Störungen der Affektregulation - Martin Holtmann - E-Book

Störungen der Affektregulation E-Book

Martin Holtmann

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Beschreibung

Stimmungsschwankungen bei Kindern und Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren vermehrtes Interesse gefunden. Begriffe wie emotionale Labilität, affektive Dysregulation und Stimmungsinstabilität werden verwandt, um ein klinisches Bild zu bezeichnen, das neben plötzlichen und unvorhersehbaren negativen Stimmungsauslenkungen oft zusätzlich durch Reizbarkeit und Wutanfälle, hitziges Temperament und niedrige Frustrationstoleranz charakterisiert ist. Der Leitfaden beschreibt das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei diesem komplexen Störungsbild. Um häufig vorkommende normale Entwicklungsphänomene, wie z. B. trotziges Verhalten, Wutanfälle und Stimmungsschwankungen, von tatsächlich beeinträchtigenden Störungen der Affektregulation abzugrenzen, gibt der Leitfaden nach einer historischen und ätiologischen Einführung ausführliche Hilfestellung bei der diagnostischen Ein- und Abgrenzung. Der Schwerpunkt des Leitfadens liegt auf den Leitlinien zur Diagnostik, Indikationsstellung, Verlaufskontrolle und Therapie von Störungen der Affektregulation. Es wird dargestellt, wie die multimodale therapeutische Begleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern gestaltet werden kann. Materialien zur Diagnostik und Behandlung sowie Fallbeispiele ergänzen den Leitfaden.

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Martin Holtmann

Tanja Legenbauer

Dörte Grasmann

Störungen der Affektregulation

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 22

Störungen der Affektregulation

Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Tanja Legenbauer, Dr. Dörte Grasmann

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, geb. 1970. Seit 2010 Direktor der LWL-Universitätsklinik Hamm, Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik.

Prof. Dr. Tanja Legenbauer, geb. 1973. Seit 2014 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LWL Universitätsklinik Hamm, Medizinische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

Dr. Dörte Grasmann, geb. 1975. Seit 2011 stellvertretende Ambulanzleiterin für den Bereich Kinder und Jugendliche und wissenschaftliche Geschäftsführerin der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Abteilung Klinische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Deutschland

Tel. +49 551 99950 0

Fax +49 551 99950 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Format: EPUB

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

1. Auflage 2017

© 2017 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2510-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2510-9)

ISBN 978-3-8017-2510-5

http://doi.org/10.1026/02510-000

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Anmerkung:

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|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Stimmungsschwankungen bei Kindern und Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren vermehrtes Interesse gefunden. Nicht ganz trennscharf und oft überlappend werden dabei Begriffe wie emotionale Labilität, affektive Dysregulation und Stimmungsinstabilität verwandt, um ein klinisches Bild zu bezeichnen, das neben den plötzlichen und unvorhersehbaren negativen Stimmungsauslenkungen oft zusätzlich charakterisiert ist durch Reizbarkeit und Wutanfälle, hitziges Temperament und niedrige Frustrationstoleranz.

Trotziges Verhalten, Wutanfälle und Stimmungsschwankungen sind allerdings häufige entwicklungspsychologische Phänomene, die insbesondere im Vorschulalter bei einem Großteil der Kinder auftreten. Unbedingt zu vermeiden ist daher die Pathologisierung und Medikalisierung von normalen Entwicklungsphänomenen. Auf der anderen Seite sind jene Kinder und Jugendliche, die auch bei genauer Betrachtung die in den letzten Jahren vorgeschlagenen und erprobten Kriterien für eine Störung der Affektregulation („Severe mood dysregulation“) erfüllen, gekennzeichnet durch schwere Beeinträchtigungen im Alltag, ein hohes Ausmaß begleitender psychischer Störungen, eine häufige Inanspruchnahme von psychosozialen Hilfsangeboten und insbesondere durch einen sehr ungünstigen Verlauf. Es ist also berechtigt und geboten, diese Kinder und Jugendlichen mit tatsächlicher Störung der Affektregulation zu identifizieren, zu begleiten und ggf. zu behandeln, um ihnen eine gelungene Entwicklung zu ermöglichen. Der vorliegende Leitfaden ist diesem Anliegen gewidmet.

Wir begreifen die Störung der Affektregulation dabei anders als das DSM-5 nicht als eigenständige diagnostische Kategorie, sondern als diagnoseübergreifende Symptomatik, die im Rahmen verschiedener psychischer Störungen auftreten kann. Auch diese Konzeptualisierung muss aber für den Alltag in Klinik und Praxis handhabbar gemacht werden. Um der Unschärfe, die mit dem Begriff der gestörten Affektregulation verbunden ist, eine konkrete, nachvollziehbare Operationalisierung entgegenzusetzen, stützen wir uns daher in diesem Band auf Kriterien, die von Ellen Leibenluft und ihren Mitarbeitern 2003 für die Severe Mood Dysregulation vorgeschlagen wurden.

Das gegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen diagnoseübergreifender Konzeption und konkreten Kriterien, die ein abgrenzbares Störungsbild suggerieren, lässt sich dabei nicht ganz auflösen und prägt auch den vorliegenden Band. Es wird aber unseres Erachtens der zurzeit noch vorläufigen Datenlage am besten gerecht. Dabei ist uns bewusst, dass sich – wie hinter vielen diagnostischen Konstrukten – auch hinter der Störung der Affektregulation verschiedene Ursachen und Konstellationen verbergen können. Die therapeutische und wissenschaftliche Arbeit der vergangenen Jahre und unser Austausch mit vielen Praktikern haben aber auch gezeigt, wie notwendig es ist, konkrete Hilfestellungen im Umgang mit Störungen der Affektregulation anzubieten.

Der Leitfaden möchte trotz der noch vielen wissenschaftlichen Unklarheiten einen praxisbezogenen, evidenzbasierten Beitrag zur Diagnostik und Therapie von Störungen der Affektregulation im Kindes- und Jugendalter leisten. Viele der Bausteine, die |VI|zum Einsatz kommen können, sind dabei in ähnlicher Form bei verwandten Störungsbildern eingesetzt und erprobt worden.

Der Band unterteilt sich in insgesamt fünf Kapitel:

1

Im ersten Kapitel wird auf den aktuellen Wissensstand hinsichtlich der Symptomatik und Klassifikation, differenzialdiagnostische Aspekte und begleitende Störungen, Pathogenese, Epidemiologie, Verlauf sowie auf Ergebnisse der Therapieforschung eingegangen. Hierbei stehen Aspekte im Vordergrund, die für die Leitlinienformulierung von besonderer Bedeutung sind.

2

Kapitel 2 stellt das Kernstück des Leitfadens dar. Hier werden ausführliche Leitlinien zur Diagnostik und zur Therapie dargestellt. Insbesondere psychotherapeutische Strategien zum Umgang mit Störungen der Affektregulation sowie die Arbeit mit den Eltern und Bezugspersonen werden umfangreich beschrieben.

3

Im dritten Kapitel werden empfehlenswerte diagnostische Verfahren und Therapieprogramme ausführlich und praxisnah vorgestellt.

4

Das vierte Kapitel enthält für den Praxisalltag hilfreiche diagnostische und therapeutische Materialien.

5

Im fünften Kapitel wird der Umgang mit Störungen der Affektregulation an beispielhaften Verhaltensanalysen („Anna hat Wut im Bauch“) und einem ausführlichen Fallbeispiel („Elisa verliert die Kontrolle“) illustriert.

Dieser Band wird durch einen kompakten Ratgeber für Eltern, Lehrer und Erzieher (Holtmann, Legenbauer & Grasmann, 2017) ergänzt. Der Ratgeber informiert über Erscheinungsformen, Ursachen, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten bei Störungen der Affektregulation. Er richtet sich an Eltern, Erzieher oder andere Bezugspersonen, die mit diesen Symptomen konfrontiert sind sowie an Betroffene selbst.

Hamm und Frankfurt, August 2016

Martin Holtmann, Tanja Legenbauer

und Dörte Grasmann

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Historische Entwicklung des Störungsbildes

1.2 Symptomatik

1.3 Diagnose nach ICD-10 und DSM-5

1.4 Differenzialdiagnostische Aspekte und Komorbidität

1.5 Ätiologie

1.5.1 Genetische, familiäre und psychosoziale Faktoren

1.5.2 Neuropsychologische und neurobiologische Modelle der Affektregulation

1.6 Epidemiologie und Verlauf

1.7 Interventionen

1.7.1 Psychotherapeutische Ansätze

1.7.2 Pharmakotherapie

1.7.3 Chronotherapeutische Behandlung

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zu Diagnostik und Verlaufskontrolle

2.1.1 Exploration

2.1.2 Standardisierte Fragebögen und testpsychologische Untersuchung

2.1.3 Somatisch-neurologische Diagnostik

2.1.4 Diagnosestellung

2.1.5 Problem-, Verhaltens-, Plan- und Ressourcenanalyse

2.1.6 Verlaufskontrolle

2.2 Leitlinien zur Therapie

2.2.1 Allgemeine Behandlungsprinzipien

2.2.2 Psychoedukation

2.2.3 Patientenzentrierte psychotherapeutische Strategien

2.2.4 Elternarbeit und Arbeit mit weiteren Bezugspersonen

2.2.5 Pharmakotherapie

2.2.6 Lichttherapie

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

3.1 Klinisches Interview: K-SADS-Modul für Severe Mood Dysregulation

3.2 Chronische Reizbarkeit: Affective Reactivity Index

3.3 Affektive Dysregulation: CBCL-Dysregulations-Profil

3.4 Depressive Symptome

3.5 Schlafstörungen

3.6 Emotionsregulation

3.7 Temperament

3.8 Funktionsniveau

3.9 Gesundheitsbezogene Lebensqualität

3.10 Treatment for ADHD and Impaired Mood (AIM)

3.11 Therapieprogramm für Kinder mit aggressivem Verhalten (THAV)

3.12 Soziales computerunterstütztes Training für Kinder mit aggressivem Verhalten (ScouT)

3.13 Verhaltenstherapeutisches Intensivtraining zur Reduktion von Aggression (VIA)

3.14 Baghira-Training für Kinder mit oppositionellem und aggressivem Verhalten

4 Materialien

5 Fallbeispiele

5.1 Beispielhafte Verhaltensanalyse: „Anna hat Wut im Bauch“

5.2 Beispielhafter Behandlungsverlauf: „Elisa verliert die Kontrolle“

Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik

Lebensgeschichtliche Entwicklung und Störungsanamnese

Psychischer Befund bei Aufnahme

Verhaltenstherapeutisches Störungsmodell

Diagnosen

Therapieziele und Behandlungsverlauf

Behandlungsergebnis

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Historische Entwicklung des Störungsbildes

Ein klinisches Bild, das neben plötzlichen und unvorhersehbaren negativen Stimmungsauslenkungen oft zusätzlich charakterisiert ist durch Reizbarkeit und Wutanfälle, hitziges Temperament und niedrige Frustrationstoleranz, hat in den vergangenen Jahren vermehrtes Interesse gefunden. Nicht ganz trennscharf und oft überlappend werden dabei Begriffe wie Störungen der Affektregulation, emotionale Labilität, affektive Dysregulation und Stimmungsinstabilität verwandt, um diese Mischung aus trotzigem Verhalten, Wutanfällen und Stimmungsschwankungen zu beschreiben. Kinder und Jugendliche, die die in den letzten Jahren vorgeschlagenen und erprobten Kriterien für eine Störung der Affektregulation erfüllen, sind gekennzeichnet durch schwere Beeinträchtigungen im Alltag, ein hohes Ausmaß begleitender psychischer Störungen, eine häufige Inanspruchnahme von psychosozialen Hilfsangeboten und durch einen sehr ungünstigen Verlauf.

Die diagnostische und prognostische Einschätzung und die Behandlung des bunten, aber allen Klinikern vertrauten Symptomkomplexes oder Verhaltensphänotyps der gestörten Affektregulation hat seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu einer kontroversen Debatte geführt. Zugespitzt lautet die Frage: Sollen Kinder und Jugendliche mit chronischer Reizbarkeit und einem Mischbild aus gestörter Affekt- und Verhaltensregulation als bipolar, also manisch-depressiv, diagnostiziert und auch so behandelt werden?

Auslöser der Diskussion über die Häufigkeit und das klinische Bild bipolarer Störungen vor der Adoleszenz waren die im Vergleich zu den europäischen Ländern auffällig hohen Diagnoseraten bipolarer Störungen bei Jugendlichen, aber auch kleinen Kindern in den USA. Diese Debatte ist nicht von rein akademischem Interesse, sondern hat unmittelbar Auswirkungen auf das krankheits- (oder gesundheits-)bezogene Selbstverständnis der betroffenen Patienten, die Aufklärung der Familien und die psycho- und pharmakotherapeutischen Behandlungsentscheidungen.

Einen ersten Lösungsansatz zur Überwindung der Kontroverse schlugen Leibenluft et al. (2003) vor. Sie empfahlen die Unterscheidung zwischen einem „engen“ und einem „breiten“ Phänotyp bipolarer Störungen. Dabei entspricht der „enge“ Phänotyp dem klassischen Symptomkomplex einer manischen Erkrankung mit eindeutigen, episodenhaften Symptomen von gehobener Stimmung und Reizbarkeit, während der „breite“ Phänotyp unspezifischere chronische Symptome wie nicht episodische Reizbarkeit („irritability“), schnelle Stimmungsschwankungen, erhöhte Ablenkbarkeit und Aggressivität umfasst, für den die Autoren den Begriff „Severe Mood Dysregulation“ (SMD) vorschlagen. Im Deutschen |2|hat sich für den Symptomkomplex der SMD der Begriff „affektive Dysregulation“ oder auch „Störung der Affektregulation“ durchgesetzt. Letzterer gab auch dem vorliegenden Band seinen Namen.

Die Symptomatik der SMD war in den etablierten Klassifikationssystemen für psychische Störungen, der ICD und dem DSM, lange nicht angemessen abgebildet. Die Kinder, die von dieser Symptomatik betroffen sind, wurden daher treffend als „diagnostische Waisen“ bezeichnet (Carlson, 1998). Diese Überlegungen führten Anfang 2013 dazu, dass in der 5. Revison des DSM ein neues Krankheitsbild aufgenommen wurde, das unter dem Begriff Disruptive Affektregulationsstörung („Disruptive Mood Dysregulation Disorder“, DMDD) diese Symptomatik beschreibt (American Psychiatric Association, 2013; APA/Falkai et al., 2015). In der ICD ist weiterhin keine eigene Diagnose für die Symptomatik vorgesehen. In europäischen Ländern wird dieser Verhaltensphänotyp daher hilfsweise als „kompliziertes ADHS“ oder „ADHS plus“ bezeichnet oder als kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, depressive Störung oder beginnende emotional-instabile Persönlichkeitsstörung klassifiziert (vgl. Kapitel 1.3). Eine Nähe der SMD-Symptomatik zum bipolaren Spektrum wird allerdings mittlerweile vermehrt kritisch gesehen.

Bei aller berechtigter Skepsis gegenüber vermeintlichen Modediagnosen (wie „Pädiatrische Bipolare Störung/Pediatric Bipolar Disorder“) oder neuen diagnostischen „Etiketten“ (wie SMD oder DMDD) lohnt sich ein Blick zurück in die psychiatrische Literatur. Während die Etiketten ihre Namen wechseln, bleibt festzuhalten, dass die mit ihnen bezeichnete Symptomatik keine postmoderne Erfindung oder alleinige Folge von gesellschaftlichen Veränderungen wie Medienkonsum o. Ä. ist. Vielmehr wurde schon in viel früheren Phasen der Geschichte ein gemeinsames Auftreten von mangelnder emotionaler Impulskontrolle, Unruhe und Ablenkbarkeit bei Kindern beschrieben. Manchen Personen der Zeitgeschichte werden diese Verhaltensweisen zugeschrieben, so etwa Alexander dem Großen, Dschingis Khan und Thomas Alva Edison (Resnick, 2000). Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese anekdotischen Beobachtungen von Psychiatern immer mehr systematisiert und mit unterschiedlichen diagnostischen Bezeichnungen belegt. So spielten im Laufe der Entwicklung des wissenschaftlichen Konzepts der heute als ADHS bezeichneten Symptomatik immer wieder auch die unregulierten Affekte eine Rolle. In der frühen kinderpsychiatrischen Literatur spricht etwa der englische Psychiater Maudsley (1835 – 1918) in seinem Lehrbuchkapitel über „Insanity of early life“ (1867) im Zusammenhang mit den „unruhigen Kindern“ auch von „affektivem Irresein“. Etwa 30 Jahre später beschreibt sein schottischer Kollege Thomas Clouston (1840 – 1915) „irreguläre explosive Tendenzen“ von Kindern, die an einer „übermäßigen Reaktion des Gehirns auf mentale und emotionale Reize“ leiden (Clouston, 1899; zitiert nach Warnke & Riederer, 2013, S. 6). In ihrer einflussreichen Arbeit „Hyperkinetic Impulse Disorder in Children’s Behavior Problems“ führen Lau|3|fer, Denhoff und Solomons (1957, zitiert nach Warnke & Riederer, 2013, S. 13) unter den Symptomen der hyperkinetisch-impulsiven Kinder auch irritability (Reizbarkeit) und explosiveness auf. Diese Begriffe, die stark an die klinischen Beschreibungen der affektiven Dysregulation erinnern, wurden später wegen ihrer vermeintlich geringen Spezifität aus den diagnostischen Kriterien für die ADHS herausgenommen.

Exkurs: Die Kontroverse um das klinische Bild früher bipolarer Störungen

Während US-amerikanische Arbeitsgruppen bei bis zu 20 % ihrer minderjährigen Patienten bipolare Störungen sehen (Biederman et al., 2005; Geller et al., 2002), werden z. B. in Deutschland bipolare Störungen vor der Adoleszenz kaum diagnostiziert und betreffen weniger als 0,5 % der Diagnosen in Kliniken und Praxen (Holtmann et al., 2008). Auch andere europäische Länder berichten durchweg von niedrigen Raten an Heranwachsenden mit bipolaren Störungen (Soutullo, DelBello, Ochsner et al., 2002).

Betrachtet man die Veränderung der Diagnoseraten in den letzten 20 Jahren, so wird deutlich, dass die Prävalenzunterschiede auf einen rasanten Anstieg der Zahlen bipolar erkrankter Minderjähriger in den USA zurückzuführen sind. Zwischen 1994 und 2003 kam es dort zu einer Zunahme der ambulanten Kontakte wegen bipolarer Störungen um das 40-Fache, stationäre Behandlungen erlebten einen 4- bis 5-fachen Anstieg, bei einem gleichzeitigen Rückgang der diagnostizierten externalisierenden Störungen (Blader & Carlson, 2007; Moreno et al., 2007). Die klinische Relevanz dieser Entwicklung spiegelt sich in den deutlich gestiegenen Verschreibungszahlen von phasenstabilisierend wirkenden Antipsychotika in den USA um insgesamt 74 % in den Jahren 2002 bis 2006. In Deutschland dagegen findet sich zwar ebenfalls ein Zuwachs bipolarer Diagnosen bei Jugendlichen (Holtmann et al., 2010) und eine Zunahme der Verschreibungen von Antipsychotika (Bachmann et al., 2014), jedoch auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Möglicherweise sind diese veränderten Zahlen der Hinweis auf eine Neukonzeptualisierung diagnostischer Vorstellungen: Störungen, die „früher“ als gereizt-aggressiv oder psychotisch angesehen wurden, werden heute vielleicht teilweise als manisch-depressiv gedeutet. Insgesamt bleibt jedoch die Gesamthäufigkeit bipolarer Störungsbilder mit 0,27 % aller stationären Diagnosen im Jahr 2007 und bundesweit weniger als 400 Fällen weiterhin sehr niedrig, und der Zuwachs beschränkt sich auf die Altersgruppe über 15 Jahren, im Unterschied zu den häufig in den USA diagnostizierten Kindern (Holtmann et al., 2010). Bipolare Erkrankungen bei Kindern können in Deutschland weiter als wirkliche Rarität gelten.

Gründe für unterschiedliche Prävalenzraten in Europa und den USA

Angesichts der transatlantisch vergleichbaren, stabilen Prävalenzzahlen für bipolar erkrankte Erwachsene spricht wenig dafür, dass die unterschiedlichen Prävalenzen und die Zuwachsraten bei Kindern und Jugendlichen auf tatsächliche Unterschiede zurückzuführen sind.

Mehrere Hypothesen zur Erklärung der diskrepanten Entwicklung in den USA und Europa wurden bisher aufgestellt und teilweise widerlegt. So postulieren einige Autoren, dass der höhere Gebrauch an Psychostimulanzien und Antidepressiva in den USA manische Episoden bei entsprechend veranlagten Kindern befördern könnten. Dagegen steht jedoch eine wachsende Anzahl von sorgfältigen Studien, die zeigen, dass Stimulanzien nicht die Entwicklung von bipolaren Störungen begünstigen (Galanter et al., 2003; Tillman & Geller, 2006). Eher scheinen die in den USA üblichen restriktiven Regelungen bei der Kostenerstattung durch die Krankenkassen die Tendenz eines diagnostischen „Herauf-Kodierens“ von vermeintlich „einfachen“ Störungen des Sozialverhaltens und ADHS zugunsten der als gravierender angesehenen bipolaren Störungen zu fördern, um einen Krankenhausaufenthalt zu rechtfertigen.

|4|Höchstwahrscheinlich spielt die entscheidende Rolle jedoch die unterschiedliche diagnostische Bewertung des Mischbildes aus Stimmungsinstabilität, Reizbarkeit und Aufmerksamkeitsstörung im Kindesalter. Identische Fallvignetten, bei denen Manie als Differenzialdiagnose infrage kam, werden von Kinderpsychiatern in den USA viel häufiger als bipolare Störung eingeordnet als von britischen Kollegen (Dubicka, Carlson, Vail & Harrington, 2008).

1.2 Symptomatik

Mit dem Begriff Störung der Affektregulation, wie er in diesem Leitfaden verstanden wird, wird ein klinisches Mischbild bei Kindern und Jugendlichen umschrieben, das neben plötzlichen und unvorhersehbaren depressiven Stimmungsauslenkungen zusätzlich gekennzeichnet ist durch Reizbarkeit und Wutanfälle, erhöhte Erregbarkeit, hitziges Temperament und niedrige Frustrationstoleranz. Viele der Kinder sind zudem schnell ablenkbar und unruhig. Das formale Denken ist immer wieder gekennzeichnet durch Gedankenrasen und Ideenflucht, die sich auch in einem erhöhten Rededrang ausdrücken können. Diese „Denkstörungen“ haben manche Autoren als Ausdruck einer Nähe zu manischen Symptomen deuten wollen.

Gestörte Affektregulation: Eigenständige Störung oder diagnoseübergreifende Symptomatik? Der vorliegende Leitfaden geht davon aus, dass die Störung der Affektregulation besser nicht als eigenständige, klar abgrenzbare diagnostische Entität angesehen werden sollte, sondern als ein diagnoseübergreifendes klinisches Bild, das im Kontext verschiedener psychischer Störungen komplizierend hinzutreten kann. Dennoch muss auch diese Konzeptualisierung handhabbar gemacht werden für den Alltag in Klinik und Praxis. Um der Unschärfe, die mit dem Begriff der affektiven Dysregulation verbunden ist, eine konkrete, nachvollziehbare Operationalisierung entgegenzusetzen, stützen wir uns daher im Folgenden auf Kriterien, die von Leibenluft et al. (2003) für die Severe Mood Dysregulation vorgeschlagen wurden (vgl. Tabelle 1). Das gegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen diagnoseübergreifender Konzeption und konkreten Kriterien, die ein abgrenzbares Störungsbild suggerieren, lässt sich dabei nicht ganz auflösen und prägt den gesamten vorliegenden Band. Es wird aber unseres Erachtens der aktuellen, notwendigerweise noch sehr vorläufigen Datenlage am besten gerecht.

Um eine Pathologisierung und Medikalisierung von Entwicklungsphänomenen und eine Ausweitung auf normales Verhalten zu vermeiden und einer unzulässigen Ausweitung und „Verdünnung“ vorzubeugen, kommt es entscheidend darauf an, die Kriterien für die Störung der Affektregulation oder SMD sehr ernst zu nehmen, insbesondere jene mit Bezug zur Häufigkeit und Dauer der Symptomatik. Andernfalls ist über ein „up-coding“ der Psychiatrisierung von normalem Verhalten Tür und Tor geöff|5|net. Copeland u. a. (2013) konnten zeigen, dass bei strikter Anwendung der Kriterien die Häufigkeit von Störungen der Affektregulation bei etwa 1 % liegt (zur Epidemiologie vgl. Kapitel 1.6).

Tabelle 1: Diagnostische Kriterien für „Severe Mood Dysregulation“ (SMD; nach Leibenluft et al., 2003; vgl. Grimmer et al., 2010).

Einschlusskriterien

Ausschlusskriterien

Außergewöhnlich veränderte Stimmung (v. a. Ärger und Traurigkeit) über mindestens die Hälfte eines Tages, nahezu täglich

Mindestens drei Symptome erhöhter Erregbarkeit: Schlafstörung, Ablenkbarkeit, Gedankenrasen, Unruhe, Ideenflucht, Rededrang, Aufdringlichkeit

Wutanfälle, Reizbarkeit, verbale oder körperliche Aggressivität mehr als dreimal pro Woche

Alter 7 bis 17 Jahre, Beginn der Symptomatik vor dem 12. Lebensjahr

Dauer der oben genannten Symptome mehr als 12 Monate

Beeinträchtigung in mindestens einem Funktionsbereich: Schule, Familie, Gleichaltrigengruppe

Vorliegen eines der drei Hauptsymptome einer manischen Störung:

deutlich vermindertes Schlafbedürfnis

Größenideen, gesteigerter Selbstwert

gehobene, expansive, euphorische Stimmungslage

Die oben genannte Symptomatik zeigt klar episodischen Charakter (Dauer mehr als vier Tage)

Vorliegen einer Schizophrenie, Suchterkrankung oder Posttraumatischen Belastungsstörung

1.3 Diagnose nach ICD-10 und DSM-5

In der ICD als dem für die deutschsprachigen Länder maßgeblichen Klassifikationssystem psychischer Störungen ist die Störung der Affektregulation kein „anerkanntes“ eigenständiges Krankheitsbild mit eigenem Diagnoseschlüssel. Dies wird voraussichtlich auch in der anstehenden Revision der ICD so bleiben. Daher ist mithilfe der ICD im traditionellen Sinn eine Diagnostik und Differenzialdiagnostik der Symptomatik affektiver Dysregulation nicht möglich. Ziel in der Praxis sollte es sein, mit den nach der ICD möglichen Diagnosen die Symptomatik der gestörten Affektregulation bestmöglich abzubilden und insbesondere der Komorbidität zwischen internalisierenden und externalisierenden Symptomen Beachtung zu schenken. Im deutschsprachigen Raum werden mehr als 80 % der Patienten mit Störungen der Affektregulation mit Diagnosen aus dem Spektrum der ausagierenden (disruptiven) Verhaltensstörungen klassifiziert, etwa als Hyperkinetische Störungen (mit und ohne begleitende Sozialverhaltensstörung) oder Störungen des Sozialverhaltens (mit oder ohne kombinierte emotionale Störungen) (Holtmann et al., 2008).

|6|Im DSM-5 wurde hingegen mit der Disruptiven Affektregulationsstörung (engl. Disruptive Mood Dysregulation Disorder, DMDD) eine eigene Diagnosekategorie für Kinder, die eine schwere Störungen der Affektregulation als Hauptmerkmal aufweisen, geschaffen. Die Kriterien hierfür ähneln in weiten Teilen denen der SMD; wesentlicher Unterschied ist das Fehlen von Symptomen erhöhter Erregbarkeit bei der DSM-5-Diagnose. In europäischen Ländern wird dieser Verhaltensphänotyp hilfsweise oft als „kompliziertes ADHS“ oder „ADHS plus“ bezeichnet (und dann als hyperkinetische Störung diagnostiziert) oder als kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, depressive Störung oder beginnende emotional-instabile Persönlichkeitsstörung klassifiziert. Die diagnostischen Kriterien für die Disruptive Affektregulationsstörung finden sich detailliert in Leitlinie 4 zur Diagnosestellung.

Störungen der Affektregulation zeigen Ähnlichkeiten und Überlappungen mit vielen anderen psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Insbesondere um die Therapie entsprechend abzustimmen, ist deshalb eine genaue Sicherung der Diagnose unter Erwägung der verschiedenen differenzialdiagnostischen Optionen dringend geboten. Wichtig sind u. a. die Exploration der zeitlichen Reihenfolge des Auftretens von Symptomclustern (affektiv, reizbar-impulsiv) und die Beschreibung ihres Verlaufs, um zu klären, ob beispielsweise primär eine alleinige affektive Störung, eine Störung des Sozialverhaltens oder eine hyperkinetische Störung vorlag, die später Symptome einer SMD nach sich gezogen hat. In den Leitfäden (vgl. Kapitel 2) finden sich hierzu konkrete Empfehlungen und Beispiele.

1.4 Differenzialdiagnostische Aspekte und Komorbidität

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Störungen der Affektregulation und anderen psychischen Störungen stellen eine Herausforderung für die Diagnostik dar. Häufig sind begleitende Schlafstörungen, insbesondere ein reduziertes Schlafbedürfnis, und enthemmtes Verhalten. Auch suizidale Gedanken, Äußerungen und Handlungen sind häufiger als bei allen anderen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters.

Bei genauerer Betrachtung zeigen sich bei vielen der Kinder mit Störungen der Affektregulation auch Besonderheiten im Bereich der sozialen Interaktion, etwa wenn soziale Situationen von ihnen schnell als vermeintlich feindselig oder provozierend erlebt werden und sie darauf heftig mit Ärger, Wut und Angst reagieren. Neuropsychologisch belegbar sind häufig Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen, der kognitiven Flexibilität und der Impulskontrolle (Dickstein et al., 2007).

Abgrenzung von Bipolaren Störungen. Einige Befunde zeigen eine Überlappung von Störungen der Affektregulation mit Symptomen aus dem |7|engeren bipolaren Formenkreis, wie erhöhte Suizidalität, reduziertes Schlafbedürfnis oder sexuelle Enthemmung (Geller et al., 2002; Holtmann et al., 2008). Vor dem Hintergrund bisher verfügbarer Befunde sollte bei der Diagnostik klassischer bipolarer Störungen bei Jugendlichen und Kindern vorrangig auf das Auftreten von abgrenzbaren Episoden mit eindeutigen Stimmungsänderungen und begleitenden Veränderungen von Kognition und Verhalten geachtet werden. Liegen derartige Episoden nicht vor, ist nach jetzigem Erkenntnisstand auch keine bipolare Störung zu diagnostizieren (Grimmer et al., 2010).

Allerdings zeigen Jugendliche mit bipolaren Störungen häufigere Episodenwechsel pro Jahr als betroffene Erwachsene und mehr symptomatische Tage (Birmaher et al., 2006). So wurde bei jüngeren Patienten vermehrt eine extrem kurze Zyklenfolge beschrieben und mit dem Begriff „ultra-rapid cycling“ (wenige Tage anhaltende Episoden) charakterisiert (Grimmer et al., 2010). In der Adoleszenz gleicht sich die Symptomatik der des Erwachsenenalters zunehmend an.

Oppositionelle Störungen. Eine ganze Reihe der Symptome oppositioneller Störungen (nach ICD-10: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten; nach DSM-5: Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten) kommen auch bei Störungen der Affektregulation i. S. von SMD oder DMDD vor. Störungen der Affektregulation im Kindesalter gehen überzufällig häufig mit oppositionellen Störungen einher; umgekehrt sind bei oppositionellen Störungen Veränderungen der Stimmung mit ca. 15 % relativ selten (APA/Falkai et al., 2015). Im Unterschied zu oppositionellen Störungen sind für die Störungen der Affektregulation die anhaltende Veränderung der Stimmung auch zwischen Wutanfällen und die Schwere der Wutausbrüche besonders charakteristisch. Im Verlauf führen oppositionelle Störungen eher zu delinquenten, dissozialen Störungen, während die gestörte Affektregulation ein Vorläufer von Depression und Angststörungen ist (Holtmann et al., 2011).

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und Störungen der Affektregulation. Störungen der Affektregulation sind weder nach ICD-10 noch nach DSM-5 Kernmerkmale einer ADHS. Impulsivität ist zwar Merkmal einer ADHS, doch bezieht sie sich nicht auf eine affektive Impulsivität, sondern mehr auf Impulsivität in Denk- und Handlungsabläufen. Quer- und prospektive Längsschnittstudien zeigen jedoch, dass die Störung der Affektregulation im Kindesalter überzufällig häufig mit einer ADHS (mit und ohne begleitende Störung des Sozialverhaltens) einhergeht. Etwa 15 % bis 20 % der Kinder mit ADHS weisen eine solche erschwerende SMD-Symptomatik auf (Copeland et al., 2013; Holtmann et al., 2008; Hudziak et al., 2005).

Oppositionelle Störungen/Störungen des Sozialverhaltens. Eine der größten diagnostischen Herausforderungen besteht in der Abgrenzung von Störungen der Affektregulation von Störungen des Sozialverhaltens. Hilf|8|reich für die Beantwortung der noch vielen offenen Fragen ist sicherlich, dass die Idee einer einheitlichen, homogenen Störung des Sozialverhaltens aufgegeben wurde und innerhalb dieser tradierten diagnostischen Kategorie nach Unterformen und Subtypen gesucht wird. Die Forschung hierzu ist noch jung, hat aber dazu geführt, dass im DSM-5 vor dem Hintergrund der idealtypischen Unterscheidung von „hot aggression“ (reaktiv-impulsiv) und „cold aggression“ (unempathisch, zielgerichtet-instrumentell) eine Zusatzcodierung (sog. Specifier) eingeführt wurde. Mit dem Zusatz „mit reduzierter prosozialer Emotionalität“ werden Persönlichkeitsmerkmale wie Gefühlskälte und Emotionslosigkeit näher bezeichnet, die aus der Literatur als callous-unemotional traits (CU-traits) bekannt sind (Stadler, 2014). Das Konzept der „hot aggression“ ist eng verwandt mit Reizbarkeit („irritability“), einem zentralen Symptom der gestörten Affektregulation. So wurde vorgeschlagen, auch die oppositionellen Störungen zu unterteilen in einen reizbaren (irritable) und einen eigensinnig-halsstarrigen (headstrong) Subtyp (Stringaris & Goodman, 2009). Manche Autoren unterscheiden zudem noch einen verletzend-schädigenden Typ (hurtful). Im Verlauf geht Reizbarkeit eher mit Depression und Angststörungen einher, während der „Headstrong“-Subtyp spätere Delinquenz vorhersagt.

Differenzialdiagnostisch wird im Einzelfall schwierig sein, dass alle Bemühungen um Unterformen von idealtypischen, gut abgrenzbaren Störungsbildern ausgehen, während sich im klinischen Alltag häufig Mischformen finden.

Während die Abgrenzung der Störungen der Affektregulation von den unempathischen, zielgerichtet-instrumentellen Verhaltensstörungen in der Regel gut gelingen wird, ist die Überlappung mit den reizbar-impulsiven oppositionellen Störungen schwierig und nosologisch letztlich noch nicht geklärt. Klinisch hilfreich kann es sein, bei Kindern, die häufig wütend und empfindlich sind und heftige, wiederkehrende Wutausbrüche zeigen, darauf zu achten, ob begleitend andere externalisierende Verhaltensweisen beobachtbar sind oder nicht.

Depression und Störungen der Affektregulation. Kinder mit SMD haben ein größeres Risiko, im späteren Leben an einer depressiven Störung zu erkranken (Baroni et al., 2009; Holtmann et al., 2011). Insofern könnte die SMD im Sinne eines Vorläufers einer Major Depression gewertet werden. Depressive Episoden und auch dysthyme Störungen bei Kindern und Jugendlichen können zudem ähnlich wie die Störung der Affektregulation Reizbarkeit als ein Hauptmerkmal aufweisen, auch wenn dies in der ICD-10 (im Unterschied zum DSM-5) nicht Bestandteil der diagnostischen Kriterien ist. Die Unterscheidung zwischen SMD und Depression gelingt am besten aufgrund des zumeist episodischen Charakters der Depression im Gegensatz zur chronischen Reizbarkeit und anhaltenden Herabgestimmtheit bei Kindern mit SMD.

|9|In der ICD-10 wird das gleichzeitige Auftreten von depressiven Symptomen mit ausagierenden Verhaltensweisen auch als „kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen“ erfasst; diese Diagnose wird häufig bei Kindern und Jugendlichen gestellt, die eine SMD-Symptomatik aufweisen (Holtmann et al., 2008).

Substanzmissbrauch und Störungen der Affektregulation. Suchterkrankungen treten bei Jugendlichen mit Störung der Affektregulation häufig begleitend auf; zudem stellt SMD einen Risikofaktor für späteren Substanzkonsum dar (Holtmann et al., 2011). Substanzmissbrauch und Entzugssymptome können sich ebenfalls in Symptomen äußern, die denen einer Störung der Affektregulation ähneln. Zumeist lassen die Symptome jedoch nach Abklingen der Wirkung des konsumierten Stoffes bzw. von Entzugssymptomen nach, und es lässt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Konsum/Entzug und der Symptomatik herstellen.

1.5 Ätiologie

Da es erst seit kurzem eine diagnostische Kategorisierung des Störungsbildes gibt, steht die Erforschung zu Entstehungsmechanismen und aufrechterhaltenden Faktoren der affektiven Dysregulation noch am Anfang. Die meisten Befunde stammen aus Studien, die Patienten mit dem Störungsbild der affektiven Dysregulation entweder über das Dysregulations-Profil der Child Behavior Checklist (CBCL-DP1) oder anhand der Kriterien für SMD nach Leibenluft et al. (2003) untersucht haben.