Winterzauberküsse - Sue Moorcroft - E-Book
SONDERANGEBOT

Winterzauberküsse E-Book

Sue Moorcroft

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebesfunkeln braucht keinen Wunschzettel! Hutmacherin Ava trifft Sam auf einer hippen Londoner Vorweihnachtsparty. Er hat einen Auftrag für sie: ein Hut als Geschenk für seine schwerkranke Mutter Wendy – vielleicht wird es ihr letztes Weihnachten sein. Als Wendy in Avas Studio kommt, glaubt sie voller Freude, Sam sei mit Ava zusammen. Sam bittet Ava, diesen Irrtum nicht aufzuklären, sondern so zu tun, als wären sie ein Paar – nur für die Vorweihnachtszeit… Der perfekte Winterroman für alle, die Romantik suchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 410

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sue Moorcroft

Winterzauberküsse

Roman

Aus dem Englischen von Christiane Winkler

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Weihnachten beginnt in Blaggard’s Bar2 Ärger mit dem Ex3 Keine gute Zeit für romantische Gefühle4 Eine tröstliche Atempause5 Prinzessin Leia Claus6 Der Kuss7 Katerfrühstück in Gaz’ Café8 Ein Hut – aber bitte keine Samthandschuhe9 Unverhofftes Zusammentreffen10 Unter falschem Vorzeichen11 Weder Schuld noch Schande12 Das schöne Handwerk der Hutmacherei13 Ein festliches Dinner14 Fußballstar und Busenwunder15 Wendys großer Auftritt16 Widersprüchliche Signale17 Patrick versucht es18 Die Galerie der Schande19 Ein Zombie namens Ava20 Ein ziemlich dreister Plan21 Hut ab vor Ava Bliss22 Androhung juristischer Kollateralschäden23 Unterschwelliges Brodeln24 Überschäumende Gefühle25 Ein Riesenerfolg26 Hotspot unter Verdacht27 Weihnachtsblues28 Ava spielt ein letztes Mal mit29 Zu viel der Aufregung30 Das Beste hoffen und auf das Schlimmste gefasst sein31 Weihnachtsstimmung mit schwarzen Rosen32 Das allerschönste Weihnachten!Epilog, Das erste DateAnmerkung der Autorin

1Weihnachten beginnt in Blaggard’s Bar

Samstag, 1. Dezember

Ava hatte nicht die geringste Lust, auszugehen und sich zu amüsieren, als sie sich unter der rotgrünen Weihnachtsbeleuchtung auf der Camden High Street durch die Menschenmenge kämpfte, vorbei an den Geschäftsauslagen mit Winterstiefeln und Modellflugzeugen. Sie hatte gerade ihren ersten und einzigen Tag als Standbesitzerin auf dem West Yard Market hinter sich und war sich ziemlich sicher, dass es keinen zweiten geben würde.

»Meine Füße brennen und sind gleichzeitig eiskalt«, beschwerte sie sich bei Izz. Sie hatten einander untergehakt, um sich gegenseitig zu wärmen, aber sie hätte sich besser in einen dicken, wasserfesten Mantel gehüllt, bis sie die warme Blaggard’s Bar erreichten. »Ich habe schon jetzt, Anfang Dezember, genug von dem Weihnachtsrummel, vor allem von all den Leuten, die nur herumstöbern und dann rufen: ›Wie viel? Für einen Hut?‹, und dabei eines meiner kostbaren Modelle einfach fallenlassen. Und nichts kaufen.«

Izz klapperte mit den Zähnen, obwohl sie mit ihren Glitzerjeans und dem Pulli marginal wärmer angezogen war als Ava. »Du hast also wenig verkauft?«

»So gut wie nichts, obwohl ich mit den Preisen runtergegangen bin und inständig gebetet habe, dass keiner meiner Stammkunden vorbeikommen und mich zur Rede stellen möge, wieso ich vorher das Doppelte verlangt habe.«

»Deine Hüte sind wunderschön. Du solltest eher mehr als weniger dafür verlangen.«

Ava drückte Izz’ Arm. »Na danke! Aber das geht nicht, auch wenn ich auf den Luxus von Restaurants oder Fitnessstudios verzichten kann – ich muss doch essen.« Ihr wurde jedes Mal ganz flau im Magen, wenn sie daran dachte, wie viel sie für die Plane, den Standbezug und Präsentationsständer ausgegeben hatte, die nach Weihnachten vermutlich sowieso alle auf eBay landen würden. »Ich hätte meine Ware auf Etsy oder Notthehighstreet anbieten sollen, dann hätte ich mir viel Enttäuschung und kalte Füße erspart.«

Sie hüpfte ein wenig voran, um im Dezember-Sprühregen mit Izz’ ausladenden Schritten mitzuhalten. »Aber nun freue ich mich doch auf die Party. Ist es für eine Weihnachtsfeier nicht noch ein wenig zu früh?«

»Die PR- und Marketingleute haben den restlichen Monat mit der Kundenbetreuung alle Hände voll zu tun. Drei Mitarbeiter von Jermyn’s waren schon heute mit einem neuen Kunden da.«

»An einem Samstag?«

»In der Branche arbeitet man nicht zwangsläufig nur von Montag bis Freitag.« Izz hatte einen befristeten Vertrag bei der Kommunikationsagentur, bei der auch Todd arbeitete.

Todd nahm seine neue, recht dominante Freundin Louise mit zur Weihnachtsfeier, also hatte Ava sich bereit erklärt, Izz zu begleiten, weil Izz aktuell keinen Freund hatte und ungern alleine dort auftauchen wollte. »Sam hat betont, die Weihnachtsfeier sei wichtig für den Teamgeist der Agentur, deshalb werden vermutlich alle kommen.«

»Aha! Wenn Sam das sagt, muss es ja stimmen«, neckte Ava sie und tauchte erleichtert durch die dunkelblaue Tür in den vertrauten Lärm der Blaggard’s Bar. Rustikale Holzpfeiler, von roten und schwarzen Bändern umwunden, waren mit Lichterketten und Mistelzweigen geschmückt. Typisch für den Londoner Stadtteil Camden herrschten im Blaggard’s Gedränge und bunte Vielfalt; Anzüge mischten sich locker unter Gothicschwarz oder Steampunk-Satin.

»Todd!«, rief Ava und hielt ihn am Arm fest, bevor er unter einem mit Lametta behängten Pappbogen verschwinden konnte. »Sag danke dafür, dass ich mich an einem so scheußlichen Abend noch mal rausgewagt habe.«

Todd zwinkerte hinter seinen Brillengläsern und umarmte sie. »Du hättest dir besser einen Mantel angezogen oder ein Taxi genommen. Sam und die anderen sind schon da. Das wird bestimmt ein toller Abend.« Dann umarmte er auch Izz.

Ava musste ihre Stimme erheben, um sich über das Stimmengewirr und die pulsierende Musik hinweg verständlich zu machen: »Dann lerne ich heute Abend also Sam, den Oberboss, kennen?«

»Er steht da drüben«, sagte Izz, die über die Köpfe der anderen hinwegschauen konnte, »mit Patrick und Jake. Da hinten stehen ein paar der Mädchen. Aber niemand scheint Gäste mitgebracht zu haben«, fügte sie nervös hinzu.

Ava tätschelte ihren Arm. »Aber dir wurde doch gesagt, dass du jemanden mitbringen darfst. Ich kann auch wieder nach Hause gehen, wenn du glaubst, dass ich fehl am Platz bin.« Sie blieb kurz vor einem Spiegel stehen und musterte sich mit ihrem Pillbox-Hut mit den schwarzen Federn. Wenn sie sich schon in eine wandelnde Werbung für ihre Arbeit verwandelte, wollte sie auch toll aussehen. Dann folgte sie ihrer Freundin durch die Menge.

Ava war eingepfercht zwischen Rücken und Schultern, sie war kleiner als Izz und Todd und sah erst, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, als sie plötzlich jemanden rufen hörte: »Hey, Todd! Hallo, Izz.«

Todd schaffte Raum und zog Ava in den Kreis. »Ava, darf ich vorstellen, Patrick und Jake.«

Patrick, dunkle Augen, dichtes, lockiges Haar, hatte ein tiefgründiges Lächeln, Jake strahlte sie an.

»Hallo, ich bin Ava …«

»Und«, fuhr Todd schnell fort, als könnte er es kaum erwarten, zum wichtigen Teil zu kommen, »das ist Sam, unser Creative Director.«

Ava hatte nicht vor, sich von Sam Jermyn beeindrucken zu lassen, dem Goldjungen, der sein Geld mit PR für einen prominenten Fußballer gemacht hatte. Doch als Sam sie ansah, musste sie einfach Luft holen. Er war groß, sogar noch größer als Todd oder Izz. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm über ein Auge, es war gerade so lang, dass er es hinter die Ohren streichen konnte. In seinem dunklen Anzug mit dem weißen Hemd sah er so perfekt gestylt aus wie ein teurer Wagen.

Lächelnd nahm er ihre Hand. »Ava. Ich habe schon viel von dir gehört.«

»Ebenso.« Sie lächelte zurück, hütete sich aber auszuplaudern, wie oft Todd und Izz von ihm geredet hatten.

»Was trinkst du?«

»Danke, aber ich bin heute nicht fit genug, um viel zu trinken. Ich bleibe sowieso nur kurz da.«

»Die Drinks gehen aufs Haus, ein Weihnachtsgeschenk. Du musst dich nicht einmal revanchieren.« Über Avas Kopf hinweg erkundigte er sich bei Todd. »Was trinkt Ava?«

»Zinfandel rosé.« Todd ignorierte fröhlich Avas Blick.

Sam nahm noch die Bestellungen von Todd und Izz entgegen und wandte sich der Bar zu. »Es ist nicht gerade politisch korrekt, die Wünsche einer Frau zu übergehen«, sagte Ava halb im Scherz hinter seinem Rücken.

Sam sah sie an. »Richtig, außer beim Wein, oder?«

»Da ist was dran«, sagte sie und bedankte sich einfach, als er mit einem großen Glas Rosé zurückkehrte. Mit Zinfandel würde alles besser werden, selbst das ›Ich verdiene nicht genug‹-Leiden oder das ›Weihnachten steht vor der Tür‹-Leiden oder das ›Mit Leuten, die ich nicht kenne, nur um ihnen einen Gefallen zu tun‹-Leiden. Oder zumindest verschlimmerte der Wein es nicht.

»Du bist also mit Todd und Izz befreundet?« Sam stieß mit seiner Flasche Cobra-Bier an ihrem Glas an.

»Sie sind meine besten Freunde. Ich wohne bei Izz, Todd wohnt nicht weit weg in Kentish Town …« Aber da wehten schon weitere Hallos mit der kühlen Luft von draußen herein und nahmen Sams Aufmerksamkeit in Anspruch.

Gut. Das war vermutlich ihre Ration Smalltalk mit dem Superboss. Ava wandte sich wieder ihren Freunden zu. »Danke, dass du mir heute dabei geholfen hast, den Stand einzupacken, Izz. Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass ich mit fast allen Hüten wieder nach Hause fahren würde. Ich dachte, das einzig Gute an Weihnachten wäre, dass ich auf dem Markt ordentlich Zeug verkaufen könnte. Aber es war ein Fehler, dass ich richtige Couture dabeihatte. Ich hätte vorgeformte Hüte kaufen und die mit fertigen Blumen und Federn dekorieren sollen. Zu einem Preis, den das Marktpublikum zu zahlen bereit ist.«

»Das ist nicht das einzig Gute an Weihnachten!«, wandte Izz ein, die alles gerne mal wörtlich nahm. »Weihnachten kommen auch immer gute neue Filme und DVDs raus …«

»Und das Essen«, sagte Todd und strich sich das Haar aus dem Gesicht, das bei ihm immer irgendwie schülerhaft wirkte, egal, welcher Modefriseur ihm den Schnitt verpasste.

»Trink.« Izz hob zustimmend ihr Bier.

»Und neue Videospiele kommen zu Weihnachten raus«, steuerte Todd bei.

Izz grinste ihn an. »Für Weihnachtsmuffel oder verwöhnte Kinder.«

Todd tat beleidigt: »Okay, ich bin der Weihnachtsmuffel, wenn du das verwöhnte Kind bist – das mit neunundzwanzig immer noch Geld von den Eltern bekommt.«

»He, ich arbeite! Meine Mom will mir und meiner Schwester Danielle partout Taschengeld geben. Es abzulehnen wäre doch unhöflich.«

Ava lächelte, als Todd vor Lachen prustete, doch ihre Gedanken kreisten um eigene Probleme. Sie war hoffnungslos optimistisch gewesen, als sie gedacht hatte, auf dem Markt würde man ihr die Hutmodelle, die sie für Sommerhochzeiten oder das Pferderennen in Ascot angefertigt hatte, aus der Hand reißen. Ihre Etiketten – Ava Bliss, Modistin – hatte sie extra daraus entfernt. Weihnachtseinkäufer wollten lustige Cocktailhüte, sexy verschleierte Pillbox-Hüte und Kopfputz mit Federn, aber zu Alltagspreisen. Eigenhändig verschönerte Readymades, sogenannte Designerhüte – dabei würden ihre Schneiderideale auf der Strecke bleiben. Doch wenn sie damit ihre Rechnungen bezahlen konnte, okay. Schwarz für die Gruftis und Braun für die Steampunk-Leute.

Genau genommen, hätte sie besser auf eine Steampunk-Weihnachtsfeier gehen sollen. Dort hätte sie mit winzigen Hütchen oder Korsetts ordentlich Kasse machen können.

»Avas Eltern haben ihr auch jahrelang die Miete bezahlt.«

»Jetzt müssen sie ihren Ruhestand in der Dordogne finanzieren.«

Izz sah Ava sanft und besorgt an. »Sie verdienen doch was mit ihrem Lesecafé, oder?«

Ava lachte, um die drohenden Tränen zurückzudrängen. »Das lässt sich mit ihrem früheren Einkommen kaum vergleichen. Les Livres Anglais ist vor allem ein Ort, an dem Mom und Dad rumhängen und mit anderen Engländern Pork Pie essen und Tee trinken.«

»Aber sie haben eine Rente …?«

»… die es ihnen erlaubt, sich als Buchhändler zu versuchen.« Ava schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass sie mich noch weiter unterstützen. Ich will sie nicht mehr mit meinen Problemen behelligen. Ich habe ihnen versichert, dass bei mir alles in Ordnung ist.« Dass sie gerade so über die Runden kam, wäre zutreffender gewesen. »Ich hoffe, es wird bald besser. Drei Jahre für Ceri Mallory zu arbeiten war einfach zu lang.«

Todd legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Aber es war doch gut, von ihr zu lernen.«

Ava nippte an ihrem Wein und genoss den kühlen, trockenen Geschmack. »Theoretisch. Praktisch haben mir ihre vagen Versprechungen nur ihren Namen auf meinem Lebenslauf eingebracht. Als ich sie nach einer richtigen Stelle gefragt habe, gab es Krach. Und gleich danach beschloss Ceri, dass sie keine Praktikantin mehr bräuchte. Sie kann gute Preise für ihre Kreationen verlangen, weil sie Beziehungen und einen Namen hat, und so etwas ist schwer zu schaffen. Ich hätte nach sechs Monaten gehen sollen. Dann hätte ich vielleicht mittlerweile mehr Kunden.«

»Na ja, immerhin hast du keine schreckliche Vermieterin«, erinnerte Izz sie. »Ich habe dir doch gesagt, dass du mit der Miete aussetzen kannst.«

»Meine Vermieterin ist ein Schatz, aber ich bin doch kein Schmarotzer!« Dankbar umarmte Ava Izz. Doch was wäre, wenn sie sich Camden nicht mehr leisten könnte? Sie fühlte sich immer noch neu in dieser verrückten, bunten, glücklichen Boheme-Welt, die so viel cooler war als das Provinzkaff Farnborough, wo sie, Izz und Todd aufgewachsen waren. Wie sollte sie es dort ohne die anderen aushalten? Sie leerte das Weinglas. »Hat noch jemand Lust auf ein zweites Glas?«

Sie machte sich alleine auf den Weg zur Bar, durch die dichtgedrängten Grüppchen der anderen Gäste.

Am Rande ihres Sichtfeldes bemerkte sie Sam Jermyn im Gespräch mit Patrick und Jake. Sams Flasche Cobra-Bier war fast leer. Sie seufzte. Sam, dieser wichtige Mann, hatte ihr einen Drink gebracht. Es gehörte zur Alkoholetikette, dass sie nun ihm einen anbot.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie bedient wurde. Dann schlängelte sie sich durch die Menge zurück und hielt dabei die Drinks hoch über dem Kopf, um sich nicht zu begießen. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, wollte sie Sam gerade die Bierflasche in die Hand drücken, als sie die Bemerkung von Jake auffing:

»Du hast ihr einen Drink spendiert, das heißt, du darfst sie anbaggern.«

2Ärger mit dem Ex

Ava zögerte. Die drei Männer waren in ihr Gespräch vertieft und schienen sie nicht bemerkt zu haben.

»Auf einer Weihnachtsparty ist das quasi Ehrensache. Mach dich ran.«

Avas Gesicht glühte, sie stieß die Flasche Cobra gegen Sams Ellenbogen. »Bitte sehr. Sie hat sich revanchiert, es gibt keine weiteren ›Rechte‹ oder ›Pflichten‹ mehr.«

Sam zuckte zusammen und sah sie betreten an. »Hör mal, ich hoffe, du denkst jetzt nicht …«

Hinter ihm sah Ava, wie Jake und Patrick verlegen die Augen aufrissen. »Ich denke gar nichts.«

Sie wandte sich ab.

Da tauchte Izz auf und versperrte ihr den Fluchtweg. »Louise redet mit Todd, deshalb dachte ich, ich kann ein wenig mit Sam plaudern?« Zögernd hob sie am Ende des Satzes ihre Stimme, als wollte sie von Ava wissen, ob das eine gute Idee sei.

Ava trat beiseite und wollte schon sagen: »Er gehört ganz dir.« Doch dann bemerkte sie, wie Sam Izz skeptisch ansah und Patrick und Jake sich sichtlich unwohl fühlten.

Als ob Izz unter all diesen Blicken eine Erwartung spürte, redete sie einfach drauflos: »Hallo, Sam, kommst du oft nach Camden, wegen der Musik?« Sie holte tief Luft und erzählte dann von den Bands, die sie im Barfly gehört hatte, stellte Sam Fragen über seine Lieblingskünstler und strahlte, wenn sie einer Meinung waren.

Patrick versenkte den Blick in seinen Drink. Jake schaute über die Menge, als suche er jemanden.

Ava sank das Herz.

Oh, klar. Izz schwärmte mal wieder für jemanden. Diesmal für Sam.

Bei Männern kam Izz nicht sonderlich gut an, eine Unterhaltung mit Leuten, die sie nicht gut kannte, war anstrengend für sie. Dann beugte sie sich stets entschuldigend vor, als wollte sie ihre Größe vertuschen, und ihre Flirttechnik war ein wenig wie die eines freundlichen Hundes, der um Streicheleinheiten bettelt.

Doch Ava musste zugeben, dass Sam wenigstens so anständig war, seinen Teil zu der Unterhaltung beizusteuern. »Ich war ein paarmal im Dingwall.« Er warf Ava ein ermutigendes Lächeln zu. »Geht ihr zusammen auf die Konzerte, du und Ava?«

Doch im selben Moment fragte Patrick: »Ava, du arbeitest auch hier in der Gegend? Camden ist ziemlich cool.«

Sie fühlte sich mies wegen Izz. Deshalb wandte sie sich Patrick zu. »Ich wohne bei Izz, ich habe dort ein Atelier, ich bin Modistin.«

»Das musst du mir erklären, was das genau ist, ich bin ein Kerl.«

»Ich mache Hüte. Maßgeschneiderte Hüte von Hand.«

Sein Blick wanderte nach oben. »Daher also der Kopfschmuck?«

»Ja. Das ist ein Pillbox-Hut, aber ich fertige alle Arten von Hüten an.«

»Klingt nach einem interessanten Beruf«, warf Sam ein, als Izz bei ihrem Vergleich zwischen dem Dingwall und dem Roundhouse eine Verschnaufpause einlegte.

»Ziemlich cool. Sehr kreativ.« Patrick hob sein Glas und prostete ihr zu.

Ava lächelte. Patricks Anbaggerei war viel zu offensichtlich, um attraktiv zu sein, doch wenn Ava auf ihn einging, konnte Izz wenigstens weiter mit Sam plaudern. Wie sollte Izz lockerer mit Männern werden, wenn sich ständig jemand in ihre Unterhaltung einmischte? »Aber ihr PR-Leute seid doch auch kreativ, Patrick.«

Patrick legte los: Bei seinem Job in der Kommunikationsagentur gehe es um die richtige Mischung von Kreativität, Innovation und Verkaufsgeschick, um erfolgreiche Anzeigenkampagnen zu erfinden. »Wir haben es satt, dass die Leute meinen, in der Werbebranche organisierten alle ständig Partys und reichten Champagner herum.«

Ava lächelte ihn an. »Du willst sagen, dass du auch die Sandwiches machst?«

»Nein – die bestelle ich beim Feinkostladen«, sagte Patrick und lachte.

Izz flüsterte ihr ins Ohr: »Ich muss aufs Klo«, und verschwand in der Menge. Als Ava gerade überlegte, ob sie ihr nachlaufen sollte, hörte sie, wie Sam zu Patrick sagte: »Ich glaube, du bist mit den Drinks jetzt dran. Ich will noch ein Wort mit Ava reden.«

»Na toll«, murmelte Patrick und drängte sich zum Tresen durch. Wenn sie jetzt Izz folgte, sähe es so aus, als wollte sie Sam aus dem Weg gehen.

Sam wandte sich ihr zu. »Tut mir wirklich leid. Jake hatte nicht damit gerechnet, dass du ihn hören würdest. Ich möchte mich dafür entschuldigen. Es ging nicht um dich, sondern um deine Freundin.«

Ava sah ihn spöttisch an. »Was sie natürlich nicht hören sollte.«

»Tut mir leid«, wiederholte er. Sein Blick wirkte aufrichtig. »Jake hat es nicht böse gemeint. Der Alkohol hat seine guten Manieren weggespült, das ist alles. Izz ist noch nicht lange bei der Agentur, sie kennt sich mit Servern, Netzwerk, Intranet und Database hervorragend aus, aber die Leute finden sie ein wenig – mühsam.«

»Es liegt nicht jedem, mit allen locker zu plaudern. Oder ist das in der Werbebranche ein Muss?«

»Vielleicht nicht unbedingt ein Muss. Aber nützlich ist es schon.« Er wirkte gequält. »Und wir bezeichnen Jermyn’s eher als PR-Agentur, nicht unbedingt als Werbeagentur.«

Ava nippte an ihrem Wein. »Verstehe. Und ich nenne Izz auch eher schüchtern, nicht unbedingt mühsam.«

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Alles klar. Ich bezeichne mich für gewöhnlich auch eher als sympathisch, denn als geschwätzig.«

Ihre Augen weiteten sich. »Im Ernst?«

Sein Lachen verhallte, als zuerst Patrick und dann Izz zurückkehrten.

Patrick ließ seine Finger über Avas Hand gleiten, als er ihr ein weiteres Glas Rosé reichte. »Und freuen die Damen sich schon auf Weihnachten?«

Ava seufzte und war fast sicher, was als Nächstes kommen würde.

»Ava mag Weihnachten nicht«, antwortete Izz und nahm eine weitere Flasche Bier entgegen.

Patrick schaute dramatisch drein. »Was? Weihnachten, wenn alle zu viel essen und trinken und überall Partys gefeiert werden? Ich liebe das! Über Neujahr fahren wir zum Skilaufen, aber diesmal nur Jake und ich. Unser Kumpel Elliot kommt nicht mehr mit, und Sam schafft es dieses Jahr nicht.«

»Krankheitsfall in der Familie«, sagte Sam kurz. Er sah neugierig zu Ava rüber. »Was gefällt dir denn an Weihnachten nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Fast alles. Bis auf die Partys, die können ganz nett sein.«

Sam runzelte die Stirn. »Und wie war das, als du noch klein warst? Mochtest du es da wenigstens?«

»Ja, als ich noch sehr klein war. Meine Oma hat immer Weihnachten gefeiert, sie starb, als ich dreizehn war.« Oma, die sich lächelnd um Avas alltägliche Bedürfnisse gekümmert hatte, während ihre Eltern ihrem Beruf nachgingen, und deren Verlust eine große Lücke in Avas Teenagerseele hinterlassen hatte. Sie wich Izz’ Blick aus, weil sie das schmerzvolle Wissen darin nicht sehen wollte, dass Oma genau an Weihnachten gestorben war, als die Lichter, die Weihnachtsbäume und Geschenke Avas Trauer zu verspotten schienen.

»Das muss schwer gewesen sein.« Sam sah sie mitfühlend an. »Haben später deine Eltern nicht Weihnachten gefeiert?«

»Eigentlich nicht.« Sie war es gewohnt, dass man sie neugierig beäugte, weil sie keinen Gefallen an etwas hatte, auf das sich alle das ganze Jahr lang freuten. »Mom war Ärztin, Dad Senior Police Officer. Mom verarztete die Betrunkenen in der Notaufnahme, und Dad hatte mit den Betrunkenen zu tun, die hinter Gittern landeten. Für die beiden war Weihnachten nur verlogene Geschäftemacherei. Sie meldeten sich immer freiwillig zur Arbeit, damit andere sich freinehmen konnten, denen das Fest wichtig war.«

Patrick starrte sie an, als hätte Ava soeben zugegeben, aus einer Familie von Außerirdischen zu stammen. »Wenn sie Weihnachten verlogen fanden, was fanden sie dann echt?«

»Die harte Realität, nehme ich an. Meine Eltern sind großartig, und wir mögen uns sehr, aber ihre Aufmerksamkeit ist eher nach außen gerichtet.« Nicht nach innen, auf die Familie. Familie. Schon allein das Wort ließ Geschwister vermuten – nicht nur ein Kind, das sich bisweilen im Weg fühlte und aufwuchs, um zu begreifen, dass es seinen Eltern gefiel, wenn es so unabhängig wie möglich war. Sie erinnerte sich noch, wie sie ihr gratulierten, als sie anfing, für die ganze Familie zu kochen, und an das stolze Lächeln, wenn sie ihren Freunden erzählten, wie gut sie das konnte.

Zwischen Sams Augen hatte sich eine Falte gebildet. »Ich habe noch nie gehört, dass Weihnachten keinen Spaß macht.«

»Ihr solltet zu meiner Feier kommen!«, warf Patrick ein. »Nächsten Samstag in Balham. Viele nette Leute, viel Alkohol, ein wenig Essen. Musik. Eine richtige Party, kein schreckliches Gedrängel, bei dem dir dein Drink verschüttet wird. Hat Todd nichts gesagt? Er hat irgendwas davon erwähnt, dass er sowieso in Balham sei. Seine Freundin wohnt da, glaube ich, oder?«

»Ja, genau. Da sind sie sich begegnet, weil er wegen BalCom ständig drüben ist«, erzählte Ava ohne Begeisterung.

»BalCom?«, fragte Sam verblüfft.

»Todds Comicclub. Wir gehen jedes Jahr zum Weihnachtstreffen ins Snooty Fox. In tollen Kostümen.«

»Oh, verstehe. Er hat uns auch eingeladen. Aber ich habe mit der Party natürlich zu viel um die Ohren«, warf Patrick hastig ein. »Warum kommt ihr nicht zu mir, wenn der Pub schließt? Ich sorge schon dafür, dass noch ein paar Leckereien für euch übrig sind.«

»Danke«, stotterte Izz. »Gerne.« Und dabei lächelte sie Sam schüchtern an.

Ava merkte, dass ihr gar nichts anderes übrigblieb, als auch zu lächeln und anzunehmen, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass Todd mit keinem Wort die Party erwähnt und Patrick sich eben erst entschlossen hatte, sie einzuladen. Doch sie wollte Izz die Freude nicht verderben, mehr Zeit mit Sam außerhalb des Büros verbringen. So hartherzig war Ava nicht.

Sie dachte noch über eine Ausrede nach, als Izz plötzlich flüsterte: »Da ist Harvey«, und Ava an der Schulter packte.

Ava duckte sich unwillkürlich. »Ich will ihn nicht sehen.« Aber ihr war klar, dass Izz bei ihrer Größe nur schwer zu übersehen war. Wenn Harvey Izz entdeckte, wüsste er, dass auch Ava in der Nähe war.

»Dein Freund?«, fragte Patrick skeptisch.

»Exfreund. Nur scheint er sich irgendwie nicht damit abfinden zu wollen.« Ava warf einen verstohlenen Blick über die wogenden Köpfe und Schultern zu Harvey, der mit blutunterlaufenen Augen und unsicheren Bewegungen auf sie zukam. »Verdammt, er ist betrunken.«

Izz trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Das ist ja nichts Neues. Er kommt her.«

»Verdammt.« Ava versuchte, sich noch kleiner zu machen.

Sam beugte sich vor, als wollte er versuchen, sie zu verstecken. »Du musst nicht mit ihm reden, wenn du nicht willst.« Auf seinem Gesicht zeigte sich wieder die steile Falte.

»Ich weiß.« Gerührt von der unerwarteten Unterstützung, spürte Ava plötzlich seinen warmen Atem an ihrer Wange. »Er macht mir keine Angst. Oder nicht direkt. Für mich ist die Sache beendet, und er beweist bloß, dass er ein schlechter Verlierer ist.«

»Ava!«, rief Harvey schon, als er noch meterweit entfernt war, und zog sich den Groll der Leute zu, während er sich rücksichtslos durch die Menge schob. »Ich habe die ganze Woche nach dir gesucht. Warst du verreist?«

Ava sah sich gezwungen, ihn zu begrüßen. »Harvey. Wie geht es dir?«

In der wogenden Bar hatten die meisten Männer ihre Jacketts und Krawatten ausgezogen. Harvey hingegen sah wie aus dem Ei gepellt aus. Nur seine Bewegungen wirkten ungelenk. »Es könnte mir besser gehen«, verkündete er vielsagend, »sehr viel besser.«

Ava wollte ihn davon abhalten, das Ende ihrer Beziehung zu beklagen, doch Harvey stürzte sich sichtlich darauf. Es tue ihm leid, schwor er. Wie oft er sich noch entschuldigen müsse? Dass sie verstehen müsse, dass er halt zu viel getrunken und nicht gewusst habe, was er tat. Und was müsse er jetzt tun, damit sie ihm verzeihe? Sie hätten doch so gut zusammengepasst, nicht wahr?

Ein paarmal versuchte Ava einzuwerfen: »Es hat keinen Sinn …« Doch Harvey ließ einfach nicht locker. Ava empfand einerseits Mitleid, weil er so sehr gegen die Zurückweisung ankämpfte, doch andrerseits ärgerte es sie, wie er auf sie einredete. Die wenigen Monate ihrer Beziehung waren für sie anfangs echt heiß gewesen. Lustvoll heiß, zugegebenermaßen – doch die Lust kühlte ab, je klarer ihr wurde, wie viel er trank. Die Trennung hatte Ava als Erleichterung empfunden.

Während Harvey lauthals ihre Aufmerksamkeit einforderte, gelang es ihm, Izz und Patrick abzudrängen und sich zwischen sie und Ava zu stellen. Doch Sam wurde er nicht so einfach los, er blieb am Avas Seite.

Auf einmal strahlte Harvey. »Ava, du stehst direkt unter dem Mistelzweig! Wenn du niemanden küsst, wirst du das ganze Jahr vom Pech verfolgt.« Zu ihrem Schrecken beugte er sich schwankend, aber entschlossen vor.

Bevor sie entscheiden konnte, in welche Richtung sie ausweichen sollte, wurde sie geschickt an den Schultern aus Harveys Umlaufbahn gedreht. Sam hob ihr Kinn und streifte einen Kuss auf ihre Lippen. »Nur für den Fall, dass du abergläubisch bist.«

Ava blinzelte überrumpelt und angetan zugleich, wie elegant er Harveys Anschlag vereitelt hatte.

Harvey stand mit aufgerissenem Mund verdutzt da. Dann verzog er wie ein Kobold das Gesicht und trat den Rückzug an, stützte sich dabei auf die umstehenden Leute, verschüttete ihre Drinks und schrie immer lauter, je weiter er sich entfernte. »Ava, Ava, wir müssen unter vier Augen reden, Ava. Da drüben.«

Sam sah Ava an. »Wenn du nicht willst, kannst du sagen, dass wir ein Date haben.«

Ava überlegte und knetete unentschlossen ihre Finger. »Das ist ein verlockendes Angebot.« Doch die Leute murrten wegen Harveys Geschrei, so dass sie sich verantwortlich fühlte. »Verdammt, es wird Zeit, dass er aufhört, mich zu belästigen. Ich muss irgendwie einen Weg finden, ihn davon zu überzeugen.«

»Vermutlich will er einfach nur …«

Sie ging nicht darauf ein, welchen Rat auch immer Sam ihr erteilen wollte. Sie stellte ihr leeres Glas ab, kämpfte sich durch die Menge und entschuldigte sich bei jedem, den sie anrempelte.

Schließlich griff Harvey hinter sich, packte sie am Handgelenk und zog sie durch eine Tür, an der »Nur Personal« stand und die in einen staubigen Flur führte mit Kisten voller leerer Flaschen, die nach abgestandenem Bier stanken.

* * *

Harvey hielt Avas Hand weiter fest, sein Gesicht wirkte schmerzverzerrt. »Ava, triff dich nicht mit anderen Männern. Bleib bei mir.« Er senkte seinen Kopf und versuchte, ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Ava wich zurück und riss sich los. »Harvey, nicht! Ich treffe mich mit niemandem, Sam arbeitet mit Todd, mehr nicht.«

Er machte einen Schritt auf sie zu, sie wich einen Schritt zurück. »Dann lass uns sehen, ob wir die Sache klären können.«

Sie wehrte ihn mit den Händen ab. »Die Sache ist seit August geklärt, als ich dich total betrunken beim V-Festival mit einer nackten Frau in unserem Zelt überrascht habe.«

»Aber es ist doch nichts passiert!«, protestierte er. »Komm, Ava, wenn man total betrunken ist, dann passiert nichts … weißt du.« Er wippte anzüglich mit den Hüften und taumelte etwas, um das Gleichgewicht zu halten.

»Doch, etwas ist passiert: Ich hatte dein Verhalten satt, das war das Ende.«

»Aber ich liebe dich.« Er beugte sich über sie.

Ava versuchte, ruhig zu lächeln, obwohl die Angst sie packte. »Du übertreibst. Ich will deine Gefühle nicht verletzen, aber ich werde jetzt gehen. Wiedersehen, Harvey.« Sie versuchte, an ihm vorbeizukommen. Doch er verbaute ihr den Weg. »Liebst du mich nicht?«

»Nein.« Sie versuchte, sich auf der anderen Seite an ihm vorbeizudrücken.

»Du hast mich doch geliebt.«

Sie blieb stehen. »Habe ich nicht!«

»Hast du wohl.«

Sie stemmte empört die Hände in die Hüften. »Habe ich nicht! Darüber haben wir nie gesprochen. Wir sind ein paar Monate zusammen gewesen, mehr nicht. Du übertreibst gewaltig. Vergiss es. Es ist aus.«

Er umklammerte erneut ihren Arm. »Wir mussten nicht darüber reden. Das verstand sich von selbst.«

Ava riss ihren Arm los und lief vor Wut rot an. Sie hasste seine Hände auf ihrem Körper, hasste es, dass er dachte, es wäre in Ordnung, sie anzufassen und rücksichtslos über ihre Wünsche hinwegzugehen. »Vergiss es.« Sie versuchte wieder, an ihm vorbeizukommen.

Er schwang einfach seinen betrunkenen Körper in ihren Weg, sein Lächeln gefror. »Lass dich … überzeugen.«

»Sei kein Loser.« Die Tür aus dem engen Flur war nur ein paar Schritte entfernt. Der Gestank nach abgestandenem Bier verursachte ihr Übelkeit.

»Weißt du noch, als ich mein neues Telefon bekommen habe?« Seine Worte klangen langsam und bedeutungsvoll.

Sie blieb stehen. Ihre Hand schwebte über der Türklinke.

Er zog sein Handy aus der Tasche und fing an, auf dem Bildschirm herumzutippen. »Wir hatten Spaß. Izz war weg, um ihre Eltern zu besuchen, wir hatten die Wohnung für uns. Du hast mich in dein Atelier mitgenommen und mir eine private Modenschau vorgeführt.«

Harvey drehte sein Handy um und zeigte ihr den Bildschirm.

Ava wurde übel, als sie sich auf dem Display sah, mit einem Champagnerglas in der Hand, einem scharlachroten Cocktailhut seitlich auf dem Kopf und nichts an außer ihrem verschmitzten Lächeln.

Mit übertriebener Effekthascherei strich Harvey von einem zum nächsten Bild. Ava mit einem Hut nach dem anderen. Pose um Pose.

»Aber ich hatte sie doch von deinem Handy gelöscht«, flüsterte sie entsetzt.

Er nickte ruckartig. »Ja, du hast gewartet, bis ich im Badezimmer war, und hast sie dann hinter meinem Rücken gelöscht. Aber ich war in deinem WLAN eingeloggt, die Fotos waren schon automatisch gespeichert. Glück gehabt, was?« Er lachte leise. »Ich kann sie an meine Kontakte schicken, sie auf Facebook stellen …«

Sie sah ihn an. »Das würdest du nicht tun.« Ava konnte die Worte kaum aussprechen.

»Ach ja?«

Panisch ging sie die verschiedenen Optionen durch. Die Polizei? Doch sie war lange genug Tochter eines Police Officer gewesen und wusste, dass die Polizei erst aktiv werden konnte, wenn Harvey die Fotos postete. Wegen verbaler Drohungen in einem abgelegenen Flur würden sie nicht ermitteln.

Mist. Vielleicht war es ein taktischer Fehler gewesen, Klartext mit ihm zu reden. Ruhig und ohne ihm zu zeigen, wie erschüttert sie war, versuchte sie, die Lage zu entschärfen. »Womit du da drohst, ist sexuelle Demütigung. Das ist ein Vergehen.«

Harvey riss die Augen auf. »Wer, ich? Drohen?« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich ruckartig von boshaft zu dämlich lächelnd. »Ava, du bist wunderschön. Ich möchte, dass wir wieder zusammen sind. Wenn wir wieder zusammen wären …«, er wedelte mit dem Handy, das er noch immer in der Hand hielt, »würde das hier einfach verschwinden.«

Und Erpressung ist so ein großartiger Grund, eine Beziehung einzugehen. Sie unterdrückte den Drang, ihren Gedanken laut auszusprechen, und versuchte, versöhnlich zu lächeln. »Ich muss dem Kerl vertrauen können, mit dem ich zusammen bin. Wenn ich dir trauen soll, löschst du diese Bilder aus der Cloud.«

»Du kannst mir vertrauen. Liebling, Schatz, das kannst du.«

Hoffnung stieg in Ava auf. »Kommst du hier ins Internet?«

Harveys Blick verlor an Schärfe, während er ihre Worte verarbeitete. Schließlich nickte er zustimmend. Dann fummelte er ein wenig herum und loggte sich in das Netz des Pubs ein. Die Verbindung war schleppend langsam, und Ava meinte, vor Spannung zu platzen, doch dann ging seine Cloud auf. Er hielt das Handy angewinkelt, so dass sie sein Vorgehen mitverfolgen konnte, er rief die intimen Fotos auf und löschte sie, sowohl in der Cloud als auch auf dem Speicher seines Handys. Während Ava still die Zähne zusammenbiss, verweilte er liebevoll bei jedem einzelnen Bild.

Als das letzte Bild seine Form veränderte und in dem kleinen Mülleimerzeichen in der Bildschirmecke verschwand, atmete sie durch.

»Danke.« Sie bemühte sich um einen freundlichen Tonfall, obwohl sie vor Wut kochte, weil Harvey ihr das angetan hatte. Jetzt wollte sie nur noch weg von ihm. Die laute, volle Bar auf der anderen Seite der Tür erschien ihr wie eine rettende Oase. »Danke. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du das Richtige getan hast.«

»Wir können also noch mal von vorne beginnen?«

Verdammt nochmal! Du hast dich gerade als jemand erwiesen, der erbärmlicher als der ekligste Wurm ist. Sie machte einen Schritt zur Tür. »Tut mir leid, Harvey. Was beim V-Festival passiert ist, war zwar der Auslöser, aber ich hätte mich auf jeden Fall von dir getrennt. Du wirst gemein, wenn du getrunken hast, und tust Dinge, die du nicht immer ungeschehen machen kannst.«

Schweigen. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Dann warf er seinen Kopf zurück und lachte. Mit trüben Augen sah er sie erneut an. »Ich kann das Löschen dieser Fotos ungeschehen machen.« Er tippte ein paarmal auf den Bildschirm seines Handys und drehte es dann zu ihr um. Das Kästchen neben »Automatischen Backup von Bildern auf allen Geräten erstellen« war angekreuzt, Ava lief es kalt über den Rücken. »Sie sind noch auf meinem iPad. Das ist keine Zauberei, ich bin in der Lage, die Fotos wieder auf mein Handy zu holen, Ava. Das ist Technik.«

»Du Schwein!« Ava wollte hier weg, nur weg. Blindlings stürzte sie zur Tür, ohne sich darum zu kümmern, dass Harvey trunken gegen die Wand prallte.

Sie riss die Tür auf und rannte hinaus.

3Keine gute Zeit für romantische Gefühle

Sam war gar nicht aufgefallen, dass er die Tür im Auge behalten hatte, hinter der Ava mit ihrem Exfreund verschwunden war – bis sie wieder herausgerannt kam.

Er hielt den Atem an. Sie stand da, die Augen weit aufgerissen, und keuchte heftig.

Was war passiert? War sie wütend? Hatte sie Angst? Hatte sie womöglich gerade Sex gehabt? Was bedeutete ihr wild flackernder Blick?

Ava sah sich suchend im Raum um, bis sie Izz erblickte, die sich gerade mit Todds Freundin unterhielt. Als sie auf die beiden zuging, löste Sam sich von Patrick und Jake, um Ava abzufangen.

»Alles okay?«, fragte er beiläufig, als er sie erreicht hatte.

Ava nickte. Die Federn auf ihrem Hut zitterten.

»Noch einen Drink?«

Diesmal willigte sie ohne Widerrede ein. »Danke.«

Er sah ihr nach, wie sie sich ihren Weg zu Izz und Todd bahnte, bevor er sich durch die Menge zur Bar drängte. Er beobachtete sie weiter, während er darauf wartete, bedient zu werden. Sie sagte nichts und schien den anderen auch nicht zuzuhören. Ihr Blick wirkte nach innen gekehrt, und sie sah aus, als hätte es sie von einem anderen Planeten an diesen Ort verschlagen.

Interessante Frau. Todd und Izz hatten von Ava erzählt, und wahrscheinlich hatte er jemanden erwartet, der – na ja, so wie die beiden war. Nicht unbedingt coole Kids. Doch Ava war die personifizierte Coolness. Unter ihrem Hut quoll eine Fülle kunstvoll geflochtener Haare hervor, ihr Kleid saß wie eine zweite Haut. Sie sah eher wie eine Modestudentin aus, nicht wie eine Geschäftsinhaberin.

Neben der langen schmalen Izz stach Avas kurvenreiche Eleganz ins Auge.

Als Sam zu der Gruppe zurückkam, murmelte Ava einen Dank, starrte aber auf ihr Weinglas, als ob sie vergessen hätte, was sie damit anfangen sollte.

Er versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. »Du bist schon lange mit Todd und Izz befreundet?«

Ihr Blick glitt langsam zu seinem Gesicht. »Ja.«

»Seit …?«

»Seit der Schule.« Sie blickte über ihre Schulter zurück.

Er bemerkte ihr Unbehagen. »Falls du nach deinem Ex suchst, er kam vor ein paar Minuten heraus und ist in der Menge verschwunden.«

»Okay. Danke.« Ihre Schultern entspannten sich kurz. Sie sah Todd und Izz an, als wollte sie sich vergewissern, dass sie bei ihr waren, und blickte sich dann wieder um.

Er versuchte es erneut. »Hast du ihm gesagt, dass wir eine Verabredung haben?«

Sie sah auf ihr Weinglas. »Nein.«

Er fragte sich, warum sie plötzlich so weggetreten wirkte. Leise sagte er: »Er hat dich doch nicht angegriffen, oder? Physisch, meine ich?«

»Nein.« Doch ihre Worte klangen nicht gerade überzeugend.

»Ist er noch immer dein Ex?«

»Ja!«

Vielleicht sollte er versuchen, sie von dem Bann zu erlösen, unter dem sie zu stehen schien. Er wollte ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken – ein Gedanke, den offenbar auch Patrick verfolgte, so wie er Ava jetzt ansah. Also konnte Sam ihm genauso gut zuvorkommen. Patrick würde nicht lange zögern, er neigte nicht zu großen Bedenken. »Willst du das?«

Ihre Atmung hatte sich inzwischen wieder beruhigt, und sie schien ihr Umfeld wieder wahrzunehmen. »Was soll ich wollen?«

»Ein Date.«

Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. »Mit dir?«

»Ich habe nicht vor, irgendwen zu verkuppeln, also ja.« Er lächelte, er war es gewohnt, mit seinem Lächeln einen gewissen Erfolg zu erzielen. »Ich würde dich gerne wiedersehen.« Einen Augenblick glaubte er, sie würde einwilligen.

Doch genau in dem Moment schaltete sich Izz ein. »Sam, soll ich dir Bescheid sagen, wenn ich das nächste Mal auf ein Konzert gehe? Wenn die Band dir auch gefällt, könnte ich zwei Tickets besorgen.«

Verärgert über die Unterbrechung, fuhr Sam sie an: »Ich glaube kaum, dass in Camden bald irgendwer spielt, der mir gefällt.« Dann bemerkte er, dass Avas Lächeln erstarb und ihr Blick hart wurde, und er versuchte, seine schroffe Antwort ein wenig abzumildern. »Aber danke für das Angebot. Ich werde es mir merken.«

»Okay.« Izz wandte sich, rot vor Enttäuschung, wieder Todd zu.

Ava trat näher an Sam heran, und er roch ihr Parfüm, trotz der alkoholschwangeren Luft, die über der Menge schwebte.

»Es gab keinen Grund, so grob zu sein«, zischte sie. »Sie hat dich einfach nur um eine Verabredung gebeten.«

Er zuckte zusammen. »Ja, verdammt. Aber ich hatte dich um eine Verabredung gebeten. Ich bin mir sicher, dass Izz viele gute Eigenschaften hat, aber sie ist einfach nicht mein Typ. Vielleicht schüchtert mich ihre offensichtliche Intelligenz ein.«

»Und ich bin okay, weil ich eine Dumpfbacke bin, oder was!?«

Ihre Kratzbürstigkeit verletzte ihn, auch hatte er keine Lust, sich gezielt Gehässigkeiten in den Mund legen zu lassen. »Das habe ich nicht gesagt. Ach, vergiss einfach, dass ich dich um ein Date gebeten habe.«

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, dass sie es bereute oder verletzt war oder sogar beides. Doch dann setzte sie wieder ein gelangweilt freundliches Gesicht auf. »Ehrlich gesagt, gehe ich momentan mit niemandem aus. Ich muss mich auf andere Dinge in meinem Leben konzentrieren.«

»Schon in Ordnung.«

* * *

Der dröhnende Lärm in der Bar machte es Ava schwer, ihre Gedanken zu ordnen. Louise erzählte irgendeine Geschichte, aber sie hätte genauso gut Russisch sprechen können. Todd hatte Ava bereits zweimal gefragt, ob alles in Ordnung sei. Selbst als Patrick grinsend mit einem Mistelzweig an seiner Gürtelschnalle ankam, als wäre er der erste Kerl, dem so etwas einfiel, brachte Ava kein Lächeln zustande.

Warum hatte sie Harvey jemals gestattet, diese Fotos zu machen? Damals hatte es einfach wie ein neckischer Scherz gewirkt. Dabei wusste jeder, dass digitale Bilder, wenn sie erst einmal existierten, zu unkontrollierbaren Monstern werden und mit einem Klick geteilt und vervielfältigt werden konnten. Oder sogar ohne Klick, wenn die richtigen Kästchen markiert waren.

Hatte sie irgendwelche Rechte an Bildern, wenn sie deren Speicherung auf einer fremden Karte zugestimmt hatte? Moralisch vielleicht. Aber wie passte das zusammen – Harvey und Moral?

Sobald er wieder nüchtern wäre, könnte sie an seinen Anstand appellieren. Doch da schon mehrere Monate verstrichen waren und er die Bilder immer noch nicht gelöscht hatte, wäre das wohl vergeblich.

Ihr Magen verkrampfte sich, als ihr bewusst wurde, dass sie jetzt nur noch abwarten und versuchen konnte herauszufinden, ob Harvey die Bilder mit Leuten teilte, die er kannte. Oder mit Fremden. Oder ob er sie an irgendeine schäbige Webseite verkaufte. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, unabsichtlich zum Pornostar zu werden.

Und was war, wenn er es bereits getan hatte?

4Eine tröstliche Atempause

Jäh wurde Ava aus ihren düsteren Gedanken gerissen, als ein Betrunkener mit seinem Handy vor ihren Augen herumfuchtelte.

Auf dem Display erschien ein Bild – Fleisch, Hut, Brüste, Beine. Nein! Voller Panik schnappte Ava nach dem Gerät, doch im selben Moment wurde sie grob zur Seite geschubst. Das Weinglas fiel ihr aus der Hand, und sie krachte in ein Grüppchen von Leuten, die in der Nähe standen.

Inmitten der allgemeinen Aufregung hörte sie, wie Sam zischte: »Hey, hör auf damit!«

Dann klang Harveys vertrautes Lachen an ihr Ohr.

Als Ava ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, war es schon zu spät, und sie sah nur noch Harveys Rücken, als er aus der Bar stürzte. Es war unmöglich, ihn noch einzuholen. Die Leute um sie herum starrten sie an und wischten sich demonstrativ den Wein von ihren Kleidern.

»Tut mir leid«, stammelte sie.

Sam sah sie ernst an. »Es war nicht deine Schuld, der Idiot hat dich einfach angerempelt. Alles in Ordnung? Worum ging es überhaupt?«

Ava konnte die Tränen der Scham kaum zurückhalten, als ihr klar wurde, dass Sam mühelos einen Blick auf Harveys Bildschirm hätte erhaschen können.

Doch an seinem Tonfall deutete nichts darauf hin. »Er ist weg, du bist in Sicherheit.«

Izz schaltete sich ein. »Ruf die Polizei, Ava, sorg dafür, dass er hinter Gitter kommt.« Sie war blass und wirkte aufgewühlt. Wenn es um Übergriffe ging, war Izz dünnhäutig.

Sam sah Ava weiter aufmerksam an. »Du bist in Sicherheit«, wiederholte er. »Aber viele Zeugen hier haben gesehen, dass er auf dich losgegangen ist. Izz hat recht, du könntest die Polizei rufen.«

Todd tätschelte besorgt Avas Arm. »Bist du verletzt? Deine Federn sehen etwas, äh, na ja, ein wenig …« Er krümmte einen Finger.

Ava nahm den Hut ab. Die längste schwarzglänzende Feder wirkte seltsam zerdrückt. Sie rieb sich ihren schmerzenden Nacken und schluckte die Tränen herunter. »Ich will keine Polizei, ich will nach Hause.«

Izz tätschelte ängstlich ihren Arm. »Gehst du nicht mit zum Inder essen? Es dauert nur noch zwanzig Minuten.«

»Vielleicht hat Ava keinen Appetit?«, bemerkte Sam.

Ava sah ihn dankbar an. »Ich will einfach nur nach Hause.« Sonst heulte sie womöglich gleich los wie ein Kind.

Louise runzelte die Stirn. »Ich finde, sie sieht okay aus.«

Todd legte schützend einen Arm um Ava, seine Hilfsbereitschaft war tröstlich. »Louise, du siehst doch, dass es ihr nicht gutgeht. Ich finde, wir sollten sie begleiten. Beim Inder können wir doch absagen.«

Ava drückte ihn dankbar. »Alles in Ordnung, Todd. Das war ein langer Tag, ich will alleine sein. Geht ihr nur und genießt euer Essen.« Sie kämpfte um eine feste Stimme. »Bis bald. Freut mich, dass ich euch nun alle kennengelernt habe.« Sie wandte sich schnell ab, um keinen Raum für weitere Einwände zu lassen.

Draußen nahm ihr die kalte Luft den Atem. Bestürzt stellte sie fest, dass sie zitterte, sie schlang einen Arm um sich, hielt mit der anderen Hand ihren Hut auf dem Kopf fest und wandte sich Richtung Camden High Street. Sie lief, so schnell ihre Absätze es ihr ermöglichten, überquerte den Kanal und bog dann nach rechts ab, lief an den Wohnblocks und der Eisenbahnbrücke vorbei, an Kinderspielplätzen und Graffiti. Alle dachten, ganz Camden wäre cool, doch sobald man die High-Street-Märkte und -Pubs hinter sich ließ, war es hier auch nicht anders als anderswo. So wie überall, wo es einen Kanal, Gruftis und Punks gab.

Abseits der High Street war es ruhiger auf den Straßen, nach zehn Minuten hatte sie die vertraute School Road erreicht. Häuser in zwanzig verschiedenen Farben drückten sich aneinander wie eine ängstliche Familie, die auf sie wartete. Izz’ Haus, die Nummer 146 B, war primelgelb.

Es begann, stärker zu regnen, und sie fröstelte, fischte ihren Schlüssel heraus und bemühte sich mit klammen Fingern, ihn ins Schloss zu stecken. Als sie schon auf der Schwelle zu Sicherheit und Wärme stand, spürte sie plötzlich, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

Sie hielt inne. Und drehte sich dann blitzschnell um.

Gut zwanzig Meter von ihr entfernt stand jemand und beobachtete sie. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.

Und dann wurde ihr klar, dass die große Gestalt Sam Jermyn war.

»Was machst du da?«, rief sie und war sich nicht sicher, ob sie wütend sein sollte, weil man ihr offensichtlich nicht zutraute, den Weg nach Hause alleine zu bewältigen, oder dankbar, weil Sam sich Sorgen gemacht und seine Mitarbeiter alleine gelassen hatte, um über sie zu wachen.

Langsam trat er in den Lichtkegel einer Straßenlaterne. »Tut mir leid, wenn du es übertrieben findest. Nachdem du gegangen bist, habe ich mir Sorgen gemacht, dein Ex könnte noch in der Nähe sein. So betrunken, wie er war …«

Als sie nicht antwortete, schob er seine Hände in die Hosentaschen. »Normalerweise bin ich nicht so schräg drauf, junge Mädchen bis nach Hause zu verfolgen.«

Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, beunruhigt zu sein, nachdem sie begriffen hatte, dass er es war, ihr Schutzengel im eleganten Dreiteiler. »Gehst du noch ins Restaurant?«

»Das sollte ich. Ich müsste die Rechnung auf meine Kreditkarte setzen lassen.« Der Regen wurde stärker, die Tropfen tanzten auf dem glitzernden Gehsteig. Er zog den Kopf ein und stellte seinen Kragen auf.

»Du wirst ganz nass.«

Er nickte gelassen.

Ava fing an, mit den Zähnen zu klappern, sie drückte gegen die Tür und wollte keine Minute länger draußen stehen. »Du kannst mit reinkommen. Ruf ein Taxi und warte im Trockenen oder trink was Warmes, bis es zu regnen aufhört.«

Sekunden später stand er neben ihr, Nässe tropfte aus seinen Haaren. »Ein warmes Getränk wäre wunderbar.«

Im Flur war es eng, sie spürte die Kühle, die von seinen Kleidern ausging. »Ins Wohnzimmer geht es da durch die Tür.« Sie machte Licht an und zeigte in die Richtung, dann warf sie ihr ramponiertes Pillbox-Hütchen auf den Tisch. »Fühl dich wie zu Hause. Ich friere, ich ziehe mich schnell um.« Sie zitterte immer noch.

Während er ins Wohnzimmer ging, lief sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer im Dachgeschoss, zog ihre Kleider aus, die vom Regen und vom verschütteten Wein durchnässt waren, und schlüpfte erleichtert in Jeans, Pulli, zwei Paar Socken und bunte peruanische Pantoffeln. Wärme vor Stil.

Als sie wieder hinunterkam, sah sie, dass Sam seine nasse Jacke an die Wohnzimmertür gehängt und sich in den jadegrünen Sessel in der Ecke gesetzt hatte. Er drehte ihren schmuddeligen Hut nachdenklich in der Hand. »Kann man das wieder richten?«

»Ja, der Hut muss nur ein wenig in Ordnung gebracht werden. So wie der restliche Abend auch«, scherzte sie kleinlaut.

Er grinste. »Es war ein wenig zu aufregend für einen angenehmen Abend.«

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er lieber Kaffee als heiße Schokolade trinken wollte, ging Ava in die Küche und stellte den Kessel auf. »Tut mir leid, es gibt nur Löslichen«, sagte sie, als sie mit beiden Tassen ins Wohnzimmer zurückkam. Sie setzte sich in ihren zweiten, den rubinroten Sessel und sah ihn fragend an.

Er lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, dass ich mich aufdränge. Ich habe Patrick geschrieben, dass er sich im Auftrag der Agentur um die Rechnung kümmern soll. Ich rufe ein Taxi, wenn ich das ausgetrunken habe.«

»In Ordnung.« Sie hätte sich jetzt lieber in die heiße Badewanne gelegt, statt jemanden zu unterhalten, den sie gerade erst kennengelernt hatte, doch dass der Regen nun so heftig gegen die Fenster schlug, konnte sie Sam kaum übelnehmen. Sie zog ihre Füße hoch, steckte sie in die weichen Kissen und genoss den warmen Kaffee. »Es war nett, dass du dir Sorgen wegen Harvey gemacht hast. Mir ist das erst in den Sinn gekommen, als ich schon draußen war.«

Ihr Handy piepste und zeigte den Eingang einer Nachricht an, sie zog es aus der Tasche und schaute auf den Bildschirm. Dann erstarrte sie. Eine Nachricht von Harvey.

Langsam und widerstrebend öffnete sie sie. Keine Worte. Nur ein Bild.

Blanke Übelkeit überkam sie. So sah sie sich selbst für gewöhnlich nur, wenn sie vor einem Spiegel stand.

* * *

Sam musterte Ava, während sie ihr Handy kontrollierte. Er hatte noch nie jemanden so schnell die Gesichtsfarbe wechseln gesehen. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, er spürte ihre Ängste unmittelbar in seinen Eingeweiden.

»Alles okay?«, fragte er scheinbar gleichgültig.

Sie blinzelte mit ihren großen Augen. »Alles in Ordnung.«

Doch er konnte sehen, wie ihr Herz klopfte. Was zum Teufel war los? Warum war ihr Ex, dieser Arsch, so handgreiflich geworden?

Sam blickte auf ihren kleinen runden Hut und versuchte, seiner Stimme einen Plauderton zu verleihen. »Meine Mutter ist in einer Selbsthilfegruppe für Frauen, die bedroht wurden. Was Situationen angeht, vor denen man sich hüten sollte, hat dein Ex ja ziemlich viele Warnsignale gesetzt. Alkohol. Wut. Gewalt. Vielleicht ungelöste Konflikte. Womöglich war ich übervorsichtig, als ich vermutet habe, er könnte dir draußen auflauern, aber ich habe die Publikationen ihrer Selbsthilfegruppe gelesen und weiß, wie leicht Schlimmes passieren kann.«

»Das war sehr anständig von dir, dich zu vergewissern, dass ich sicher nach Hause komme.« Ihre Stimme klang matt.

Er zuckte die Achseln, als wäre Anstand nicht erwähnenswert, drehte ihren kleinen Hut in seiner Hand und achtete dabei auf die kaputte Feder. Der Hut roch neu. »Er hat dir Angst gemacht. Er war gewalttätig. Wenn mich das beunruhigt, sollte es dich erst recht beunruhigen. Eine Alternative wäre, Unterstützung bei einer Gruppe oder bei der Polizei zu suchen.«

»Harvey kann ein Arschloch sein, und heute Abend hat er sich selbst übertroffen. Aber so etwas ist zuvor noch nie vorgekommen.«

Er spürte ihre Verlegenheit. »Erzähl mir was über das Hutmacherhandwerk.« Doch anstatt angeregt und begeistert darauf zu reagieren, wie er erwartet hatte, verdrehte sie nur die Augen. »Wenn das so leicht zu erklären wäre, hätte ich nicht jahrelang an der Uni studiert und drei Jahre Praktikum hinter mich gebracht, um das Handwerk zu lernen.«