbst sagen.«

Abscheu wallte in ihr auf. »Ich will aber nicht mit Geldeintreibern reden! Es sind deine Schulden, also ist es auch deine Verantwortung …« Sie wusste, wie sinnlos es war, mit Aidan über Verantwortung zu reden, und wechselte die Taktik. »Ich bitte dich nur, dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr zu mir kommen.«

»Es gibt Websites, auf denen steht, was du in einem solchen Fall tun kannst«, erklärte er mit entnervender Gelassenheit. »Als Erstes wird immer geraten, nur nicht in Panik auszubrechen. Lass sie nicht ins Haus. Beschwere dich bei ihrem Arbeitgeber, wenn sie dich einschüchtern wollen.«

»Ich will nicht mit ihnen reden, um herauszufinden, wer ihr Arbeitgeber ist! Und ich bin bereits in Panik ausgebrochen!« Wenn sie die Augen noch fester zusammenkniff, würde sie Migräne bekommen. Obwohl sie es nicht wollte, wurde ihre Stimme lauter. »Wenn ich wegen dir mein Haus verliere …«

Er seufzte. »Habe ich dich je gebeten, das Haus als Sicherheit anzubieten? Nein. Wie könntest du es dann wegen mir verlieren?«

Die schlaflosen Nächte voller Sorge, in denen sie die schlimmstmöglichen Szenarien durchspielte, hatten ihr darauf eine Antwort gegeben. »Wenn ich meine Hypothekenzahlungen nicht leisten kann, weil ich deine Schulden begleichen muss, dann ist mein Haus weg! Oder wenn ich meinen Energieversorger nicht mehr bezahlen kann und er mich vor Gericht bringt.«

Dieses Mal beendete Georgine den Anruf. Wie konnte sich Aidan nur so sehr verändern? Bis letztes Jahr hatte er einen gut bezahlten Job gehabt, teure Anzüge getragen und den neuesten Audi gefahren. Aber als das Autohaus umstrukturiert wurde und er seine Stelle verlor, verlor er auch alles, was gut an ihm war.

Anfangs hatte sie seine Lebenslust geliebt. Erst als alles schiefzulaufen begann, wurde ihr klar, wie sehr er nicht nur von seinen monatlichen Gehaltsschecks abhing, sondern auch von den Bonuszahlungen, die zweimal jährlich ausgezahlt wurden und mit denen er seine überzogenen Kreditkartenrechnungen beglich. Es zeigte sich nur allzu deutlich, dass ein sparsamer Umgang mit Geld nicht zu seinen Charaktereigenschaften gehörte.

Georgine seufzte ebenso schwer, wie es Aidan eben noch am Telefon getan hatte. Sie öffnete die Augen, entkrampfte ihre Faust und wischte sich mit dem Handschuh die Tränen aus den Augen. Als sie aufsah, entdeckte sie Joe, der reglos am Kopf der Feuertreppe stand. Und sie beobachtete.

Sie zuckte zusammen, hoffte, dass er zu weit weg gewesen war, um ihre Worte zu verstehen. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und rief zu ihm hoch: »Hallo, haben Sie sich verlaufen? Die Feuertreppe führt zu einer Privatwohnung. Oggie sagt, wir sollen den Besitzer nicht stören.«

Er sah durch seine Füße hindurch nach unten. »Ah, danke. Das erklärt, warum das hier oben nicht Teil Ihrer Tour war.« Er stieg leichtfüßig die Treppe hinunter. »Oggie meinte, ich solle mit dir über die Weihnachtsaufführung sprechen. Er denkt, du wärst bestimmt froh, wenn ich dir den Ton und die Beleuchtung abnehme.« Joe wirkte noch unsicherer als am Vormittag. Er sprach leise und langsam, als ob er jedes Wort erst testen müsse, bevor er es in die Welt entließ.

»Oh, das wäre echt super! Ich zeige dir, was du wissen musst.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass er nicht ohne Begleitung über das Gelände laufen durfte, denn als er während der Tanzprobe ins Verwaltungsbüro gegangen war, hatte sie ihn ziehenlassen, und das hätte sie nicht tun sollen. Georgine schniefte ein letztes Mal, dann schob sie Aidan und ihre Sorgen in ihre mentale »Darüber mache ich mir in meiner Freizeit Gedanken«-Schublade. »Ich bin auf dem Weg zum Mittagessen. Kommst du mit?«

»Sehr gern.« Joe schenkte ihr ein Lächeln. Es fiel so unerwartet herzlich aus, dass sie es erwiderte, als würde sie ihn schon sehr viel länger als nur ein paar Stunden kennen.

Als sie die Cafeteria betraten, wurden gerade die ersten Tische wieder frei. Nur wenige Dezibel mehr, und der Lärmpegel hätte zu Taubheit geführt. Georgine war davon überzeugt, dass sich einige Studierende nur deshalb nicht zu ihren Freunden setzten, damit sie ihre Unterhaltungen brüllend über mehrere Tische hinweg führen konnten. Gewichtige Gespräche wie »Hast du deine Weihnachtseinkäufe schon erledigt?« und »Nein, muss erst an Geld kommen«.

Drei Jungs spielten Gitarre. Offenbar versuchten sie sich an einer kniffligen Grifffolge. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Studierenden jede freie Stelle in der Schule zu einem Probenraum umfunktionierten.

Georgine reihte sich vor Joe in die Schlange ein, nur falls er nicht sicher war, wie es hier ablief. Man wählte ein Essen und ein Getränk und bezahlte, indem man seinen Ausweis an einen Scanner hielt. Jeder Ausweis hatte ein eigenes Konto, das man online auffüllen konnte – wegen der Eltern, die befürchteten, ihre Kinder könnten echtes Geld nicht für Essen verwenden, sondern um Zigaretten und Süßigkeiten zu kaufen.

Die Lehrkräfte bekamen zwar Rabatt, aber trotzdem war es nicht ganz billig, sich mittags in der Cafeteria eine warme Mahlzeit zu bestellen. Georgine begnügte sich daher meistens mit einem Sandwich oder einem Teller Suppe und aß abends zu Hause.

»Oh«, sagte Joe kläglich, als sie an die Kasse kamen und er sah, wie Georgine Celine ihren Ausweis entgegenstreckte, damit sie ihn einscannen konnte. »Ich hätte meinen Ausweis vor dem Mittagessen bei Fern abholen sollen. Das habe ich ganz vergessen.« Er wandte sich an Celine in ihrem blauen Kittel, die geduldig wartete. »Kann ich ausnahmsweise bar bezahlen?«

Celine schüttelte bedauernd den Kopf mit dem Haarnetz. »Tut mir leid, Schätzchen, das hier ist keine Bargeldkasse. Wir haben kein richtiges Geld.«

»Oh.« Joe sah auf sein Tablett: ein Teller Pasta und den größten Latte, den die Cafeteria im Angebot hatte, dazu Knoblauchbrot, von dem er schon abgebissen hatte, und ein Müsliriegel. Er wurde rot. »Äh, ich kann das nicht zurückstellen.«

Celine wandte sich an Georgine. »Soll ich damit deinen Ausweis belasten? Dann kann er dir das Bargeld geben.«

»Würde es dir etwas ausmachen?« Joe sah jetzt ebenfalls zu Georgine, aus großen Augen voller Hoffnung.

Georgine spürte, wie sie rot anlief. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Gesicht jetzt ebenso knallrot war wie seines. Ihr blieb keine Wahl. »Aber nein.« Sie streckte ihren Ausweis wieder aus, und ihr Herz sackte in Richtung ihrer eiskalten Zehen.

Celine hielt den Scanner über den Ausweis. Er piepte laut. Sie sah Georgine überrascht an, dann gab sie den Ausweis kopfschüttelnd zurück. »Ich wette, man kann ihn aus Sicherheitsgründen nicht zweimal hintereinander scannen.« Sie klopfte auf das Display der Kasse. »Ich habe die Rechnung storniert. Sie können morgen bezahlen. Sie scheinen ja ein ehrlicher Kerl zu sein.« Celine kritzelte sechs Pfund 38 auf ein Stück Papier und reichte es ihm mit einem breiten Grinsen, dann wandte sie sich dem Nächsten in der Schlange zu.

Georgine eilte zu einem Tisch, der erst zur Hälfte abgeräumt war. Sie hatte das Gefühl, als sei sie gerade noch mal davongekommen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass sich ihr Ausweis nur deshalb nicht scannen ließ, weil sich nach ihrer eigenen Bestellung nicht einmal mehr vier Pfund auf ihrem Konto befanden, das würde am morgigen Mittwoch so gerade für einen Snack ohne Kaffee reichen. Erst am Donnerstag, wenn die Gehälter ausgezahlt wurden, würde sich das wieder ändern.

Einen schrecklichen Moment lang hatte sie gefürchtet, Celine würde sie blamieren und öffentlich verkünden: »Schätzchen, du hast nicht mehr genug Geld auf deinem Konto.« Aber die Frau hatte ihren Blick richtig gedeutet und sie nicht untergehen lassen. Sie machte eine geistige Notiz für ihre Weihnachtsliste: »Schokoplätzchen für Celine«. Georgine buk nämlich lieber jede Menge Plätzchen anstatt Geschenke zu kaufen.

Joe räusperte sich, als sie sich setzten. »Danke, dass du mich vor der Schande bewahren wolltest. Ich habe das Gefühl, dass jetzt auf meiner Stirn steht: kann nicht für sein Mittagessen zahlen.«

Georgine sah, dass er ehrlich durcheinander war, und empfand Mitgefühl, weil sie nicht einmal mit solch einer kleinen Summe für ihn hatte einspringen können. Sie versuchte, es mit einem Schulterzucken abzutun. »Es sollte dir nicht peinlich sein, schließlich ist das ein Fehler der Verwaltung. Normalerweise sind wir besser organisiert, wenn neue Kollegen in ihren Job eingeführt werden.«

Georgine hatte sich für eine Gemüsefrittata mit Salat entschieden. Das aß sie am liebsten, und an diesem Tag kam das Gericht auch ihren Sparmaßnahmen entgegen.

Bis Weihnachten wurden noch zwei Gehälter ausbezahlt. Sie hoffte, dass sie sich wenigstens die zusätzlichen Fahrten nach Bettsbrough leisten konnte. Sie hatte Dad, Blair und Blairs Freund Warren an Weihnachten zum Essen eingeladen. Glücklicherweise verbrachten ihre Mutter und deren Ehemann Terrence Weihnachten in ihrem Ferienhaus in Frankreich, darum musste sie nicht zu ihrer luxuriösen Villa an der Küste von Northumberland fahren, aber Weihnachtsgeschenke für alle zu besorgen erwies sich als echte Herausforderung. Terrence ging mit seinem Vermögen überaus zurückhaltend um. Er gab gern Geld für Weihnachtsgeschenke aus, aber er erwartete im Gegenzug auch immer etwas Adäquates. Im letzten Jahr hatte Georgine ihre Geschenke in einem Secondhandladen gekauft, sie anschließend in dunkelrotes Geschenkpapier gewickelt und mit Goldfarbe »Der Antiquitätenladen« darauf geschrieben, denn wenn man etwas als Antiquität bezeichnete, verzehnfachte sich dessen Wert automatisch. Terrence und ihre Mutter waren tatsächlich beeindruckt gewesen, und Terrence hatte den Briefhalter aus Holz in seinem Wohnzimmer aufgestellt. Glücklicherweise setzte Barbara, Georgines Mutter, nie einen Fuß nach Middledip, Bettsbrough oder auch Peterborough, darum würde sie auch nie verlangen, in den »Antiquitätenladen« gebracht zu werden.

Ihre Mutter und Terrence hatten Georgine letztes Jahr einen Kaschmirpullover geschenkt. Sie war mit den Fingerspitzen bewundernd darüber geglitten, aber sie hatte auf gefütterte Winterstiefel gehofft oder wenigstens neue Jeans. Sie führte nun mal kein Kaschmirleben.

Joes Stimme riss sie aus ihren Erinnerungen. »Wohnst du in Middledip?«

Georgine blinzelte, bemerkte, dass ihre Frittata kalt wurde, und fing hastig an zu essen. Während sie kaute und schluckte, nickte sie. »Ich war ein Jahr an der Universität in Manchester, sonst habe ich immer hier gelebt. Eine Zeitlang zur Miete, aber dann konnte ich mir im Bankside-Viertel ein kleines Haus leisten.« Es symbolisierte Sicherheit – zumindest, solange sie die Hypothek abstottern konnte.

»Was hast du studiert?« Joe griff nach seinem Latte macchiato.

»Darstellende Künste. Zwei Semester lang. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich mich auf Tanz spezialisiert. Und auf Gesang. Ich wollte immer Musiktheater machen.« Sie hielt kurz inne. »Dann haben sich meine Eltern getrennt, und Dad hatte Probleme, mir das Studium zu finanzieren, darum habe ich mich entschieden, unabhängig zu werden. Es ist schwer genug, sich mit einem Abschluss im Musiktheater zu etablieren, und ohne habe ich es gar nicht erst versucht. Finanziell ist das ein viel zu großes Wagnis! Also habe ich als Assistenzlehrerin gearbeitet und bin in meiner Freizeit oft bei Open-Mike-Abenden aufgetreten, und schließlich habe ich diesen Job hier bekommen. Ich bin so froh darüber! Egal, welchen Weg ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, ich freue mich einfach, hier angekommen zu sein. Lange Zeit habe ich es bedauert, dass ich mein Studium nicht abschließen konnte, aber ich kann von Glück sagen, dass die Qualifikationen für meinen Job an der Akademie schwerpunktmäßig aus Begeisterung und Einsatz bestehen und nicht aus einem Abschlussdiplom.«

Joe schien ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Der Blick seiner braunen Augen hinter der Brille war konzentriert. Seine Stirn legte sich scheinbar verblüfft in Falten.

»Was ist mit dir?«, fragte Georgine, um das Thema zu wechseln und nicht länger über die Untiefen ihres Lebenslaufes reden zu müssen.

Joes Blick senkte sich auf seinen Teller. »Ich habe meistens in Surrey und London gelebt.«

»In welchem Teil von London?«

»Ganz unterschiedlich. Die letzten Jahre in Camden.« Er schob sich eine Gabel mit Pasta in den Mund.

Sie sah ihm beim Essen zu. Ihr fiel der markante Umriss seines Kiefers auf. »Ist London nicht unglaublich teuer?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man genug Mitbewohner in ein Haus quetschen kann, wird die Miete für jeden Einzelnen bezahlbar.« Er lud sich die Gabel erneut voll. »Erzähl mir von dem Theater, in dem die Weihnachtsaufführung stattfinden wird.«

Georgine tat ihm nur zu gern diesen Gefallen. Sie liebte es, über die Schule zu reden. »Das Raised-Curtain-Theater? Es gehört eigentlich zur Sir-John-Browne-Akademie, aber außerhalb der Unterrichtsstunden darf es öffentlich genutzt werden. Wir haben Glück, dass wir das Theater in der Woche vor Weihnachten anmieten konnten. Normalerweise kommen Schulstücke nicht sechsmal hintereinander zur Aufführung, aber wir sind hier sehr ehrgeizig.« Sie fuhr mit ihren Erklärungen fort, während Joe gelegentlich eine Frage einwarf. Er wirkte jetzt ganz entspannt und normal. Georgine hatte das Gefühl, als hätte sie am Vormittag sein Ebenbild aus Pappe herumgeführt. Wer hätte gedacht, dass sie beide nach nur wenigen Stunden bereits so gut miteinander auskommen würden?

Kapitel vier

An diesem Abend joggte Georgine nach Hause. Ihr Rucksack schlug ihr im Takt zu ihren Schritten gegen den Rücken, und die Winterkälte nagte an ihren Ohren. Eine heiße Dusche stand ganz oben auf ihrer To-do-Liste. Sie hatte sich gerade abgetrocknet und angezogen, als es an ihrer Tür klingelte.

Georgine erstarrte.

Es klingelte erneut. Sie schlich mit pochendem Herzen zum Kopf der Treppe. Hinter dem Glasfenster der Haustür schlug ein menschlicher Umriss die Arme um sich und hüpfte frierend von einem Bein aufs andere. Georgine wartete. Die Silhouette war zweifelsfrei weiblich – und keiner der Geldeintreiber, die sie bisher belästigt hatten, war eine Frau gewesen, aber vielleicht war das ja ein neuer Trick, um zu sehen, ob sie ihrem eigenen Geschlecht gegenüber weniger ängstlich war?

Die Silhouette hob den Arm und schlug mit der Faust gegen die Tür. »Georgine! Bist du da? Georgine!«

Georgine atmete erleichtert aus. Beinahe musste sie über die Ungeduld ihrer Schwester Blair lachen. »Ich komme ja schon!« Sie eilte die Treppe hinunter, entriegelte die Tür und riss sie auf.

»Brrrrrr!« Blair trat theatralisch bibbernd ein. »Draußen ist es wie im Kühlschrank!« Sie umarmte Georgine mit eiskalten Armen. »Schön, dich zu sehen, Schwesterherz! Was hast du heute Abend vor? Ich hoffe, du hast nichts vor, dann können wir eine Pizza bestellen. Ist deine Heizung nicht an?« Sie blieb vor dem Thermostat im Flur stehen und drehte ihn hoch.

Georgine folgte ihr und drehte den Thermostat wieder herunter. Er klickte enttäuscht. »Ich habe kein Geld für Lieferdienste.« Sie ging im Geist den Inhalt ihrer Vorratskammer durch. »Ich könnte dir Nudeln mit Käsesoße und etwas Gemüse machen, wenn dir das nicht zu popelig ist.«

»Hm.« Blair war schon in der Küche und füllte den Wasserkessel. Sie drehte sich um und schenkte Georgine ein so unwiderstehliches Lächeln, wie nur sie es konnte. Sie kam nach Patty, der Mutter ihres Vaters. Beide besaßen diese charismatische Ausstrahlung, bei der sich jeder einfach nur glücklich schätzte, Empfänger eines solchen Lächelns zu sein. Dazu samtige braune Augen, die die ganze Welt verzauberten. Pattys Haar war längst schon ergraut, aber einst war es so dunkel und gelockt gewesen wie das von Blair. »Hast du Wein?« Blair stellte den Kessel auf den Herd, öffnete den Kühlschrank und inspizierte dessen Inhalt. Beziehungsweise den Mangel an Inhalt.

Langsam schloss sie die Tür, drehte sich um, trat zu ihrer Schwester und fuhr mit den Händen Georgines Arme hoch und wieder hinunter. Ihr Gesichtsausdruck war bestürzt. »Bist du etwa immer noch pleite?«

Georgine zog eine Grimasse. »Mir würde es gutgehen, wenn Aidan mich nicht so in die Klemme gebracht hätte. Am Donnerstag bekomme ich mein Gehalt, dann kann ich meine Vorräte wieder aufstocken.«

Blair schaltete den Herd aus. »Zieh deinen Mantel an. Wir gehen ins Booze & News und trinken eine Flasche Wein. Geht auf mich.« Sie nahm ihre Handtasche.

»Bist du sicher? Melanies Preise sind viel höher als im Supermarkt.«

Blair rollte nur mit den Augen. Georgine nahm ihren Mantel vom Treppengeländer, wo er immer lag, zog ihn an und ratschte den Reißverschluss zu, dann traten sie hinaus ins Licht der Straßenlampen. Die Top Farm Road war zugeparkt mit den Autos der Anwohner, die mittlerweile von der Arbeit gekommen waren.

»Du hast also den Schuldenberg, den Aidan dir hinterlassen hat, immer noch nicht abgetragen?« Blair steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels, eines bunt bestickten Teils von Joe Brown. Die Temperaturen in Cambridgeshire waren gefallen, kaum dass der Kalender November angezeigt hatte.

Blair gegenüber verharmloste Georgine ihre Probleme normalerweise – die finanziellen und alle anderen. Keine von ihnen führte das Leben, das sie hatten führen wollen, und das Wissen, dass Georgine eine entscheidende Rolle bei der Zerstörung von Blairs Träumen gespielt hatte, lag wie ein schlummernder Drache zwischen ihnen – sollte man ihn jemals aufwecken, würde er Feuer speien.

Aber jetzt war die Müdigkeit stärker als Georgines Selbstkontrolle. Sie war es leid, zur Arbeit und wieder nach Hause zu joggen, sie war es leid, sich vor Schuldeneintreibern zu verstecken, denen sie selbst gar kein Geld schuldete, sie war es leid, zwei Tage vor der Gehaltsauszahlung einen gähnend leeren Kühlschrank zu haben. Und sie war es leid, so zu tun, als sei alles in Ordnung.

»Ich habe eine Einigung mit den Stadtwerken bezüglich der noch ausstehenden Rechnungen getroffen. Sie haben mir eine Stundung gewährt«, räumte Georgine erschöpft ein. Sie bogen auf die Great Park Road und gingen in Richtung der Ladies Lane. »Aber jetzt sitzen mir die Schuldeneintreiber im Nacken.« Der letzte Satz purzelte aus ihr heraus, bevor ihr innerer Zensor einschreiten konnte. Blairs entsetztem Blick entnahm sie, wie dramatisch sie geklungen haben musste. Sie versuchte, das auszubügeln, indem sie lachte.

Aber das Lachen erstarb.

Mit purer Willenskraft zwang Georgine die Tränen zurück. Ihr Hals schnürte sich zusammen, bis es weh tat, sie ballte in den Manteltaschen die Hände zu Fäusten. Da der Boden festgefroren war, entschieden sich die Schwestern für die Route quer über die Sportfelder, anstatt die Main Road zu nehmen.

»Ich versuche es ja«, krächzte Georgine, »ich versuche echt alles, mich von meiner finanziellen Situation nicht unterkriegen zu lassen, aber sobald es um Schulden geht, gerate ich in Panik. Ich spüre dann wieder diese Kälte, diesen Mangel an Mitgefühl, und dann fühle ich mich einsam und ängstlich.«

»Ach, Georgine!« Blair zupfte am Ärmel ihrer Schwester, um sie zum Anhalten zu bewegen. »Das ist ja furchtbar! Kannst du das nicht irgendjemand melden? Sie können dich doch nicht für die Schulden von Aidan verantwortlich machen. Sag ihnen, sie sollen sich verpissen!«

Georgine war froh, dass an diesem frühen Winterabend niemand auf dem Fußballfeld war, der sie hätte hören können. Sie vergrub ihr Gesicht an der Schulter ihrer Schwester. Der Stoff des schicken Mantels lag warm unter ihrer Wange. »Ich fürchte mich davor, mit ihnen zu reden. Ich habe Angst, sie könnten mir nicht glauben, wenn ich ihnen sage, dass er nicht mehr bei mir wohnt und ich seine gegenwärtige Adresse nicht kenne – weil er sie mir partout nicht sagen will! Und es ist ein so kalter November. Bei mir zu Hause fühlt es sich an wie in Narnia, aber ich traue mich nicht, die Heizung aufzudrehen. Irgendwann werden die Rohre einfrieren und platzen. Und das darf nicht passieren, weil ich nämlich mit den Versicherungsbeiträgen im Rückstand bin, und wenn die Teppiche einen Wasserschaden bekommen, dann sind sie auf immer ruiniert.«

Blairs Umarmung wurde fester. »Ist ja gut«, sagte sie tröstend und gleich darauf weniger tröstend: »So eine Scheiße!«

Georgine löste sich aus der schwesterlichen Umarmung und suchte in ihrer Jeans nach einem Taschentuch, um sich die Nase zu putzen. »Tut mir leid. Es ist offenbar doch alles zu viel für mich.« Sie versuchte sich erneut an einem Lachen, traute sich jedoch nicht, ihre Schwester anzusehen. »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich schaff das schon.«

»Natürlich schaffst du das.« Blair klang nicht überzeugt.

»Ehrlich, es geht mir gut«, behauptete Georgine.

Sie setzten ihren Weg zum Booze & News fort. Trotz Aidans wohlmeinenden, in Wirklichkeit aber hohlen Zusicherungen fürchtete Georgine, dass sie noch tiefer in seine Probleme gezogen werden und ihr kleines Häuschen verlieren könnte. Das durfte auf keinen Fall passieren! Es war nur ein bescheidenes Domizil mit zwei Schlafzimmern, einem Badezimmer, einem kombinierten Wohnesszimmer und einer Küche, aber für sie symbolisierte es den Fortschritt, den sie gemacht hatte.

Sie hakte sich bei ihrer Schwester unter und nickte einer Gassigängerin mit einem schnüffelnden Mops zu. »Ich weiß gar nicht, was heute mit mir los ist. Sonst bin ich keine solche Heulsuse.«

»Du bist überhaupt keine Heulsuse. Du bist immer so tapfer und kreativ, dass ich manchmal schon dachte, du würdest überhaupt keine Angst kennen«, erklärte Blair ruhig. Sie kamen am Angel Café vorbei, hinter dessen weihnachtlich geschmückten Fenstern noch Licht brannte.

Gleich darauf waren sie angekommen. »Für gewöhnlich stimmt das ja auch.« Georgine drückte die Tür zum Booze & News auf.

»Hallo, Leute«, rief Melanie hinter der Theke. Wie eine Wärmeerkennungsrakete richtete sich ihr Blick auf Georgines Gesichtsausdruck. »Was ist los?«

Georgine wünschte sich, sie hätte Blair allein in den Pub geschickt. Melanie hatte ein gutes Herz, aber sie war auch unangenehm neugierig, und die verweinten Augen weckten sofort ihre Aufmerksamkeit. »Nichts«, erklärte Georgine abwehrend.

»Wir brauchen Wein!«, rief Blair. »Was gibt es im Angebot?«

Mit einem letzten Blick auf Georgine ließ sich Melanie von Blair in ein Gespräch über Merlot und Chianti verwickeln. Blair nahm schließlich eine Flasche und zahlte.

Georgine rief: »Noch einen schönen Abend!«, und wandte sich zur Tür.

»Ich habe einen Kuchen gewonnen«, rief Melanie.

Zögernd drehte Georgine sich um. Sie sah, dass Melanie ein orangefarbenes Tombolalos in der Hand hielt. »Hier«, sagte Melanie schroff. »Ich hab’s in einer von Carolas Tombolas gewonnen, und ich bin doch gerade auf Diät, also solltest du es essen, nicht ich. Du musst das Los nur im Angel Café abgeben. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch, bevor sie schließen.«

Georgine wurde warm ums Herz. Sie kannte Melanie nun schon über fünf Jahre und wusste genau, wie sehr diese Kuchen liebte. »Das ist so unglaublich nett von dir …«

»Schnell, bevor sie ihre Meinung ändert«, scherzte Blair und riss Melanie das Los aus der Hand. »Danke, Mel, du bist ein Schatz. Komm schon, Schwesterherz.«

Georgine freute sich über diese unerwartete Geste. Sie folgte Blair nach nebenan zum Angel Café, öffnete die Tür und stand der blonden Carola gegenüber. Carola führte das Café, jetzt wischte sie aber gerade den Boden auf.

»Tut mir leid, ich schließe gleich.« Carola tauchte den Feudel in den Eimer und drückte geräuschvoll mit dem Fuß auf den Hebel, der das Wasser herauspresste.

Blair wedelte mit dem Los. Carola sah neugierig zu Georgine, der es – trotz der Erfahrung im Booze & News – zu kalt war, um draußen zu warten, dann ging sie zum Kühlschrank, um den Kuchen zu holen.

»Schokolade-Birnen-Kuchen«, verkündete sie. »Ich verkaufe euch die Lose für die Weihnachtstombola ein anderes Mal. Noch einen schönen Abend!«

Blair und Georgine traten wieder in die Nacht hinaus. Blair trug die Kuchenschachtel. »Ich muss echt jämmerlich aussehen«, seufzte Georgine, »Melanie hat mir ihren Kuchen geschenkt, und Carola hat mich davonkommen lassen, ohne mir ein Tombolalos aufs Auge zu drücken.«

Blair verlagerte die Schachtel, damit sie den freien Arm um Georgine legen konnte. »So sind sie hier im Dorf. Man sorgt füreinander.«

Sobald sie zu Hause waren, tranken sie den Chianti und aßen riesige Kuchenstücke. Blair wurde immer stiller. Die Falten auf ihrer Stirn gruben sich ein.

Nach einer Weile fragte Georgine: »Ist irgendetwas?«

Sofort glättete sich Blairs Stirn. »Was sollte sein?« Aber als Georgine später das Geschirr aufräumte, brach es aus Blair heraus. »Ich muss ins Bad.« Sie verließ die kleine Küche und stürzte die Treppe hinauf.

Georgine wischte die Oberflächen sauber, während sie mit einem Ohr nach oben lauschte. Blair schien auf und ab zu tigern. Vielleicht hielt sie sogar aus den Fenstern Ausschau nach den Schuldeneintreibern.

Georgine seufzte. Hoffentlich hatte sie ihrer Schwester jetzt keine Angst eingejagt.

Zu guter Letzt kam Blair wieder nach unten, stirnrunzelnd und bleich, obwohl sie ein Lächeln zustande brachte, als Georgine einen Stapel Karteikarten mit dem Storyboard der Weihnachtsshow aus ihrem Rucksack zog und ihr zeigte. »Ich kann mir deine flippigen Schülerinnen und Schüler sehr gut in Paillettenkostümen bei der Weihnachtsshow vorstellen.«