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Um der fürsorglichen Mutter zu entkommen, macht Nasira (16) eine Sprachreise nach England. Aus geplanten drei Monaten werden zwei Jahre. Nach ihrer Rückkehr ist sie nicht mehr dieselbe, langjährige Freundschaften zerbrechen. Dem schwulen Tänzer und Choreograph Mike läuft sie förmlich in die Arme und erfährt die magische Verbundenheit zu einem völlig fremden Menschen. Sie zieht in das frei gewordene Zimmer seiner WG. Die anderen Mitbewohner sind Medizinstudent Tim, BWL-Studentin Sylvia und der angehende Physiker Frank. Nasira, hoffnungslos verliebt, kämpft um Mikes Zuneigung und gibt sich die Schuld, als er tödlich verunglückt. Um Abstand zu gewinnen, fliegt Nasira erneut nach England, wo ihr ein junger Mann begegnet, der Mike zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie glaubt an eine schicksalhafte Fügung und verrennt sich in die Idee, einen Toten auferstehen zu lassen. Was sie anzettelt geht gründlich schief und ist die Fortsetzung eines rastlosen Lebens, mit Tim und Frank als Wegbegleiter. Viele Jahre später erreicht sie ein verloren gegangener Brief, der ihren ewigen Traum, lange Zeit verschüttet, wie eine Seifenblase zerplatzen lässt. Schauplätze sind: München, England, Schottland, Französisch Guyana und Kenia
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1 – Der lang ersehnte Brief
Kapitel 2 – Die Vorfreude
Kapitel 3 – Schottland
Kapitel 4 – Ein schlechter Scherz des Schicksals
Kapitel 5 – Bloß nicht zu viel des Guten
Kapitel 6 – Kategorie 'Mann'
Kapitel 7 – Gänsehautgefühle
Kapitel 8 – Weck mich nicht auf, ich träume
Kapitel 9 - Mike
Kapitel 10 – Die Liebe bleibt
Kapitel 11 – Pommes, Bier und Seelenquatsch
Kapitel 12 – Wer macht den Abwasch
Kapitel 13 – Fehlgedeutet
Kapitel 14 – Vater und Tochter
Kapitel 15 – Das unselige Malheur
Kapitel 16 – Frank
Kapitel 17 – Der Abenteuertrip
Kapitel 18 – So was wie eine Liebeserklärung
Kapitel 19 – Katzenjammer
Kapitel 20 – Tim
Kapitel 21 – Weiße Folter
Kapitel 22 – Gefühle lassen sich nicht steuern
Kapitel 23 – Ist ewig her
Kapitel 24 – Die versteckte Botschaft
Kapitel 25 – Ich schicke dir eine Feder
Olia Linnet
Stör meine Träume nicht
Roman
Buchbeschreibung:
Um der fürsorglichen Mutter zu entkommen, macht Nasira (16) eine Sprachreise nach England. Aus geplanten drei Monaten werden zwei Jahre. Nach ihrer Rückkehr ist sie nicht mehr dieselbe, langjährige Freundschaften zerbrechen.
Dem schwulen Tänzer und Choreograph Mike läuft sie förmlich in die Arme und erfährt die magische Verbundenheit zu einem völlig fremden Menschen. Sie zieht in das frei gewordene Zimmer seiner WG. Die anderen Mitbewohner sind Medizinstudent Tim, BWL-Studentin Sylvia und der angehende Physiker Frank.
Nasira, hoffnungslos verliebt, kämpft um Mikes Zuneigung und gibt sich die Schuld, als er tödlich verunglückt. Um Abstand zu gewinnen, fliegt Nasira erneut nach England, wo ihr ein junger Mann begegnet, der Mike zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie glaubt an eine schicksalhafte Fügung und verrennt sich in die Idee, einen Toten auferstehen zu lassen. Was sie anzettelt geht gründlich schief und ist die Fortsetzung eines rastlosen Lebens, mit Tim und Frank als Wegbegleiter. Viele Jahre später erreicht sie ein verloren gegangener Brief, der ihren ewigen Traum, lange Zeit verschüttet, wie eine Seifenblase zerplatzen lässt.
Schauplätze sind München, England, Schottland, Französisch Guyana und Kenia.
Impressum:
Texte: © Copyright by Olia Linnet
Umschlaggestaltung: © Copyright by Olia Linnet
Olia Linnet
c/o M. Schäfer
Hahnenrückstr. 51
D-55743 Idar-Oberstein
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Eine Vierklang-Melodie beendete Nasiras Traum just in dem Moment, als ihr ein Unbekannter ein Bündel Geldscheine in die Hand drückte. Was ihn zu der Großzügigkeit veranlasste, war mit dem ersten Augenaufschlag in Vergessenheit geraten. Mit einem müden Blinzeln schaute Nasira auf die rote Digitalanzeige der Weckuhr, streckte den Arm aus und schaltete auf stumm. Energisch warf sie sich herum und zog die Bettdecke halb über den Kopf, als es erneut klingelte. Nasira produzierte einen stimmhaften Seufzer, warme Atemluft hüllte ihr Gesicht ein. Sie schlug die Decke zurück und richtete sich halb auf. Nicht der Wecker war der Schlafräuber, sondern die Türklingel. Nur wer um alles in der Welt besaß die Frechheit...! Sie erschrak beim zweiten Blick auf die Uhr. „Verdammter Mist“, fluchte sie in der Annahme verschlafen zu haben. Sie sprang aus den Federn, lief zum Fenster und zog das Rollo hoch. Unten überquerte der Briefträger die Straße und verteilte die Post in den Briefkästen des gegenüberliegenden Neubaus.
Ein Gedanke durchzuckte Nasira, der sie froh stimmte und den sie sogleich abschüttelte. „Hör auf damit!“, schallt sie sich. „Hör endlich auf zu glauben, es könnte je passieren.“ Als ob je etwas passierte, das gute Laune machte, fuhr sie im Geiste fort. Was außer Werbeblättchen, Rechnungen und Bankauszüge würde sie im Briefkasten vorfinden, das das Öffnen wert war!? Nichts und absolut nichts!
Nasira kippte das Fenster, schlug die Bettdecke zurück, strich das Laken glatt und trottete lauthals gähnend ins Bad. „Jetzt bloß nicht in Hektik verfallen“, heiterte sie ihr Spiegelbild auf. „Auf ein paar Minuten mehr kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ Sie zog das Nachthemd aus – ein zweckentfremdetes Herrenshirt – und hängte es an die Türklinke. Ihr lag die traditionelle Nachtwäsche nicht. Entweder kratzten die Mischgewebe oder sie fühlten sich beim Nachtschwitzen unangenehm an. Die Seidenstoffe rutschten hoch, bei sommerlichen Temperaturen fühlte man sich wie von Frischhaltefolie umwickelt.
Nasira ließ knöchelhoch Wasser in die Wanne laufen, warf den Waschlappen hinein und stellte den Seifenspender auf den Rand. Bis vor kurzem noch hatte sie die Dusche vorgezogen und sich von einem Tag auf den anderen für die Badewanne entschieden. Sie schwang das linke Bein über den Rand und als ihr Fuß und Temperaturfühler sein Okay gab, setzte sie sich hinein. Sie seifte den Waschlappen ein, dann sich, zog den Stöpsel und brauste sich kalt ab. Das Wasser verschwand glucksend im Abfluss.
Mehr Zeit ließ sich Nasira für die Pflege mit Rosenöl, das sie sich in die tropfnasse Haut rieb, und bei der Suche nach Makel. In der linken Kniekehle entdeckte sie Besenreiser und auch über dem rechten Fußknöchel. Sogar auf der Brust, winzig klein nur, sah aus wie ein Fusel. Sie kratzte daran, als ließe er sich entfernen. So fängt's an, dachte sie. Kleine rote und blaue Äderchen, zunehmend ausbreitend und zu einem ernsthaften kosmetischen Problem ausartend. Hoffentlich blieben ihr größere Geflechte erspart, wie sie die Mutter oberhalb beider Fersenbeine und an den Schenkelinnenseiten hatte; erinnerten an Flussverzweigungen oder an das Wirrwarr eines Schnittmusters. Dann, beim Zähneputzen, sah Nasira aus den Augenwinkeln heraus ein Aufblitzen in der geriffelten Fensterscheibe. Das Licht der Sonne hatte sich in den Fassetten des Glases gebrochen, das vom Spiegel reflektiert wurde und wie ein gleißender Minikomet aufgetaucht und verglüht war. Ein kosmisches Zeichen, eindeutig.
Nasira spuckte aus, stellte das Zahnputzzeug zurück auf die Ablage und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Sie schlüpfte in den Frotteemantel, schnappte sich den Schlüssel und lief ins Erdgeschoss. Das Schloss am Briefkasten klemmte. Nasira steckte die Finger durch die Einwurfklappe und drückte dagegen. Das Türchen sprang auf, die Post flog ihr entgegen, als hätte sie es eilig, gelesen zu werden. Sie überflog die Absender der Zuschriften, als ihr mit einem Mal der Atem stockte und die Schrift vor ihren Augen verschwamm. Kann nicht sein!
Nasira wurde heiß, im Kopf rauschte es. Das träumte sie nur! Sie schaute reihum. Da war die Haustür, die Treppe, der Abstreifer, die tiefen Kratzer in der Wand und sie im angegrauten Bademantel und Schlappen vor den Briefkästen. Sie schlug sich auf die Wange, rechts, links und begrüßte den Schmerz. Ihr Verstand spielte ihr keinen Streich. Tatsächlich und ganz real hielt sie diesen einen Brief in Händen, auf den sie so lange gehofft hatte. Nasira ließ alles andere zu Boden segeln, holte Luft und entließ einen spitzen Schrei, der durchs ganze Haus hallte.
Zwölf Jahre zuvor!
Die mittlere Reife war geschafft, ein dreimonatiger Sprachkurs in London lag vor ihr. Nasira sehnte den Tag herbei und schnitt für jeden der um war einen Zentimeter am Maßband ab, das sie mit einer Sicherheitsnadel an den Hosenschlaufen befestigte. Grönland wäre auch okay gewesen oder die Mongolei. Hauptsache weit weg von der Mutter, zu der sie von jeher ein kompliziertes Verhältnis hatte. Weil ständiges Nörgeln Teil ihrer Persönlichkeit war und auch übersteigerte Fürsorge, die schon Bruder Max und den Vater aus dem Haus getrieben hatten. Hamster, Meerschweinchen und Wellensittich sogar in den Tod, die wegen falscher Ernährung frühzeitig verendet waren.
Max hatte mit zweiundzwanzig das Weite und seinen Platz in der Welt gesucht. Vater Eberhard hatte sich nach vierundzwanzig Ehejahren getrennt. Freunde, Bekannte und Nachbarn hatten ihm Torschlusspanik angedichtet, Hormonstau et cetera. Nasira wusste es besser.
Die Scheidung war zur Schlammschlacht geworden. Selbst großzügiger Unterhalt und Zugewinnausgleich in fünfstelliger Höhe konnten nicht den Hass auf den Noch-Ehemann schmälern, dem die Mutter täglich neue Nahrung gab.
Über alle Maßen erleichtert, das Loch erwischt zu haben, lebte Nasira in der Weltstadtmetropole an der Themse auf. Selbstbestimmung, Unbeschwertheit und ein Gefühl von Leichtigkeit führten noch vor Abschluss des Sprachkurses zu dem Entschluss zu bleiben, ohne sich zeitlich festzulegen.
Die Mutter erfuhr davon am Telefon. Gekränkt und verärgert wartete sie mit haltlosen Argumenten auf, die Tochter umzustimmen und drohte sogar mit rechtlichen Schritten. „Du bist noch keine achtzehn. Ich habe die Aufsichtspflicht und werde verantwortlich gemacht, wenn dir was zustößt.“
„Passieren kann mir überall was“, wusste Nasira.
„Wenn ich sage, du kommst heim, dann kommst du heim!“, erwiderte die Mutter herrisch. „Wir diskutieren das hier aus, von Angesicht zu Angesicht.“
„Ich habe als Jugendliche das Recht auszuziehen, wenn ich die Notsituation begründen kann.“
„Notsituation?“ Die Mutter schrie fast. „Und die ist wie begründet?“
„Du versuchst jeden mit deinen Wahrheiten zu manipulieren. Bei sensiblen Menschen wie mich führt das langfristig zur Selbstentwertung. Ich lasse mich nicht länger auf dein Spiel ein, denn...“
„Spiel? Nasira, ich glaube, der Smog dort vernebelt dir die Sinne. Ich erkenne dich nicht wieder.“
„Wenn du den englischen Nebel meinst...“
„Genau den meine ich. Daran sind haufenweise Leute gestorben.“
„Das war in den 50ern. Die Londoner Luft ist nicht schlechter als die in München. Und es regnet hier auch nicht ständig, wie allgemein behauptet wird.“ Nasira hatte keine Lust weiter zu debattieren und legte mit einem 'Tschüss!' auf.
Eine Agentur vermittelte Nasira als Kindermädchen zu den Hubbards. Das Paar hatte zwei Söhne: quicklebendige Racker im Alter von sechs und acht Jahren, die die deutsche Nanny umgehend in ihr Herz schlossen und umgekehrt.
Den Hubbards gehörte neben einem Haus im Stadtviertel Bloomsbury, das sich seinen dörflichen Charakter im Zentrum Londons bewahrt hatte, auch ein Cottage auf dem Land, wo die Familie die meisten Wochenenden und Kurzferien verbrachte. Dort entflammte auch in Nasira die Liebe für das ursprüngliche England mit einem verbindenden Empfinden, Teil eines Jahrhunderten alten Märchens zu sein. Zwei Jahre vergingen viel zu schnell, der Abschied von Land und Leute fühlte sich an wie loseisen aus einer wohligen Umarmung.
Das Anknüpfen an das alte Leben war ernüchternd. Das Umfeld, die Menschen und ihre Sicht auf das Leben waren nicht länger kompatibel mit ihrer Philosophie. Nasira war reifer und nachdenklicher geworden, ihrem Alter um Jahre voraus.
Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr mietete Nasira eine Einraum-Altbauwohnung in München/Bogenhausen. Vater Eberhard, mit seiner neuen Frau mittlerweile nach Holland
verzogen, steuerte zum Unterhalt bei und verhalf der Tochter auch zu einer Stelle als Schreibkraft in einem 5-Sterne-Hotel in der Maximilianstraße. Der Direktor, ein alter Spezi, tat ihm gern den Gefallen. Wieder kämpfte Mutter Marga mit Trennungsschmerz. Die Angst vor dem Alleinsein und nicht mehr gebraucht zu werden machten ihn aus. Vorgebrachte Argumente, die nicht immer ganz der Wahrheit entsprachen, ließ Nasira an sich abprallen.
„Man könnte meinen, du fliehst vor mir“, sagte Marga, als die Tochter den letzten Karton für den Abtransport packte.
„Stell dir vor, genauso ist es!“
„Aber warum denn bloß?“
„Wie oft musst ich es noch sagen? Ich möchte morgens furchtlos aufstehen, unverkrampft frühstücken und mich frei bewegen können, ohne vollgelabert oder verfolgt zu werden.“
Marga zeigte sich bestürzt. „Gütiger Himmel, wo verfolge ich dich?“
„Überall hin, auch bis aufs Klo! Ständig willst du was von mir oder fragst mir Löcher in den Bauch. Du machst sogar die Beschaffenheit meiner Kacke zum Thema. Das muss man sich mal vorstellen!“
„Weil Farbe und Konsistenz entscheidend sind“, sagte Marga lehrmeisterhaft. „Krankheiten sitzen gerne im Darm, Auffälligkeiten lassen sich oft schon im Stuhl erkennen.“
„Wenn mein Darm verrückt spielt, dann weil du mich krank machst.“ Die ansteigende Wut, längst Dauerzustand im Umgang mit der Mutter, brachte Farbe auf Nasiras Wangen. „Du kapierst es nicht! Alle wenden sich von dir ab und schuld sind immer die anderen. Ich will mein eigener Herr sein, leben wie ich es mag und wenn ich es von früh bis spät krachen lasse. Ohne mir Sticheleien anhören zu müssen und befreit von Schuldgefühlen, die du mir einredest.“
„Du bist ja ganz rot im Gesicht. Hast du Fieber?“
Nasira wich zurück, als die Mutter ihre Temperatur fühlen wollte. Mit einem Aufschrei schob sie Marga aus dem Zimmer und knallte die Tür.
Mit verschränkten Armen und einen Fuß über den anderen gekreuzt, lehnte Marga am Türrahmen zur Küche. Nasira lief hin und her und stapelte die Kartons im Hausflur. „Ich hoffe, du findest deinen Frieden in dem Loch, das sich Wohnung nennt“, sagte Marga mit einem gewissen Unterton.
„Garantiert“, erwiderte Nasira bissig und brachte den ersten Kartons runter.
„Soll ich tragen helfen?“, bot sich Marga an, als Nasira zurück war.
„Nein, das schaffe ich gerade noch.“ Als der letzte Karton im Auto verstaut war, fiel alle Last von Nasira ab.
„Ruf an, wenn du angekommen bist“, rief Marga aus dem Fenster.
„Ich wandere nicht aus, ich ziehe nur in einen anderen Stadtteil um.“ Nasira stieg ein und ließ den Motor aufheulen.
Das große Aufatmen setzte sich mit dem Aufschließen der Wohnungstür fort. Von Glücksgefühlen berauscht tanzte Nasira durch die Räume und blickte positiv in die Zukunft. Der Neustart schien perfekt mit der eigenen Bude und einem passablen Job. Allein über die Freunde kam Nasira ins Grübeln. Etwas Entscheidendes passte nicht mehr. Ihr Weltbild hatte sich verändert, ihre Wertvorstellung war über ein Maß hinausgewachsen, das die Freunde nicht annähernd erreichten. Deren unreifes Verhalten machte es um so deutlicher, wie groß die Kluft geworden war. Nasira nahm die Spezln, ehemalige Schulkameraden, genauer unter die Lupe, legte Stärken und Schwächen der so unterschiedlichen Charaktere auf die Waagschale und streckte die Grenzen ihrer Toleranzbereitschaft neu ab.
Rita, die sich gern exponierte um zu provozieren, konnte bei kritischer Hinterfragung schon mal verletzend werden. Sie litt unter Kaufsucht und zog Klamotten selten zweimal an. Haarfarbe und -schnitt änderte sie mit jeder neuen Eroberung. Sie beließ es zumeist bei heißen Flirts. Rita liebte das Spiel mit dem Feuer, der Sex in seiner Vollendung aber war für sie bedeutungslos. Nur wenige kannten die sensible Rita, die hoffnungslose Romantikerin, die bei Bambis Neuverfilmung heulend aus dem Kino rannte. Sie hatte das Herz am rechten Fleck. In entscheidenden Momenten konnte man sich zu hundert Prozent auf sie verlassen.
Die dickliche Conny, mit einem runden hübschen Gesicht und langen blonden Haaren, hatte seit der zweiten Klasse mit Nasira die Schulbank geteilt. Sie war der Klassenclown gewesen und noch heute verbreitete sie gute Laune. Conny war klug, in praktischen Dingen jedoch unbeholfen, was in jedem das Helfersyndrom weckte. Ihre Leidenschaft war essen, fett und kalorienreich. Ihre Zellen führten ein Eigenleben und wuchsen wohin sie wollten, vermehrt auch dort, wo es unansehnlich war. Und obwohl sie gerne schlanker wäre und sich nach einer festen Partnerschaft sehnte, war Sport oder der Verzicht auf Fastfood und Süßigkeiten keine Option.
Carmen war unkompliziert und anpassungsfähig; durchschnittliches Aussehen, durchschnittliche Intelligenz. Sie machte alles, was von ihr verlangt wurde, solange sich für sie daraus kein Nachteil ergab. Seit ihrem ersten Mal mit dreizehn bestimmte der Sex Carmens Leben. Als bekennende Nymphomanin führte sie ein Liebestagesbuch. Darin aufgelistet Namen und Telefonnummern ihrer Lover, sowie intime Details, durch Noten bewertet. Nur einer hatte es auf eine Eins mit Stern gebracht: ein 56-jähriger Frührentner und einstiger Pornodarsteller.
Philipp, heißblütig und eitel, war klug wie Einstein und übernahm gerne die Führungsrolle, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Rita und Carmen waren seinem Charme erlegen. Sie hatten sich auf eine kurze Affäre mit ihm eingelassen und es im Nachhinein bereut. Nasira war sich für diesen oberflächlichen Aufreißer zu schade gewesen. Dass sie ihn hatte abblitzen lassen, trug Philipp ihr lange Zeit nach.
Der eher schüchterne Wolfgang kopierte Philipp in Aussehen und Verhalten nahezu perfekt, sodass sich die beiden in der Disco bei diffusem Licht nur anhand einer Fehlstellung des linken Schneidezahnes Wolfgangs unterscheiden ließen.
Wie sehr sich Nasira verändert hatte und zu einem Teil mit Ecken und Kanten geworden, das so nicht mehr ins Puzzle passte, entging den Freunden nicht. Entgegen zu früher und ohne lang zu diskutieren setzte sich Nasira durch und sagte entschieden Nein, wenn jemand selbstsüchtig über sie bestimmen wollte. Ein Wesenszug, der allgemein für Irritation sorgte. Auch darum kam es vermehrt zum Streit.
Der Wunsch, sich aus dem Freundeskreis zu lösen loderte in Nasira, der Prozess der Trennung war langsam aber unaufhaltsam. Den schrittweisen Rückzug verstanden die anderen als offenkundige Kampfansage und es kam wie es kommen musste. Rita kündigte ihr als erstes die Freundschaft. Eine Meinungsverschiedenheit, zu einem Drama aufgebauscht, war der Auslöser gewesen. Tage später kam es zum Zerwürfnis mit Philipp und Wolfgang und schließlich auch mit Carmen und Conny, die Rita auf hinterhältige Art auf ihre Seite zog. Nasira nahm den Bruch gleichmütig hin, sie hatte auf allen Ebenen darauf hingewirkt.
Es wurde ruhig in ihrem Privatleben. Nasira war sich selbst genug und pflegte mit einer Ausnahme nur oberflächliche Bekanntschaften. Oftmals, wenn das allabendliche Glas Wein und das Betrachten der Fotos aus der Zeit in England sie melancholisch werden ließ, reifte der Entschluss, dorthin zurückzukehren.
„N'Morgen, Nasira. So früh schon auf?“ Sportstudent Manfred, dem man nicht ansah, dass er Sport trieb und der in der Wohnung über ihr wohnte, kam die Holztreppe heruntergepoltert. „Muss ja irrsinnig wichtig sein. Hast du gerade so geschrien?“
„Hi, Manni. Nein, ich doch nicht“, sagte Nasira todernst. „Warum sollte ich schreien!?“ Sie hob die Post auf und zurrte den Gürtel fester um die Taille. Wie sie aussah! Hätte sie wenigstens Leggings angezogen und sich einen Pulli übergeworfen. „Wieso überhaupt früh? Ich komme zu spät zur Arbeit. Aber diesmal richtig. Heißt, keine Mittagspause und womöglich Überstunden.“
Manni warf die Sporttasche über die Schulter. „Arbeitest du neuerdings auch samstags?“
„Hä?“ Nasira schlug sich auf die Stirn. „Mensch, bin ich doof! War total auf Freitag fixiert. Wieso klingelt samstags mein Wecker!? Hat er nicht! War die Türklingel. Bloß gut, dass ich dich getroffen habe, sonst wäre ich...! Ach und...! Auch wenn du mich eben zum glücklichsten Menschen des heutigen Tages gemacht hast...“
„Immer wieder gern“, warf Manni zwinkernd ein und marschierte Richtung Haustür.
„Ich war noch nicht fertig“, beeilte sich Nasira.
„Ich weiß.War wieder laut gestern, ne?“
„Man kann eine Mietwohnung nicht als Turnhalle zweckentfremden. Ich hatte Angst, die Decke kommt runter.“
„Die halten noch was aus“, sagte Manni.
„Ich aber nur bedingt.“
„Verspreche mich zu bessern. Muss los. Servus!“
„Dito!“ Nasira verriegelte den Briefkasten und rannte rauf. Vor lauter schnell, schnell flutschte ihr die Klinke durch die Finger, die Tür flog mit Karacho ins Schloss. Sie zog den Kopf ein und murmelte eine Entschuldigung für jedermann im Haus.
Harndrang siegte über das Verlangen, den Brief sofort und umgehend zu öffnen. Er wanderte in die ausgeleierte und seitlich eingerissene Manteltasche. Die restliche Post legte Nasira aufs Schuhschränkchen im Flur. Sie ging ins Bad, raffte den Frotteemantel über die Hüften und machte Pipi, das anders klang als sonst. Kein lautes Pullergeräusch, eher ein sanftes, fast lautloses Rieseln. Nasira schaute nach. Ein Gürtelende hing in der Schüssel, vollgesogen mit Urin. Umständlich und einen Fluch ausspeiend zog sie das andere Ende durch die Laschen und spülte den Gürtel kurzerhand mit runter. Sie wusch sich die Hände, ging ins Wohnzimmer und setzte sich mit angezogenen Beinen in den Sessel. Sie holte das Kuvert hervor und hielt es grundlos ins Gegenlicht.
„Warum?“, wunderte sich Nasira laut und ließ den Arm sinken. „Warum nach so langer Zeit?“ Sie las den Poststempel, als ob darin die Antwort lag. Wieso hatte er sich vier Jahre Zeit gelassen? Was gab es jetzt noch zu sagen!? „Lies ihn und du wirst es wissen. Und egal was drin steht...!“
Neben ihr klingelte das Telefon. Nasira hob nach kurzer Überlegung ab und stöhnte leise, als sich Moni meldete. Wäre sie bloß nicht rangegangen! Sie lehnte sich zurück und lauschte dem Gebabbel über die Resonanzen einer Bekanntschaftsanzeige, zu der Nasira die Freundin genötigt hatte. Damit das Gejammer um das Single-Dasein und das starke Verlangen nach Sex der Vergangenheit angehörten. Herbstblatt wartet auf Pustewind für den Flug ins Glück, hatte es im Text geheißen. Eine unmissverständliche Botschaft mit dem gewünschten Erfolg, wie es schien.
Monika war eine 42-jährige Junggebliebene, die das Leben liebte und in vollen Zügen auskostete.
Beide Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen, als Nasira Monika im Schreibpool des Hotels unterstellt wurde. Mit Fleiß und Engagement hatte sich die gebürtige Schlesierin, die in Sachsen aufgewachsen war, von der Küchenhilfe zur zweiten Sekretärin hochgearbeitet. Als selbsternannte Betriebsrätin machte sie sich zudem für die Belange der Belegschaft stark. Moni war gewieft, robust und immer positiv. Nichts ist so schlimm, als dass es nicht auch für was gut ist, lautete ihr Motto. Selbst zu DDR-Zeiten, als sie wegen versuchter Republikflucht hochschwanger mit ihrem zweiten Kind ins Gefängnis wanderte, waren Optimismus und eine große Portion Humor Garanten für einen guten Ausgang. Ein Fluchthelfer sollte die Familie über Ungarn und Österreich in den Westen bringen. Er kassierte ab und lieferte sie an den Staatssicherheitsdienst aus. Der Traum von Freiheit war geplatzt, die Ersparnisse futsch, das wenige Bargeld konfisziert. Der 3-jährige Clemens kam zu den Großeltern, was nicht selbstverständlich war. Kinder mit weniger Glück kamen ins Heim oder wurden zwangsadoptiert. Noch während der Untersuchungshaft brachte Monika Sohn Norbert zur Welt. Tags darauf wurde sie dem Haftrichter vorgeführt, der sie im Eilverfahren zu einem Jahr Freiheitsstrafe verdonnerte. Gatte Lothar bekam zwei Jahre aufgebrummt. Das Urteil war der Auslöser für eine psychische Störung.
Mutter und Kind kamen in das Frauengefängnis nach Berlin. Während Monika Anstaltskleidung nähte, Decken webte und Kerzen drehte, wurde ihr Sohn in der Kinderkrippe versorgt. Monis sonniges Gemüt übertrug sich auf Mithäftlinge und Wachpersonal, das bei Sonderwünschen auch mal ein Auge zudrückte. Eine Wärterin aber – ein Mannweib mit Oberlippenbärtchen und Speichel in den Mundwinkeln, die sich mit Leibesvisitationen Befriedigung verschaffte – ließ sich von der 'aufgeräumten' Moni nicht beeindrucken und ließ wegen kleinster Vergehen den Knüppel sprechen.
Nach ihrer Entlassung kam Monika bei den Eltern in Leipzig unter, später auch ihr Mann. Um wieder auf die Beine zu kommen und unabhängig zu sein, war sich Lothar für keine Arbeit zu schade.
Fünf Jahre später, nur wenige Tage vor dem zweiten geplanten Fluchtversuch, wurde die Familie von jetzt auf gleich und ohne Angabe von Gründen in die BRD abgeschoben; mittellos und nur mit dem, was sie am Leib trugen. Nach zwanzig Tagen in einer Zwischenunterbringung zog die Familie in eine Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand Münchens um. Das Paar fand schnell Arbeit, doch die Freiheit im goldenen Westen verlor schnell an Glanz. Der psychisch angeschlagene Lothar verfiel der Kaufsucht und verprasste das Geld auch in Kneipen und Bordellen. Als Monika mit Trennung drohte, gelobte er Besserung und machte doch im alten Stil weiter. Um frei in seinen Entscheidungen zu sein, verließ er schließlich Frau und Kinder. Lothar stürzte sich von einer Beziehung in die nächste und wechselte binnen drei Jahren viermal die Arbeitsstelle, weil er nach durchzechten Nächten dem Stress und den Anforderungen nicht gewachsen war.
Monika reichte die Scheidung ein.
Als Lothar dauerhaft arbeitslos wurde und Geld knapp war, blieben auch die Frauen weg. Er vertrank die Stütze und war Dauergast in Spielkasinos. Am sozialen Abgrund bat er Monika reumütig um eine letzte Chance, die sie ihm in Absprache mit ihren Söhne verwehrte. Um sie umzustimmen, war dem Gescheiterten nichts peinlich. Lothar schlief auf dem Abstreifer vor ihrer Wohnungstür, passte sie beim Einkaufen ab oder wartete stundenlang vor dem Hotel, das Moni nur noch über die Tiefgarage verließ. Er machte Telefonterror, kritzelte Beteuerungen auf Verkehrsschilder oder Plakatwände und sang volltrunken Liebeslieder vor Monis Schlafzimmerfenster. Viermal in Folge rückte die Polizei an und jedes Mal landete der Troubadour in der Ausnüchterungszelle.
Wegen angehäufter Mietschulden flatterte Lothar die Räumungsklage ins Haus, ihm drohte die Obdachlosigkeit. In seiner Ausweglosigkeit verschaffte er sich Zugang zu Monis Keller und erhängte sich am Abwasserrohr. Sohn Clemens fand ihn. Den Freitod des Vaters nahm er gleichgültig hin, ebenso Monika, der weiterer Ärger und die Scheidungskosten erspart blieben. Sie stürzte sich in die Arbeit und erklomm die Erfolgsleiter. Alles lief bestens, nur ein spendabler Mann mit Zweitwohnsitz im südlichen Ausland ließ auf sich warten.
Beim Personal, das sich Schabernack gefallen lassen musste, war Monika beliebt. Dem neuen Geschäftsführer allerdings, ein Emporkömmling, aalglatt und wortschnell, war sie ein Dorn im Auge. Wegen ihres ausgeprägten Gerechtigkeitssinns und weil Monika sich über die Kleiderordnung hinwegsetzte.
„Für diesen Stenz zwänge ich mich nicht in ein mausgraues Kostüm und lass die Mundwinkel hängen“, bekundete sie und provozierte mit bunten Gewändern, lässigen Ohrklunkern und Brilleneinfassungen in nahezu allen Farben und Formen.
Man munkelte, der Boss wollte sie loswerden. Doch da kein Entlassungsgrund vorlag und Moni den Schutz der stellvertretenden Hotelmanagerin Frau Habermann genoss, bewahrheitete sich das Gerücht bislang nicht.
Ohne die Post aus England erwähnt zu haben, beendete Nasira nach einer geschlagenen Stunde das Gespräch. Sie riss das Kuvert auf und nahm mit spitzen Fingern und einem unguten Gefühl den Papierbogen heraus. Garantiert bat er sie nicht mehr zu schreiben. Was sonst! Weil er sich durch ihre Briefe – einen pro Jahr – belästigt fühlte oder warum auch immer.
Die Anspannung stieg und ihre Hände zitterten leicht, als sie zu lesen begann. DearNasira, stand da, was sich schon mal zivilisiert anhörte. Die flapsigen Anreden, wie sie vielen schon in Fleisch und Blut übergegangen war, lehnte Nasira ab. Sie las fieberhaft weiter. Ihr Rücken versteifte sich, die Buchstaben fuhren auf Wellenlinien, als sich Wort für Wort zu Sätzen zusammenfügten, die ihre Befürchtung nicht bestätigten. Douglas wollte sie sich nicht vom Hals schaffen. Vielmehr entschuldigte er sich für die späte Antwort, weil Briefe schreiben nicht sein Ding sei und er es immer wieder aufgeschoben hatte. Als Wiedergutmachung quasi lud er sie in seine Heimat Schottland ein. Um ihr die dortige Vogelwelt zu eröffnen und um sie besser kennenzulernen. Er hatte das vierte Semester der Biowissenschaften an der Uni Leicester abgeschlossen schrieb er, und dass er Ferien in seinem Heimatort Mid Calder verbrachte. Für einen Besuch schlug er die letzte Augustwoche vor, falls sie es einrichten könne.
Mit einem Aufschrei ließ Nasira den Brief durch die Luft flattern und hüpfte auf dem Sessel herum, der bedrohlich knarrte. Ob sie es einrichten könne??? Nichts und niemand würde sie aufhalten! Kein Erdbeben, keine Jahrhundertflut und auch kein glühender Lavastrom. Für ein Wiedersehen mit Douglas würde sie zu Fuß den Eurotunnel durchqueren, ohne Schwimmflügel den Ärmelkanal bezwingen und um es realistisch anzugehen: den Job hinwerfen, die Mutter verleugnen, oder mit bloßen Händen Wände einreißen.
Nasira sprang vom Sessel, tänzelte in die Küche und war umgehend mit der Flasche Anisschnaps und einem Aschenbecher zurück. Sie genehmigte sich einen Schluck aus der Flasche, zündetet sich eine Zigarette an und paffte genussvoll. Hochbeglückt las sie den Brief ein zweites und drittes Mal und rief dann Moni an. „Du errätst es nie und nimmer. In zehn Jahren nicht.“ Fieberhaft begann Nasira zu erzählen und ließ die Freundin kaum zu Wort kommen. Nachdem sie aufgelegt hatte war ihr heiß, an einigen Stellen lief der Schweiß. Sie zog sich bequeme Sachen an und holte aus dem Keller den Koffer fürs Probepacken hoch. Sie wischte ihn sauber, legte ihn geöffnet aufs Bett und durchstöberte den Kleiderschrank. Bügel wurden hin- und hergeschoben mit der deprimierenden Erkenntnis, dass von all dem nichts schottlandtauglich war. Ein guter Grund nachzutanken. Mit zunehmender Beschwipstheit kehrte der Frohsinn zurück und die Einsicht, dass zwei Jeans, ein paar Pullis, robustes Schuhwerk und Regenschutz ausreichend waren, um in der Natur zu bestehen. Eventuell eine schicke Bluse noch oder ein Kleid. „Weil ich ein Mädchen bin und man nie wissen kann“, sagte Nasira im Singsang. Die Schluss-Pointe war ein wohliger Seufzer.
Es brach eine Zeit unkonzentrierten Schaffens an. Die Tage zogen sich wie Kaugummi, nachts kreisten Nasiras Gedanken um das bevorstehende Wiedersehen mit Douglas und wie es sich gestaltete. Gedankenabläufe wurden skizziert, Szenarien durchgespielt und wieder auf den Kopf gestellt. Dazu die Rededuelle mit Manuga – eine Fantasiegestalt mit leuchtend grüner Knollennase und unkendes Sprachrohr ihres Unterbewusstseins; ein Miesmacher, der gerne bei Hochstimmung auftauchte und sich ins Fäustchen lachte, wenn Nasira ihn zum Teufel jagte.
Monika aber, die Nasiras albernes Getue satthatte und ihre Schusseligkeit anprangerte, ließ sich nicht einfach wegdenken. „Nur weil ich zufällig auch deine Freundin bin, werde ich nicht automatisch deinen Mist ausmerzen.“ Sie hatte eine Übersetzung korrekturgelesen, die so nicht raus konnte. „Du hast den Sinn verdreht und Daten durcheinandergewürfelt. Was machst du überhaupt noch richtig!? Die Habermann hätte dir längst eine Abmahnung erteilt.“
„Ach komm! Ja, ich bin abgelenkt, aber...“
„Menschenskind, Nasira!“, redete ihr Moni drein. „Wie kann man wegen eines Schwanzträgers derart verblöden. Pass bloß auf, dass dein Spleen nicht zur Besessenheit wird.“
„Neidest du mir etwa meine rosa Wolke?“
Monika lachte abfällig und schleuderte ihren Halsschmuck aus Pinguinfedern über die Schulter – eine für sie typische Geste des Grolls. „Auch rosa Wolken regnen ab und man fällt auf die Schnauze. Ist dir schon einmal passiert. Solltest daraus gelernt haben.“
Nasiras Laune war mit einem Schlag im Keller. Die Bruchlandung, von der die Freundin sprach, lief mit schmerzlicher Genauigkeit vor ihrem inneren Auge ab. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“
„Um dich vor der nächsten Dummheit zu bewahren.“
„Ich weiß selbst, was gut für mich ist und was nicht. Was du Dummheit nennst bedeutet für mich Glück. Es heißt ja auch: Das Glück ist mit den Dummen. Du Intelligenzbestie hast es partnerschaftlich auch noch zu nichts gebracht.“
Monika schüttelte den Kopf. „Nur ist bei mir alles real. Du hingegen jagst einem Phantom hinterher.“
„Wieso Phantom? Douglas existiert doch.“
„Aber nicht für dich.“
„Wird sich zeigen.“
„Die Kosten für den Flug sind rausgeworfenes Geld!“
„Ist ja nicht dein Geld.“ Von irgendwoher schlug eine Kirchenglocke die volle Stunde. Nasira schaute nachdenklich aus dem Fenster und zuckte zusammen, als Monika ihr einen Schnellhefter vor den Latz knallte. „Erledige das! Ich mache Feierabend, nachdem ich gestern wegen dir länger bleiben musste.“
*
Endlich war der Tag da.
Nach einer schlaflosen Nacht stand Nasira halb fünf in der Früh vor dem Haus und wartete aufs Taxi. Unruhigen Schrittes lief sie den Bürgersteig ab und schaute alle soundsoviel Sekunden auf die Uhr – ein Billigprodukt, das ein Kaffeehersteller während einer Werbeaktion bei einem Kauf von mindestens zwei Pfund gratis angeboten hatte. Sie hatte sich eine mit schwarzem Kunststoffarmband und geblümtem Zifferblatt ausgesucht. Eine Fehlentscheidung, da sich die Zeit in dem Farbenwirrwarr nur schwer ablesen ließ.
Nasira fuhr herum, als das Tuckern eines Dieselmotors die morgendliche Ruhe durchbohrte. Sie trat zwischen zwei parkenden Autos auf die Straße und winkte aufgeregt. Der Taxler parkte in zweiter Reihe. Er ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und entriegelte per Knopfdruck die Heckklappe, die sich geschmeidig öffnete, wie das Maul eines Flusspferdes.
„Servus!“, grüßte der beleibte Mann mittleren Alters, der wie eingeklemmt zwischen Sitz und Lenkrad thronte. „Geht's oder soll ich helfen?“
„So geht's flotter.“ Nasira legte ihr Gepäck in den Kofferraum und drückte die Heckklappe zu. „Für meine Güte erlassen Sie mir die Anfahrtskosten“, sagte sie beim Einsteigen.
Das bayrische Urviech von heiterer Gelassenheit entließ einen dunklen Lacher.
„War das jetzt ein Ja oder ein Nein?“, hakte Nasira nach und legte den Gurt an.
„Wenn es mein Taxi wäre, würde ich dich überall umsonst hinfahren“, erwiderte der Mann.
„Jaja!“
„Wo soll's hingehen?“
Nasira ließ sich nicht auf die fröhliche Du-Form ein. „Was hat Ihnen denn die Mieze in der Zentrale gefunkt?“
Der Kopf des Mannes bewegte sich mit einem Knirschen, als wäre er an den Rumpf geschraubt. „Flughafen.“
„Na dann!“
Ohne in den Außen- oder Rückspiegel zu schauen fuhr der Mann los, in einem Tempo, dass Nasira angst und bang wurde. Seine Fettleibigkeit ließ wohl nur einen Bleifuß zu.
Der Taxler bemerkte ihren Blick. „Gell, do schaugst!“, sagte er und bohrte sich den Zeigefinger seitlich in die Wampe. „Alles meins und selbst erarbeitet.“
„Weißbier oder Haxn?“
„Fortwährend in dieser Reihenfolge“, sagte der Mann und riss den Mund weit auf. Ein Hahaha! ließ dieWindschutzscheibe faustgroß beschlagen. Als machte es Sinn, drückte er den Intervallhebel. Die Wischgummis quietschten übers Glas. Nasira gab die Route vor, ihr Blick wanderte zwischen Straße und Taxameter hin und her. Und weil sie am Ziel ihr Gepäck auch selber entlud, verzichtete sie auf ein Trinkgeld.
Die Menschenschlange vor dem Check-in-Schalter war lang, Nasira musste über eine halbe Stunde ausharren, dann wir sie ihr Gepäck endlich los. Die Wartezeit bis zum Abflug überbrückte sie mit Leute beobachten.
Der zweieinhalbstündige Flug war kurzweilig. Wegen der freien Sicht nach unten und einer angeregten Unterhaltung mit ihrem Sitznachbarn – ein Zirkusakrobat aus Ungarn.
Das Anschnallzeichen leuchtete auf, eine sonore Stimme kündigte den Landeanflug an. Minuten später setzte die Maschine auf und holperte über die Piste, hin zum Terminal. Nervlich angespannt folgte Nasira den Passagieren zur Gepäckhalle, nahm den falschen Koffer vom Band und wurde sogleich vom rechtmäßigen Besitzer gestellt. Sie entschuldigte sich bei dem aufgebrachten älteren Herrn, machte kehrt und hievte ihren vom Band.
Im selben Moment als sie durch die automatische Tür der Ankunftshalle trat sah sie ihn, als würde er sich durch Größe und Ausstrahlung von allen anderen hervorheben. Unfähig den nächsten Schritt zu machen starrte Nasira Douglas an, der in lässiger Haltung und mit Händen in den Taschen einer ausgewaschenen Jeans den Blick schweifen ließ. Ein hellblau und weiß kariertes Hemd hing schlotternd an ihm herunter. Die langen Haare trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Das Blut in ihrem Kopf rauschte so laut, dass die allgemeinen Hintergrundgeräusche wie durch Styropor zu ihr drangen. Nasira umklammerte fest den Griff des Lederkoffers mit Vintage-Charakter und hob ihn hoch. Hätte sie bloß einen mit Rollen gekauft, dachte sie und bemühte sich trotz des einseitigen Gewichts um eine gerade Körperhaltung. Die letzten paar Meter legte sie in kleinen Schritten zurück, von tiefer Freude erfüllt. Heute war es kein Traum, kein Trugbild, das sich jeden Moment in Luft auflöste. Douglas stand wirklich und leibhaftig vor ihr. Sie spürte sein Zögern, als sich ihre Blicke trafen und erst als sie lächelte, nahm Douglas die Hände aus den Taschen und grinste breit zurück.
Nasira stellte den Koffer ab und ruckelte unbewusst an den Schultergurten ihres Rucksacks. Sie begrüßte Douglas mit einer Reibeisenstimme und einer freundschaftlichen Umarmung. „Ich freue mich riesig hier zu sein. Tausend Dank für die Einladung.“
„Willkommen in Schottland“, sagte Douglas verhalten. „Ich hätte dich nicht erkannt, wärst du wortlos an mir vorübergegangen.“
„Glaub ich! Ist ja auch schon eine Weile her.“
„Vier Jahre sind nichts. Nein, es lag daran, dass ich immer nur dein halbes Gesicht von der Nasenspitze abwärts gesehen habe. Der Rest war Sonnenbrille und eine tiefsitzende Kappe.“
Nasira lachte. „Die Kappe – okay! Aber die Sonnenbrille hatte ich nur bei Sonne auf. Vielmehr hast du immer weggesehen, wenn ich dich ansah. So mein Eindruck.“
Douglas überging es. „Lass uns gehen.“ Er hob den Koffer mit einer Leichtigkeit hoch als wäre er leer und marschierte los.
Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Rücksichtslos bahnten sich Reisende mit Trollies ihren Weg durch die Menge und mähten alles nieder, was nicht rasch Platz machte. In einem Moment der Unachtsamkeit stolperte Nasira über eine Sporttasche und wäre fast gestürzt. Und obgleich sie Entgegenkommenden auswich, versetzte ihr jemand einen Rempler, der sie erneut ins Straucheln brachte. Sie brummte einen Fluch.
Der Aufzug im Parkhaus war defekt. Es galt eine Treppe über drei Etagen zu überwinden, mit breiten Stufen und ungewohnt hohem Tritt. Nasiras Puls raste, ihr Keuchen prallte an den gefliesten Wänden ab und kam als Echo zurück.
„Alles in Ordnung?“, fragte Douglas über die Schulter.
„Hört man das nicht?“
Douglas öffnete eine Eisentür zu einem verschachtelten Flur und dann eine zweite hin zum Außendeck. Eine Böe erfasste Nasiras Haare, einzelne Strähnen peitschten ihr ins Gesicht.
„Meine Eltern fahren für ein paar Tage weg.“ Douglas bedeutete mit dem Kopf wo's lang ging. „Da das Gästezimmer gerade renoviert wird, bekommst du das Zimmer meiner Schwester.“
„Oje! Das wird ihr aber gar nicht recht sein.“
„Doch doch. Sie fährt ja mit. Tamy hat mit einer Leidenschaft Ordnung geschaffen, die das Zimmer gleich optisch größer wirken lässt.“ Douglas entriegelte einen in die Jahre gekommenen Opel, öffnete die Heckklappe und stellte Koffer und Rucksack hinein. Und er hielt Nasira die Beifahrertür auf, die die Geste gedanklich als Pluspunkt verbuchte. Das gab es so häufig nicht mehr.
Douglas umrundete die Motorhaube, kletterte hinters Lenkrad und startete den Motor.
Nasira hatte Probleme mit dem Gurt und erst nach einer Fummelei klickte er ein. „Wohin fahren deine Eltern?“
„Nach Gwynedd in Wales. Sie besuchen dort langjährige Freunde.“
„Gwynedd! Das ehemalige Königreich“, sagte Nasira feierlich.
„Du kennst dich aus?“
„Mit dem Finger auf der Landkarte. Ein ganz schönes Stück zu fahren!“
„Schlappe 450 km.“
„Schlapp heißt bei mir was anderes. Und sie wollen heute noch los?“
Douglas schüttelte den Kopf. „Ganz zeitig morgen früh. Wenn sie zurück sind, bist du schon wieder weg.“
Nasira jubelte insgeheim. Eine komplette Woche, also ganze sieben Tage allein mit Douglas, der hoffentlich seine Schüchternheit ablegte, die ihn schon damals auszeichnete. Und dann?, sinnierte sie weiter. Was erhoffte sie sich? Er war vierundzwanzig, sie fast zweiunddreißig. Vom Altersunterschied einmal abgesehen, hatte er schon zu jener Zeit kaum Interesse an ihr bekundet. Er war noch nicht mal besonders freundlich gewesen. Verstohlen schielte sie zu ihm hin und sah weg, als er eine Linkskurve einschlug. So viel Zeit war vergangen und doch fühlte es sich an, als habe sie ihn nur kurz aus den Augen verloren. Was nicht verwunderlich war, da sie das Video über ihn bei der Vogelberingung aber und abermals angeschaut und so die Erinnerung lebendig gehalten hatte.
Nachdem der Flughafen hinter ihnen lag, drehte Douglas förmlich auf. Er erzählte dies und das, beschrieb die Gegend und wies auf ein Schloss hin, das auf einer Anhöhe hinter hohen Bäumen hervorragte. Und er sprach von seinen Plänen für die kommenden Tage. Nasira hörte andächtig zu. Die Vorfreude auf die schroffe schottische Landschaft, die sie an Douglas' Seite erkunden durfte, ließ ihr Herz überlaufen.
Der architektonisch eher langweilige Ort Mid Calder mit seinen paar tausend Einwohnern tauchte auf. Hinter dem Ortsschild setzte Douglas den Blinker und scherte nach rechts in die Pumpherston Road ein, eine schmale Straße, beidseitig von hohen Steinmauern gesäumt. Nach wenigen
Metern lenkte er den Wagen in eine Kiesauffahrt und parkte vor einem Schmiedezaun mit geschwungenen Spitzen und mittigen Ornamenten. „Wir sind da!“ Douglas stieg aus, lief ums Auto und riss die Beifahrertür auf.
Mit der Hand am Türrahmen zog sich Nasira aus dem Sitz und starrte auf das herrschaftliche Haus. „Hier wohnst du?“
„Ja, wieso? Stimmt was nicht?“
Nasira blinzelte. „Das weiß ich noch nicht. Ich meine...! Doug, das ist kein normales Haus, in dem normale Leute wohnen.“
„Ich halte uns eigentlich schon für normal“, entgegnete Douglas.
„Also, bei uns ist man entweder stinkreich, wenn man so wohnt, oder zeitlebens bis über die Augenbrauen verschuldet. Du bist nicht zufällig der Sohn eines hohen Adligen?“
Douglas stieß einen Laut aus. „Schön wär's! Und hohe Adlige würden sich mit diesem Kasten gar nicht zufriedengeben. So was haben die als Waschküche. Komm, lass uns reingehen!“
„Moooment! Muss mich erst sammeln. Darauf war ich nicht vorbereitet.“ Nasira studierte jedes Detail der Fassade. Das im viktorianischen Stil erbaute Haus mit acht hohen Sprossenfenstern war halb von einer Ligusterhecke gesäumt. Gelbe Rosen kletterten die graue Hauswand empor, umrahmten ein Schild mit der Aufschrift Almond House und rankten unter den Mauervorsprüngen der Fenster im Obergeschoss entlang. Die schwere Holztür stand offen und gewährte Einblick ins Entrée. Zu beiden Seiten der Flügeltüren mit unterteilten Buntglasscheiben standen Porzellanvasen mit roten und violetten Gladiolen.
Douglas trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Autodach.
Nasira sah an sich herunter, zupfte am Shirt und kämmte mit den Fingern Haare nach hinten. „Passt alles irgendwie und einigermaßen? Kann ich mich so sehen lassen?“
„Sei nicht albern.“ Douglas zog sie vom Auto weg und schlug die Tür zu. Helles Hundegekläff ertönte.
„O Gott, ihr habt einen Hund?“ Nasiras Nackenhaare stellten sich auf.
Douglas hörte die Angst heraus und sagte vergnügt: „Namens Chuck und eine Bestie von Wachhund.“
„Im Stimmbruch! Ernsthaft Douglas, du hättest mich warnen müssen. Nicht, dass ich was gegen Hunde habe, vielmehr umgekehrt. Bitte sag deinen Eltern, sie sollen ihn vorläufig wo anbinden.“
„Der ist völlig harmlos. Hunde die bellen beißen nicht.“
„Bauernschläue!“, widersprach Nasira. „Die Köder drehen am Rad, sobald sie meine Witterung aufnehmen.“
„Chuck schnappt nur in Notwehr zu, oder wenn Besucher ohne Leckerli daherkommen.“
„Du verstehst nicht. Ich bin das Leckerli. Hunde riechen mich zehn Meilen gegen den Wind und lecken ihre Lefzen in Erwartung auf Frischfleisch. So mancher Hundebesitzer musste sich verdammt ins Zeug legen, um einen Übergriff zu verhindern.“
„Vertrau mir! An meiner Seite bist du relativ sicher.“
„Relativ sicher ist mir nicht sicher genug.“
Douglas schob sie vor sich her und statt eines Monsterhundes zwängte sich eine quirlige mittelgroße Randsteinmischung durch die Flügeltür. Chuck sprang erwartungsvoll an Nasira hoch. Weil er leer ausging, machte er Sitz und schaute sie mit schiefem Kopf und herzerweichendem Blick an. Douglas steckte ihr einen Hundekeks zu. Zögerlich streckte Nasira die Hand aus. Der gefleckte Vierbeiner stellte sich auf die Hinterbeine, schnappte sich das Leckerli und zog mit einem zufriedenen Brummen ab. „So leicht lassen sich Hundeherzen erobern“, sagte Douglas.
Nasira wiegte den Kopf. „Wäre das mit Männerherzen nur auch so einfach.“
Douglas grinste.
Seine Eltern erschienen, ohne Bedienstete hintendran, als Begrüßungskomitee aufgereiht. Der Vater war mit einer locker sitzenden grauen Hose und lindgrünem Hemd ganz normal gekleidet. Die Mutter trug einen braunkarierten Rock, eine weiße schnörkellose Bluse und eine beige Strickjacke.
Die üblichen Begrüßungsfloskeln wurden ausgetauscht, ein erfrischender Aperitif herumgereicht. Wenig später begleitete Douglas Nasira aufs Zimmer. „Kannst du so leben?“
„Natürlich. Aber peinlich ist mir das schon, in die Privatsphäre deiner Schwester einzudringen.“
„Muss es nicht. Tamy war einverstanden. Kann sie dir später selbst sagen. Du siehst sie ja noch.“
„Trotzdem! Ich hätte auch in einer Abstellkammer mit Lichtschacht übernachtet. Oder im Garten in einer Hängematte.“
„Kannst du haben. Das Bad ist zwei Türen weiter. Steht angeschrieben. Wenn du was brauchst, rede mit mir.“
„Geht klar und danke!“ Nasira ging zum Fenster und schaute hinaus. Der Garten war übertrieben ordentlich und spärlich bepflanzt. Zwei mit Sandsteinplatten gepflasterte Wege waren in Kreuzform angelegt. Rechter Hand schloss sich der Almond und Calder Park an, wo unregelmäßig
Baumreihen mit Roterlen, Stieleichen, Ulmen und Silberweiden den Fluss säumten. Der Abschnitt wirkte wie ein undurchdringlicher Dschungel. Douglas sah das Leuchten in Nasiras Augen, als sie sich zu ihm umdrehte. „Märchenhaft! Lass uns einen Spaziergang machen, ja?“
„Jetzt gleich? Willst du nicht erst auspacken? Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Wer weiß das schon? Ach komm! Nur ein kleines Stück den Fluss entlang. Aber wenn du keine Lust hast...! Ich gehe auch allein.“
„Nix da!“, sagte Douglas. „Du machst hier gar nichts alleine. Zieh aber andere Schuhe an. Der Trampelpfad ist nach dem vielen Regen Schlamm pur.“
Der Fluss führte rotbraunes Wasser mit sich, der Geruch von Schwefel lag in der Luft. Nasira rümpfte die Nase. „Was stinkt hier so?“
„Weiter vorne ist eine Kläranlage“, sagte Douglas.
„Der Gestank zieht doch auch in euer Haus, oder?“
„Je nach Windrichtung.“
„So hat jedes Ding zwei Seiten.“ Nasira entdeckte einen Eisvogel auf einem Stein in Ufernähe. Als sie Douglas darauf hinwies, schwirrte er davon und verschwand hinter einer Biegung. „Hast du ihn noch gesehen?“
„Gerade noch. Der ist hier keine Seltenheit, wir sehen ihn noch öfter.“
„Wie kann er in dieser Brühe Beute machen?“
„Er ruft die Fische. Neugierig wie sie sind, tauchen sie auf und das war's dann.“
Nasira grunzte.
„Die schottischen Eisvögel sind schlauer als anderswo“, fuhr Douglas fort. „Nein, Spaß beiseite. Der Fluss ist nicht schmutzig. Das Wasser spült kupferhaltige Erze aus dem Gestein. Weiter Flussabwärts wird es wieder klar.“
Der Weg war hier von dichtem Gehölz gesäumt. Die Äste betagter Bäume hingen schwer und müde herab, als wollten sie die Strömung aufhalte. Hinter der Kläranlage veränderte sich die Vegetation schlagartig, als hätte sich ein Tor zu einer anderen Welt aufgetan. Eine Vielfalt an Pflanzen auf saftig grünen Wiesen prägte die Landschaft und noch immer haftete die Feuchtigkeit der letzten Tage an Halmen und Ästen. Entlang des Ufers verfing sich die Sonne im purpurnen Springkraut, dessen Blüten sich wie kleine Lampions im Wasser spiegelten. Eine schmale Holzbrücke führte zu einem Nebenlauf, der beinahe vollständig mit der kleinen Wasserlinse bedeckt war. Teichhühner machten jagt auf Wasserläufer, Libellen suchten auf dem grünen Pflanzenteppich nach Nahrung. Hinter der nächsten Biegung eröffnete sich dem Betrachter ein Blick über das Tal. Nasira nahm die Sonnenbrille ab und bekundete ihre Begeisterung für ein Viadukt, das sich über die Weite der Flussauen spannte. „Ich liebe monumentale Bauwerke, die Geschichten über die unglaubliche Schaffenskraft der Menschen erzählen. Schade, dass ich meinen Fotoapparat nicht mit habe. Muss nochmal herkommen und knipsen. Fantastisch!“
„Kannst du, musst du aber nicht.“
Nasira schaute Douglas an. „Was?“
„Nochmal herkommen. Wir werden auf unseren Touren andere sehen. Schottland ist berühmt für seine Viadukte.“
Nasira ließ den Blick schweifen. „Jede Brücke ist anders. Diese sticht besonders schön hervor inmitten satten Grüns und eingetaucht in das vorherrschende magische Licht.“
„Magisches Licht? Was siehst du, das ich nicht sehe?“
„Eine Mischung aus blauem und goldenem Licht. Mehr gold als blau. Gülden sozusagen.“
„Mh mh!“, machte Douglas.
„Doch. Bei Sonnenuntergang färbt sich der Himmel so nur wenige Minuten ein. Fotografen nutzen exakt dieses Licht, weil sich sodann die schönsten Stimmungen authentisch einfangen lassen. Ich weiß das, weil auch ich gern und viel fotografiere.“
„Vögel beobachten ist somit nicht dein einziges Steckenpferd. Bin gespannt, was dich sonst noch aus dem Häuschen bringt.“
„Jede Menge. Kann es nicht erwarten, auf Tour zu gehen. Am liebsten würde ich alles auf einmal sehen. Geduld ist nämlich nicht meine Stärke.“
„Dann allerdings hätten wir ein Problem.“ Douglas kratzte sich am Hinterkopf.
„Nämlich?“
„Was wir mit der verbleibenden Zeit anfangen.“
Nasira spielte verlegen mit den Bügeln der Sonnenbrille. „Uns würde was einfallen. Denk ich schon.“
Weiter ging es bis zu einem Rastplatz oberhalb einer Wegkreuzung, der zum Verweilen einlud. „Wollen wir?“, fragte Douglas, mit einer Kopfbewegung die Richtung weisend.
„Gerne.“ Nasira ging voran, setzte sich und hielt mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonnenstrahlen, die über die Baumkrone einer Esche streichelten.
Douglas setzte sich ihr gegenüber, musterte sie und sagte dann: „Erzähl mir von dir.“ Er stellte die Ellbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und scharrte mit den Füßen in der feuchten Erde. „Was machst du so in good old Germany?“
Nasira blinzelte, ein Kribbeln in der Nase löste den Niesreflex aus. Sie drehte sich seitwärts und putze sich die Nase. „Eigentlich nichts Richtiges“, sagte sie dann und forschte in Douglas' Augen.
„Geht's ausführlicher?“
Nasiras Blick wanderte über Douglas' gerade Nase hin zu den schmalen Lippen. „Nun, entweder verplempere ich meine Zeit vor der Glotze, oder vor dem Bildschirm im Schreibpool eines Hotels und bringe zu Papier, was mir aufgetragen wird. Bestehe jetzt bloß nicht auf Details, die den Job nicht spannender machen.“ Nasira präsentierte ihr Grübchen und fuhr fort. „Zwischendurch erträume ich mir ein anderes Leben, das vielleicht morgen beginnt oder nächste Woche oder nächstes Jahr. Doch komisch, alles bleibt beim alten. Aus mir ist geworden, was ich nie werden wollte.“
„Was schwebt dir denn vor?“
„Gute Frage! Habe mir nie ehrgeizige Ziele gesetzt. Ich sehe das Leben als eine Art Bäumchen-wechsel-dich-Spiel. Öfter mal was Neues.“
„Veränderungen setzen Taten voraus“, wusste Douglas. „Von nichts kommt nichts.“
„Wohl wahr!“, erwiderte Nasira bekümmert.
„Du lernst im Hotel sicher interessante Menschen kennen. Könnte sich da nicht was ergeben?“
Nasira verzog den Mund. „Ja, nur anders als du denkst. Lass es uns nicht vertiefen.“
Douglas schwenkte um. „Was machst du in deiner Freizeit? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass du ausschließlich vor der Flimmerkiste sitzt.“
„Nicht sitzen, liegen.“
„Ach komm! Was passiert an den Wochenenden?“
„Erschreckend wenig. Ich faulenze wirklich die meiste Zeit.“
„Und wartest auf Wunder“, schlussfolgerte Douglas.
„Nicht auf stinknormale. So eine bin ich nun auch wieder nicht.“
„Sondern?“
„Kompliziert, das auf jeden Fall. Und wankelmütig. Ich würde dir gern ein schöneres Bild von mir geben, nur warum soll ich dir was vormachen!? Ich kann mich ein paar Stunden verstellen und meine Launen kontrollieren, aber keine ganze Woche lang.“
„Niemand ist permanent umgänglich. Ich bin zuweilen auch unausstehlich“, gab Douglas zu.
„Schlimm nur, wenn man sich selbst nicht leiden mag. Kannst du dich leiden?“
„Die Frage habe ich mir noch nie gestellt.“
„Dann zweifelst du nicht an dir! Wer wie ich mit sich selbst nicht klarkommt, hat immer ein Problem mit seinen Mitmenschen“, sagte Nasira aufgeregt. „Ich habe eine natürliche Abneigung gegen die, die in sich ruhen. Die in täglichen Wiederholungen ihr Glück finden und sich in der Schablone, in die man sie gesteckt hat, zufrieden räkeln. Ist doch ekelhaft, oder?“
„Unbedingt.“
„Ich brauche die Abwechslung, die Herausforderung“, sagte Nasira weiter.
„Und sitzt deshalb in täglicher Wiederholung daheim herum. Welche Art von Herausforderung erhoffst du dir?“
„Zum Beispiel Arbeit, die Spaß macht und Sinn. Eine Berufung zum Beruf machen. Die Begeisterung muss mich morgens aus dem Bett treiben. Ich habe auch haufenweise Ideen, nur lassen die sich aus vielerlei Gründen nicht umsetzen. Ja, ich weiß, ich steh mir selbst im Weg.“
„Hab ich nicht gesagt.“
„Wäre aber garantiert noch gekommen.“
„So einer bin ich jetzt nicht“, sagte Douglas mit einem Schmunzeln.
„Ich bremse mich selbst aus“, gab Nasira zu. „Was mich gestern noch begeisterte, langweilt mich morgen und umgekehrt. Widerspreche ich mir selbst? Ja, ne?“
„Ja.“
„Macht mein Leben anstrengend.“
„Mich strengt schon zuhören an“, witzelte Douglas.
„Auch mit Denken kann man sich körperlich verausgaben. Ich bin oft zu erschöpft, um die einfachsten Dinge des Alltags zu bewältigen.“
Douglas lehnte sich erwartungsvoll zurück. „Nämlich?“
„Haushalt und so.“
„Macht keiner gern.“
„Ach doch. Ich kenne einige, die darin Erfüllung finden, wenn es blitzt und blinkt, nirgendwo ein Fussel herumliegt und Teppiche in eine Richtung glatt gebürstet sind. Meine Mutter gehört dazu. Ich kenne sie nur mit einem Putzlappen in der Hand oder den Kochlöffel schwingend. Verpöne beides: putzen und kochen, oder das, was ich kochen nenne. Ich brauche für fast alles eine Anleitung. Krieg noch nicht mal Eier hin, wie ich sie mag.“
„Wie denn?“
„Eiweiß hart, Eigelb auch, aber nur am Rand. In der Mitte flüssig.“
„Zwischen viereinhalb und sechs Minuten, abhängig von der Größe.“ Douglas grinste breit.
„Umfang mal Radius plus Wassertemperatur.“
„Geteilt durch Schalendichte.“
„Ist mir zu kompliziert“, sagte Nasira, als existierte die Formel tatsächlich. „Dann lieber Wollmäuse jagen.“
„Du meinst...“
„Staubflusen, ja. Ein sauberes, geordnetes Umfeld soll sich positiv auf die Psyche auswirken, habe ich mal irgendwo gelesen. Trifft auf mich nicht zu. Ich bin entspannter, wenn es gleichmäßig unordentlich ist. Habe mich mit Schmutz arrangiert. Wir respektieren uns.“
Erneut rollte ein Lacher über Douglas' Lippen.
„Nicht, dass du denkst, ich bin ein halber Messi“, sagte Nasira hastig. „Irgendwann überkommt es mich schon. Dann nämlich, wenn der Schrank kein einziges sauberes Teil mehr hergibt und ich abspülen muss. Die Fenster putz ich, wenn ich wegen des Schmierfilms nicht mehr rausschauen kann. Bin jedes Mal überrascht, wie groß die Nachbarkinder in der Zwischenzeit geworden sind.“
„Ich wette, du übertreibst“, sagte Douglas.
Nasira wiegte den Kopf hin und her. „Ein bisschen. Aber es ist wirklich so, dass mich alles und jeder Handgriff nervt.“
„Was denn noch?“
„Nein, Doug, es reicht. Das ist seichtes Gerede und will ich dir nicht weiter zumuten.“
„Für tiefgründige Gespräche ist immer noch Zeit. Ich hör gern in das Leben anderer rein, um zu erfahren wie sie ticken.“
Nasira legte die Hände in den Schoß, spielte mit den Fingern und sagte weiter im Plauderton. „Mir fehlt die Gelassenheit, ich nehme alles immer so ernst. Macht auch