Stix - Dergin Tokmak - E-Book

Stix E-Book

Dergin Tokmak

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Beschreibung

Alles ist möglich: Mit Ausdauer, Ehrgeiz und einem starken Willen schafft es Dergin Tokmak als erster Deutscher im erlauchten Kreis der Akrobaten des weltberühmten Cirque du Soleil aufgenommen zu werden.

Dabei startet er mit den denkbar schlechtesten Voraussetzungen für eine Artistenkarriere. Der Sohn türkischer Einwanderer ist an beiden Beinen durch Kinderlähmung gehandicapt. Dennoch beginnt er auf seinen Krücken zu tanzen. Stix, so sein Künstlername, vermag sich auf seinen Stöcken (englisch: sticks) zu bewegen wie kein anderer. Er macht als Breakdancer Furore und wird schließlich zu einem internationalen Star der Akrobatenwelt.

In seinem Buch erzählt Dergin Tokmak seine beeindruckende Geschichte und gibt seinen unerschütterlichen Lebensmut weiter. Ein bewegendes Beispiel für mentale Stärke, körperliche Kraft und den Glauben an sich selbst.

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Seitenzahl: 357

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Inhaltsverzeichnis

Prolog: Der Mann aus dem MeerIm KreisDer weite WegMein KnastTictac StepsDie VerwandlungOn tourUnsere Show ist eure Show!Ich bin StixFinaleDankCopyright

Ich widme dieses Buch allen Menschen, die ein Handicap haben oder deren Leben durch einen Schicksalsschlag plötzlich verändert wurde. Vielleicht kann meine Geschichte ihnen Mut machen und ihnen dabei helfen, wieder auf die Beine zu kommen.

Prolog: Der Mann aus dem Meer

»Egal, was du da unten siehst – bleib ruhig, Dergin«, hat mir Cindy, die Tauchlehrerin, auf dem Boot eingeschärft. »Mach keine ruckartigen Bewegungen und fass nichts an. Es sind Fische! Hier am Great Barrier Reef sind sie zwar besonders groß, aber keiner von denen tut dir was.« »Und was ist mit Haien?« »Gibt es schon, aber die meisten sind harmlos. Mach dir keine Sorgen, hab einfach Spaß. Lass dich fallen. Du wirst sehen, es ist so schön, dass du dir wünschst, die halbe Stunde würde nie enden.«

Ich spucke in die Tauchermaske, spüle sie mit Meerwasser aus, damit sie nicht beschlägt, und drücke sie mir fest aufs Gesicht. Dann nehme ich das Atemgerät in den Mund, lasse das Geländer der Bootsleiter los und gleite ins Wasser.

Wärme umgibt mich. Ich fliege in ein Blau, das durchsetzt ist mit farbigen Punkten. Orange, Silber, Grün, Lila, Grau, Türkis. Die Farben vermischen sich und formen sich zu Sternen, Blumen und bunten Blitzen, wie die Glasstücke eines Kaleidoskops. Überall sind Fische. Große und kleine, einzelne Exemplare und riesige Schwärme, bei denen ich weder Anfang noch Ende erkennen kann. Und alles ist bunt, so bunt wie ein ganzer Straßenzug mit den fantasievollsten Graffiti.

Wie Patrick Duffy in der Serie Der Mann aus dem Meer bewege ich mich mit meinen Flossen vorwärts, indem ich beide Beine synchron kräftig auf und ab bewege. Meine Beine, die an Land zu fast nichts zu gebrauchen sind! Hier im Wasser treiben sie mich an wie eine Schiffsschraube.

Sonnenlicht fällt schräg durch die Wasseroberfläche auf den Meeresboden und strahlt die Korallenwälder unter mir an wie Scheinwerfer ein Bühnenbild.

Manche Korallen sehen aus wie Gräser, andere wie Bäume, wieder andere wie riesige Gehirne. Es gibt rote, blaue, grüne, violette. Kleine silberne Fische flitzen geschäftig zwischen den Ästen der Korallen hindurch, orange-weiße Clownfische lugen hinter den Tentakeln von Seeanemonen hervor.

Ein grüner Fisch mit dicken Lippen, der fast so groß ist wie ich selbst, schwimmt langsam an mir vorbei, hält an, als sei ihm gerade etwas eingefallen, und schaut neugierig zu mir herüber. Unter mir gleitet eine riesige Schildkröte gemächlich durchs Wasser, ein knallblauer Seestern klebt wie ein Kühlschrankmagnet an einem Felsen.

Vor Staunen weiß ich gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl breitet sich in mir aus. Ich bin frei! Ich kann fliegen! Ich bin schwerelos! Ich brauche keine Beine!

Jemand tippt mir auf die Schulter. Es ist Cindy. Sie deutet mit dem Daumen nach oben, an die Wasseroberfläche. Die halbe Stunde ist um, bedeutet das, Zeit zum Auftauchen.

Ich winke dem dicken Fisch verstohlen zu, und mit ein paar lockeren Schlägen meiner Fischschwanz-Beine bin ich wieder an der Oberfläche.

Das Wasser glitzert im Sonnenlicht, es ist warm, das Boot dümpelt träge über dem Riff. Ich ziehe mich am Geländer der Leiter hoch, lasse mich bäuchlings auf die Planken des Decks plumpsen, lege Sauerstoffflasche und Bleigürtel ab, ziehe die Flossen aus und greife reflexartig nach meinen Krücken.

Ich bin wieder Dergin. Dergin Tokmak, der Rollstuhlfahrer. Der Mann, der seine Beine nicht bewegen kann und trotzdem Artist wurde. Ich bin wieder Stix, der Tänzer auf Krücken.

Im Kreis

Manchmal sind es nur ein paar Sekunden, die ein Leben total verändern können. Zum Schlechten, aber auch zum Guten. Zwei Sekunden dauerte es wahrscheinlich nur, bis das Poliovirus in meinen Körper eindrang und dort sein zerstörerisches Werk verrichtete. Seitdem kann ich meine Beine nicht benutzen, weil Muskeln, Knochen und Sehnen durch die Krankheit total unterentwickelt sind.

Ein paar Sekunden mehr brachten mich zwölf Jahre später zwar nicht wieder auf die Beine, dafür aber auf die Hände. Auf die Griffe meiner beiden Krücken, um genau zu sein.

Dieser eine Samstagabend im Jugendhaus meiner Heimatstadt Augsburg war so ein Moment. Es war der Moment, als ich das erste Mal vor Publikum tanzte und wusste: Tanzen, das ist mein Leben. Das bringt mich raus aus meiner Ecke. Es macht mich vom Körperbehinderten zum Normalo. Tanzen macht mich frei.

Der Saal war brechend voll. Etwa 200 Leute waren gekommen, man konnte kaum noch atmen. Fast alle rauchten, der Hip-Hop-Beat dröhnte aus den staubigen Boxen, die Fensterscheiben waren beschlagen. Es war heiß und stickig, aber die Stimmung war fantastisch.

Die ganze Augsburger Szene hatte sich versammelt, ungefähr 60 Prozent Türken, der Rest war bunt gemischt. Nur Deutsche gab es so gut wie keine. Das Jugendhaus war ein Zentrum für Immigrantenkinder, die sich hier trafen und abhingen. Da waren die Bobinger, die aus Hochfeld, meine Clique aus Lechhausen und die aus Oberhausen. Oberhausen ist ein Augsburger Problemviertel, sozusagen das Kreuzberg von Augsburg. Fast alle Jugendlichen dort kommen aus Gastarbeiterfamilien.

Mit den Jungs aus Oberhausen war echt nicht zu spaßen, sie waren die härtesten und auch die zahlreichsten.

Wie immer hatte sich an diesem Abend ein Kreis gebildet, zwei Gruppen tanzten gegeneinander: die Mad Boys aus Hochfeld gegen die Royals aus Oberhausen. Man konnte sein eigenes Wort kaum verstehen, so laut war die Musik. Aber das war auch nicht nötig. Keiner wollte reden, alle wollten nur tanzen. Und die, die nicht tanzten, standen im Kreis, um die Tänzer in der Mitte anzufeuern.

Die Battle war nicht schlecht, aber sie riss die Leute auch nicht vom Hocker. Manche Moves wurden so unsauber ausgeführt, dass man sie kaum erkannte. Einer der Typen aus Oberhausen landete sogar auf der Schnauze, als er versuchte, am Schluss einen tollen Freeze hinzulegen. Trotzdem gewannen am Ende die Royals, weil die Mad Boys schlecht aussahen und einfach keinen Style hatten.

Wie immer stand ich ein wenig am Rand, stützte mich auf meine Krücken und bewegte den Oberkörper im Rhythmus der Musik. Ich konnte nicht anders – sobald ich den Sound hörte, musste ich mich im Takt bewegen und wollte tanzen, obwohl ich ohne Krücken nicht mal zwei Schritte machen konnte.

Plötzlich schubste mich jemand so heftig, dass ich fast umfiel. »Hey, was soll der Scheiß! Kannst du nicht aufpassen?«, schnauzte ich den Typen hinter mir an. »Los, Dergin, jetzt jump mal rein! Du kannst das, du bist viel besser als die ganzen Penner hier!«

Es war mein Cousin Fehzo, mit dem ich seit ein paar Wochen Breakdance trainierte. »Trau dich endlich, Dergin!«, brüllte er mir über den Lärm hinweg ins Ohr. »Irgendwann ist immer das erste Mal!« »Los, Dergin! Du übst doch schon so lange!«, sagte Fehzos älterer Bruder Ferhat. »Echt, du hast das drauf!«

Das hatte ich in den letzten Wochen schon öfter gehört. Ein paar Leute, die häufig im Jugendhaus rumhingen, hatten mitbekommen, dass ich in den Ecken manchmal ein bisschen auf meinen Krücken herumhüpfte. »Jetzt geh endlich mal rein!«, drängten sie mich immer wieder. »Worauf wartest du denn?« Doch ich traute mich einfach nicht, obwohl ich mir schon dachte, dass es bestimmt cool wäre, vor Publikum zu tanzen. In diesem Moment passierte es. Fehzo gab mir noch einen Schubs. Ich kam ein wenig aus dem Gleichgewicht, stolperte auf meinen Krücken vorwärts – und plötzlich war ich drin im Kreis der Breaker.

Jeder neue Breaker, der ein, zwei Moves beherrscht, muss irgendwann mal in den Kreis, das ist die Regel. Das erste Mal im Kreis zu sein, sich zu zeigen, sich zu messen mit anderen, das ist wie ein Ritual. Es ist egal, wie du aussiehst, was du kannst und was nicht. Wenn du keinen Handstand kannst, dann machst du eben einen Freeze. Und wenn du nicht gehen kannst, dann tanzt du eben auf den Händen. Hauptsache, du tanzt überhaupt.

Dabei ist es ganz und gar nicht egal, wie man tanzt. Das Publikum ist gnadenlos. Es jubelt und klatscht, wenn jemand einen neuen oder einen besonderen Move zeigt. Umgekehrt ist es allerdings genauso: Wenn die Leistung schlecht ist, wird man niedergemacht. In den Kreis zu gehen und seine Tricks zu zeigen, erfordert also von jedem viel Mut.

Fehzos Schubs nahm mir die Entscheidung ab. Ich konnte nicht lange nachdenken, für Lampenfieber blieb gar keine Zeit. Reflexartig fasste ich die Griffe meiner Krücken fester und legte einfach los.

Die Leute waren total aus dem Häuschen, ich hörte, wie sie johlten, kreischten und mich durch ihr rhythmisches Klatschen anfeuerten. Das Klatschen und die Musik trugen mich, als würde ich im warmen Meer schwimmen. Meine Performance war nichts Besonderes, ich zeigte einfach das, was ich konnte: Ich bewegte mich im Rhythmus der Musik auf meinen Krücken hin und her, ging hoch und runter, versuchte sogar so etwas wie einen Flare – eine Bewegung, bei der ich mich auf den Armen in die Höhe stütze und die Beine kreisen lasse, wie auf dem Seitpferd beim Geräteturnen.

Mehr als eine halbe Minute wird dieser erste Auftritt kaum gedauert haben. Doch hätte mir in diesem Moment nichts Großartigeres passieren können. Alles um mich herum bewegte sich plötzlich langsam, wie in Zeitlupe. Nur meine eigenen Bewegungen waren schnell, voller Power und geladen mit einer Energie, die mich 30 Sekunden lang trug. Es waren die Zuschauer, von denen diese Energie ausging und auf mich übersprang. Ich spürte sie von der ersten bis zur letzten Sekunde meines Auftritts. Es war das Gefühl einer grenzenlosen Kraft, als könnte mir nie wieder etwas Schlimmes passieren. Ich fühlte mich stark und unbesiegbar, ich fühlte mich wie Superman.

Das war der Moment, in dem ich »angefixt« wurde. Angefixt von der Droge, vor Publikum zu tanzen.

In diesem Moment begann ich, mein Leben wirklich zu leben. Wenn ich genau darüber nachdenke, hat mein Leben an diesem Samstag im Jugendhaus eigentlich erst richtig angefangen. Es war der absolute Schlüsselmoment für mich, mein Comingout als Tänzer und als Mensch, der sich mit Erfolg gegen sein Schicksal, im Rollstuhl zu sitzen, stemmt. Ich war zum ersten Mal in der »Manege«, und ich wusste, es würde nicht das letzte Mal sein.

Die Leute flippten geradezu aus, als ich mit meiner Darbietung fertig war und mir meinen Weg durch die Zuschauer hindurch zu Fehzo und Ferhat bahnte, während sich schon die nächste Gruppe für ihren Auftritt bereit machte. Immer wieder kamen Leute auf mich zu, klopften mir auf die Schulter oder umarmten mich. Und immer wieder hieß es: »Ey, Dergin, du bist ja abgegangen wie der Typ in Breakin’!«

Ein größeres Lob konnte ich mir gar nicht vorstellen, denn so wie die Tänzer in dem Breaker-Film Breakin’ wollten wir damals alle sein. Sie waren unsere Idole. Wir wollten so aussehen wie sie und so tanzen wie sie.

Für mich hat dieser Film jedoch noch eine ganz persönliche Bedeutung: Es gibt darin eine Szene, die nur 20 Sekunden dauert. Es ist eine Szene, in der Eddie »Handyman« Rodriguez einen Tanz auf Krücken hinlegt. Als ich das sah, wusste ich: So wie Eddie Rodriguez wollte ich auch werden.

Es hat alles bei uns im Hof angefangen, auf einem alten Gemüsekarton aus dem Supermarkt um die Ecke. Meine Eltern, mein Bruder Derya, meine Schwester Hülya und ich wohnten damals in einem 08/15-Mehrfamilienhaus in Augsburg. Wir hatten eine Wohnung im Erdgeschoss, die Familie meines Onkels lebte im Stockwerk über uns.

Einer der Söhne meines Onkels, mein Cousin Fehzo, war damals mein bester Freund, ich kannte ihn von klein auf. Eigentlich war er sogar so etwas wie mein großer Bruder. Er nahm mich mit, wenn er sich mit seinen Kumpels im Park traf, obwohl ich mit meinen damals zwölf Jahren um einiges jünger war als er und im Rollstuhl saß. Ich bewunderte ihn, er war mein Idol. Er war groß, sah gut aus, war extrem sportlich und hatte meistens gute Laune. Die Mädchen flogen auf ihn, und ihm schien alles zu gelingen, was er sich vornahm. Fehzo war es auch, der mich im Jahr 1986 zum Tanzen brachte. Er war der Schlüssel für alles, was danach kam.

Das Haus, in dem wir wohnten, hatte einen asphaltierten Hof, der als Parkplatz für die Autos der Hausbewohner diente. Ganz am Rand aber war ein kleiner Fleck Wiese, auf dem ein riesiger Birnbaum stand.

Eines Tages, es war Frühling und die Sonne schien, beobachtete ich durch das Fenster, wie Fehzo auf einem Pappkarton unter dem Birnbaum irgendwelche Verrenkungen machte. Dazu knallte die Musik aus seinem Gettoblaster, den er neben sich auf den Boden gestellt hatte.

Neugierig öffnete ich die Tür und rollte zu ihm heraus. »Ey, Fehzo«, fragte ich, »was machst du denn da?« »Du willst doch nicht im Ernst sagen, dass du noch nie was von Breakdance gehört hast?« Fehzo sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.

Er stand auf, zog seine weite Hose hoch, die ihm beim Tanzen auf die Hüften gerutscht war, und strich sich seine dunklen Haare aus dem Gesicht.

»Nein, keine Ahnung«, erwiderte ich und warf einen bewundernden Blick auf seine nagelneuen gefälschten weißen Nike-Turnschuhe, die allerdings durch das Üben auf dem Hof schon ein paar schwarze Streifen abbekommen hatten.

»Na, dann wird’s aber Zeit!« Fehzo drehte die Musik etwas leiser. »Breakdance ist total in, das ist wahrscheinlich noch nicht bis in deine Behindertenschule vorgedrungen. Ich erklär’s dir. Für dich wäre es wahrscheinlich eh kein Problem, das zu lernen, du kannst ja perfekt Handstand. Probier doch mal das hier.«

Er zog die Ärmel seiner knallgelben Nylonregenjacke über die Hände. »Dann rutscht man besser auf dem Karton, weißt du?«

Ich starrte ihn voller Bewunderung an und verstand nur Bahnhof.

Fehzo legte sich bäuchlings auf den Karton. Dann stützte er sich auf die Hände, hob die Beine vom Boden ab und begann, sich langsam und ein bisschen ruckartig im Uhrzeigersinn auf den Händen zu drehen. »Los, mach es nach!«

Ich schnappte mir meine Krücken, stemmte mich aus dem Rollstuhl und ließ mich auf dem Pappkarton nieder. Trotz der Wiese darunter fühlte er sich ziemlich kalt und hart an. »Hier, zieh die an, dann geht’s leichter!« Fehzo hielt mir seine Jacke hin.

Ich zog sie an, obwohl sie mir viel zu groß war, legte mich auf den Karton, wie ich es bei ihm gesehen hatte, und versuchte, mich auf den Armen hochzustemmen.

Bei den ersten Versuchen verlor ich ziemlich schnell das Gleichgewicht. Aber ich probierte es immer wieder. Fehzo schubste mich an, und schließlich bekam ich die erste vollständige Drehung auf den Händen hin.

»Echt geil, Dergin!« Fehzo grinste mich an. »Das war ein astreiner Handglide! Ist dir klar, dass das dein erster richtiger Move war?«

Ich war ziemlich verblüfft. So einfach hatte ich mir Breakdance gar nicht vorgestellt.

»Wow, das ist cool! Kannst du mir nicht noch einen zeigen?« »Klar, Mann, warum nicht? Du könntest einen Backspin versuchen. Da drehst du dich auf dem Rücken. Schau mal!«

Er stellte die Musik wieder lauter, legte sich auf den Karton und machte mir einen Backspin vor. »Hast du es gesehen? Versuch mal, es ist leichter, als es aussieht!«

Und tatsächlich: Auch die Rückendrehung stellte für mich kein größeres Problem dar.

»So, und jetzt zeig ich dir, wie du von der Handdrehung in die Rückendrehung gehst. Wenn du diese beiden Bewegungen direkt nacheinander machst, hast du deine erste vollständige Kombination. Floorwork nennt man das.«

Innerhalb kürzester Zeit hatte ich es raus, der erste Übergang von der Handdrehung zum Backspin saß. Auch der Turtle, einer der Power-Moves, war für mich kein Problem. Man muss sich dafür auf den Händen drehen, die Arme angewinkelt und die Füße angezogen wie bei einem Frosch – oder eben wie bei einer Schildkröte.

Was mir dabei sehr half, war meine Konstitution. Ich war topfit, meine Bauch- und Armmuskeln waren durch das Rollstuhlfahren und das Gehen an Krücken so gut ausgebildet, dass ich für das Erlernen der Moves, für das Untrainierte oft viel Zeit brauchen, nur wenige Stunden benötigte. Was für ein tolles Gefühl! Ich war hellauf begeistert und gierte nach mehr.

Zwei Wochen später kam Fehzo am Nachmittag zu uns runter, ich war gerade aus der Schule gekommen und versuchte, meine Hausaufgaben zu machen.

»Dergin, komm mal mit, ich hab da was, das ich dir unbedingt zeigen muss!«

Nur zu gern ließ ich alles stehen und liegen und folgte Fehzo auf meinen Krücken die Treppe hoch ins Wohnzimmer seiner Eltern. Er machte den Fernseher an, legte eine Videokassette ein, drückte den Startknopf und spulte den Film bis zu einer bestimmten Stelle vor.

»Schau dir das genau an, da ist eine kurze Szene, in der einer auf Krücken tanzt!«

»Echt, im Ernst?« Das war doch nicht möglich! Wer konnte schon auf Krücken tanzen!

Und dann zeigte er mir die Szene aus Breakin’, in der Eddie »Handyman« Rodriguez ein Solo auf Krücken hingelegt.

Sie spielt an einer Strandpromenade in Los Angeles. Um einen Typen in einem rot-blauen Trainingsanzug mit blauer Kapuze hat sich ein kleiner Kreis gebildet. Das ist ja an sich noch nichts Außergewöhnliches. Was mir den Atem verschlug, war die Tatsache, dass der Typ tatsächlich behindert war und an Krücken ging. An genau solchen Krücken, wie ich sie auch hatte! Und er tanzte!

Der Kerl war jung, vermutlich keine 20, hatte einen dünnen

Oberlippenbart und dichte, dunkle Haare, die ordentlich gekämmt unter seiner Kapuze hervorschauten.

Auf dem Boden neben ihm stand ein silberner Gettoblaster, eine Plastikplane war über die Gehwegplatten gebreitet. Und auf dieser Plastikplane legte er seinen Krückentanz hin.

Zuerst machte er mit beiden Beinen ein paar leichte Drehungen, dann stützte er sich auf die Griffe seiner Krücken und blieb ein paar Sekunden in der Luft stehen, bevor er begann, sich so rasch zu drehen, dass seine Beine nach außen flogen, federleicht wie Styropor. Aus diesem Move ging er für zwei Sekunden in einen ziemlich perfekten Handstand auf Krücken über, um sich anschließend wieder hinzustellen, die Krücken wegzuwerfen, zu Boden zu gehen und sich rasend schnell auf den Händen zu drehen – so schnell, dass der ganze Körper in der Waagerechten war. Der Move heißt Wolf, wie Fehzo mir erklärte. Dann rollte er ein paarmal über den Rücken, ging in die Windmill über und stand plötzlich auf dem Kopf! Die Drehungen wurden immer schneller, die Beine wirbelten locker im Spagat durch die Luft, er drehte sich mindestens zehn- oder 20-mal. Es war eine Kombination, die nicht viele Breaker beherrschen, aber der Handyman legte sie so flüssig hin, als wäre sie das Leichteste auf der Welt. Schon vom Zuschauen wurde mir ganz schwindlig, während die Leute im Film jubelten und rhythmisch zur Musik klatschten, um den Handyman beim Headspin anzufeuern.

Es war, als hätte ein Blitz in meinen Kopf eingeschlagen. Immer wieder bat ich Fehzo, das Band zurückzuspulen, weil ich einfach nicht glauben konnte, dass so etwas möglich war. »Das ist ja der Wahnsinn! Der Typ muss von einem anderen Planeten kommen! Wie kann man so was auf Krücken überhaupt machen?!«

Von diesem Moment an kannte ich nur noch einen Gedanken: Wenn der das schafft, schaffe ich es auch.

Ich bekniete Fehzo, mir das Tape zu leihen, musste aber hoch und heilig versprechen, es ihm am nächsten Tag wieder zurückzugeben. Ein ums andere Mal sah ich mir die Szene an. Und je öfter ich sie mir anschaute, desto klarer wurde mir: Das kann ich auch, vielleicht sogar besser. Denn der Handyman hat wahrscheinlich ein noch größeres Problem mit seinen Beinen als ich: Ich kann mich dank meiner Schiene immerhin aufstützen, seine Beine hingegen haben überhaupt keine Spannung, sind so schlaff wie die einer Stoffpuppe.

Am nächsten Tag brachte ich Fehzo das Band zurück, nahm meine Krücken und fing an, wie ein Verrückter im Hof zu üben. Ich probierte einfach alles aus, was ich im Film gesehen hatte. Es dauerte keine drei Stunden, dann konnte ich bereits auf Krücken stehen, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren, konnte kleine, hoppelnde Bewegungen machen, hin und her, vor und zurück – mein erster selbst entwickelter Move, den ich später Tictac Step taufte und der bis heute einer meiner Basic-Moves ist.

Handstand auf dem Boden, der zweite Basic-Move, war für mich sowieso kein Problem, den konnte ich quasi schon immer. Wenn man seine Füße nicht benutzen kann, geht man eben auf den Händen. Aber auf die Idee, dass man Handstand auch auf Krücken machen kann, kam ich komischerweise erst, als ich den Handyman in Breakin’ sah.

Als Nächstes nahm ich mir den Wolf vor, der mich beim Handyman so beeindruckt hatte. Man legt sich bäuchlings auf den Boden, stützt sich auf die Hände, spannt den ganzen Körper an, stemmt sich in die Waagerechte hoch und dreht sich auf den Händen um die eigene Achse. Der Wolf ist eigentlich ein schwieriger Move, doch ich lernte ihn sehr schnell, weil meine Beine leicht sind, genau wie beim Handyman, und weil ich so kräftige Oberarmmuskeln habe. Der Wolf war mir sozusagen von Kindheit an in den Rollstuhl gelegt, und er wurde im Lauf der Zeit zu einem meiner besten und wichtigsten Moves.

Als ich Fehzo meine Fortschritte zeigte, war er begeistert. »Das ist fett, Dergin!«, meinte er. »Das musst du unbedingt weiterüben!«

Von nun an übte ich, wann immer es ging. Breakdance war im Kommen. Es gab sogar eine Fernsehsendung, in der jede Woche in allen Einzelheiten neue Moves erklärt wurden. Eine Stunde lang machte der Typ in der Sendung die Basics vor, und Fehzo und ich machten sie im Wohnzimmer nach. Außerdem hatten wir mehrere VHS-Kassetten mit angesagten Tanzfilmen wie Breakdance Gang, Flashdance, Beat Street und Wild Style. Aber Breakin’ war und blieb unser Favorit.

Und dann gab es natürlich die Musiksendung Formel Eins im dritten Programm, auf die wir jede Woche sehnsüchtig warteten, weil sie dort immer die neuesten Musikclips brachten, in denen Breaker performten. Einer meiner Favoriten war Mr. Robot, der Electric Boogie tanzte und ein unverwechselbares Markenzeichen hatte: Er trug immer eine knallblaue Regenjacke, eine weite schwarze Hose, eine weiße Brille und eine schwarze Mütze. Unsere Vorbilder waren, neben unseren Helden und Heldinnen aus Breakin’, vor allem die Tänzer der schwarzen New Yorker Szene wie die Rocksteady Crew und die New York City Breakers. Sie beherrschten Power-Moves, von denen wir als Anfänger nur träumen konnten. Immer und immer wieder zogen Fehzo und ich uns diese Clips rein und träumten davon, selbst eines Tages so gut zu werden wie sie. Bei schönem Wetter schnappte ich mir den Gettoblaster und trainierte im Hof. Bei schlechtem Wetter fand das Ganze im Wohnzimmer meiner Eltern statt, und das war nicht gerade groß. Jedenfalls kaum groß genug für einen, der versucht, auf Krücken Handstand zu machen.

Unser Wohnzimmer war vollgestellt mit eckigen Sesseln und Sofas im Stil der 70er-Jahre, die karierte Bezüge und an den Lehnen richtig scharfe Kanten hatten. Ich übte dort mit Fehzo, wann immer wir sturmfreie Bude hatten. Eines Tages kam es, wie es kommen musste: Bei dem Versuch, mich auf die Hände zu stützen und mich auf den Krücken zu drehen, rutschte ich aus und knallte mit dem Kopf seitlich auf die Armlehne des Sofas. Ich blutete wie ein Schwein und brüllte wie am Spieß. Meine Eltern, die gerade oben bei meinem Onkel und meiner Tante zu Besuch gewesen waren, stürzten zur Tür herein und sahen die Bescherung. Doch es erwies sich alles als halb so schlimm: Ich hatte einen zwei Zentimeter langen, ziemlich tiefen Riss an der Wange und vermutlich auch eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen. Menschen, die auf dem Bauernhof in einem türkischen Dorf aufgewachsen sind wie meine Eltern, sind den Anblick von Blut gewohnt. Jedenfalls machte man bei uns aus so etwas keine große Sache. Ich bekam ein Pflaster und das war’s. Die große Narbe auf meiner rechten Wange erinnert mich noch heute daran.

Nach dieser unerfreulichen Tanzeinlage begriff Fehzo, dass mein raumgreifender Tanzstil für das Wohnzimmer meiner Eltern nicht wirklich geeignet war, und kündigte vielversprechend an: »Ich kenne da einen coolen Platz, wo ich öfter zum Trainieren hingehe. Das nächste Mal nehme ich dich mit.«

So kam ich ins Jugendhaus in der Kanalstraße, wo sich die Szene traf. Es sollte für die folgenden 15 Jahre mein Trainingsort werden, bis ich Augsburg schließlich für den Cirque du Soleil verließ.

Von nun an nahm mich Fehzo öfter dorthin mit, aber ich übte anfangs nur heimlich in den Ecken und schaute mir das übrige Geschehen aus sicherer Entfernung an. Breakdance war gerade erst dabei, sich zu entwickeln, und es gab noch nicht so viele

Tänzer. Eigentlich war das Jugendhaus bis dahin eher ein Platz gewesen, wo man chillte oder sich prügelte oder beides tat. Natürlich gab es auch andere Jugendhäuser in Augsburg, doch unseres in der Kanalstraße war das Zentrum, wo sich alle trafen. Dienstags, freitags und samstags waren regelmäßig 200 bis 300 Leute in der Disco versammelt, um Musik zu hören und gemeinsam Zeit zu verbringen. Schlägereien waren an der Tagesordnung, es ging oft ziemlich brutal zu. Die Rede ist nicht von harmlosen Raufereien, bei denen einer vielleicht mal ein blaues Auge davontrug, sondern von Massenprügeleien, die einzig und allein dazu da waren, um Dampf und Frust abzulassen und sich einen Adrenalinkick zu holen. Auf diese Weise verschafften sich die Jungs Anerkennung und Respekt und verteidigten das, was sie »Ehre« nannten. Es war manchmal ein bisschen wie in einem Gangsterfilm, vielleicht nicht ganz so gefährlich, aber auch nicht völlig harmlos. Vordergründig ging es meistens um ein Mädchen, manchmal genügte aber auch eine kleine Behauptung oder Provokation wie: »Du hast meinen kleinen Bruder geschlagen« oder: »He Alter, warum schaust du so blöd!« – etwas in der Art. Und sofort war wieder eine wüste Schlägerei im Gang, Stadtviertel gegen Stadtviertel.

Das änderte sich erst, als Fehzo dieses Jugendhaus für sich entdeckte und dort allmählich den Tanz hineinbrachte, weil er für Prügeleien wenig übrig hatte. Unterstützung erhielt er dabei von verschiedenen Leuten, die ebenfalls genug von den ständigen Schlägereien hatten und nach anderen Möglichkeiten suchten, sich zu beweisen. Eine dieser Möglichkeiten war der Tanz. So kamen wir nach und nach alle zum Tanzen – zum Hip-Hop mit seinen fünf Elementen: Breakdancing, Graffiti, DJing, Rapping und Beatboxing. Über das Jugendhaus lernte ich eine Menge Leute kennen, darunter zwei Jungs, mit denen ich auch später viel zu tun haben sollte: Naci, mit dem ich viele Jahre in der Hip-Hop-Tanzgruppe DA F.U.N.K tanzte und der bis heute einer meiner besten Freunde ist, und Fikri. Viele Jahre später kreuzten sich unsere Wege bei der Rock Kidz Crew in Italien.

Das Jugendhaus wurde zu unserem festen Trainingszentrum, und allmählich begann sich dort etwas ganz grundlegend zu verändern: Das Interesse an dem, was Fehzo, ich und die anderen da machten, wurde immer größer, und nach und nach wechselten auch die härtesten Jungs vom Prügeln zum Breakdance. Sie alle hatten inzwischen Breakin’ gesehen und wollten nun genau so werden wie die Tänzer, die in dem Film die männlichen Hauptrollen spielen: Adolfo »Shabba-Doo« Quiñones, der im Film Ozone heißt, und Michael »Boogaloo Shrimp« Chambers, der den Turbo spielt.

Breakin’ war für uns Breakdancer das, was kurze Zeit später A Chorus Line für Musicaltänzer werden sollte. Meiner Meinung nach ist Breakin’ noch heute einer der besten Tanzfilme aller Zeiten.

Es geht darin hauptsächlich ums Tanzen – um Breakdance und Hip-Hop, vor allem um die Battle zwischen klassischem Tanz und dem rauen, supersportlichen Tanz von der Straße. Die Handlung ist eher nebensächlich und ein bisschen kitschig, so ein richtiger Teenie-Liebesfilm. Ein Streetdancer verliebt sich in eine »klassische« Tänzerin, die sich um eine Rolle in einem Musical bewirbt. Sie will am Anfang nichts von ihm wissen, denn Breaker wurden von diesen »kultivierten« Tänzern nicht besonders geschätzt. Für die war das ja nur Straßentanz. Doch der Breaker zeigt der klassischen Tänzerin, was Tanzen wirklich ist. Er zeigt ihr, dass Tanzen aus dem Herzen kommt und nicht von der Ballettschule.

Breakin’ wurde unsere Bibel. Alle übten täglich zu Hause, um so zu werden wie die Breaker in dem Film. Und ganz allmählich bildeten sich im Jugendhaus die ersten Kreise und die ersten Battles, in denen zwei oder mehrere Tänzer gegeneinander antraten.

Für mich war der Breakdance die Entdeckung schlechthin, denn er ist die einzige darstellende Kunst, bei der es egal ist, wie man aussieht, ob man schwarz ist oder weiß, türkisch oder deutsch, behindert oder nicht behindert. Jeder, der seine eigenen Ideen beisteuert, kann mitmachen. Es gibt nur eine Regel: Man muss sich zum Rhythmus der Musik bewegen können und es so cool wie möglich aussehen lassen. Ob und welche Art von Akrobatik man einbaut, bleibt jedem selbst überlassen. Und mit meinem Tanz auf Krücken hatte ich einen entscheidenden Vorteil: Niemand außer mir konnte so etwas bieten, ich hatte also keine Konkurrenz. Ich konnte einfach meinen eigenen Stil mit einbringen, indem ich die Musik mit meinem Krückentanz interpretierte. Das machte mir so leicht keiner nach.

Dass durch das Tanzen allmählich Friede einkehrte im Jugendhaus, war eine große Erleichterung. Die ständigen Schlägereien gingen Fehzo und mir ziemlich auf die Nerven, ich selbst habe nie bei einer mitgemacht. Nicht, weil ich es kräftemäßig nicht gekonnt hätte, meine Krücken wären zudem eine sehr brauchbare Waffe gewesen. Aber ich bin ganz klar Pazifist. Absolut kein Schläger, sondern eher der Loveandpeace-Typ. Sicherlich habe ich eine große Klappe, und wenn ich etwas anderes behaupten würde, würden meine Freunde mich auslachen. Sie wissen genau, dass ich mich nicht still in die Ecke verziehe, wenn’s drauf ankommt.

Manchmal musste ich mich auch im Jugendhaus wehren, aber nur, wenn einer auf mich zukam und den ersten Schritt machte. Dann konnte es schon mal passieren, dass ich ihm mit den Krücken eins drüberzog. Aber grundsätzlich ist Gewalt nicht mein Ding, und zum Glück musste ich in meinem bisherigen Leben auch nur selten Gewalt anwenden, um mich durchzusetzen. Wenn es Probleme gibt, biege ich das eher mit Worten hin, nicht mit Fäusten oder meinen Krücken. Gewalt ist für mich immer die letzte Lösung.

Seit meinem ersten Auftritt im Kreis trainierte ich jeden Abend im Jugendhaus, das für mich zu einer zweiten Heimat wurde. Heute steht es meistens leer, kaum jemand tanzt noch dort. Überhaupt hat sich vieles geändert, seit ich dort Mitte der 80er-Jahre auf dem unebenen und rutschigen Fliesenboden meine ersten Moves machte. Wir leben inzwischen in einer ganz anderen Zeit, die Kommunikation hat sich total verändert. Facebook, YouTube und das Internet sind heute für den Austausch der Menschen untereinander zuständig. Früher traf man sich in bestimmten Räumen, auf bestimmten Plätzen. Heute trifft man sich im Netz. Niemand muss mehr vor die Tür gehen, um mit Freunden, Bekannten oder Fremden zusammenzukommen und Zeit miteinander zu verbringen. Einrichtungen wie unser Jugendhaus scheinen überflüssig geworden zu sein. Nur tanzen kann man im Internet schlecht.

Manchmal frage ich mich schon, warum es ausgerechnet bei mir das Tanzen war, das mich so faszinierte. Ich kann es mir nicht wirklich erklären, denn Vorbilder hatte ich zu Hause in dieser Hinsicht nicht, wenn man von Fehzo und meiner Schwester absieht, die eine Zeit lang heimlich, wenn meine Eltern nicht da waren, ein bisschen Electric Boogie tanzte, weil Breakdance so in Mode war. Wahrscheinlich liegt mir das Bedürfnis zu tanzen einfach im Blut. So war es, seit ich denken kann: Sobald ich Musik höre, will ich mich bewegen, will ich tanzen. Und das trotz Krücken und Rollstuhl. Dazu kommt, dass es mir sehr schwerfällt, mehr als zehn Sekunden still zu sitzen, eine Tatsache, mit der meine Eltern und meine Lehrer immer schwer zu kämpfen hatten.

Und ich liebte schon als Kind Musik, die zum Tanzen animiert. Vielleicht fuhr ich auch deshalb sofort so aufs Tanzen ab, weil ich dafür keine Hilfsmittel brauchte – kein Musikinstrument, keine besonderen Geräte, keine Ausrüstung. Nur meine Krücken und meine Ohren, um die Musik zu hören.

Damals, als ich unter Fehzos Fittichen meine ersten Moves im Jugendhaus machte, war ich noch nicht so selbstbewusst wie heute, im Gegenteil. Im Jugendhaus ging es ja noch, da hatte ich mein Publikum. Ich kannte die Leute, und wenn es einen Kreis gab, war das für mich okay. Ich ging einfach rein, wenn ich Lust hatte, und zeigte mal kurz meine Tricks. Meine Behinderung spielte dort keine Rolle. Meinen Rollstuhl mit den supermodernen Rädern fanden alle cool, die meisten hatten ja nur schrottreife Fahrräder, die aus verschiedenen Ersatzteilen zusammengebaut waren. Aber hätte ich hier den hilflosen Behinderten markiert, um die Mädels auf mich aufmerksam zu machen, wäre das gar nicht gut angekommen.

Das Jugendhaus war mein Revier, hier fühlte ich mich frei und ungehemmt. Doch später, als ich älter wurde und mit Fehzo und den anderen aus unserer Clique in normale Diskotheken ging, war ich als Behinderter noch lange ein Außenseiter. Es dauerte ein paar Jahre, bis ich mich endlich traute, auch dort ohne Hemmungen zu tanzen.

Ich versuchte zwar immer, mir nichts anmerken zu lassen, aber es langweilte mich schon wahnsinnig, dass ich in der Disco nicht so tanzen konnte wie die anderen. Und ich traute mich lange Zeit nicht, es mit meinen Krücken zu versuchen, weil ich dachte, dass es blöd aussehen würde – bis ich dann irgendwann mal meinen ganzen Mut zusammennahm und den ersten Schritt auf der Tanzfläche wagte.

Richtig schlimm wurde es mit dem Frust, als Fehzo und seine Freunde in Diskotheken gingen, in die man erst ab 18 durfte. Weil ich zu jung war, konnte ich nicht mit. Meine Enttäuschung darüber war so groß, dass ich mich von Fehzo und seiner Clique zurückzog und mir einen neuen Freundeskreis zulegte, alles Jungs, die eher in meinem Alter waren. Wir hingen die meiste Zeit am Königsplatz in Augsburg rum und schlugen die Zeit tot. Es war wirklich keine produktive Zeit, und sie endete erst, als ich ins Heim kam.

Und da war noch eine Sache, die mich total ankotzte: Jeder meiner Kumpels hatte eine Freundin, nur ich hatte keinen Erfolg bei den Frauen. Natürlich war mir klar, dass das an meiner Behinderung lag. Heute weiß ich aber auch, dass andere Menschen einen nur dann akzeptieren können, wenn man sich selbst akzeptiert. Ich hatte als Jugendlicher einfach noch nicht genügend Selbstbewusstsein, um positiv auf Frauen zu wirken. Das kam erst, als ich älter und erwachsener wurde, Erfolg im Job hatte und vor allem Erfolg mit meiner Gruppe. Plötzlich hatte auch ich Erfolg beim anderen Geschlecht, und mit 23 hatte ich endlich meine erste feste Freundin.

Mein Leben sähe heute wahrscheinlich anders aus, wenn es Fehzo nicht gegeben hätte. Ich würde ihn deshalb auch heute noch zu den Menschen zählen, die für mich im Leben am wichtigsten waren und sind. Wir hatten intensive gemeinsame Erlebnisse, er spornte mich an, er war mein Vorbild. Sein Einfluss auf mich war vielleicht noch größer als der meiner Eltern und meiner Geschwister.

Und dennoch könnte ich mir ein Leben ohne meine engste Familie – meine Eltern und meine beiden Geschwister – nicht vorstellen. Auch wenn ich heute wie ein Nomade durch die Welt ziehe, oft tagelang nichts von mir hören lasse und monatelang nicht in Augsburg auftauche, weiß ich: Wenn es mal hart auf hart kommt, dann ist die Familie zur Stelle. Mit meiner Schwester Hülya telefoniere ich regelmäßig. Sie findet das, was ich mache, supertoll und unterstützt und motiviert mich. Mein Bruder Derya ist ebenfalls sehr stolz auf mich und auf das, was ich bis jetzt erreicht habe, auch wenn er selbst mit Tanzen wenig am Hut hat. Meine größten Fans innerhalb der Familie sind allerdings meine Nichte Selin und ihre Cousinen. Sie sammeln Zeitungsartikel über mich, eine hat ein großes Foto von mir als Poster an der Wand ihres Zimmers hängen, und eine andere hat sogar schon mal ein Referat über mich in der Schule gehalten. Doch der stabilste Fels in der Brandung sind meine Eltern. Sie würden mich nie fallen lassen, das weiß ich einfach. Nicht jeder kennt dieses sichere Gefühl, dass die Eltern bedingungslos hinter einem stehen, ganz gleich, welchen Weg man eingeschlagen hat. Deshalb würde ich ihnen auch nie einen Vorwurf machen, dass sie mich damals als Säugling mit in die Türkei genommen haben, ohne zu wissen, wie gefährlich das sein konnte. Trotzdem weiß ich, dass sie sich bis heute die Schuld für das geben, was mir passiert ist. Dieses Gefühl kann ich ihnen nur nehmen, indem ich ihnen beweise, dass sie sich keine Sorgen um mich machen müssen, obwohl ich im Rollstuhl sitze.

Neben Fehzo und meiner Familie gibt es noch einen Menschen, der entscheidenden Einfluss auf meine Entwicklung hatte: meine Freundin Anna, die mir immer beim Aussuchen meiner Klamotten half und auch dafür sorgte, dass ich stets die besten und coolsten Frisuren in ganz Augsburg hatte. Für einen Tänzer ist es wahnsinnig wichtig, einen coolen Style zu haben, und Anna war und ist darin meine wichtigste Beraterin und sie ist bis heute meine beste und vertrauteste Freundin.

Fehzo beschäftigte sich noch zwei Jahre lang intensiv mit Breakdance, dann trennten sich unsere Wege, was das Tanzen anging. Breakdance war auf einmal out, und wer alt genug war, fing an, abends in Clubs zu gehen und dort Hip-Hop zu tanzen. Für mich war das ziemlich frustrierend, denn ich kam mit meinen damals 14 Jahren in diese Clubs nicht rein. Deshalb blieb ich wohl oder übel beim Breakdance und ging von nun an meine eigenen Wege. Fehzo betrieb das Hip-Hop-Tanzen ein paar Jahre, dann war auch das vorbei.

Heute ist mein Cousin verheiratet und hat drei Kinder. Er hat einen tollen Job am Münchner Flughafen, lebt aber immer noch in Augsburg. Trotzdem haben wir nur noch wenig Kontakt, unsere Interessen sind heute einfach zu verschieden. Irgendwann änderte sich auch unser Freundeskreis, weil sich die Szene im Jugendhaus veränderte. Und mit 16 begann für mich sowieso ein ganz anderes Leben, weil ich in ein Heim nach Niederbayern kam und nur noch an den Wochenenden zu Hause war.

Wie damals fast jeder Türke machte Fehzo nach der Schule eine Lehre als Automechaniker. Das war der Traumjob schlechthin, fast jeder wollte Automechaniker werden, so wie fast jede junge türkische Frau Friseurin werden wollte. Im Gegensatz zu mir war Fehzo erst mit sieben Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, sein Deutsch war nie wirklich gut. Und auch in der Hauptschule in Augsburg lernte er die Sprache nie richtig, weil er wie viele andere dort in eine türkische Klasse mit türkischen Lehrern ging. Mit Müh und Not schaffte er seinen Gesellenbrief als Automechaniker und arbeitete anschließend ein paar Jahre lang in einer Werkstatt.

Aber wenn Fehzo etwas macht, dann macht er es immer mit Herz, und dann kriegt er es auch hin. Heute ist er glücklich und zufrieden, geht mit seinen Kindern ab und zu ins Jugendhaus in die Kanalstraße und zeigt ihnen ein bisschen, wie man tanzt.

Auch das Tanzen hatte er seinerzeit mit viel Herz betrieben, doch er hatte erkannt, dass er damit nicht genügend Geld verdienen würde, um eine Familie zu ernähren. Und eine Familie wollte er unbedingt haben. Er war sehr traditionell erzogen worden, und ohne Familie ist ein Mann, der aus einem türkischen Dorf kommt, kein richtiger Mann. Wer als Sohn konservativer türkischer Eltern sagt, dass er Tänzer werden will, wird im besten Fall nicht für voll genommen. Jedenfalls ist das ein Weg, der mehr als ungewöhnlich ist und für den traditionelle Türken kaum Verständnis haben.

Nichtsdestotrotz weiß ich, dass Fehzo begeistert ist von dem, was ich heute erreicht habe. Ich wollte ein Tänzer werden und ich habe es geschafft. Meine Hände wurden zu meinen Füßen. Und dafür werde ich meinem Cousin für alle Zeit dankbar sein. Der Tag, an dem Fehzo mich das erste Mal in den Kreis schubste, war vielleicht der bis dahin wichtigste in meinem Leben: Das Tanzen bewahrte mich davor, dass ich aus Frust über meine Behinderung Scheiß baute und auf die schiefe Bahn geriet. Viele Freunde, die nicht tanzten oder die irgendwann wieder damit aufhörten, nahmen später Drogen, tranken zu viel Alkohol und wurden kriminell. Viele hatten außerdem kein Geld und fingen an zu klauen. Glücklicherweise bin ich nie in eine ähnliche Richtung abgerutscht. Das Tanzen und die Musik haben mich davor bewahrt.

Der weite Weg

Wenn ich im Ausland erzähle, dass ich aus Deutschland komme, ernte ich in der Regel ziemlich erstaunte Blicke.

»Wie? Aus Deutschland? Aber du siehst doch gar nicht aus wie ein Deutscher!«, höre ich dann meistens.

Es stimmt. Im Spiegel sehe ich ein Gesicht, das eher ein bisschen indianisch aussieht: große, dunkle Augen, eine schmale, leicht gebogene Nase, milchkaffeefarbene Haut, regelmäßige weiße Zähne, auf die ich ziemlich stolz bin, und ein Haufen dunkle, lockige Haare, die ich meist zu einem Pferdeschwanz binde oder mit einem coolen Tuch zurückhalte, weil sie so lang sind. Ich könnte eigentlich glatt als Indianerhäuptling durchgehen.

Ein »richtiger Deutscher« sieht anders aus, glaube ich. Oder vielleicht doch nicht?

Ich habe einen deutschen Pass. Ich bin in Deutschland geboren. Ich spreche besser deutsch als türkisch. Ich habe eine deutsche Schulausbildung. Einen deutschen Führerschein. Ich fühle mich als Deutscher – meistens jedenfalls. Denn manchmal merke ich, dass auch viel Türkisches in mir ist. Eigentlich kein Wunder, denn meine Eltern kamen erst Mitte der 60er-Jahre als Gastarbeiter aus einem kleinen türkischen Dorf in der Nähe des Schwarzen Meeres nach Deutschland.

Wenn das mit der Herkunft geklärt ist, kommt oft schon die nächste Frage: Ob mein Name Dergin eine bestimmte Bedeutung habe. Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht. Es ist ein moderner Name, der auch in der Türkei ziemlich selten ist. Meine Eltern haben ihn wegen des schönen Klanges ausgesucht. Die Schwestern im Krankenhaus dachten sogar, es sei ein russischer Name. Deshalb habe ich mir einfach selbst eine Bedeutung ausgesucht. Dergin heißt für mich »Der weite

Weg«. Irgendwie gefällt mir das, und bisher ist noch niemand gekommen, dem etwas Besseres einfiel. Ich mag meinen Namen. Ich finde, er passt zu mir, weil er nach Musik klingt. Spätestens jetzt kommt die dritte Frage: »Und wie kommt es, dass du im Rollstuhl sitzt?«

Für diese Antwort muss ich etwas ausholen.

Meine Mutter und mein Vater kommen aus einem winzig kleinen Dorf namens Mörekköy, was nichts anderes als »kleines Dorf« heißt, und sind Cousins ersten Grades. In türkischen Dörfern war es bis vor nicht allzu langer Zeit noch ziemlich normal, das Cousins untereinander heiraten.