Stolen Kisses - Andreas Suchanek - E-Book

Stolen Kisses E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Prickelnde queere Romance in Berlin! Eigentlich hatte es für Kai und Jannis nur ein One-Night-Stand im Hotel werden sollen, doch zwischen leidenschaftlichen Küssen und dem Plündern der Minibar vergehen die Stunden wie im Flug. Trotzdem verschwindet Kai am nächsten Morgen schweren Herzens. Sein Leben ist Verpflichtung, ein Coming-out unmöglich. Jannis bleibt traurig zurück, droht in der absoluten Freiheit zu ertrinken. Dann konkurrieren die beiden Modefirmen ihrer jeweiligen Familien plötzlich miteinander. Gewinnt die Liebe zwischen beiden oder verlieren sie sich in einem Netz aus Machtkampf und Intrigen? Für LeserInnen von Casey McQuiston, Sophie Bichon, Lea Kaib und Alexis Hall

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Silvana Dorothea Schmidt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Triggerwarnung

Prolog

Jannis

Kai

1. Kapitel

Jannis

2. Kapitel

3. Kapitel

Kai

4. Kapitel

5. Kapitel

Jannis

6. Kapitel

7. Kapitel

Kai

8. Kapitel

9. Kapitel

Jannis

10. Kapitel

11. Kapitel

Kai

12. Kapitel

13. Kapitel

Jannis

14. Kapitel

15. Kapitel

Kai

16. Kapitel

17. Kapitel

Jannis

18. Kapitel

19. Kapitel

Kai

20. Kapitel

21. Kapitel

Jannis

22. Kapitel

23. Kapitel

Kai

24. Kapitel

Jannis

25. Kapitel

26. Kapitel

Kai

27. Kapitel

28. Kapitel

Jannis

29. Kapitel

Kai

30. Kapitel

31. Kapitel

Jannis

32. Kapitel

33. Kapitel

Kai

34. Kapitel

Epilog

Jannis

Kai

Triggerwarnung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu verschaffen, findet ihr deshalb am Buchende[1] eine Triggerwarnung.

 

Andreas Suchanek und das everlove-Team

Prolog

Jannis

Eigentlich hatte es nur ein Quickie sein sollen. Das hatte ich zumindest gedacht. Bis mein Date das Hotelzimmer betrat, das wellige Haar vom Wind zerzaust, in Hoodie und Jogginghose gekleidet. Er trug seine Selbstsicherheit vor sich her wie eine Mauer, durch die keine Emotion hindurchschimmerte.

»Kai«, sagte er.

»Jannis«, sagte ich.

Dann fanden sich unsere Lippen. Gierig, wie zwei Verdurstende in einem Meer aus zu vielen Möglichkeiten. Das Bett war die Rettungsinsel. Die Verbindung war einfach da, und die Kleidungsstücke wurden auf Autopilot weggerissen und ins Zimmer geworfen.

Seine Augen hatten die Farbe eines wolkenverhangenen Meeres. Unsere Körper verschmolzen miteinander, während der Wind den Regen gegen das Hotelzimmerfenster prasseln ließ. Das Licht der Stehlampe floss warm über das Bett, tauchte den Rest des Raums in ein diffuses Schattenspiel. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte.

Es gab nur ihn und mich.

Wir lagen nackt auf dem Bett, konnten den Blick nicht voneinander lösen. Unsere Kleidungsstücke waren im ganzen Zimmer verteilt, und ehrlich, ich war nicht gerade stolz auf die Socke, die auf dem Lampenschirm gelandet war.

Es folgten drei Stunden, in denen seine Lippen mich überall küssten. Seine Zunge meinen Körper erkundete. Seine Hände mich streichelten. Endlich spürte ich wieder echte Nähe, mehr als nur eine flüchtige Berührung.

Jetzt lag Kai auf mir. Schaute mit einem sanften Glanz in den Augen herab, der sich mit einem Hauch von etwas anderem vermengte. Sehnsucht? Traurigkeit? Er lächelte. Die Wolken über dem Meer rissen auf, es funkelte in dem dunklen Blau.

Ich strich ihm eine Strähne aus der Stirn.

Ein fragender Ausdruck erschien in seinen Augen, woraufhin ich nickte.

Er lag zwischen meinen Beinen, schob sich langsam in mich. Seine Schultermuskeln spannten sich an, traten hervor. Sanft strich ich darüber. Er biss sich auf die Unterlippe, bremste sich selbst, um mir nicht wehzutun. Gut so, denn ich hatte da schon andere, schmerzhafte Erfahrungen gemacht.

»Alles okay?«, fragte er heiser.

Ich genoss das Gefühl der absoluten Nähe und lächelte. Er begann, sich in mir zu bewegen.

Kai

Ich konnte mich nicht an ihm sattsehen.

Normalerweise flüchtete ich nach einem Quickie, so schnell es ging. Dieser Plan hatte sich in Luft aufgelöst, als ich vor sechs Stunden das Hotel betreten hatte. Der Regen hatte nachgelassen, prasselte aber noch immer gegen die Fensterscheibe. Die Nacht ging langsam in die Morgendämmerung über.

Jannis lag neben mir und erwiderte meinen Blick mit glänzenden Augen. Die Sommersprossen auf seinem Gesicht schienen zu leuchten. Seine rotblonden Locken hatten sich endgültig in eine Sturmfrisur verwandelt. Obwohl wir die Stunden mit Küssen und Streicheln verbracht und insgesamt vier Kondome verbraucht hatten, wollte ich noch immer nicht aufstehen.

Mein Blick glitt kurz über seine Schultern. Ich sah den Berliner Fernsehturm in der Morgendämmerung. Das hier war Freiheit. Der Druck war von meiner Brust gewichen, die Verantwortung zu einer fernen Erinnerung geworden. Nicht weit entfernt wartete ein anderes Leben, grau und schwer.

Jannis rückte näher, seine Hände legten sich auf meine Taille, seine Lippen berührten meinen Hals. Sie waren weich, hinterließen bei jeder Berührung einen kribbelnden Nachhall.

»Der längste Quickie meines Lebens«, sagte er mit einem Grinsen, das in meinem Magen ein seltsames Kitzeln auslöste.

»Stimmt«, gab ich zu.

Er verdrehte die Augen. »Du weißt, dass man Wörter auch zu ganzen Sätzen verbinden kann?«

Ich lachte leise. »Postkoitale Wortfindungsstörungen.«

Es war längst zur Gewohnheit geworden, so wenig wie möglich über mich zu erzählen. In den vergangenen Stunden hatte ich immer mal wieder etwas preisgegeben, meist aber ausweichend geantwortet.

»Alles klar, Medizinstudent?«, bohrte er weiter.

Meinen Beruf hatte ich ihm nicht genannt. Laut Datingprofil waren wir fast im gleichen Alter, er ein Jahr jünger als ich, also fünfundzwanzig. Nur war ich kein Student mehr. Leider.

Die Schatten schlossen langsam wieder zu mir auf, die Realität dämpfte das Licht, zog mich zurück in ihre Kälte. Ich wollte etwas sagen, doch Jannis hätte es nicht mehr gehört. Die Kitzelattacken hatten ihn genauso erschöpft wie mich. Sein Atem berührte gleichmäßig meinen Hals, er war eingeschlafen. Sicherheitshalber stellte ich meinen Wecker, aber nur auf lautlos. Meine Uhr würde vibrieren. Ich dämmerte ebenfalls weg, schreckte aber eine Stunde später wieder hoch.

Vorsichtig wand ich mich aus der Umarmung, deckte ihn zu und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Er lächelte im Schlaf. Beinahe hätte ich geschrien vor Schmerz.

Die Enge kehrte zurück in meine Brust.

Schnell zog ich mir Shorts, Jogginghose und Hoodie über und schlüpfte in die Sneaker. Ein letzter Blick auf das Bett, wo Jannis schlief.

»Danke«, flüsterte ich.

Ich öffnete die Hoteltür und ließ sie sanft hinter mir ins Schloss gleiten. Am Empfang bezahlte ich den Inhalt der Minibar, die wir in den vergangenen Stunden geplündert hatten.

Vor dem Hotel trat ich in den Regen, zog die Kapuze über. Der frühe Morgen nahm mich auf, Berlin erwachte. Die Regentropfen trafen mein Gesicht, liefen daran herab und spülten die Emotionen der Nacht davon, ließen die Erinnerung verblassen.

Nur sein Lächeln blieb.

1. Kapitel

Jannis

Ich genoss das Gefühl von Wärme und Geborgenheit, das mit dem Aufwachen einherging. Das Prasseln des Regens gegen die Scheibe war schwächer geworden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich die Stille registrierte. Mein Arm tastete wie von selbst nach rechts. Im nächsten Moment schoss ich in die Höhe.

Kai war fort.

Mein Herz begann zu rasen. Ich konnte nicht einmal genau sagen, warum. Das Gefühl von unendlicher Leere und Einsamkeit schlug über mir zusammen, und weil es so unvorbereitet kam, dauerte es einen Augenblick, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

»Natürlich ist er weg.« Ich zog die Beine an, presste die Stirn auf die Knie und ließ meinem Puls Zeit, von Sprint auf Spaziergang zurückzuwechseln.

Hatte er vielleicht seine Nummer hinterlassen?

Hatte er nicht. Sicherheitshalber suchte ich auch in der Ritze zwischen Nachttisch und Bett – man kannte das ja aus Filmen. Am Ende warteten beide auf den Anruf des anderen, und es gab unzählige Missverständnisse, bis sie sich schließlich auf einer Brücke in Paris umarmten, unter der die Seine entlangplätscherte. Ich wäre schon mit der Spree zufrieden.

Meine Uhr leuchtete mir entgegen, und ich stöhnte auf. Walk of Shame war gar kein Ausdruck für das, was mir bevorstand. Ich schlüpfte in meine Unterhose und den ganzen Rest meiner noch immer im Zimmer verstreuten Kleidungsstücke, natürlich im Zeitlupentempo wegen Koffeinmangel.

In meinem Magen saß der Kloß eines Berliner Morgens, der jede Wärme vertrieb. Kein Weichzeichner mehr, nur noch harte Linien und Kanten.

Genau das erwartete mich auch vor dem Hotel. Die Menschen eilten durch die Straßen, jeder hatte Angst vor dem nächsten Regenschauer. Oder Schnee. Mein Atem kondensierte in der Luft, zumindest bis ich die U-Bahn-Haltestelle erreichte. Der vertraute Geruch von Gummi, Metall und Dingen, die ich lieber ignorierte, drang an meine Nase. Kais Meinung dazu kannte ich ja, nach dieser Nacht. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, doch ich verdrängte es sofort.

Ich stieg ein und sank auf einen der Sitze, wenigstens musste ich nicht umsteigen. Die Bahn fuhr ruckelnd an, als wollte sie dafür sorgen, dass ich auch ja nicht versehentlich einschlief.

Minuten später schlurfte ich die Treppenstufen einer U-Bahn-Haltestelle hinauf und betrat den vertrauten Kiez. Kreuzberg. Die Straßen um mich herum füllten sich immer schneller, die Markthalle war bereits geöffnet. Kurz darauf stand ich vor unserem Haus. Es strahlte etwas aus, das irgendwo zwischen Künstlercharme und Abrissbude einzuordnen war. Der hüfthohe Metallzaun rostete vor sich hin, und der Vorgarten war ein Dschungel. Die Eingangstür war in diesem Monat gelb gestrichen, mit roten Punkten darauf.

Leise schob ich den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und betrat das Haus. Der Geruch von frischen Krapfen drang in meine Nase, Fett brutzelte in der Pfanne.

Ich fluchte innerlich.

»Ich habe Krapfen gemacht«, trällerte es aus der Küche.

Niedergeschlagen ließ ich die Schultern sinken. Ich nahm mir extra lange Zeit, die Sneaker an die Seite zu kicken.

»Es bringt dir gar nichts, es hinauszuzögern«, rief meine Mutter.

Der Flur war mit einem verschlissenen Teppich ausgelegt, an den Wänden hingen Bilder, die sie in ihrer Frühphase angefertigt hatte. Alle zeigten Silhouetten, gekleidet in bunte Kleckse, die Blusen, Pullis, Jeans oder andere Kleidungsstücke darstellten.

Unweigerlich sah ich eine Silhouette mit schwarzen Jogginghose, Hoodie und welligem, dunklem Haar vor mir.

»Ist er abgehauen?«, erklang die Stimme meiner Schwester.

»Das würde er seiner ihn liebenden Mutter nicht antun«, kam es sofort und extralaut. »Schließlich habe ich mich stundenlang vor den Herd gestellt, um ihm Krapfen zu machen.«

Was bedeutete, dass sie die Backmischung herausgeholt und in die Pfanne gekippt hatte. Unter Anleitung meiner Schwester natürlich, denn sobald Mama etwas tat, das ihr keinen Spaß machte, schweiften ihre Gedanken zu Modeentwürfen. Mit fatalen Folgen für die aktuelle Tätigkeit. O ja, Zucker konnte in der Pfanne brennen. Und wenn sie das nächste Mal einen Smoothie mixte, sollte der Pfeffer nicht in der Nähe stehen.

»Da ist er ja.« Mit einem Satz war sie bei mir und riss mich in eine Umarmung.

Ich schob sie genervt von mir. Fehlte nur noch, dass sie mir in die Wange kniff.

Sie kniff mir in die Wange. »Wie war es?«

»Wir hatten doch darüber gesprochen.« Meine Stimme war ein Knurren.

»Normalerweise bist du nicht so lange weg«, rief meine Schwester vom Küchentisch.

Sie war die kleine Ausgabe meiner Mutter. Beide besaßen einen dichten Lockenkopf und genau wie ich eine Menge Sommersprossen. Während meine Mutter zu poppigen Farben neigte – heute trug sie ein geblümtes Kleid und darunter eine Hose und Stiefel –, bevorzugte Rebecka gedeckte Töne. Das wusste ich, weil man im Haus einer Modedesignerin gewissen Fachbegriffen nicht entkam. Meine Schwester war wohl ein Herbsttyp.

»Setz dich.« Sie klopfte auf den Stuhl neben sich.

Teller, Krapfen, Ahornsirup und Nutella standen bereit. Daneben eine große Tasse mit dampfendem Kaffee und einem Schuss Hafermilch darin. Diese Kombination war der auf mich zugeschnittene, perfekte Köder. Mit Nutella bekamen sie mich immer, das war sozusagen mein Kryptonit. Um sicherzugehen, hatten sie den Deckel bereits abgeschraubt und einen Löffel dazugelegt.

»Ich hasse euch«, verkündete ich grummelig.

»Aber das geht doch gar nicht, mein Schatz.« Meine Mutter streckte die Hand aus, um meine Haare zu wuscheln, aber ich konnte darunter wegtauchen. »Du liebst uns.«

»Darüber habe ich noch nicht final entschieden.«

»Wie war er?«, fragte meine Schwester, zwei Sekunden nachdem ich mich gesetzt hatte.

Dass sie nicht einmal wartete, bis ich den Löffel in der Hand hielt, sagte einiges über sie aus. »Das geht dich nichts an.« In diesem Haus gab es keine Privatsphäre.

»Du siehst ganz zerknautscht aus«, bemerkte meine Mutter. »In diesen Hotelbetten schläft man nie gut.«

»Ging schon.« Ich kniff die Augen zusammen. Verdammt!

»Also Hotel.« Becks nickte zufrieden. »Das ist ein Punkt für mich.«

An welcher Stelle hatte mein Leben eigentlich diesen Verlauf genommen? Vermutlich vor fünfundzwanzig Jahren, am Tag meiner Geburt. »Ihr habt schon wieder gewettet?!«

»Wetten ist das falsche Wort. Wir haben uns nur unterhalten«, korrigierte meine Mutter. »Schließlich …« Sie sah Hilfe suchend zu Becks, die immer die besseren Ausreden parat hatte.

»… haben wir uns Sorgen um dich gemacht«, nahm diese elegant den Faden auf, während sie gleichzeitig gedankenverloren ein Papier studierte.

In diesen Augenblicken rechnete ich ihr keinerlei Chancen aus, jemals als Schauspielerin Fuß zu fassen.

»Sportlich oder Business?«, fragte sie.

»Sportlich«, erwiderte ich reflexartig.

»Der Punkt geht an mich«, stellte meine Mutter klar.

Ich verdrehte die Augen und steckte den Löffel ins Nutellaglas. Die Nugatcreme landete in Form von Klecksen und Punkten auf dem Krapfen, als hätte ich sie mit einem Pinsel dorthin geschleudert. Moderne Kunst war das allemal. Schnell stopfte ich mir den Mund damit voll.

»Passt es dir mit dem großen Löffel?«, fragte meine Schwester. »Oder brauchst du einen kleinen? Welcher Löffel ist dir lieber?«

Ich warf ihr einen tödlichen Blick zu und machte damit klar, dass ich diese Frage nicht beantworten würde.

»Berliner oder Tourist?«, fragte sie weiter.

Ich deutete auf meinen Mund und zuckte mit den Schultern. »Forry.«

»Mensch, Becky, jetzt lass ihn doch mal kauen«, sagte meine Mutter. »Mit vollem Mund …«

Meine Schwester setzte bereits zum Protest an. Sie hasste es, Becky genannt zu werden.

»Schluss jetzt«, brüllte ich und schleuderte die Krapfenkrümel davon.

Natürlich war mir klar, was die nächste Frage gewesen wäre. Meine Mutter kannte keine Grenzen. Für sie war Freiheit gleichbedeutend mit Brokkoli und Tempeh, ein Grundnahrungsmittel. Und genau deshalb ließ sie sich auch grundsätzlich nicht den Mund verbieten. Dazu gehörte auch, sich in alles – wirklich alles – einzumischen. Andere Kinder wurden durch Jugendzeitschriften oder auf dem Pausenhof aufgeklärt. Ich hatte schon mit sieben Jahren gewusst, was »nicht binär« und »Drag Queen« bedeutet.

Glücklicherweise verzog meine geliebte Zwillingsschwester angeekelt das Gesicht. Auch sie hatte wohl geahnt, in welche Richtung unsere Mutter als Nächstes gefragt hätte. »Also ich habe gewonnen«, beschloss sie daher. »Du könntest ruhig mal ein bisschen kreativer werden, was deine Sexpartner angeht.«

»Sag das den Touristen.« Die Niedergeschlagenheit war zurück, und plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Krapfen oder Nutella. »Die wollen halt immer nur Spaß.«

Meine letzte Beziehung war mit einem Knall zu Ende gegangen, als ich erfuhr, dass es neben mir noch einen anderen gab. Und obwohl ich keine Probleme hatte, Dates zu vereinbaren, wollte es einfach nicht mit etwas Ernstem klappen. Möglicherweise war mein Herz noch nicht wieder vollständig geheilt, doch nach all der Zeit sehnte ich mich nach einer Schulter zum Anlehnen. Eine, die mich nicht aus dem Hinterhalt rammte.

»Tut mir leid«, sagte meine Schwester jetzt.

Ich erwiderte ihren Blick mit einem schwachen Lächeln.

»Denk immer daran, du hast hier eine Freiheit, die viele Menschen nicht haben«, kam es erwartungsgemäß von meiner Mutter. »Der Rest kommt auch noch.«

Sie sah grenzenlose Freiheit als eine grüne Wiese voller bunter Blumen. Für mich war es ein Meer, in dem ich ertrank. Doch wenn sie von Nähe oder festen Partnerschaften sprach, legte sich stets ein Schatten über ihr Gesicht. Vermutlich hatte es etwas mit unserer Familie zu tun. Rebecka und ich wussten so ziemlich gar nichts über unsere Großeltern – sie waren früh gestorben – und über »den Erzeuger«.

»Was hast du denn heute vor?«, fragte Becks.

Manche Fragen waren einfach überflüssig. »Es ist Sonntag.«

»Und?«

»Keine Pläne«, ergänzte ich. »Ilyas ist nachher bestimmt mit Sandy auf dem Tempelhofer Feld unterwegs.«

Meine Mutter legte die Stirn in Falten. Sie liebte Tiere, aber seitdem die Dackelhündin von Ilyas einen ihrer Modeentwürfe zu Fetzen verarbeitet hatte, beäugte sie »das Tier« mit maximaler Skepsis.

»Wenn du quasi nichts zu tun hast«, sagte meine Mutter listig, »wäre das doch die perfekte Gelegenheit, den Katalog zu erweitern. Außerdem habe ich dir die Liste mit den neuen Pop-up-Stores auf den Schreibtisch gelegt.«

Das hatte ich davon, Informatik zu studieren. Der emotionale Teil meiner Mutter war in Tränen ausgebrochen, als ich meinen technokratischen Berufswunsch verkündet hatte. Der pragmatische hatte vor Freude gejauchzt, denn damit konnte ich Websites programmieren.

»Wird gemacht«, sagte ich. »Aber ich stelle eine Bedingung.«

»Habe ich dir nicht all meine Liebe gegeben?«, begann sie sofort.

»Keine Wetten mehr über mich und meine …«

»Betthäschen«, schlug Becks vor.

»One-Night-Stands«, kam es von meiner Mutter.

»Hotelluder«, setzte Schwestermonster noch eins drauf.

Diesen Tag würde ich nutzen, um meine Rache zu planen. Oh, sie hatten ja keine Ahnung, was ihnen bevorstand.

»… potenziellen Lebensgefährten«, sagte ich.

»O Gott«, entfuhr es meiner Mutter, und das wollte schon was heißen, denn sie war alles, aber nicht religiös. »Das ist so heteronormativ.«

»Mutter!« Ich funkelte sie an.

»Ist ja gut, ist ja gut.«

Sie wedelte mit der Hand. »Keine Wetten mehr. Für die nächsten sechs Monate, versprochen. Aber du hörst auf, mich ›Mutter‹ zu nennen.«

Ich nickte zufrieden. Immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Kurzerhand tauchte ich den Löffel ins Nutellaglas und schob ihn danach in meinen Mund. Die Stuhlbeine schabten über den Boden, als ich aufstand. Die Kaffeetasse kam mit.

Von der Küche führten drei Türen ab. Keine Ahnung, welcher Architekt dieses Haus konstruiert hatte, aber dass meine Mutter es liebte, sagte schon alles. Die Zimmer der Frauen – oder wie ich sie nannte, die Frauenzimmer (jep, ein absichtliches Wortspiel) – befanden sich im Erdgeschoss. Sie hatten ihr eigenes Tageslichtbad.

Ich öffnete die Tür und stieg die Stufen hinauf, die in mein Reich führten. Ein großer Raum, an den ein kleineres Bad angeschlossen war. Da es hier im Winter meist frostig wurde und wegen der schlechten Dämmung keine Chance auf vernünftiges Heizen bestand, hatte ich nicht mal groß darum kämpfen müssen. Im Sommer war es dafür eine Sauna.

Mein Bett war eine Palette, auf der eine Matratze lag. Vor dem orangen Schreibtisch stand ein 1970er-Schalensitz. Der Fernseher war recht neu, die Couch davor von IKEA. Ein Hängesessel hing von der Decke.

Das Ganze wirkte, als habe jemand Möbelstücke aus unterschiedlichen Jahrzehnten herausgepickt und hier abgestellt. Immerhin war mein Laptop vom letzten Jahr, mit dem konnte ich arbeiten.

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf die Matratze fallen. Sofort sah ich Kais Augen wieder vor mir. Sturmgepeitschtes Blau, darüber eine gelöste Strähne seines Haares. Das war überraschend weich gewesen, vermutlich benutzte er irgendein superedles Shampoo. Dieser akkurate Schnitt, dazu manikürte Fingernägel … er hatte eindeutig einen guten Job, bei dem er sich auch präsentabel herrichten musste.

»Der war garantiert geschäftlich hier«, murmelte ich.

Natürlich bestand die Möglichkeit, ihn einfach noch einmal über Grindr anzuschreiben. Ich zog mein Smartphone hervor. Es war keine Pushnachricht eingegangen, also hatte er sich nicht gemeldet. Vielleicht schlief er ja noch.

Wenn ich eingeschlafen war, konnte eine Bombe neben mir detonieren, nichts bekam mich wach. Und das meine ich wortwörtlich. Becks hatte sich früher immer geärgert, weil ihr blöder Bruder ständig Silvester verschlief. Als meine Mutter einmal nicht hingesehen hatte, hatte dieses Monster neben meinem Kinderbett Knallfrösche gezündet.

Ich sage jetzt nichts zur Aufsichtspflicht, die eindeutig von gewissen Erziehungsberechtigten vernachlässigt worden war. Auf jeden Fall hatte ich trotz Lärm weitergeschlafen.

Es war also durchaus möglich, dass Kai versucht hatte, mich zu wecken, und am Ende unverrichteter Dinge abgezogen war. Und wozu ein Zettel, schließlich konnten wir ja über Grindr miteinander schreiben. Alles easy.

Ich öffnete die App.

Und schloss sie wieder.

Es kam schon irgendwie klammernd rüber, wenn ich mich jetzt sofort meldete. Ein paar Stunden konnte ich warten. Gar kein Problem. Zumindest kein großes Problem.

Eine Pushnachricht ging ein. Mein Bauch vollführte einen Purzelbaum.

Es war Ilyas.

Enttäuschung pur, obwohl ich das meinen besten Freund nicht unbedingt wissen lassen sollte. Wie vermutet war er bereits auf dem Tempelhofer Feld unterwegs, damit Sandy ihre überschüssige Energie loswerden konnte. Diese Dackel sahen unschuldig aus, aber in denen steckte die Power eines Kernreaktors. Ich hatte einmal auf sie aufgepasst – der Tag des Zwischenfalls mit Moms Entwurf –, und das Tier hatte mich geschafft. Ehrlich. Am Ende war es mir egal, dass sie auf der Decke lag und mein ausgepackter Döner neben ihr.

Ich versprach Ilyas, mich gleich auf den Weg zu machen. Vermutlich lud er Nico ebenfalls ein. Der Dritte im Bunde fungierte als Alibihetero. Falls Ilyas’ Eltern uns entdeckten. Schließlich war ich der verdorbene Schwule.

In diesen Augenblicken war ich tatsächlich dankbar für die Freiheit, die meine Familie mir ermöglichte. Und diese Stadt. Ich warf meine Kleidung aufs Bett und sprang unter die Dusche. Wenigstens begann der Kaffee langsam zu wirken.

Zwanzig Minuten später war ich ausgehbereit.

Kurz vor der Tür stoppte ich, knabberte an meiner Unterlippe und rang mich schließlich dazu durch, die App noch einmal zu öffnen. Es wurde im Profil angezeigt, wann Kai zuletzt online war, da konnte ich ja einen Blick riskieren.

Ich ging auf die Favoritenseite, wo er abgespeichert war.

Mein Magen sackte ab.

Sein Profil war gelöscht.

2. Kapitel

»Ich hasse Männer«, stellte ich klar.

Dass Ilyas neben mir bei diesen Worten schmunzelte, half nicht wirklich weiter. »Wir hassen und wir lieben sie.«

Mein bester Freund hatte ein Türstehergen, wie ich es immer nannte. Mit seinen breiten Schultern, dem gepflegten Bart und der wuchtigen Präsenz konnte er verdammt einschüchternd wirken. Auf der anderen Seite war er eher verkuschelt und pflegte ein Hobby, das seinen konservativen Eltern einen doppelten Herzinfarkt beschert hätte, wüssten sie davon.

Der Wind wehte kräftig auf dem Tempelhofer Feld, was für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Sandy genoss das Ganze, sprang herum und beschnüffelte jeden Grashalm. Ilyas hatte sie abgeleint, war jedoch bereit, das sofort zu ändern. Sandy flitzte meist freudig zu anderen Hunden, ob die das wollten oder nicht. Sie war so verkuschelt wie ihr Herrchen.

Seine Eltern hätten eine »maskulinere« Hunderasse bevorzugt.

»Wieso überrascht dich das?«, fragte Ilyas.

Meine Gedanken waren noch bei dem schwanzwedelnden Etwas, und damit meinte ich nicht Kai. Irritiert blickte ich auf.

»Dass er das Profil gelöscht hat?«, half Ilyas aus.

»Keine Ahnung. Hoffnung?« Ich zuckte mit den Schultern und stapfte trotzig neben ihm her durch die Kälte. »Da war etwas.«

»Er muss ja echt gut gewesen sein.«

»Ja. Nein. Also ja, aber das meine ich nicht.« Wie erklärte man diese Art von Verbindung? »Es ging über das Körperliche hinaus. Ach, jetzt schau nicht so.«

Ilyas ließ eine Braue in die Höhe wandern. »Weniger ›Love, Vincent‹ und mehr ›Queer as Folk‹ für dich.«

»Arsch.« Ich verpasste ihm einen Stupser. »Jetzt mach hier nicht einen auf Macker. Deine Eltern sind weit und breit nicht zu sehen.«

Ilyas zog eine Schnute. »Sie haben ihre Augen überall.«

»Du klingst wie ein Hetero, der seinen ersten verschämten Männerkuss hinter sich hat«, sagte ich.

Nun war es Ilyas, der mir einen Schlag auf den Arm verpasste. Das war natürlich kumpelhaft gemeint, aber er hatte eben ein paar mehr Muskeln als ich. Also überhaupt welche. Also aua. Was ich mir grundsätzlich nicht anmerken ließ. »Wo bleibt Nico?« Ich verdrehte die Augen. »Das nächste Mal treffen wir uns bei mir.«

Ich hatte Ilyas Eltern kennengelernt. Keine gute Idee, dass ich verkündet hatte, schwul zu sein. Natürlich in anderen Worten. Seitdem wurde ich überaus misstrauisch beäugt, und Ilyas hatte es noch schwerer. Ich gebe zu, diese Sache habe ich falsch eingeschätzt. Meine Mutter war total stolz auf mich gewesen.

»Jannis«, sagte er nur.

Für einen Augenblick blitzte der Schmerz in seinen sanften braunen Augen auf. So musste es sich anfühlen, wenn man zwei Leben lebte. In ständiger Angst, dass sie kollidierten und ein Trümmerfeld zurückließen.

»Sorry«, sagte ich.

»Also, was hast du jetzt vor?«

»Bezogen auf?« Ich warf ihm einen unschuldigen Blick zu.

»Den unglaublichen Hengst aka Kai.«

»Nenne ihn nicht so«, verlangte ich, obwohl es die Sache auf den Punkt brachte. »Was soll ich schon machen?«

»Ihn finden?«

»Jemand, der in Berlin zu Besuch ist und eigentlich aus München stammt?«

Die Erinnerung der vergangenen Nacht kehrte zurück.

 

Ich lag auf dem Bauch.

Kai postkoital und Nacken küssend auf meinem Rücken. Es fühlte sich gut an, ein schwerer Körper, Nähe. Das konnte gerne die ganze Nacht so weitergehen.

»München also«, sagte ich.

Kai hatte gezögert, aber schließlich verraten, woher er eigentlich kam.

»Ich war noch nie dort.« Ich schnurrte zufrieden, als seine Lippen zwischen meine Schulterblätter wanderten. »Wie ist München so?«

»Anders.«

»Danke, jetzt habe ich eine Vorstellung.«

Er lachte leise. »München und Berlin, das ist wie …« Stille. »Chino und Polohemd auf der einen Seite. Jeans und T-Shirt aus Hanfwolle auf der anderen. Zumindest für mich.«

Ich ließ das unkommentiert, zumal ich Jeans und T-Shirt mochte.

»Und natürlich die U-Bahn.«

»Was ist mit der?«, fragte ich.

»Unsere riecht – größtenteils – sauber, eure … eher nicht.«

Das war eine diplomatische Umschreibung, die mich zum Lachen brachte. Welche U-Bahn roch denn bitte sauber? Schickten die da jeden Tag Reinigungstrupps durch, die mit Sagrotan arbeiteten?

»Was meintest du mit: für mich?«

Ich konnte spüren, wie Kai sich bei dieser Frage leicht verspannte.

»München ist eben der Alltag, die Realität.« Er seufzte. »Mehr Zwänge.«

Mir lagen tausend Fragen auf der Zunge. Zum Beispiel, ob er grundsätzlich nur hier in Berlin Männer traf. Einige von Kais Verhaltensmustern erinnerten mich an Ilyas, der es auch nicht leicht hatte.

Die Fragen verschwanden alle aus meinem verräterischen Geist, als Kais Lippen tiefer wanderten und seine Zunge zum Einsatz kam.

 

»Wieso grinst du so?«, fragte Ilyas.

Ich räusperte mich. »Ich grinse nie.«

Er verdrehte die Augen. »Das ist eine ganz blöde Idee.«

Sandy hatte irgendetwas zwischen den Grashalmen entdeckt, was ihre Beachtung verdiente. Mit vollem Körpereinsatz buddelte sie. Ich sah total interessiert zu. »Ist sie nicht süß?«

»Lenk nicht ab. Du hast dich doch total verknallt.«

Ich ließ meine Schultern hängen. »Vielleicht hat er das Profil versehentlich gelöscht?«

»Ach, Kleiner.« Er zog mich in eine Umarmung.

Das mochte ich so an Ilyas, wenn es um Freundschaft ging, ging er auch mal Risiken ein. Gut, er maskierte die Umarmung in recht männlich robuster Form, mir blieb fast die Luft weg. Aber es war eine Nähe, dir mir ähnlich guttat wie ein Löffel Nutella.

»Also keine Pläne?«, fragte er.

»Ihn vergessen. Gib mir einen Monat, und das ist durch.«

»Tut mir echt leid.«

Ich versuchte, das Thema zu wechseln. »Und bei dir?«

»Gestern war ein neuer Versuch.« Sein Gesicht verriet bereits das typische Ende. »Er war eingeschüchtert.«

Ilyas war ein totaler Bottom. Einhundert Prozent. Was ziemlich hinderlich war, weil er mit seiner äußeren Präsenz jeden Top einschüchterte. Die anderen Bottoms himmelten ihn an. »Tut mir leid.«

»Äußerlichkeiten sind so scheiße.«

»Darauf teile ich nachher mein Nutellaglas mit dir.« Ich nickte gewichtig, da ließ ich nicht jeden ran. »Wie lange hat er durchgehalten?«

»Dreißig Minuten, dann hat ein ›Freund‹ ihm geschrieben, und er musste zu einem ›Notfall‹ rennen«, sagte Ilyas. »Ich habe für uns beide gezahlt.«

»Autsch.«

Wir schlenderten weiter über das Feld und suhlten uns in unserem emotionalen Leid. Wenigstens war Wochenende. Ich musste jede Stunde genießen, denn den kommenden vorlesungsfreien Montag hatte meine Mutter für sich beansprucht. Sie traf einen Risikokapitalgeber, damit dieser in ihre Modemarke investierte und sie endlich eigene Stores eröffnen konnte. Ich war die moralische Unterstützung.

Doch bis dahin war es noch etwas hin.

»Da sind ja meine zwei Lieblingsjungs!« Nico hatte uns offensichtlich gesucht und kam nun herbeigerannt.

Wir wurden beide in eine Umarmung gezogen, aber mit maßvollerem Testosteroneinsatz, als es bei Ilyas der Fall gewesen war. Glück gehabt, irgendwann hätten meine Rippen auch aufgegeben und gesagt: Ne, lass mal.

»Warum seht ihr so aus?«, fragte Nico.

»Wie denn?«, wollte ich provozierend wissen, doch natürlich blickte er das nicht.

»Na ja, irgendwie fertig mit der Welt. Und du müde. Die Ringe unter deinen Augen …«

»Ist ja gut!«, rief ich.

In wenigen Worten weihte ich ihn ein. Zwei Sekunden Stille, dann übernahm Ilyas und ergänzte seine Story.

»Das tut mir leid«, sagte Nico, und ich wusste, er meinte es ernst.

»Und bei dir?«, fragte ich pro forma.

»Wie immer«, lautete die Antwort.

Typisch Nico, jedes Wort schien einem Marathon zu gleichen, auf den er keine Lust hatte. Deshalb beschränkte er sich bei Konversationen auf das Wesentliche. Genau wie Kai.

»Was macht das holde Eheweib?«, fragte ich schnell, um meine Gedanken im Hier und Jetzt zu halten.

Ein Wort wie »Eheweib« hätte ich in Anwesenheit von Steffie niemals über die Lippen gebracht. Sie hätte mir ein Pamphlet entgegengeschmettert, während Nico die Hände gefaltet und triumphierend genickt hätte.

»Steckt bis zum Hals in Arbeit«, sagte er. »Als Seniorpartnerin in einer Anwaltskanzlei gibt es da null Freizeit.«

Das schien ihn jedoch nicht zu stören. Unser Fatalist.

»Hast du heute einen Auftritt?«, fragte ich Ilyas.

»Nope. Frei und keinen Bock auf ein Date.«

»Dito.«

»Du bringst die Süßigkeiten, ich will einen kompletten Zuckerschock«, verlangte ich. »Bei mir um 19 Uhr?«

»Sobald wir ankommen, steht die Pizza bereit?«, sagte Ilyas.

»Ehrensache.« Die Arbeitsteilung war längst Protokoll.

»Ich dann die Getränke«, ergänzte Nico.

»Cola light«, sagte ich sicherheitshalber noch mal.

Beim ersten Mal vor drei Jahren hatte er breit grinsend eine Mischung aus Cola und Bier mitgebracht. Bier! Der traurige Energydrink dazwischen hatte es auch nicht besser gemacht. Seitdem foppte ich ihn gerne damit.

»Lektion gelernt«, versprach Nico.

Wir schlenderten noch ein wenig über das Tempelhofer Feld, bis ich es auf Höhe von Kreuzberg wieder verließ. Die Müdigkeit steckte mir in den Knochen. Zu Hause gab es einen dreistündigen Powernap, bevor ich in die Küche schlurfte und mit Kaffee Betriebsenergie fürs Pizzabacken erreichte. Ich ging vor dem Ofen in die Hocke und hielt mein Gesicht in die abgestrahlte Wärme. Vor dem Fenster prasselte schon wieder der Regen herab, und ich wollte mich nur in eine Decke wickeln, Pizza und Süßigkeiten in Reichweite und dazu ein Film. Action. Oder Superhelden. Marvel, nicht DC.

Ich sank in den Schneidersitz und beobachtete die Pizza, deren Teig langsam Bräune bekam, der Käse blubberte. Über die Jahre hatte ich das Rezept perfektioniert, alle möglichen Gewürze gehörten ebenso dazu wie der richtige Belag. Segen und Fluch, denn seitdem war ich eben immer dafür zuständig.

Ilyas wiederum steuerte Baklava mit türkischem Honig und Nüssen bei. Ehrlich, dagegen verlor sogar Nutella. Einmal hatte ich einen Löffel geholt und die Nugatcreme auf das Baklava getropft. Unsere Freundschaft hatte in diesem Augenblick auf der Kippe gestanden, wie Ilyas mir versicherte. Seitdem durfte das Nutellaglas nicht mehr in die Nähe des Baklavas. Ich hatte akzeptiert.

Die Pizza war, exakt fünfzehn Minuten bevor die anderen eintrafen, fertig. Ich schnitt die Stücke zu, verteilte sie auf den Tellern und ordnete alles auf meinem Couchtisch an.

Ilyas traf als Erster ein und schlug mir auf die Finger, als ich das Tuch lüpfen wollte, das die Baklava bedeckte. Er stellte alles auf meinen Schreibtisch und warf mir einen eindeutigen Blick zu.

Wehe dir, sagten seine Augen.

Ich habe verstanden, kommunizierte ich mit züchtig gesenkten Lidern.

Zufrieden nickte er. Grenzen mussten gezogen werden. Als ich mit Nico die Treppe nach oben kam, mampfte Ilyas bereits an seinem ersten Pizzastück.

Die Sache mit der Grenze musste ich auch endlich einführen.

Wir landeten vor dem Fernseher, und nach heftigen Diskussionen über Genre, Blockbuster, Mainstream oder Independent einigten wir uns auf einen Star-Trek-Film. Ich liebte Star Trek. Meistens. Das wäre ein Aufsatz für sich. Glücklicherweise hatte ich Nico auf meiner Seite, und Ilyas war zumindest offen. In dem Fall ein Switcher.

Es war schon mal vorgekommen, dass Ilyas und ich kuschelten. Sexuell bestand da keine Gefahr, aber es gab einfach Tage, an denen wir die gegenseitige Nähe brauchten. Heute waren meine Gedanken allerdings ständig bei der körperlichen Nähe zu einer anderen Person.

Auf Fresskoma folgte Zuckerschock. Es war einer dieser Abende voller freundschaftlicher Wärme, ein Wohlfühlen auf allen Ebenen. Sah man von einer ab.

Wieder sah ich Kais Gesicht vor mir. Verlor mich in seinen Augen und ließ mich fallen. Eine dumme Idee. Der Aufprall war hart.

Ich musste ihn vergessen.

Und irgendwann würde mir das sicher gelingen.

3. Kapitel

Kai

Das Hotel, in dem Jannis wohl noch immer schlief, wirkte wie ein Magnet. Er zog mich zurück, und wie gerne hätte ich dem Sog nachgegeben. Doch das kam nicht infrage, meine Wünsche durften jetzt keine Rolle spielen.

Die U-Bahn-Türen öffneten sich, ich stieg aus und die Stufen nach oben. Ich hatte ein Appartement am Potsdamer Platz angemietet, direkt neben einem Hotel. Ich ging von der Haltestelle die Arkaden hinunter, zog die Tür auf und fuhr hinauf in den vierten Stock. Es klickte, als die Keycard das Schloss öffnete. Aufatmend trat ich ein. Im Zimmer war es still, leer und kalt.

Ein kurzer Gang, von dem ein Bad mit Regendusche abzweigte, dahinter wartete der Hauptraum. Neben dem Fenster stand ein breites Boxspringbett, daneben zog sich eine Küchenzeile hin. Ich schob eine Kapsel in die Kaffeemaschine und ließ mir einen Espresso aufbrühen. Es surrte und summte, ein Rinnsal lief heraus, der vertraute Geruch von gemahlenen Kaffeebohnen stieg mir in die Nase.

Mit einem Kick beförderte ich meine Turnschuhe beiseite. In zwei Stunden stand das Strategiegespräch mit meinem Vater an, dafür musste ich hoch konzentriert sein. Wehe, er sah mir die Nacht an. Ich schlüpfte aus der Jogginghose und warf sie aufs Bett, Hoodie und Shirt folgten.

Der Espresso rann heiß durch meine Kehle und vertrieb die Müdigkeit. Ich brühte einen zweiten auf, beförderte die Unterwäsche in die Ecke und betrat das Bad. Unter der Regendusche genoss ich das herabprasselnde Wasser, seifte mich am ganzen Körper ein.

Es fühlte sich falsch an. Mit jeder Bewegung wusch ich den Geruch von Jannis fort, seine Berührungen. Meine Finger fuhren über meine Lippen, der Nachhall seiner Küsse lag noch immer darauf.

Plötzlich spürte ich eine Müdigkeit in mir, die selbst ein Liter Kaffee nicht hätte neutralisieren können. Mit dem Rücken zur Wand rutschte ich zu Boden, winkelte die Beine an und ließ das Wasser einfach laufen. Dampf verteilte sich im Bad, beschlug den Spiegel und tauchte die Umgebung in Schwaden. Meine Tränen mischten sich mit dem Rinnsal.

Ich hasste dieses Leben so sehr!

One-Night-Stands waren eine Sache, aber das heute … Noch nie hatte ich mich einem Menschen so nahe gefühlt, dass ich ihn die gesamte Nacht hindurch berühren und spüren wollte. Und zwischen den Augenblicken der Leidenschaft hatten wir einfach geredet.

 

»Star Trek«, sagte Jannis.

Ich stöhnte auf. »Sorry, aber mit diesen Lichtschwertern konnte ich noch nie etwas anfangen.«

Er keuchte auf.

Für einen Augenblick war ich felsenfest überzeugt, dass er einen allergischen Schock erlitten hatte. Wir saßen uns im Schneidersitz gegenüber, ich in meinen Shorts, er in einer Unterhose. Zwischen uns stand die geöffnete Dose Erdnüsse aus der Minibar. Ich musste daran denken, beim Gehen auch diese zu bezahlen.

»Das ist Star Wars«, stellte er klar. »Star Trek war das mit dem Beamen.«

»Ah, Scotty und so.« Ich nickte wissend.

Er verdrehte die Augen. »Snob.«

»Nerd.« Ich zog die Dose mit den Erdnüssen unter seiner zupackenden Hand weg. »Aber ein süßer Nerd.«

Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Normalerweise machte ich keine Komplimente. Das war so romantisch, igitt. Aber irgendwie hatte es gepasst, war mir spontan über die Lippen geschlüpft.

Jannis’ Wangen nahmen einen Rotton an, was in Kombination mit seinen Sommersprossen unglaublich niedlich wirkte. Dieses Mal behielt ich die Einschätzung für mich. Seine Locken standen längst in alle Richtungen ab, er sah zerzaust aus und … na ja, durchgevögelt. Ein süßer kleiner Höhlentroll. Keine Ahnung, das Wort war einfach da.

»Und du ein süßer Snob«, sagte er.

»Gibt es so was überhaupt?«, fragte ich total emotionslos, während in meinem Magen irgendein komisches Kribbeln begann. Waren die Erdnüsse schlecht gewesen?

Sicherheitshalber stellte ich die Dose auf den Nachttisch.

»Ich habe doch einen vor mir.« Jannis zog mich zu sich heran und stupste meine Lippen mit seinen an.

Er küsste so sanft, dass es kitzelte. Ganz anders als die Kerle, mit denen ich sonst etwas gehabt hatte, bei einigen war Küssen sowieso weggefallen. Bei anderen war es eher rau und fordernd gewesen.

Ich legte meine Hand an seine Wange und strich darüber.

Was benutzte er, um die Haut so zart zu bekommen?

»Wieso grinst du so?«, fragte ich.

»Weil es schön ist«, erklärte er. »Und kitzelt.«

»Verstehe.« Ich grinste diabolisch.

»Nein, nein, nein!« Er versuchte, mich wegzuschieben.

Da ich bereits damit begann, ihn durchzukitzeln, war er natürlich längst verloren. »Gegenwehr sinnlos.«

Er lachte und keuchte im Wechsel. »Schon klar, Widerstand ist zwecklos.«

»Sagte ich doch.«

Und schon verdrehte er wieder in seiner »Du hast echt keine Ahnung von Popkultur«-Art die Augen.

»Nerd«, sagte ich.

Und die Leidenschaft überrollte uns erneut.

 

Ich wollte zurück in das Hotel, wollte nicht länger hier sein. Die Wände waren plötzlich so nah, alles so eng.

Das Gefühl war mir vertraut.

Ich kämpfte mich auf die Beine, taumelte nass aus dem Bad. Meine Brust wurde eng. Gerade so schaffte ich es noch auf die Matratze, lag auf dem Rücken und versuchte, langsamer zu atmen.

Es misslang. Die Enge in meiner Brust wurde schlimmer, mein Herz raste.

Einmal im Jugendcamp hatten sich die anderen Jungs einen Streich erlaubt und mich gefesselt in meinen Schlafsack gesteckt, dessen Reißverschluss sie hochgezogen hatten. Sie waren abgehauen. Ich lag eine Stunde in der Hitze des Zeltes, konnte mich nicht aus eigener Kraft befreien.

Genauso fühlte es sich an. Als wäre mein Körper in eine Hülle gesteckt worden, die sich zusammenzog. Nur war mein Körper selbst diese Hülle. Längst tanzten rote Schlieren in der Luft.

Irgendwo erklang ein Klacken, Schritte.

»Oh, Scheiße.« Hektisches Rascheln. »Hey, alles gut, ich bin da.«

Schuldgefühle vermischten sich mit Panik. Arme zogen mich an sich. Lena hatte sich auf das Bett gelegt, umschlang meinen Oberkörper von hinten. Damit half sie mir und machte es gleichzeitig noch schlimmer. Ich fühlte mich wie ein Mistkerl. Lena war mir nah, wir verstanden uns, mochten uns. Wir waren gemeinsam aufgewachsen. Wenn es eine Person im Leben gab, die ich als beste Freundin bezeichnete, dann sie. Aber wir waren eben nicht nur befreundet. Wie sie wohl reagiert hätte, wenn sie von meiner letzten Nacht erfahren hätte?

»Alles gut«, sagte sie beruhigend.

»Vater«, presste ich hervor.

Sie wusste, was zu tun war, kannte solche Situationen. Er durfte nichts hiervon erfahren. Was Schwäche anging, hatte er eine sehr klare Haltung.

»Ja, Konstantin«, sprach Lena kurz darauf in ihr Smartphone. »Kai verspätet sich etwas. Ich weiß, aber gönn mir das doch auch mal. Wann komme ich schon nach Berlin? Er kann gerade nicht. Sagen wir es mal so, ich befinde mich in seinem Bett.« Sie lachte und erschuf mit wenigen Worten ein Bild, auf dem sie von einem hauchdünnen Betttuch umschlungen auf der Matratze lag, während ich im Bad duschte. »Aber klar. Du weißt doch, er ist immer vorbereitet.« Damit legte sie auf.

»Danke.« Meine Stimme klang schwach.