Stone Beasts 3: Morgenleuchten - Raywen White - E-Book

Stone Beasts 3: Morgenleuchten E-Book

Raywen White

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Beschreibung

»Ich habe dem Monster ins Gesicht geblickt und erkannt, dass ich nie so sein werde.« Das dunkle Rätsel um Phees Vater wurde gelöst, doch statt der erwarteten Antworten steht sie vor noch mehr Fragen als zuvor. Währenddessen kämpft ihr Gargoyle-Wächter Damian ums Überleben. Denn immer noch weiß niemand, wie es möglich ist, dass Damien am Tag zum Menschen wird, anstatt zu Stein zu erstarren. Gerade als er und Phee glauben, einer gemeinsamen Zukunft näherzukommen, drohen Kasimirs dunkle Machenschaften sie wieder auseinanderzureißen. Der Konflikt zwischen den Vampiren, Lichtwesen und Gargoyles eskaliert und nur Phee kann durch ihr magisches Licht einen Weg finden, die Feindschaft der drei Völker zu beenden … Zahlreiche begeisterte Leserstimmen zu Band 2 der Reihe: »OMG ... Was fūr ein 2. Teil! Ungemein spannend, faszinierend, mit viel Liebe.« »Wenn ich könnte, würde ich mehr als 5 Sterne vergeben!« »Ich hoffe, Band 3 lässt sich nicht mehr zu lange Zeit, ich MUSS wissen wie es weitergeht.« »Das Buch konnte ich erst wieder aus der Hand legen, als ich es beendet hatte.« //Dies ist der dritte Band der romantischen Urban-Fantasy-Reihe »Stone Beasts« von Raywen White. Alle Bände der Reihe bei Impress: -- Stone Beasts 1: Dämmerglanz -- Stone Beasts 2: Nachtglühen -- Stone Beasts 3: Morgenleuchten Diese Reihe ist abgeschlossen.//

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Raywen White

Stone Beasts 3: Morgenleuchten

»Ich habe dem Monster ins Gesicht geblickt und erkannt, dass ich nie so sein werde.«

Das dunkle Rätsel um Phees Vater wurde gelöst, doch statt der erwarteten Antworten steht sie vor noch mehr Fragen als zuvor. Währenddessen kämpft ihr Gargoyle-Wächter Damian ums Überleben. Denn immer noch weiß niemand, wie es möglich ist, dass Damien am Tag zum Menschen wird, anstatt zu Stein zu erstarren. Gerade als er und Phee glauben, einer gemeinsamen Zukunft näherzukommen, drohen Kasimirs dunkle Machenschaften sie wieder auseinanderzureißen. Der Konflikt zwischen den Vampiren, Lichtwesen und Gargoyles eskaliert und nur Phee kann durch ihr magisches Licht einen Weg finden, die Feindschaft der drei Völker zu beenden …

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Vita

Danksagung

© privat

Raywen White lebt gemeinsam mit ihrem Mann im Raum Frankfurt am Main. Erst 2014 entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben und erzählt nun Geschichten, in denen Liebe und Magie der Fantasie keine Grenzen setzen. Jedoch haben in ihrem Leben Bücher schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Es gibt nichts Schöneres, als in eine Geschichte einzutauchen und den Alltag vergessen zu können. Dieses Gefühl möchte sie auch ihren Lesern ermöglichen.

1

Der eisige Wind wirbelte vereinzelt Schneeflocken auf und spielte mit ihnen auf dem zugefrorenen See. Tiefhängende Wolken verdeckten die Sterne, die in der weißen Einöde die einzige Lichtquelle darstellten.

Schmerz wallte durch Damians Körper. Sein rechtes Auge war vollständig zugeschwollen und brannte, als hätte Kasimir ihm eine lodernde Fackel hineingetrieben.

»Sag mir endlich, wo Phee ist!«, brüllte der Anführer der Den wutschnaubend.

Ungeachtet des roten Nebels, der Damians eingeschränkte Sicht trübte, begegnete er dem getriebenen Blick des Mannes mit trotzigem Stolz. Er war nicht länger eine willenlose Marionette, die jedem seiner Befehle gehorchte, kein Monster, dessen einziger Lebenszweck darin bestand, die Den vor den Nocs zu schützen.

Ich bin mehr als das.

Er war ein Wesen, das geliebt wurde und das diese Liebe mit jeder Faser seines Seins erwiderte.

Und er würde diese Liebe mit seinem Leben beschützen.

Ein weiterer brutaler Schlag traf ihn am Jochbein und schleuderte seinen Kopf zur Seite. Weitere Blutspritzer besprenkelten den Schnee. Die Geräusche der Umgebung verblassten gegenüber dem hohen Fiepen, das in seinem Ohr erklang. Sengender Schmerz blühte in seiner Wange auf, doch der war nichts im Vergleich zu den Qualen, die er kurz zuvor durchlebt hatte, als die anderen Soumraks ihm jeden einzelnen Knochen in seinen Flügeln gebrochen hatten. Seine stummen Schreie hallten noch immer durch seinen Kopf. Wollten erneut aus ihm herausbrechen, als die Faust seine andere Wange traf.

Fest biss er die Zähne aufeinander, damit nicht einer von ihnen seiner Kehle entkam und Kasimir die Genugtuung schenkte, ihn am Ende doch bezwungen zu haben. Der frustrierte Ausdruck in dem Gesicht des Den ließ Damian die aufgeplatzten Lippen zu einem Lächeln verziehen. Die Schläge, die nun auf ihn einprasselten, würden ihn nur schneller in die ersehnten Arme der Bewusstlosigkeit treiben. Sein Ende war nah.

Obwohl er vermied zu ihr zu sehen, wanderte sein Blick nicht zum ersten Mal unbewusst zu Cas. Seine Schwester stand etwas abseits der anderen Wächter, die seine Folter emotionslos beobachteten, halb verborgen hinter einer jungen Kiefer, die am Rande des Eises wuchs. Ihre Hände umklammerten den Stamm und ihre Klauen hatten sich tief in die Rinde gegraben. In ihren Augen, die ins Leere starrten und ihn nicht mehr wahrnahmen, lag eine unaussprechliche Pein. Ihre Schwingen waren so verkrampft, dass allein das Hinsehen Schmerzen bereitete.

Damian hätte ihr gerne den Anblick erspart, wie ihm jeder einzelne zarte Knochen seiner Flügel zermalmt worden war. Jedes Knacken, als würde ein dünner Ast brechen, hatte sie offensichtlich tiefer in die Vergangenheit gezogen. Zurück zu den grausamen Erlebnissen ihrer Kindheit, in der man ihr dasselbe und noch viel schrecklichere Dinge angetan hatte.

Wegen mir. Weil er sie verraten hatte, war sie so schwer verletzt worden, dass niemand damals voraussehen konnte, ob sie jemals wieder fliegen würde.

Auch wenn Phee ihm mehrfach gesagt hatte, dass er keine Schuld daran trage, dass er ein Kind gewesen sei und nur das getan habe, was man ihm beigebracht hatte, so reichten Worte nicht, um die Schuldgefühle in seinem Inneren zu besänftigen.

Es war eine gerechte Strafe, dass er nun dieselben Qualen durchlitt, bevor er sterben würde. In seinem Leben war er so gut wie nie bestraft worden, war immer ein vorbildlicher Wächter gewesen, der jeglichem Befehl seines Herren blind gefolgt war.

Bis Phee in sein Leben getreten war.

Bis er anfing alles zu hinterfragen.

Eisige Finger gruben sich in seine Kiefermuskulatur und zwangen ihn, in Kasimirs hasserfüllte Augen zu sehen. »Warum gehorchst du mir nicht?«

Kälte rauschte durch Damians Adern. Diese Frage stellte er sich ebenfalls. Er spürte noch immer die mentalen Ketten, die ihn und jeden seines Volkes mit Blut an Kasimir banden und sie zwangen, jedem seiner Worte Folge zu leisten. Doch auch wenn der Zwang Damian wie eine tonnenschwere Last niederdrückte, so fand er die Kraft ihm zu widerstehen. Er klammerte sich an das leuchtende Band, das seine Seele mit Phees auf einer viel tieferen Ebene vereinte und das trotz seiner zarten Struktur viel stärker war als die Kettenglieder aus Stahl.

Er bedauerte nur eins: Dass er Phee im Streit verlassen hatte.

»Wenn du denkst, dass dich Anděl sowieso findet und alles sinnlos ist, dann geh und lass dich doch von ihm umbringen.«

Ihre wütenden und verzweifelten Worte erschienen ihm nun wie ein böses Omen. Er hatte genau das getan, was sie ihm vorwarf. Die letzten Tage hatte er eine Mauer zwischen ihnen errichtet, weil er davon ausgegangen war nicht mehr lange zu leben, da Kasimir ihn früher oder später finden würde.

Er war so dumm gewesen. Hätte mit beiden Händen das Glück festhalten müssen, das ihm widerfahren war, statt dem Tod entgegenzueilen. Nun würde er sich nicht einmal für den Schmerz entschuldigen können, den er ihr bereitet hatte, indem er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zurückstieß.

»Wir können sie suchen. Sie muss ganz in der Nähe sein. Er würde es nicht wagen sich zu weit von ihr zu entfernen.« Pavel stand breitbeinig mit verschränkten Armen neben seinem Schützling und beobachtete gelassen Damians Folter.

Einst hatte Damian zu ihm aufgesehen, doch nun fühlte er sich von ihrem Anführer, ihrem Alpha, verraten. Es war Pavel nie um ihr Volk gegangen, sondern einzig um die Bedürfnisse der Den. Um seine eigene Freiheit.

Mittlerweile hatte der Schneefall zugenommen. Die eisige Luft strich beruhigend über Damians Haut, kühlte seine zahlreichen Wunden und betäubte den Schmerz. Dennoch war er kaum noch bei Bewusstsein und lag nur deshalb nicht kopfüber im Schnee, weil ihn die anderen Wächter aufrecht hielten. Nutzlos hingen seine Schwingen wie ausgewrungene Lappen von seinem Rücken. Zerrten an seiner Wirbelsäule. Schmerzhaft spürte er jede Stelle, an der Kasimirs Faust seinen Körper getroffen hatte. Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund.

Kasimir schnaubte. »Darauf vertraue ich nicht. Außerdem will ich, dass er es mir sagt. Dass er erkennt, wo sein Platz ist. Wem er zu gehorchen hat!« Jedes seiner Worte triefte vor Wut und Hass. Gefühle, die der Anführer der Den erneut in einen kräftigen Schlag legte. Knochen knackten.

Erneut driftete Damians Geist weg, flüchtete in eine Zeit und zu einem Ort, wo er mit Phee glücklich gewesen war. Die wenigen Tage, die sie gemeinsam in Kopenhagen verbracht hatten, waren das Letzte, an das er in diesem Leben denken wollte.

»Hey!«, rief Pavel plötzlich und Damians Kopf wurde brutal hochgerissen. Wie Blitze schossen ihm die Schmerzen vom Nacken ausgehend durch seine Wirbelsäule bis in seine Schwanzspitze und für einen Moment tanzten schwarze Schlieren vor seinen Augen.

»Was ist dir wichtiger, das Leben von Phee oder das deiner Schwester?«, fragte Kasimir berechnend und bewog Damian dazu gegen die Benommenheit anzukämpfen, die seine Gedanken in Watte packte.

Nicht sie!

Cassandras pechschwarze Strähnen wanden sich um Kasimirs Hand, mit der er ihren Kopf brutal nach hinten gezogen hatte. Blutrot leuchtete ein winziger Streifen an ihrem Hals, an dem etwas silbrig aufblitzte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Damian erkannte, dass es sich um eine Klinge handelte, die die zarte Haut aufritzte. Sein Atem und sein Herzschlag beschleunigten sich. Es war ein Fehler gewesen zu ihr zu sehen. Kasimir zu zeigen, dass sie ihm etwas bedeutete. Eine Schwäche, die ihr nun teuer zu stehen kam. In ihren rehbraunen Augen lag nicht die Spur eines Vorwurfs an ihn, nur Resignation und das Wissen, dass ihr Leben längst vorbei war.

Kasimir hatte sie nur aus diesem Grunde mitgebracht: um etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Niemand würde sie retten. Den anderen Soumraks war sie egal – für sie war sie schwach und somit wertlos.

Keiner von ihnen verstand, was sie ihm bedeutete, niemand aus seiner Art wusste, was eine Familie ausmachte. All jene, die wie sie geboren worden waren, waren längst tot und existierten nur noch in Geschichten. Alle anderen seines Volkes waren durch die Hand der Den erschaffen worden, einzig zu dem Zweck die mächtigen Wesen des Lichts in den finsteren Stunden der Nacht zu beschützen.

Er hatte genauso resigniert wie seine Schwester. Hatte akzeptiert, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, seit er mit Jaro im Streit aneinandergeraten und mit Phee aus Prag geflohen war. Nie hatte er damit gerechnet auch nur den nächsten Tag zu überleben. Er hatte die Regeln gebrochen. Die Regeln der Den.

Kurz bäumte er sich auf, kämpfte mit seinen letzten Kraftreserven gegen diejenigen, die ihn festhielten, doch ihr Griff war unbarmherzig und seine vergeblichen Mühen amüsierten Kasimir.

Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Damian, ob die wenigen Tage in Freiheit all das hier wert gewesen waren, doch sofort verwarf er den Gedanken. Mit Phee zusammen zu sein, mit ihr zu lachen, ihren Körper zu erkunden und ihre Liebe zu erfahren, all das hatte seinem Leben erst einen Sinn gegeben.

Aber war das alles auch das Leben seiner Schwester wert?

Innerlich zerriss ihn der Gedanke. Entmutigt schloss er die Augen. Er hatte Cas schon einmal verraten. Wie konnte er ihr das erneut antun?

Phee würde nicht wollen, dass er seine Schwester für ihre Sicherheit opferte. Noch lebte er. Noch gab es Hoffnung. Das hatte Phee gesagt. Phee, deren Angst er über das Band in dieser Sekunde überdeutlich wahrnahm.

Seine Gedanken überschlugen sich. Was, wenn die Nocs, deren Spur er kurz zuvor noch gefolgt war, sie bereits gefunden hatten?

Er konnte ihr nicht mehr helfen, aber die anderen Wächter könnten es.

Dennoch war es ein Risiko, sie zu ihr zu führen. Er wusste nicht, was Kasimir mit ihr vorhatte. Allerdings wusste er mit absoluter Sicherheit, was geschehen würde, sollten die Nocs sie erwischen. Noch immer schwebte ihm das Bild der aufgerissenen Wunden lebhaft vor seinen Augen. Wunden, die ihr eines dieser Ungeheuer zugefügt hatte, um ihr kostbares magisches Blut zu trinken. Hätte er ihr nicht das Gift ausgesaugt, wäre sie tot.

Kasimir hingegen wollte sie lebend. Er würde sie zwar für ihren Ungehorsam bestrafen und sie einsperren, aber sie würde leben.

Er musste Zeit schinden. »Ich … führe …« Jede Bewegung seines Kiefers bereitete ihm höllische Schmerzen. Mühsam versuchte er die Worte zu artikulieren.

»Sprich. Sonst …« Kasimir verstummte und zerrte an Cassies Haaren, zwang ihren Kopf weiter in den Nacken. Die dünne rote Linie auf ihrem Hals wurde breiter. Einzelne Tropfen lösten sich und perlten über ihre Haut.

»Nein!«, rief jemand und ein zornerfülltes Brüllen hallte durch die Winterlandschaft. Kasimir wurde von einem blauvioletten Koloss gerammt, der ihn zu Boden rang. Weitere Soumraks stürzten hinzu. Ob sie Radim oder Kasimir zur Hilfe eilten, konnte Damian nicht erkennen. Die Ränder seines Sichtfelds trübten sich schwarz.

Im selben Moment brüllte Lucas »Jetzt!« und das Chaos brach endgültig aus. Klauen hieben aufeinander ein. Das gefährliche Knurren angreifender Raubtiere dröhnte in seinen Ohren. Der Schwanz einer seiner Brüder schnitt zischend durch die Luft und riss einen weiteren von den Füßen. Wächter kämpften gegen Wächter.

Kasimir brüllte seine Befehle, doch er schaffte es nicht alle von ihnen auf einmal unter seine Kontrolle zu bekommen. Dafür waren es zu viele.

Damians Geist war zu träge, um dem Geschehen zu folgen. Die schnellen Bewegungen verwischten zu farbigen Schlieren, die bei ihm Schwindel und Übelkeit auslösten.

Alles versank in der langersehnten Finsternis. Die Soumraks, die Damian bisher aufrecht gehalten hatten, ließen ihn los und er kippte vornüber in den Schnee.

***

Mit beiden Händen presste Cassie gegen die Wunde an ihrem Hals. Jaro blieb fast das Herz stehen, als Blut zwischen ihren Fingern hervorquoll.

Viel zu viel Blut. Vor Panik waren ihre Augen weit aufgerissen.

Verzweifelt wehrte er sich gegen Dusan, doch die Arme von Nováks Wächter hielten ihn so fest wie Stahlzwingen. Das animalische Brüllen der Soumraks, die aufeinander losgingen, verband sich mit seinem eigenen verzweifelten Schrei.

Kasimir und Novák waren sichtlich in Bedrängnis. Nur wenige Soumraks schützten die beiden vor dem Angriff. Cassie befand sich mitten im Kampfgetümmel. Nur knapp entkam sie einem Schwanzhieb, der einem anderen Wächter die Brust aufriss.

»Du musst ihm helfen!« Wütend zerrte Jaro an Dusans Armen. Ein erbostes Knurren war die Antwort. Der Soumrak ließ ihn glücklicherweise daraufhin dennoch los und eilte zu seinem Schützling.

Ohne auf die rasiermesserscharfen Klauen zu achten, die durch die Luft wirbelten, stürzte Jaro zu Cassie. Irgendetwas traf ihm am Oberarm und hinterließ ein Brennen, das seinen ganzen Arm erfasste und ihn taub werden ließ. Er ignorierte den Schmerz. In diesem Moment zählte einzig Cassie. Er fiel neben ihr auf die Knie, streifte seine Handschuhe ab und warf sie achtlos in den Schnee. »Ich bin hier. Ich bin bei dir.« Vorsichtig zog er sie auf seinen Schoß.

Sie wollte die Hand von der Schnittverletzung nehmen, aber er legte seine darauf. »Drück fest auf die Wunde.«

In ihrem hoffnungslosen Blick erkannte er eine stumme Entschuldigung.

»Du wirst wieder. Hörst du? Es wird alles wieder gut.« Sanft strich er ihr eine Strähne hinter das Ohr. Die Worte waren nicht nur für sie, sondern auch eine Versicherung an sich selbst. Er war kurz davor durchzudrehen.

Ihre Hände waren rot vom Blut. Ein Tropfen fiel in den Schnee, wo er eine rosa Blüte schuf.

Jaro hatte sich noch nie so hilflos gefühlt, wie in diesem Augenblick. So machtlos. Seine Kräfte waren völlig nutzlos, obwohl er ein Den, ein höheres Wesen war, das man einst als Engel verehrt hatte, manchmal sogar als Gott. In alten Zeiten hatte es sogar Heiler unter ihnen gegeben, doch diese Fähigkeit war ihnen, wie so viele andere, längst abhandengekommen. Alles war eine Lüge. Er war naiv gewesen, arrogant, zu glauben, dass er für alles eine Lösung fand und über den Dingen stand. Er war ein Nichts. Das war ihm in den letzten Wochen immer wieder ins Bewusstsein gerufen worden.

Seine Finger zitterten als er den Reißverschluss seiner Jacke öffnete.

Ein vorsichtiges Wispern drang aus ihrem Mund.

»Versuch nicht zu sprechen.« Er legte ihr die Jacke über die Brust und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Sie ergriff seine Hand und drückte sie fest. Es war, als würde sie eher ihn trösten als andersherum. »Press weiter fest die Hände auf die Wunde, aber pass auf, dass du dir nicht die Luft abdrückst.«

Ihr Blick sagte deutlich: Das musst du mir nicht erklären.

Aufgewühlt fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare. Natürlich wusste sie das. Seine Atemstöße waren abgehackt.

Es war so viel Blut.

Verzweifelt sah er sich nach Hilfe um. Direkt neben ihnen rangen mehrere Soumraks miteinander. Ein wildes Knäul aus Armen, Beinen und Flügel. Ihre Schwänze peitschten durch die Luft und es war ein Wunder, dass Cassie und er bisher nicht getroffen worden waren. Überall färbte Blut Schnee und Eis rot.

Sein Onkel hatte sich mittlerweile gemeinsam mit Novák hinter etlichen Soumraks verschanzt, die sie mit Klauen und Zähnen beschützten. Allein bei seinem Anblick verspürte Jaro abgrundtiefen Hass. Reinen, unverfälschten Hass. Sollte Cassie das nicht überleben, würde er ihn umbringen. Das schwor er sich.

»Jaro«, brüllte Kasimir und winkte ihn mit der Hand zu sich.

Jaro zeigte ihm den Mittelfinger, was nicht ansatzweise an das heranreichte, was er in diesem Moment für Kasimir Anděl empfand.

Neben Pavel und Dusan, kämpfte auch Radim an der Seite seines Onkels. Seine kantigen, widerstrebenden Bewegungen und der gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht machten deutlich, wie sehr es ihm zuwider war diesen Mistkerl zu beschützen, aber er hatte keine andere Wahl.

»Radim, komm her«, befahl Jaro, in der Hoffnung, dass seine Worte Kasimirs Befehl aufheben könnten. Ihm war in diesem Augenblick egal, was mit seinem Onkel geschah. Sollte er doch von den anderen Soumraks in Stücke gerissen werden.

Tatsächlich kam Radim innerhalb von Sekunden zu ihm und warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor er sich atemlos neben ihnen in den Schnee kniete und den Schaden begutachtete.

»Was können wir tun?«, stieß Jaro verzweifelt aus. Es kam ihm vor, als würde ein Elefant auf seinem Brustkorb sitzen.

»Sie muss schlafen.« Auch wenn Radim vollkommen ruhig wirkte, so lag in seinem Blick tiefe Sorge, als er den Himmel musterte und witternd die eisige Luft in seine Nase sog. »Aber, hier geht die Sonne nicht auf. Erst in zwei oder drei Tagen wieder. So lange schafft sie es nicht.«

Jaros Herz setzte einen Schlag aus, bevor es wild gegen seine Rippen trommelte. In seinem Gehirn herrschte geschockte Leere.

Radim beugte sich vor, schlang die Arme um Cassie und hob sie hoch, als würde sie nicht mehr als eine Feder wiegen.

»Was hast du vor?« Schnell kam Jaro auf die Beine, die sich unter ihm ganz wackelig anfühlten.

»Ich bringe sie nach Süden.« Er wandte sich bereits zielstrebig in eine Richtung und stapfte los. Für einen Moment war Jaro verwirrt, bevor ihm klar wurde, was sein Wächter vorhatte. Auch wenn an diesem Ort Polarnächte herrschten, war dies weiter südlich nicht der Fall. Dort ging die Sonne normal auf und unter und je weiter sie kamen, desto länger würde die Sonne am Himmel stehen.

»Ich komme mit«, entgegnete Jaro entschlossen und beeilte sich ihm zu folgen, doch Radim schüttelte den Kopf. »Ich bin schneller, wenn ich allein bin.«

Fest biss Jaro die Zähne aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Es fiel ihm schwer seinen Wächter mit Cassie ziehen zu lassen, auch wenn das Argument einleuchtend war. Jede Faser von ihm wollte bei ihr bleiben, sie berühren und sich versichern, dass es ihr gut ging. Außerdem sträubte sich alles in ihm dagegen, sie mit dem Mann allein zu lassen, mit dem sie sich hatte paaren wollen.

Ja, er war immer noch eifersüchtig auf Radim, obwohl Cassie ihm bereits mehrfach versichert hatte, dass sie nichts für diesen Kerl empfand und sich für ihn entschieden hatte. Der Soumrak würde sie mit seinem Leben beschützen.

Allerdings würde er das nicht können, sobald er versteinert wäre. Was wenn jemand sie bei Tageslicht entdeckt? Vor Jaros innerem Auge formte sich das Bild ihrer zerschmetterten Körper.

»Du gehst nicht ohne mich.« In seinen gekeuchten Worten schwang deutlich ein Befehl mit. Sofort spürte er Radims Widerstand. »Ihr seid verwundbar, wenn ihr schlaft«, erinnerte Jaro ihn und sofort verschwand der Druck in seinem Kopf.

Radims Schulterpartie verkrampfte sich und er wandte sich zu ihm um. »Du hast …«

»Jaro, komm!« Kasimirs Ruf unterbrach seinen Wächter. Automatisch ruckte Jaros Kopf in Richtung der Stimme seines Onkels. Erst jetzt bemerkte er, dass die Kämpfe zum größten Teil zum Erliegen gekommen waren. Der See hatte sich zu einem blutigen Schauplatz eines Splattermovies verwandelt. Mehrere Soumraks lagen reglos auf dem Eis. Kein einziger Wächter war ohne irgendwelche Wunden in dieser Schlacht geblieben.

Jaros Herz zog sich zusammen. Sein Onkel, Novák und die Soumraks, die ihm folgten – sei es freiwillig oder gezwungenermaßen – hatten längst den Rückzug angetreten und warteten zwischen den Bäumen auf ihn. Allein bei seinem Anblick kam Jaro die Galle hoch und sein Blut kochte vor Wut.

»Beeil dich!«

»Du solltest mit ihm gehen«, sagte Radim leise. »Ich kümmere mich um sie.«

»Nein.« Entschlossen wandte sich Jaro ab. »Ich gehe mit euch.«

»Jetzt, wo sich die anderen gegen die Den gestellt haben, werden sie dich wahrscheinlich töten«, gab sein Wächter zu bedenken.

»Wenn ich mit ihm gehe, werde ich ihn töten«, zischte er wütend. Seine Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass seine Sehnen anfingen zu protestieren.

»Nicht, du …«, flüsterte Cassie rau.

Jaro unterbrach sie allerdings und strich ihr zärtlich über die Wange. »Ich sagte doch, du sollst nicht reden.«

»Jaro, ich …« Ihre Stimme wirkte so zerbrechlich wie altes Pergament.

»Erzähl es mir, wenn du wieder gesund bist.« Zittrig drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen, bevor sie noch mehr sagen konnte, und wandte sich seinem Wächter zu. »Ich werde sie nicht allein lassen. Hör auf Zeit zu verschwenden und lass uns gehen.«

Hinter sich hörte er den Schnee knarzen und Getuschel, begleitet von bedrohlichem Knurren.

»Du wirst nirgendwo mehr hingehen«, fauchte einer der Soumraks und packte ihn grob am Arm.

2

In Phees Kopf tobte ein Sturm. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, Fragen prasselten auf sie ein, doch kaum versuchte sie etwas davon zu greifen, verlor es sich in dem Chaos ihrer Gefühle.

Ihr Mund stand vor Staunen immer noch offen, während sie fassungslos den Mann anstarrte – oder besser Noc, der angeblich ihr Vater sein sollte.

Und der von Jaro!

Was nichts anderes bedeutete, als dass der junge Mann mit den verstrubelten blonden Haaren, der ihr das Leben im Internat schwer gemacht und ihr später geholfen hatte ihre Kräfte zu verbergen, ihr Bruder war. Einfach unfassbar!

Als sie Jaro das letzte Mal gesehen hatte, hatte er ihr stockbesoffen einen Kuss gegeben, sich mit Damian angelegt und war gestürzt. Das dumpfe Knacken, als sein Kopf auf etwas Hartes geprallt war, erklang als fernes Echo und ließ sie erschaudern. Der eiserne Geruch des Blutes hatte die Luft erfüllt.

Ihr Hals war wie zugeschnürt.

Die Frage, ob er den Sturz ohne Folgen überstanden hatte, könnte ihr vielleicht der Mann vor ihr beantworten. Immerhin schien er mehr Informationen darüber zu haben, was in Prag vorging, als man es in dieser eisigen Einöde vermuten könnte.

Er und seine Leute hatten gewusst, dass Damian und sie von Nocs angegriffen wurden, nachdem sie vor den Den geflohen waren. Die Frage war: Woher? Waren es seine Leute gewesen, die sie damals angegriffen hatten?

Wobei sie den Gedanken sofort wieder verwarf, denn die Nocs, hatten sie beinahe getötet, was nicht im Sinne des Mannes vor ihr zu sein schien. Aber wirklich sicher war sie sich dessen nicht.

Das alles war verrückt.

Hatte er regelmäßig Kontakt mit jemandem aus dem Internat? Mit Anděl? Oder Jaro? Hatte Jaro nicht gesagt seine Eltern seien tot? Verdammt, sie wusste es nicht mehr. So viele ihrer Mitschüler hatten ihre Eltern verloren. Durch die Nocs.

Das ergab einfach alles keinen Sinn.

Die vampirischen Nocs jagten die Den wegen ihres magischen Blutes, wegen der Kraft des Lichtes darin, und jetzt stellte sich heraus, dass einige von ihnen vorher selbst Den gewesen waren?

Wie zur Hölle war das überhaupt möglich?

Ein eisiger Schauder lief ihr die Wirbelsäule hinauf und ließ sie den Rücken durchdrücken, als eine Erinnerung vor ihr aufblitzte. »Ihr ist nicht mehr zu helfen.« Für einen schrecklichen Augenblick fand sie sich in einem Albtraum wieder.

»Sie ist schon lange tot.« Die beiden staub- und blutbedeckten Mädchen. Die Bisswunden am Hals.

»Töte mich.« Saskias geflüsterte Bitte klang noch immer in ihr nach.

Das Gift! Damian hatte es ihr ausgesaugt und war kurz darauf menschlich geworden. Hätte es sie etwa in einen Vampir verwandelt? War das der Plan ihres Vaters gewesen? Dass sie auch zum Vampir wurde? Waren sie deswegen von den Nocs angegriffen worden?

Ihre Unterlippe bebte und ein Zittern durchlief ihren Körper.

»Ich weiß, es ist nicht viel«, entschuldigte sich ihr Vater verhalten, umriss den Raum mit einer Handbewegung und lenkte so ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Sie stand in einem großen Raum, der sich über zwei Stockwerke zog. Eine steile Treppe führte zu einer Galerie, die über einer offenen Wohnküche verlief. Ein Ofen grenzte sie von dem anderen Bereich ab, den eine abgewetzte braune Ledercouch mit einem passenden Sessel dominierte. Zwei Bilder, die grüne Berglandschaften zeigten, brachten ein wenig Farbe. Die Stämme, aus denen die Hütte erbaut worden war, waren dunkelbraun gebeizt und ließen den hohen Raum wie eine Höhle wirken. Stasyas Heim hätte sicherlich Gemütlichkeit ausgestrahlt, wenn nicht alles in unheimlichen Schatten getaucht wäre. Die Petroleumlampe, die er entzündet hatte, reichte nicht um die Dunkelheit aus den Ecken zu vertreiben.

Er ging zur Küchenzeile. Seine Stiefel erzeugten ein schweres und dumpfes Pochen bei jedem Schritt.

»Dort hinten ist das Badezimmer. Du kannst oben schlafen. Ich nehme die Couch.« Es klapperte, als er die Lampe zu einigen Werkzeugen, Drähten und Elektroteilen stellte, die kreuz und quer auf einem Tisch lagen und die er nun in eine Kiste räumte. Im schlimmsten Fall war ihr Erzeuger nicht nur ein Vampir, sondern zusätzlich ein Bombenbauer.

»Willst du nicht deine Jacke ausziehen?« Auffordernd warf er ihr einen Blick zu, während er seine eigene über die Lehne eines Stuhls hing. Darunter trug er ein abgewetztes Flanellhemd.

Phee erwacht nur langsam aus ihrer Schockstarre. »Du bist wirklich ein Vampir?« Sie konnte das alles immer noch nicht begreifen.

»Ich bin ein Noc. Das ist etwas anderes.«

Ja, klar. »Du besitzt Reißzähne, meidest Sonnenlicht und trinkst Blut. Was soll das sonst sein, wenn nicht ein Vampir?«

Mit einem Seufzen begann er die elektronischen Bauteile in eine Kiste zu räumen. »Es stimmt schon, man kann uns als Vampire bezeichnen. Allerdings reagieren wir weder auf Knoblauch noch auf Weihwasser allergisch.«

»Ein Pflock durchs Herz würde funktionieren?«

Er verharrte in der Bewegung und starrte sie entgeistert an.

Selbst in ihren Ohren hatten die Worte trotz des Zitterns in ihrer Stimme wie eine Drohung geklungen, dabei war das gar nicht ihre Absicht gewesen. Noch immer hatte die Angst sie fest im Griff. Wenigstens lähmte sie sie nicht länger. Der Nachteil war jedoch, dass sie aussprach, was ihr als erstes durch den Kopf ging, ohne darüber nachzudenken.

»Ehm … also nicht, dass ich das jetzt wissen möchte, um dich zu töten.« Wobei, für den Notfall wäre es dennoch hilfreich. »Ich … also … ich …« Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken, während sie sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr.

Vielleicht hätte sie besser erstmal mit ihm darüber reden sollen, dass sie – angeblich – seine Tochter war. Allerdings verursachte der Gedanke an dieses Thema ihr genauso Herzrasen. Mehr sogar noch als die Tatsache, dass vor ihr ein Blutsauger stand. »Das ist gerade alles etwas viel«, stieß sie frustriert aus und streifte sich die Handschuhe ab, die sie in ihre Jackentasche stopfte.

Er stellte die Kiste zur Seite und schenkte ihr ein wehmütiges Lächeln. »Du hast Angst. Das verstehe ich. Aber ich versichere dir, du hast nichts von mir zu befürchten. Oder von sonst jemanden in diesem Lager.«

Unsicher biss sich Phee auf die Innenseite ihrer Wange. Nach wie vor hatte sie das grausige Bild der zwei toten Mädchen vor Augen, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hatten. Brutal ermordet und ausgesaugt von Nocs. »Das soll ich dir wirklich glauben, nachdem ich gesehen habe, wie Nocs zwei meiner Mitschülerinnen und ihre Wächter brutal abgeschlachtet haben? Oder nachdem Nocs mich angegriffen und fast getötet hätten?« In ihrer von den Erinnerungen rau gefärbten Stimme, lag der Hauch einer Herausforderung.

Er erwiderte nichts darauf. Starrte sie nur eine Weile ausdruckslos an. Die Petroleumlampe warf harte Schatten auf sein kantiges Gesicht. Zwischen ihnen herrschte eine angespannte Stille. Ihr Mund war wie ausgedörrt. Mühsam versuchte sie zu schlucken und fasste sich unbewusst an den Hals, was seinen Blick dorthin wandern ließ. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken.

»Wir sind nicht alle so«, sagte er plötzlich leise, drehte ihr den Rücken zu und riss die Türen zu zwei Hängeschränken auf. »Ich habe heute noch gar nichts gegessen. Möchtest du auch etwas?« Eingehend studierte er die Auswahl an Konserven.

Sein abrupter Themenwechsel verwirrte sie und gleichzeitig war sie ihm dankbar dafür, dass er das Gespräch in harmlosere Bahnen lenkte. Der Druck auf ihrer Brust, der ihr das Atmen erschwerte, nahm etwas ab. Außerdem knurrte ihr Magen und erinnerte sie daran, dass sie bis auf zwei Müsliriegel seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen hatte. Keine Ahnung, wie lange das bereits her war. Durch die andauernde Dunkelheit in diesen Breitengraden, hatte sie jeglichen Bezug zu Tag und Nacht verloren.

»Solange es kein Blut ist.« Okay, vielleicht war das Thema nicht ganz so harmlos wie gedacht.

Zittrig atmete Phee ein, trat ans Fenster und schob den dunkelblauen Vorhang zur Seite. Schneeflocken wirbelten umher und ließen die Welt vor dem Fenster auf wenige Meter schrumpfen. Dennoch konnte sie einzelne reglose Gestalten erkennen und spürte ihre neugierigen Blicke. Schnell ließ sie den Vorhang los und trat einen Schritt zurück.

Wo blieb Damian nur? Sie war sich sicher, dass er kommen würde, um sie zu holen. Dass er es immer noch nicht getan hatte, schnürte ihr aus Sorge um ihn den Hals zu.

Stasya hatte sich mittlerweile entschieden und stellte eine Dose auf die schmale Arbeitsfläche. »Wir brauchen Blut nicht um zu überleben.«

Ungläubig schnaubte sie. »Wofür habt ihr dann Reißzähne?«

Wofür besaßen die Soumraks Reißzähne?

»Beiß mich.«

Sie hatte sich in der Hütte so sehr gewünscht, dass Damian sie biss. Dass er seine Zähne in ihren Hals versenkte. Auch jetzt schlug ihr Herz schneller bei dem Gedanken, jedoch nicht aus Angst. Der Einzige, der in diesem Moment Angst davor gehabt hatte, war Damian. Er hatte sich entschuldigt, dass er sie aus Versehen mit den Zähnen geritzt hatte, aber zugleich sehnsüchtig ihren Hals angestarrt.

»Das ist eine hervorragende Frage.« Stasyas Worte holten sie wieder in die Gegenwart. Die Antwort auf ihre Frage schien ihn jedoch nicht weiter zu interessieren, oder er kannte sie und wollte sie ihr nur nicht mitteilen. Stattdessen hantierte er mit dem Dosenöffner herum. Den braunen Inhalt schüttete er in einen kleinen Topf, den er aus den unteren Schränken hervorgeholt hatte und auf den Ofen stellte. Die Metalltür quietschte, als er sie aufzog, um ein paar Scheite hineinzulegen.

Unsicher warf er ihr wiederholt einen Blick zu, öffnete den Mund und befeuchtete sich die Lippen, doch dann schloss er ihn wieder. Die angespannte Stille zwischen ihnen wurde nur durch einige geräuschvolle tiefe Atemzüge und dem Knistern des brennenden Holzes durchbrochen. Konzentriert rührte er den Inhalt um. Feiner Dampf stieg auf und ein würziges Aroma verbreitete sich.

Keine Sekunde ließ Phee ihn während der gesamten Zeit aus den Augen. Noch immer geisterten Fragen durch ihren Kopf, doch keine wollte über ihre Lippen kommen.

Stasya stieß den Atem in einer Mischung aus Lachen und Schnauben aus. »So oft habe ich mir gewünscht, dass ich die Gelegenheit bekomme, dich näher kennenzulernen. Dir alles erklären zu können.« Seine Schultern sackten herab. »Doch jetzt, wo du vor mir stehst, fehlen mir die Worte. Um ehrlich zu sein, habe ich nie damit gerechnet, dich jemals zu treffen.«

Seine Stimme war warm und enthielt ein leises Versprechen väterlicher Liebe, die sich auch in seinen Augen wiederfand. Schnell sah sie weg, konnte diesen führsorglichen Blick nicht ertragen, der ein sehnsüchtiges Ziehen in ihr auslöste, denn wirklich an diese Liebe glauben konnte sie nicht. »Natürlich nicht. Du hast es ja niemals versucht.«

»Ich habe dir Postkarten geschickt«, murmelte er in seinen Bart und wandte sich wieder dem Essen zu. Seine Finger zitterten leicht, als er den Topf vom Herd nahm und zum Tisch trug, wo er ihn auf ein kleines Gitter stellte.

Phee hatte keine Ahnung, woher die Wut in ihrem Inneren plötzlich kam, aber sie war da. Heiß verbrannte sie ihre Ängste zu einem Häuflein Asche. »Du wusstest, dass meine Mutter mir diese nie zeigen würde. Oder mir von dir erzählt. Ich wusste bis vor ein paar Tagen nicht einmal, dass du existierst.«

Grob zuppelte sie die Karte, die sie in Kiruna rumgezeigt hatte, aus ihrer Manteltasche. Mittlerweile war sie verknittert und an den Rändern löste sich das Bild der weißen Landschaft von der Pappe. Ohne einen Blick auf die Rückseite zu werfen, sagte sie die Worte auswendig auf, die dort standen. »Liebe Stephanie, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Ich hoffe, du feierst schön und hast viel Spaß. In Liebe, Stasya.« Frustriert breitete sie die Arme aus und schob ungehalten ihr Kinn vor. »Noch unpersönlicher ging es wohl nicht?«

Seine Kiefermuskulatur arbeitete. Mit kantigen Bewegungen stellte er zwei tiefe Teller auf den Tisch, die nicht zueinander passten. Es war offensichtlich, dass sie einen Nerv getroffen hatte.

»Warum bin ich überhaupt hergekommen?«, fragte sie und ihr wurde bewusst, dass das die wichtigste Frage von allen war. »Ich habe dich bisher doch nie interessiert.«

Entsetzt starrte er sie an. »Das denkst du? Dass du mir egal bist?«

»Was soll ich denn sonst denken, nachdem du vor Jahren einen Blick auf mich geworfen und dich aus dem Staub gemacht hast? Und dann diese dämlichen Postkarten?«

Er wirkte, als hätte sie ihn geschlagen. »So war das nicht«, stieß er entgeistert aus. »Hat Sarah dir das erzählt?«

Ein Kloß steckte in Phees Hals. »Sie sagte, du seist erleichtert gewesen, als sie dir weißmachen wollte, dass ihr kein gemeinsames Kind habt.«

Betroffen senkte er den Kopf und stieß die Luft aus. Sein schuldbewusstes Gesicht versetzte ihr einen Dolchstoß.

»Das stimmt auch«, gestand er nach kurzem Zögern und drehte den Dolch in ihrem Herzen herum. »Aber dann sah ich dich.« Wehmütig betrachtete er sie. »Dein linker Schneidezahn war kürzer als der rechte. Du hast mich über das ganze Gesicht angestrahlt. Dein T-Shirt war rosa und zwei singende Sonnenblumen tanzten darauf. Du mochtest anscheinend Sonnenblumen, denn dein Schulranzen war auch voll davon und viel zu groß für dich.« Er stieß ein Lachen bei der Erinnerung aus. »Es war ein Schock für mich. Ich wusste sofort, dass du meine Tochter bist.« Auch jetzt noch schien er es noch nicht ganz fassen zu können, obwohl er sehr viel länger Zeit hatte als Phee, diese Tatsache zu verarbeiten. »Du siehst Sarah ähnlich, aber die Augen hast du von mir. Du besitzt genau das gleiche freche Lächeln wie Jaro.« Seufzend rieb er sich über die Stirn und zog dann mit der rechten Hand das Gesicht lang. In seinen Augen lag eine stumme Entschuldigung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie gerne ich dich in diesem Moment einfach in meine Arme gezogen hätte. Ich war so glücklich und vom ersten Augenblick total vernarrt in dich. Zugleich wurde mir klar, dass Sarah das einzig Richtige getan und mich verlassen hat, sobald sie erfuhr, dass sie schwanger war.« Er schluckte. »Wäre ich nur eine Sekunde länger geblieben, hätte ich euch nicht mehr verlassen können. Also ging ich.«

Ungläubig wurden ihre Augen größer, als sie die Träne entdeckte, die über sein Jochbein rollte, bevor sie im Bart verschwand.

Sein Gesicht wurde hart. »Ich musste gehen. Sie hätten nie von dir erfahren dürfen. Deswegen habe ich mich von dir ferngehalten. Mit den Postkarten bin ich schon ein viel zu großes Risiko eingegangen.«

Misstrauisch runzelte Phee die Stirn. »Mit sie meinst du die Den?«

Einen Moment sagte er nichts, bevor er auf den Platz ihm gegenüber zeigte. »Bitte, setz dich.«

Erst nach kurzem Zögern ließ sie sich auf den Stuhl sinken und beobachtete den Mann, der ihr Vater sein sollte. Er holte eine Kiste aus dem Schrank, die sich als Brotkorb entpuppte. Es kam ihr so vor, als wäre ihr Inneres in Stücke gerissen und dann notdürftig zusammengeflickt worden. Nichts befand sich mehr an seinem Platz.

»Wie viele Scheiben möchtest du?«, fragte er und begann den unförmigen Laib, der offensichtlich selbstgebacken war, zu schneiden.

»Eine reicht«, sagte sie tonlos und wusste nicht, was sie von der ganzen Situation halten sollte. Ihr Körper war schmerzlich angespannt in Erwartung seiner Antwort.

Er reichte ihr das Brot und einen Löffel und schöpfte erst ihr und dann sich selbst auf, bevor er sich setzte.

Der würzige Geruch der Gulaschsuppe stieg Phee in die Nase, ließ ihren Magen knurren und löste zugleich ein mulmiges Gefühl in ihr aus. Die letzte warme Mahlzeit, die sie mit Damian an dem See gegessen hatte, war ebenfalls Gulaschsuppe gewesen. Sie musste daran denken, wie er auf dem Eis mit ihr trainiert hatte. Sie war gestürzt und er hatte sie aufgefangen. Sie waren sich so nah gewesen, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen gespürt hatte. Noch immer brannte ihr Inneres vor Sehnsucht nach dem Kuss, der bereits wie ein Versprechen in der Luft gelegen hatte, doch Damian war vor ihr zurückgewichen. Genauso wie in der Hütte, nachdem sie sich endlich geküsst hatten. Die letzten Worte, die sie ihm in ihrer Verzweiflung ins Gesicht geschleudert hatte, kamen ihr in den Sinn und alles in ihr zog sich zusammen.

»Wenn du denkst, dass dich Anděl sowieso findet und alles sinnlos ist, dann geh und lass dich doch von ihm umbringen.«

Eine namenlose Angst nahm sie gefangen, legte sich eng um ihren Körper und schien sie zu zerquetschen. Was war, wenn Damian tatsächlich auf Anděl gestoßen war? Sonst wäre er bestimmt längst bei ihr.

Kälte kroch ihr über die Arme und verstärkte das eisige Gefühl in ihren Knochen. Ihr Herz raste. Die Verzweiflung drohte sie zu ersticken.

Etwas berührte sie und sie zuckte zusammen. Sofort nahm ihr Vater die Hand weg, mit der er sie berührt hatte, und musterte sie besorgt. »Magst du das Essen nicht? Ich habe gar nicht drüber nachgedacht, dass es eigentlich früher Morgen ist und du wahrscheinlich eher ein Frühstück möchtest. Ich kann dir etwas anderes machen.« Er war bereits aufgesprungen, bevor sie reagieren konnte.

Es war schon Morgen?

»Warte.« Seine Fürsorglichkeit rührte sie. »Das hier ist vollkommen in Ordnung. Ich habe mich gerade nur an etwas erinnert.« Auch wenn ihr Hals wie zugeschnürt und sie sich sicher war, dass sie keinen Bissen hinunter bekommen würde, begann sie zu essen.

Stasya studierte sie einen Augenblick, bevor er sich wieder auf seinen Platz setzte und sich ebenfalls dem Essen widmete.

Die Suppe wärmte ihren Körper von innen und vertrieb die Kälte, die sich in ihre Knochen eingenistet hatte, seit Damian die Hütte – sie – verlassen hatte. Mehrfach warf sie ihrem Vater, der immer noch ein Fremder für sie war, verstohlene Blicke aus dem Augenwinkel zu und ertappte ihn dabei, wie er dasselbe tat. Erneut ballten sich die Fragen in ihrem Kopf zu einer Gewitterfront zusammen. Wie konnte sie sich nach allem, was geschehen war, überhaupt sicher sein, dass er die Wahrheit sagte? Seit sie in diese Welt aus Schatten und Licht gestolpert war, schien sie jeder zu belügen.

Mein ganzes Leben lang hat man mich belogen.

Die Wahrheit war wie ein zerbrochener Spiegel, in dem sie sich betrachtete und nur noch Fragmente ihrer Selbst erkannte, die nicht mehr zusammenzupassen schienen.

»Du hast noch gar nicht meine Frage beantwortet. Vor wem wolltest du mich beschützen?«

Er ließ den Löffel zurück auf den Teller sinken, den er sich gerade erst neu befüllt hatte, und musterte sie eingehend. »Vor mir. Meiner Welt. Einfach allem. Ich hatte gehofft, du kannst ein normales und glückliches Leben führen. Ich wollte eine Zukunft für dich. In Freiheit und nicht eingesperrt hinter Mauern in Prag.«

»Das hat ja super geklappt«, bemerkte sie sarkastisch.

Schuldbewusst senkte er den Blick auf die Suppe, in der er einige Fleischbrocken mit dem Löffel hin und her schob. Seine Schultern waren angespannt. »Es tut mir leid, dass du so unvorbereitet in diese Welt gestoßen wurdest. Als ich hörte, dass du in Prag bist, habe ich versucht jemanden zu dir zu schicken, bevor es zu spät ist, aber da hatten sie dich bereits entdeckt.«

»Die Den?«, fragte sie erneut.

»Die anderen Nocs.« Seine Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut.

Irritiert runzelte sie die Stirn. »Welche anderen Nocs?«

Tief atmete er ein, stieß die Luft langsam aus und schob den halbvollen Teller in die Mitte des Tisches, sodass er die Ellenbogen abstützen konnte. »Die, die dir gefolgt sind, als du mit deinem Wächter aus Prag geflohen bist.«

Seine Erklärung lieferte ihr wenigstens ein paar Antworten, wenn auch nicht genug. Erleichtert, dass er nicht für den Angriff verantwortlich gewesen war, entspannte sie sich ein wenig. »Diese Nocs gehörten also nicht zu dir?«, hakte sie dennoch nach. In letzter Zeit hatte man sie einfach zu oft belogen.

In seinen Augen glomm ein zorniger Funke. »Niemals würde ich zulassen, dass einer meiner Leute dir auch nur ein Haar krümmt.« Seine Stimme hatte solch einen bedrohlichen Unterton angenommen, dass sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Nervös schluckte sie.

Er bemerkte es. »Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen. Ich …« Aufgewühlt knetete er seine Hände, während er mehrfach dazu ansetzte etwas zu sagen. Der Zorn in seinem Gesicht war längst dumpfem Schmerz gewichen. »Die letzten Tage waren schwer für mich. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.«

In ihrem Magen entstand ein harter Knoten. »Du dachtest, ich sei tot?«

Er rieb sich über den Mund. »Was hätte ich sonst denken sollen, nachdem euch eine ganze Horde Nocs gefolgt ist?« Zittrig atmete er ein und befeuchtete sich die Lippen. »Meine Leute haben zwar versucht so viele eurer Verfolger auszuschalten, wie sie konnten, doch am Ende waren sie ihnen unterlegen. Ich hatte gehofft, dass Kasimir die Verfolgung aufnehmen würde, stattdessen reiste mein Bruder kurz darauf mit Jaro nach Rumänien. Weswegen ich davon ausging, dass du … dass du …«

Zunächst fiel Phee ein Stein vom Herzen – Jaro ging es offensichtlich gut – dann drangen langsam die restlichen Worte von Stasya in ihr Bewusstsein vor, seinen verzweifelten Ausdruck bei diesem Gedanken. »Dass ich … was?«

»Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn du gebissen worden wärst.«

Eis überzog ihre inneren Organe. Sie schluckte. »Was wäre dann passiert?«

»Das ist nichts, was du …«, begann er ausweichend, doch sie unterbrach ihn.

»Wäre ich ein Vampir geworden? So wie du?«

Tief atmete er ein und schüttelte den Kopf. »Es wäre anders gewesen.« Er wandte den Blick ab, aber sie hatte noch die Qualen darin sehen können. »Du hättest dich verwandelt. In eine Kreatur ohne jeglichen Verstand. Süchtig nach Blut. Nicht mehr als ein Schatten deiner Selbst. So wie alle Nocs ursprünglich einmal waren.«

Wie ein fernes Echo erklang Saskias Stimme in ihrem Kopf: »Töte mich.«

Phees Magen revoltierte und der Geruch des Essens verstärkte ihren Brechreiz, weswegen sie ebenfalls ihren Teller von sich wegschob.

Stasya stand auf, nahm das benutzte Geschirr und stellte es auf die Arbeitsfläche. »Deswegen haben wir für gewöhnlich keinerlei Kontakt mehr zu unseren Verwandten, die noch im Licht wandeln. Es ist uns verboten, mit einem Den in Kontakt zu treten. Es ist einfach zu gefährlich.« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schluckte. »Und wer es doch tut, wird von den Soumraks getötet.«

3

Damians Sinne waren wie vernebelt. Sein Körper fühlte sich stellenweise fremd an und schien trotz der Kälte in Flammen zu stehen. Es war, als würden ihn tausend Nadeln malträtieren. Schnee drang ihm in Mund und Nase, mischte sich mit dem Geschmack des Blutes und raubte ihm den Atem. Hustend versuchte er sich hochzukämpfen.

Lucas griff ihm unter die Arme und half ihm sich aufzusetzen, damit er wieder seine Lungen mit Luft füllen konnte. »Geht’s?« Seine Stimme war gedämpft, als würde er durch einen dicken Wollschal sprechen.

Damian nickte und gönnte sich zwei Sekunden, bevor er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Obwohl seine Beine kaum etwas abbekommen hatten, protestierten seine Muskeln und wollten unter ihm nachgeben. Er schwankte und wäre zurück in den Schnee gestürzt, hätte Lucas ihn nicht gestützt. Noch immer trübten rote Schleier sein linkes Auge, während er durch das rechte überhaupt nichts erkennen konnte. Wenn er die Luft witternd einsog, nahm er nur den metallischen Geruch von Blut wahr.

Er ignorierte die Verletzungen. Kaum stand er auf eigenen Beinen, strebte er in die Richtung, in der er sie deutlich spürte. »Ich muss zu Phee«, stieß er mit rasselndem Atem aus. Die unterschiedlichen Empfindungen, die er von ihr auffing, beunruhigten ihn, enthielten sie doch eine Menge Furcht. Seine schmerzenden Muskeln zitterten vor Anstrengung, als er einen Schritt nach vorn machte.

Lucas schnaubte. »Wir müssen dich erstmal nach Süden schaffen, damit du schlafen und heilen kannst.« Er musterte ihn von unten nach oben. Sein Gesichtsausdruck wurde düsterer mit jedem Zentimeter, den er erfasste. »Dieser Bastard hat dich übel zugerichtet. Deine Schwingen …« Lucas verstummte, als Damian dennoch mit fest zusammengebissenen Zähnen seine Hand abschüttelte und weitertaumelte.

»Das ist alles unwichtig.« Das Gewicht seiner nutzlosen Flügel zerrte ihn nach hinten und er musste sich mit Kraft dagegenstemmen.

»Sei vernünftig, du kannst ihr in deinem Zustand nicht helfen. Wir haben Verletzte und auch Tote. Genauso wie Kasimir. Er wird ebenfalls zunächst seine Wunden lecken, bevor er auf die Suche nach deiner Liebsten geht.«

Schwer atmend blieb Damian stehen und wandte leicht den Kopf zur Seite, damit Lucas ihn besser hören konnte. »Sie ist in Gefahr. Es befinden sich Nocs in der Gegend.« Mühsam schleppte er sich weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. Die Spitzen seiner Schwingen schleiften über das Eis. An den Stellen, wo die Flügel aus seinem Rücken wuchsen, ließ die Taubheit langsam nach. Es fühlte sich an, als würden Ameisen durch seine Gliedmaßen krabbeln – Feuerameisen, die ihn überall bissen.

Der Schnee knarzte als Lucas ihm nacheilte. »Die hätten wir gewittert.«

Eine Bewegung im Augenwinkel erregte Damians Aufmerksamkeit. Erst jetzt nahm er bewusst das Schlachtfeld um sich herum wahr. Überall färbte Blut den gefrorenen See. Unter den Körpern zweier seiner Brüder, die sich nicht mehr regten, glänzte karmesinrot eine große Lache. Ihm wurde übel. Daher stammte der starke metallische Geruch, der sich wie ein Pelz auf seine Zunge legte und den er mit jedem Atemzug schmeckte.

Keiner kümmerte sich um die Toten, die sich bereits auflösten und zu Staub zerfielen, stattdessen bildeten die Überlebenden eine dichte Traube. Ihre Flügel waren angriffslustig nach hinten gereckt und ihre Gesichter zu furchterregenden Grimassen gezogen. »… der Letzte seiner Blutlinie«, erhob sich eine wütende Stimme über das bedrohliche Knurren, das die Luft zum Vibrieren brachte und Damian die feinen Härchen zu Berge stehen ließ. Er verstand durch das pulsierende Pochen in seinen Ohren nicht alles, doch das, was er verstand, genügte bereits.

»Wenn … jetzt umbringen, …« Der Hass triefte aus den Worten, die Bohdan zornig zischte.

Lucas fluchte, ließ Damian los und war mit wenigen Schritten bei der Gruppe. »Hier wird niemand umgebracht.« Wütend zerrte er die Soumraks auseinander und stieß Bohdan zurück.

Jetzt erkannte Damian den Grund für den Aufruhr. Jaro kniete im Schnee. Der Den achtete jedoch gar nicht auf das bedrohliche Geschehen um ihn herum, sondern hatte seinen besorgten Blick fest auf … »Cas«, stieß Damian erschüttert aus.

So schnell er konnte, eilte er zu Radim, der seine Schwester in den Armen hielt. Sie war viel zu blass und ihr Gesicht von Erschöpfung gezeichnet. Ihre Hände, mit denen sie auf den Schnitt am Hals drückte, waren blutverschmiert, ihre Augen trüb und ihre Lider flatterten, sodass er befürchtete, sie würde jeden Moment das Bewusstsein verlieren.

Was habe ich getan? Die alten Schuldgefühle überrollten ihn. Der Anblick versetzte ihn in die Vergangenheit, als er sie schon einmal beinahe verloren hätte. Auch jetzt trug er die Verantwortung für ihre Verletzung. Hätte er Kasimir sofort die Antworten gegeben, die dieser Bastard von ihm verlangt hatte, wäre es nie so weit gekommen.

Ihre Lippen bewegten sich, aber er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte. In ihrem Blick lag eine verzweifelte Dringlichkeit. Er neigte den Kopf, doch das Dröhnen in seinem Kopf wurde lauter. Ihre Finger krallten sich überraschend fest in seinen Arm, dann ließ der Druck plötzlich nach. Ihre Lider fielen zu und ihr ganzer Leib erschlaffte.

Ein Zittern durchlief seinen Körper und ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten.

Schwer landete eine Hand auf seiner Schulter. »Sie wird wieder gesund, sobald sie schlafen kann«, sagte Lucas zuversichtlich. »Wir sollten alle schlafen, damit wir geheilt sind. Kasimir wird wiederkommen. Mit Verstärkung.« Bei den letzten Worten hob er die Stimme, damit auch die anderen ihn hörten. »Lasst uns daher lieber aufbrechen. Deckt das Blut mit Schnee ab.«

»Ich werde nicht mit ihm gehen«, erklärte Bohdan abfällig und trat Jaro in den Rücken, sodass dieser vornüber in den Schnee kippte. Als der Den versuchte sich aufzurappeln, stellte der Koloss seinen Fuß zwischen seine Schulterblätter und drückte ihn erneut in das glitzernde Weiß. Wie ein Blitz schoss Radim vor, stieß Bohdan mit seinen Flügeln zur Seite und kauerte sich schützend über Jaro. Seine Schwingen durchschnitten geräuschvoll die Luft, als er sie zu ihrer vollen Spannweite aufschlug, um auch die anderen auf Abstand zu halten, während Jaro sich aufrichtete. Dass Radim dadurch Cas, die immer noch in seinen Armen lag, in die Nähe kampfbereiter, zorniger Wächter brachte, gefiel Damian kein bisschen.

»Du stellst dich auf seine Seite?«, echauffierte sich Bohdan und verzog angewidert den Mund.

»Ich kann euch helfen«, bemerkte Jaro und klopfte sich energisch den Schnee aus der Kleidung.

»Wie willst du uns helfen, Den?« Abwertend musterte Bohdan ihn von Kopf bis Fuß.

»Ihr braucht jemanden, der über euren Schlaf wacht.« Entschlossen reckte Jaro das Kinn nach vorn und sah den Soumrak herausfordernd in die Augen.

»Etwa du?« Bohdan stieß ein abfälliges Lachen aus, das sofort wieder verstummte. »Sobald wir schlafen, wirst du uns zerstören.« Er wandte sich an Lucas und sah dann der Reihe nach die umstehenden Wächter an. »Ich bin immer noch der Ansicht, wir sollten ihn töten.« Zustimmendes Gemurmel brandete auf.

Jaros Kiefermuskeln zuckten und er ballte die Hände zu Fäusten. Wütend trat er einen Schritt auf Bohdan zu. Damian hielt ihn fest.

Entschieden schüttelte Lucas den Kopf, stellte sich demonstrativ vor sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn wir ihn jetzt töten, sind wir nicht besser als sie.«

Bohdan bleckte die Zähne und fauchte ungehalten. »Denkst du wirklich so würde sich jemals etwas für uns ändern? Wenn wir ihn jetzt nicht töten, wird er uns irgendwann genauso versklaven wie Kasimir. Das hier ist seit Jahren unsere erste wirkliche Chance auf Freiheit.«

»Freiheit oder Rache?«, fragte Lucas herausfordernd. »Wir lassen ihn gehen.«

Ein tiefes Grollen kam aus Bohdans Brustkorb. Dicht baute er sich vor Lucas auf und sah ihn mit entschlossener Miene an. »Du warst doch derjenige, der uns seit Jahren auf diesen Tag vorbereitet hat. Du hast uns ermutigt diesen riskanten Weg zu gehen, der uns unser Leben kosten könnte. Du hast diesen Plan ausgeheckt. Und jetzt? Jetzt willst du auf einmal kneifen? Nur um diesen verwöhnten Bengel zu retten? Er ist ein Den!«

Ungehalten schob Lucas den Kiefer vor und streckte sich ihm entgegen, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten. »Du würdest seinen Wächter genauso zum Tode verurteilen.« Die Luft vibrierte regelrecht vor unterdrückter Aggression.

Bohdan schnaubte. »Zwei Leben sind ein geringer Preis für unsere Freiheit, wenn man bedenkt, was wir in der Vergangenheit für die Den opfern mussten.« Erneut erntete er zustimmendes Gemurmel.

»Wir sollten Radim sich dazu äußern lassen. Immerhin ist es sein Leben«, schlug Damian beschwichtigend vor.

»Kasimir hat ihm und Cassandra verboten mit uns zu kommunizieren«, erklärte jemand mit einem wütenden Knurren. Und dieser Befehl würde erst erlöschen, sobald die beiden schliefen.

»Wer weiß, was in Rumänien geschehen ist und wir nicht erfahren dürfen«, empörte sich ein anderer.

»Wahrscheinlich steht er jetzt auf ihrer Seite, wie Pavel und Dusan«, bemerkte Bohdan zornig.

Damians Herz setzte einen Schlag aus. Aus Rumänien kehrten nur die wenigsten seiner Art zurück. Bisher wusste er nur von einem weiteren Wächter, außer Pavel und seiner rechten Hand, der die Reise dorthin überlebt hatte. Seinem Vater. Nur wenige Tage nach einer solchen Reise, war er tot gewesen, seine schlafende Gestalt in tausend Stücke zerschmettert.

Die Erinnerung daran wühlte Damian noch mehr auf. Das Gefühl der Dringlichkeit wurde stärker. Drohend knurrte er. »Wir verschwenden nur Zeit. Wir sind alle angeschlagen. Cassandra ist schwer verletzt. Sie braucht Schlaf.«

Jaros Hand zuckte in ihre Richtung, doch er ließ sie nach einem Blick in Radims düstere Miene wieder fallen und ballte sie zur Faust. »Damian hat recht. Wir sollten endlich los.«

»Du hast uns gar nichts zu sagen!« Als Bohdan sich erneut auf den Den stürzen wollte, hielt Lucas ihn zurück, indem er ihm die flache Hand auf die Brust drückte. »Nicht jetzt. Das klären wir unterwegs. Wir gehen!«, befahl er.

»Dann ohne mich«, grollte Bohdan und verschränkte widerspenstig die Arme vor der Brust, während Radim, Jaro und auch einige der anderen sich bereits Richtung Süden gewandt hatten. Allerdings nicht alle. Vier Wächter gesellten sich zu Bohdan.

Genervt stieß Lucas die Luft aus. »Seid doch vernünftig. Wir dürfen uns nicht trennen. Das Risiko ist zu hoch, dass wir erneut auf Kasimir treffen. Je weniger wir sind, desto eher bekommt er uns alle wieder unter seine Kontrolle.« Wütend starrte er Bohdan in die Augen und bleckte drohend die Zähne. »Außerdem sind Nocs in der Gegend.«

Seine Worte lösten Unruhe aus. »Das ist unmöglich. Die hätten wir gewittert.«

»Ich habe ihre Spur verloren, kurz bevor ihr mich gefangen genommen habt«, erklärte Damian.

Unsicher tauschten die anderen vielsagende Blicke aus. Offensichtlich kamen sie zu der Entscheidung, dass es unter den gegebenen Umständen tatsächlich sinnvoller wäre, sich der Gruppe Wächter anzuschließen, die bereits vorausgegangen war. Erleichtert atmete Damian auf, als sie den anderen humpelnd folgten.

Mürrisch fügte sich auch Bohdan. »Du machst einen Fehler«, sagte er an Lucas gewandt, bevor er an ihm vorbeiging und ihn mit seiner Schulter zur Seite drängte.

Lucas ließ seine Worte unbeantwortet im Raum stehen, trat an Damians Seite und schlang sich seinen Arm um die Schultern um ihn zu stützen. »Du hättest nicht warten sollen.«

Damian spürte wie angespannt er war. »Du bist wütend.«

»Aber nicht auf dich, mein Freund.«

»Das ist mir bewusst.« Auch wenn er der Meinung war, dass Lucas allen Grund dazu hatte. Immerhin waren sie in dieser Situation, weil er mit Phee geflohen war.

Geräuschvoll ließ Lucas die Luft aus seinen Lungen entweichen. »Ich kann ihn verstehen. Marek war sein Freund und Jaros Witterung hing noch in der Luft, nachdem dieser kurz zuvor vom Dach gestoßen worden war.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich einem Den – ausgerechnet diesem Den – gerade das Leben gerettet habe.«

Damian folgte seinem Blick zu dem blonden jungen Mann, der neben Radim her schritt. Immer wieder wandte Jaro den Kopf in dessen Richtung, doch er achtete gar nicht auf seinen Wächter, sondern betrachtete die bewusstlose Gestalt in dessen Armen. Mehrfach hob er seinen Arm, zögerte und ballte die Hand zur Faust.

In Damians Innerem baute sich Widerstand bei seinem Anblick auf. Eine stumme Wut, die sich gegen Jaro richtete. Noch immer saß der Stachel der Eifersucht in seinem Fleisch, der ihn dazu getrieben hatte den Den anzugreifen, als dieser Phee geküsst hatte. Die Wurzel seines Grolls, reichte jedoch sehr viel tiefer. Immerhin trug der Den eine Mitschuld daran, was Cas damals zugestoßen war. Die Erinnerungen ließen den alten Zorn wieder aufflammen.