Store Kongensgade 23 - Søren Ulrik Thomsen - E-Book

Store Kongensgade 23 E-Book

Søren Ulrik Thomsen

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Beschreibung

Gibt es ein bestimmtes Jahr oder einen bestimmten Ort im Leben eines Menschen, der sich im Laufe der Zeit als der wichtigste erweisen wird?

Für den dänischen Lyriker und Essayisten Søren Ulrik Thomsen liegt dieser Ort in Kopenhagen, in der Store Kongensgade 23. Voller Erwartung zieht er 1972, er ist 16, mit der Familie vom Land in die Großstadt, bereit für alles, was vor ihm liegt: Kultur, die erste Liebe, die Anfänge des Schreibens. Gleichzeitig leidet seine Mutter an einer schweren Depression mit langen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. In dieser Spannung zwischen Glück und Unglück, zwischen Aufbruch und Rückzug denkt Thomsen in elegischer, rhythmischer Prosa über das Leben nach, darüber, warum man schreibt, über die Angst vor dem Alter. Und über eine Wohnung, in der er nur ein Jahr lang wohnte, die für ihn aber, obwohl sie der Vergangenheit angehört, der Ort ist, von dem seine ganze Zukunft ausgehen wird.

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Seitenzahl: 97

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Cover

Titel

Søren Ulrik Thomsen

Store Kongensgade 23

Ein Essay

Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Store Kongensgade 23 bei Gyldendal, Kopenhagen.Die Übersetzung wurde von der Danish Arts Foundation gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Erste Auflage 2023Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© Søren Ulrik Thomsen og Gyldendal 2021Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-77698-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Jane.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1.

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Anmerkung

Literaturangaben

Informationen zum Buch

Store Kongensgade 23

»Auf einmal hatte ich in meiner ohnmächtigen Wut das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben«

Peter Handke, Wunschloses Unglück

1.

Am 14. März kurz nach Mitternacht starb meine Mutter. Es ist Zeit, der Store Kongensgade 23 wieder einen Besuch abzustatten.

2.

Gibt es das eine Jahr oder den einen Ort im Leben eines Menschen, der sich im Lauf der Zeit als der wichtigste erweist? Den Punkt, an dem die Spitze des Zirkels platziert werden kann, weil alles Vorherige traumartig auf ihn hindeutet, und alles Spätere zurück auf dies Zentrum zeigt, dessen Bedeutung man allerdings erst viel später erkennt?

Ja, den gibt es, und man braucht nicht lange mit einem anderen Menschen gesprochen haben, ehe man Zeit und Ort jenes seltsamen Brennpunkts im Leben des Betreffenden einkreisen kann. Denn indem wir älter werden, erzählen wir immer wieder dieselben Geschichten, und auch hier soll eine Geschichte erzählt werden, die ich (zum Teil) schon erzählt habe, doch als Schriftsteller ist man ja auch der erste Leser des Texts, und so tue ich es in der Hoffnung, dass ich, während ich erzähle, unversehens etwas schreibe, was mich selbst überrascht und darum vielleicht auch für andere lesenswert ist.

Und nicht bloß deshalb, denn wozu schreibt man überhaupt? Um den Tod aufzuschieben, um die Geliebte zurückzugewinnen, um Augenblicke einzufangen und zu verewigen, die sonst für immer verloren wären, und umgekehrt vielleicht auch, um sich anderer Augenblicke zu entledigen, in der Hoffnung, dass sie einen nicht bis in alle Ewigkeit heimsuchen. Um seine Erfahrungen mit vollen Händen zu verschwenden, damit man dieselbe Geschichte mit neuer Unwissenheit noch einmal erzählen kann.

Was mich betrifft, ist der Ort die Store Kongensgade 23, vierter Stock, wohin die Familie von der Halbinsel Stevns gezogen war, weil mein Vater, von Beruf Bankassistent, eine Stelle in der Zentrale der Bikuben Bank in Kopenhagen angetreten hatte, und die Zeit vom 12. August 1972 ein Jahr in die Zukunft, und hier erlebte ich als Sechzehn-, Siebzehnjähriger Dinge, die mich derart bedrückten, dass ich mich kaum an sie erinnern kann, und andere, die so wunderbar waren, dass ich sie bis ins schärfste Detail vor mir sehe. Und auch wenn es natürlich typisch ist, dass diese magische Einheit von Zeit und Ort, die unsere Gedanken immer und immer wieder in Bann zieht, für die allermeisten in der Pubertät, der Umbruchszeit par excellence liegt, wundert es mich doch, dass dieses eine, ferne Jahr meines Lebens nicht längst von den nächsten fünfzig verdichtet ereignisreichen Jahren überschattet wurde.

Ja, es wundert mich, wenn ich an dieses halbe Jahrhundert denke, in dem ich den meisten Menschen begegnet bin, die für mich wirklich wichtig wurden, in dem meine ganze Arbeitskraft steckt, in dem Kunst, Literatur und Musik mich durchströmt haben, in dem ich Gedanken gefasst, verfolgt und zu Ende geführt, in dem ich geheiratet habe und wieder geschieden wurde und meine Jugendliebe nach vielen Jahren schrecklicher Krankheit starb, in dem jähe Eingebungen das Gehirn durchgewirbelt und reinen Tisch gemacht haben, während die bleibenden Erkenntnisse zugleich so diskret und distinkt kamen wie das Geräusch, mit dem ein Tropfen auf den Boden des Spülbeckens ploppt, in dem Verlieben und Bereuen, Sex und Freundschaften und dramatische Feindschaften und Reisen rund um die Welt die Tage und die Träume füllten, begleitet von all den Gesprächen, die sich ineinander verwoben und entwoben und neu anknüpften und unterbrochen und wieder aufgenommen wurden, wenn wir uns an einem beliebigen Dienstag im Café Blå Time wiedersahen.

3.

Doch ehe ich meine Geschichte von vorn beginne, muss ich von einer Anfrage des Stadtmuseums Kopenhagen erzählen, das im Jahr 2010 eine Ausstellung über »neue Kopenhagener« plante, für die sowohl Eingewanderte aus anderen Ländern wie auch Zuzügler aus der Provinz gebeten wurden, jeweils einen Gegenstand beizusteuern, der für die Betreffenden markierte, dass sie Kopenhagener geworden waren. Sofort war mir klar, dass mein Beitrag das Klassenbild der 3. Real U, Sølvgades Skole 1972/73 sein sollte, denn hier ist mein Gesicht unter den dreizehn Kopenhagenern vertreten, mit denen ich in eine Klasse ging, und dass ich als neu eingezogener Bewohner der Store Kongensgade 23 von jetzt an auch Kopenhagener war, hat mich Jungen vom Land seither immer irrsinnig stolz gemacht, heilfroh, wie ich es damals war und heute noch immer jeden Tag bin, begnadigt worden und der Provinz entkommen zu sein. Allerdings war mein Exemplar des Bildes von Dansk Skolefoto in miserablem Zustand, und so kam mir die Idee, unsere alte Klassenlehrerin Bodil Ulrich zu fragen, ob sie noch über das Original verfügte.

Bodil muss Mitte dreißig und damit ungefähr zwanzig Jahre älter als wir Schüler der ältesten Klasse gewesen sein; hübsch und mit einem leichten, charmanten norwegischen Akzent war sie voller vorurteilsfreiem, jugendlichem Elan. Lammfellmäntel, Maurerhemden und ergonomische ›Entenschuhe‹ prägten die schwere Jugendmode der Siebziger, wohingegen Bodil mit ›Cateye‹-Brille und Hochsteckfrisur einen viel leichteren und eleganteren Sechziger-Stil weitertrug, und generationsmäßig stand sie ja auch irgendwo zwischen uns und unseren Eltern – jünger und modischer als sie, aber dennoch erwachsen, anders als wir, die wir uns, von Pubertät und Schulmüdigkeit geschädigt, mit einer Unverschämtheit benahmen, die ihre Legitimität aus der Jugendrevolte zog, während wir uns gleichzeitig (im Wissen, dass der Wohlfahrtsstaat uns schon auffangen würde) eine unerhörte, aufreizende Faulheit erlaubten. Treu ihrer Erziehung waren die Mädchen nett und gewissenhaft, die Jungs hingegen gingen vor allem verbal hemmungslos roh und sarkastisch miteinander um, und in dieser durchpolitisierten kulturellen Umbruchszeit teilte sich auch die 3. Real U in eine Bohème-Fraktion und solche, die eine Banklehre machen wollten, und keine der beiden Fraktionen verschonte die andere mit Spott.

Auch wenn ich mich deutlich an so manchen Seufzer über unsere Kindereien erinnere, ergriff Bodil nie Partei, sondern sprach mit jedem einzelnen Schüler gleich wertschätzend und verständnisvoll. Als sie uns fünfzehn Jahre nach unserem letzten Schultag zum Klassenjubiläum in ihr Haus in Gentofte einlud, das genauso stilvoll und sechzigerjahrehaft war wie sie selbst, war offensichtlich, dass sie jeder einzige der ehemaligen Schüler, ungeachtet seines Verhaltens, respektiert und insgeheim vielleicht sogar beinah geliebt hatte, und es war rührend zu sehen, wie alle die Nähe ihres freundlichen, aufmunternden Blicks suchten und ihr Verständnis für die Probleme und ihre Bewunderung für die Siege erheischten, als wir mit roten Backen abwechselnd von den Jahren, die vergangen waren, und den Träumen für die Zukunft erzählten.

Das Telefonbuch verriet, dass sie inzwischen im Esthersvej in Hellerup wohnte, und mein Anruf wurde sofort von ihrem Mann Jørgen entgegengenommen. In jungen Jahren war Jørgen Ulrich ein berühmter Tennisspieler mit einer großen Zahl dänischer Meisterschaftstitel, der es in Wimbledon sogar bis ins Viertelfinale geschafft hatte, doch im Gegensatz zu seinem ebenfalls tennisspielenden Avantgarde-Bruder, Torben, war Jørgen ausgeprägt bürgerlich, Jurist und Direktor einer Versicherungsgesellschaft. Aber auch ihn umschwebte eine Aura der magischen Sechziger, und ohne es wirklich zu wissen, stelle ich mir vor, dass er und Bodil sich auf dem Tennisplatz kennenlernten, von dem sie nach dem Match schlank, schön, ganz in Weiß und die Schläger über den Schultern durch den Sommerabend irgendwohin schlenderten, wo man als selbstverständlichen Ausdruck stilvoller Modernität Drinks und Zigaretten genießen konnte (»zum Klang von Cool Jazz«, hätte ich beinahe geschrieben, mich aber zurückgehalten, um nicht in eine allzu detaillierte Epochen-Szenographie zu verfallen, mit der Filmemacher brillieren, die aber nur selten in der Wirklichkeit existiert hat, die immer mit Wrackresten vergangener Jahrzehnte vollgestopft ist und nur wenigen Elementen state of the art: Hinter der niedrigen, minimalistischen Sofalandschaft in weißem Leder sticht unweigerlich eine geerbte Bornholmer Uhr hervor).

Ich erzählte von der Anfrage des Stadtmuseums und meiner Jagd nach dem alten Klassenbild. »Leider wirst du nicht mit Bodil sprechen können«, sagte Jørgen, »sie hat eine Hirnblutung gehabt und kann weder reden noch sich bewegen, obwohl sie irgendwo im Innern bei vollem Bewusstsein ist.« Versteinert und hellwach, was für ein fürchterlicher Gedanke. Ich setzte mich hin und schrieb einen Brief, in dem ich ihr schilderte, wie viel, und weit über das eine Jahr an der Sølvgades Skole hinaus, sie mir bedeutet hatte. Zusammen mit meinem Gedichtband Anheimgefallen schickte ich den Brief an die Adresse im Esthersvej und bat Jørgen, ihn Bodil ins Krankenhaus mitzubringen. Kurz darauf war mein vierundfünfzigster Geburtstag, was Jørgen, der mich ja gar nicht kannte, in der Zeitung in der langen Liste der Geburtstagskinder vom 8. Mai gesehen haben musste, denn er hatte einen rührend aufrichtigen Glückwunsch auf meinen Anrufbeantworter gesprochen und einen herzlichen Dank für den Brief und die schönen Gedichte, über die Bodil sich sehr gefreut habe.

Zwei Monate später las ich in der Zeitung, dass Jørgen Ulrich auf einer Griechenlandreise gestorben war, im Alter von 74 Jahren. Die Vergangenheit war am Fallen. Vor mir.

4.

Mehr als alles andere verbinde ich mit der Store Kongensgade 23 das rauschhafte Gefühl, dass jetzt die Zukunft beginnt, und immer wenn ich die Adresse besuche, erfüllt mich der Anblick des Hauses mit einer intensiven, berauschenden Erwartung einer kommenden Zeit, als verkörperte dieses Haus, in dem ich vor fast fünfzig Jahren gewohnt habe, auf geheimnisvolle Weise den Ort, von dem für immer jegliche Zukunft ausgeht, obgleich er selbst der Vergangenheit angehört.

Ohne Erwartung dessen, was kommt, kann man unmöglich leben, und in späteren Jahren habe ich erfahren, wie all unsre Handlungen, Gedanken und Gefühle, so absolut sie sich auch in einem funkelnden Präsens entfalten und völlig undenkbar wären ohne ihre Voraussetzungen in der Vergangenheit, träumerisch der Zukunft zugewandt sind, wie ein Blatt zur Sonne. Als ich mit sechzig von meiner Frau geschieden wurde, war eine meiner größten Sorgen, dass unsre gemeinsame Zukunft nun Vergangenheit war, denn die Freude, an einem nieselregnerischen Dienstagnachmittag im Oktober Hand in Hand die Willemoesgade entlangzuspazieren, war auch die Freude an dem Gedanken, wir würden es wieder tun, der Genuss von Muscheln in Safransauce und Bistecca mit einer Scheibe Zitrone in dem winzigen Restaurant in der grauen Seitenstraße, die irgendwo in Europa seltsam L-förmig in das Viertel hinterm Odeon-Kino ragt, steigerte sich im Bewusst