Stottern im Kindesalter - Patricia Sandrieser - E-Book

Stottern im Kindesalter E-Book

Patricia Sandrieser

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Beschreibung

Das Standardwerk zum Stottern im Kindesalter - mit dem Therapieansatz KIDS! - von den Experten für kindliches Stottern - ausgewählte Ansätze zu Prävention, Diagnostik und Therapie - Vorstellung verschiedener Therapiemethoden - Schwerpunkt auf KIDS Kinder dürfen stottern - Methoden der Erfolgskontrolle - Elternarbeit und Elterngruppen Neu: - Dokumentations- und Fragebögen als kostenloser Download - Therapieansatz KIDS jetzt für drei verschiedene Altersgruppen Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

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Stottern im Kindesalter

Norina Lauer, Dietlinde Schrey-Dern

Patricia Sandrieser, Peter Schneider

4., überarbeitete Auflage

26 Abbildungen

Vorwort der Herausgeberinnen

Der Wissenszuwachs in Theorie und Praxis der Logopädie in den vergangenen 2 Jahrzehnten dokumentiert sich auch in der vorliegenden Publikation, die im Jahre 2001 zum ersten Mal in der Reihe Forum Logopädie erschienen ist. Damals gab es „noch viele offene Fragen hinsichtlich des Stotterns im Kindesalter“. In der Zwischenzeit ist „kindliches Stottern ... im Vergleich zu anderen Störungen des Spracherwerbs sehr gut erforscht“. Daher kann es mittlerweile auch von „normalen Unflüssigkeiten im Sprechen“ sehr gut abgegrenzt werden und es gibt zahlreiche praxiserprobte Therapiemethoden.

In der vorliegenden 4., vollständig überarbeiteten Neuauflage wurden die theoretischen Grundlagen umfassend aktualisiert. Dies gilt insbesondere bei der Darstellung möglicher Ursachen und dem Wissen um den Einfluss genetischer Disposition, der differenzierten Darstellung von Risikofaktoren und des Zusammenhangs zwischen allgemeiner kindlicher Entwicklung und Stottern, wobei der Aspekt Mehrsprachigkeit neu hinzugekommen ist.

Auch der Bereich der Diagnostik hat eine gründliche Revision erfahren. Diagnostik bezieht sich nicht nur im engeren Sinn auf die Analyse der Symptome und damit auf die Feststellung, ob überhaupt ein Stottern vorliegt, sondern auch darauf, welche Risikofaktoren vorliegen. Erst die Untersuchung beider Aspekte lässt eine Einschätzung darüber zu, ob eine Therapie erforderlich ist oder nicht.

Die Therapiekonzepte KIDS, Mini-KIDS und Schul-KIDS, die auf modelltheoretischen Grundlagen basieren, sowie die Arbeit mit Elterngruppen stehen auch in der 4. Auflage im Mittelpunkt der Darstellung. Die umfangreichen Erfahrungen von Sandrieser u. Schneider bei der Durchführung und Evaluation ihrer Therapiemethoden werden in zahlreichen Praxisbeispielen deutlich.

Wir hoffen, dass auch diese Neuauflage den Diskussionsprozess zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen, die im Bereich kindlichen Stotterns forschen, therapeutisch arbeiten oder sich in der Selbsthilfe engagieren, anregt und dadurch dazu beiträgt, die Versorgung der Kinder und die Beratung der Eltern zu optimieren.

Wir möchten uns sehr herzlich bedanken bei Patricia Sandrieser und Peter Schneider, denen es gelungen ist, in der vorliegenden Publikation theoretisches Wissen mit Praxiserfahrungen zu verknüpfen. Unser besonderer Dank gilt Prof. Dr. Kohlschmidt, Präsident des Berufsverbands Deutscher Humangenetiker e.V. (BVDH), der von Autorenseite angefragt ganz selbstverständlich seine fachwissenschaftliche Expertise zur genetischen Verursachung von Stottern eingebracht hat.

Idstein und Aachen im Juli 2015

Norina Lauer

Dietlinde Schrey-Dern

Vorwort

„Vor dem Handeln steht die Erkenntnis.“ (Max Planck)

„60 Jahre Stotterforschung haben uns die Erkenntnis gebracht, dass stotternde Kinder sich von nichtstotternden Kindern dadurch unterscheiden, dass sie stottern.“ Mit diesem Satz fasste Professor Kalveram in einem seiner Forschungsprojekte zur Grundlagenforschung an der Universität Düsseldorf im Jahr 2000 pointiert den Wissensstand zusammen. An dem kleinen Störungsbild Stottern lässt sich viel ablesen, was die Logopädie in den letzten beiden Jahrzehnten verändert hat und wie sich logopädisches Handeln professionalisiert hat. Wenn wir als Autoren durch die ersten Auflagen des Buches blättern, können wir feststellen, dass auch der Fokus der logopädischen Therapien sich verändert hat. Nach einer Zeit, die fast ausschließlich von indirekten Therapiekonzepten geprägt war und der Suche nach der Ursache des Stotterns – in der Hoffnung, damit gleich noch den Schlüssel zur Heilung dieser Störung zu besitzen – stehen heute mehrere Therapiekonzepte zur Verfügung.

Die logopädische Arbeit hat sich verändert: Im Vordergrund steht nicht mehr die Frage ob ein Kind stottert, sondern ob das Stottern behandlungsbedürftig ist. Viele Lücken konnte die Forschung füllen und mit dem erweiterten Wissen hat sich, wie in vielen anderen Teilen der Logopädie, ein Paradigmenwechsel vollzogen: Unser therapeutisches Handeln fußt auf dem Selbstverständnis, Therapieplanung theoriebasiert anzubieten und unser Vorgehen den Patienten, Kostenträgern und begleitenden Berufsgruppen nachvollziehbar begründen zu können. Die Kunst therapeutischen Handelns vollzieht sich in dem Spannungsfeld, evidenzbasiertes Vorgehen als Grundlage logopädischen Handelns zu verstehen und trotzdem nicht aus den Augen zu verlieren, dass der Auftrag unserer Arbeit nicht nur die Verbesserung der Sprechflüssigkeit ist, sondern auch kommunikative Fähigkeiten und die Teilhabe am Leben zu erweitern.

Für junge Kinder muss das oberste Therapieziel sein, die Remissionschancen zu vergrößern. Da aber kein Therapieansatz für sich in Anspruch nehmen kann, jedes Kind zu heilen, werden wir uns auch weiterhin um die Kinder kümmern müssen, die weiterhin stottern.

Das Interesse an internationaler Forschung ist ungebrochen, nicht zuletzt aufgrund der noch geringen Forschungsaktivität im deutschsprachigen Raum, aber wir müssen realistisch sehen, dass viele Therapiestudien mit Stichproben durchgeführt wurden, die sich mit dem Klientel einer logopädischen Praxis in Deutschland nicht vergleichen lassen. Therapieangebote müssen auch dahingehend geprüft werden, ob sie den Erfordernissen unseres Gesundheitswesens und den vielfältigen Formen familiären Zusammenlebens gerecht werden. Als Beispiel nennen wir die Herausforderung, in einem Gesundheitswesen zu arbeiten, in dem Erziehungs- und Therapiearbeit nicht nur im Elternhaus, sondern auch in professionellen Einrichtungen stattfindet.

Die Elternberatung nimmt nach wie vor einen zentralen Teil bei der Arbeit mit stotternden Kindern ein, denn noch immer gibt es in unserer Gesellschaft Vorurteile gegenüber stotternden Menschen. Solange diese fortbestehen, ist unsere Rolle als Multiplikatoren noch nicht erfüllt.

Wir danken den vielen Kolleginnen/Kollegen und Studentinnen/Studenten, denen wir im Rahmen von Fortbildungen und Supervisionen begegnet sind, und die uns teilhaben ließen an ihren Erfahrungen, Gedanken und Fragestellungen zur Therapie mit stotternden Kindern. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass wir in den letzten Jahren unsere eigene Arbeit immer wieder hinterfragt und unsere Angebote zur Schulung von Kolleginnen/Kollegen verändert haben. Wir sind dankbar für ein Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz und für den Austausch an unseren Arbeitsplätzen.

Unseren Herausgeberinnen danken wir für die schnelle und konkrete Unterstützung in inhaltlichen und formalen Fragen. Unser besonderer Dank gilt Dr. med. Kohlschmidt, Präsident des Berufsverbands Deutscher Humangenetiker für seine kritische Durchsicht und Erweiterung unseres Textes zum gesicherten Forschungsstand der Genetik.

Nach vielen Jahren, die wir uns auch selbst in Hochschulen einbringen und Studierende begleiten dürfen, ist es an der Zeit, einigen Personen zu danken, die uns geholfen haben, eine logopädisch geprägte Sichtweise einzunehmen, ohne deshalb den Spaß an der Interdisziplinarität zu verlieren:

Professor Huber, Dr. Luise Springer und Professor Willmes-v. Hinckeldey; R. Stes und R. Boey und Professor Stetter, die uns als Förderer der Logopädie und Vorbilder in Sachen wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens unterstützt und begleitet haben und dies zum Teil noch tun.

Hinter großen Projekten stehen immer mehr Personen, als die Autorenliste vermuten lässt: Wir schulden unseren Familien wieder Dank dafür, dass Sie uns nun zum vierten Mal für einen langen Zeitraum den Rücken freihielten und die Überarbeitung des Buches dadurch ermöglichten. Danke an Johanna und Torsten, Benjamin und Anna-Magdalena, sowie Julika und Joris!

Koblenz und Vaals, im Juli 2015

Patricia Sandrieser

Peter Schneider

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberinnen

Vorwort

1 Theoretische Grundlagen

1.1 Eingrenzung des Begriffs „Stottern im Kindesalter“

1.1.1 Ätiologie

1.1.2 Definition

1.2 Charakteristika des Stotterns im Kindesalter

1.3 Developmental Stuttering

1.3.1 Remission

1.3.2 Geschlechtsspezifisches Auftreten

1.3.3 Zeitfenster für Remissionen

1.4 Abgrenzung des Stotterns im Kindesalter

1.4.1 Eindeutige Nomenklatur

1.4.2 Diagnose und Indikation zur Therapie

1.4.3 Differenzialdiagnostik

1.5 Unflüssiges Sprechen und Stottern

1.5.1 Was ist unflüssiges Sprechen?

1.5.2 Arten von Sprechunflüssigkeiten

1.6 Stottern

1.6.1 Kernsymptome

1.6.2 Begleitsymptome

1.6.3 Coping-Strategien

1.6.4 Wechselwirkung von Kern- und Begleitsymptomatik

1.7 Theorie des flüssigen und unflüssigen Sprechens

1.7.1 Sprachliche Flüssigkeit

1.7.2 Sprechnatürlichkeit – Starkweathers Konzept des flüssigen und unflüssigen Sprechens

1.7.3 Starkweathers Definition des Stotterns

1.7.4 Ziel einer Therapie des Stotterns

1.8 Entwicklung des flüssigen Sprechens

1.8.1 Entwicklung von Unflüssigkeiten

1.9 Beginn und Verlauf des Stotterns

1.9.1 Praxisrelevanz

1.9.2 Daten zu Beginn und Verlauf

1.9.3 Remission

1.10 Ursache der Störung

1.10.1 Genetische Verursachung

1.10.2 Wechselwirkung von Genetik und äußeren Einflüssen

1.10.3 Ursachen einzelner Stotterereignisse

1.10.4 Auslösende Faktoren

1.11 Risikofaktoren, die die Remissionswahrscheinlichkeit verringern

1.11.1 Alter des Kindes bei Stotterbeginn

1.11.2 Geschlecht

1.11.3 Familiäre Disposition

1.11.4 Symptomhäufigkeit im Verlauf

1.11.5 Phonologische Entwicklung

1.11.6 Emotionale Reaktionen des Kindes auf Stottern

1.11.7 Temperament

1.11.8 Erziehungsstil und Interaktionsverhalten

1.11.9 Zeitdruck

1.11.10 Modulatoren/Einflussfaktoren

1.12 Kindliche Entwicklung und Stottern

1.12.1 Sensomotorische Entwicklung und Stottern

1.12.2 Kognitive Entwicklung und Stottern

1.12.3 Sprachentwicklung und Stottern

1.12.4 Mehrsprachigkeit

1.12.5 Emotionale Entwicklung und Stottern

1.13 Stottern und Gesellschaft

1.13.1 Stigmatisierung

1.13.2 Familie

1.13.3 Kindergarten und Schule

1.13.4 Darstellung in den Medien

1.13.5 Therapeutische Versorgung von Stotternden

1.14 Theorien und Modelle der Entstehung von Stottern

1.14.1 Johnsons diagnosogene Theorie

1.14.2 Starkweathers Modell von Anforderungen und Fähigkeiten

1.14.3 „Packman & Attanasio 3-factors causal model of moments of stuttering” (P&A-Modell)

1.14.4 Läsions-Kompensations-Theorie

1.15 Schlussfolgerungen für Prävention und Therapie

1.15.1 Prävention von Stottern

1.15.2 Stottern in der ICF

1.15.3 Anforderungen an eine Therapie von Stottern im Kindesalter

1.15.4 Therapieerfolg

2 Diagnostik

2.1 Prognose

2.2 Frühe und späte Diagnostik

2.3 Zweigeteilte Diagnostik

2.4 Konsequenzen einer Fehldiagnose

2.5 Nomenklatur

2.5.1 Dauer der Störung

2.5.2 Überdauerndes Stottern

2.5.3 Schweregrad

2.5.4 Behandlungsbedürftigkeit

2.5.5 Normale Redeunflüssigkeiten

2.5.6 Weitere Begriffe

2.6 Ziele und Grundsätze der Diagnostik

2.6.1 Diagnosestellung

2.6.2 Elternberatung

2.6.3 Grundsätze

2.7 Bereiche der Diagnostik

2.7.1 Bereich Stottersymptomatik

2.7.2 Bereich psychische Reaktionen auf das Stottern

2.7.3 Bereich Risikofaktoren

2.8 Ablaufplan einer Diagnostik

2.9 Diagnostikverfahren

2.9.1 Anamnese

2.9.2 Diagnostikverfahren im Bereich Sprech- und Stotterverhalten

2.9.3 Diagnostikverfahren zum Bereich psychische Reaktionen auf Stottern

2.9.4 Diagnostikverfahren zum Bereich Risikofaktoren

2.10 Auswertung

2.10.1 Auswertung des Bereichs Stottersymptomatik

2.10.2 Auswertung des Bereichs psychische Reaktionen auf das Stottern

2.10.3 Auswertung des Bereichs Risikofaktoren

2.10.4 Konsequenzen für die Therapie

2.10.5 Befunderstellung

3 Therapie

3.1 Ziele der Stottertherapie

3.1.1 Vermittlung funktioneller Coping-Strategien

3.1.2 Sprecherkompetenz entwickeln, Defizite abbauen

3.1.3 Therapieplanung

3.1.4 Therapieziele im Bereich Stottersymptomatik

3.1.5 Therapieziele im Bereich psychische Reaktionen

3.1.6 Therapieziele im Bereich Risikofaktoren

3.2 Hauptrichtungen der Stottertherapie

3.2.1 Indirekte Ansätze

3.2.2 Direkte Ansätze

3.3 Evaluation und Effektivitätsnachweis

3.3.1 Ziele der Evaluation

3.3.2 Messung von Therapieerfolgen

3.3.3 Messkriterien

3.3.4 Messzeitpunkte

3.4 Therapieplanung

3.4.1 Paralleles Auftreten anderer Störungen

3.4.2 Dynamische Therapieplanung

3.5 Erstberatung

3.5.1 Basisinformationen

3.5.2 Therapieangebote

3.5.3 Beratung bei nicht behandlungsbedürftigem Stottern

3.5.4 Beratung bei Notwendigkeit einer anderen Therapie als einer direkten Stottertherapie

3.5.5 Beratung bei behandlungsbedürftigem Stottern

3.6 Der Ansatz KIDS

3.6.1 Van Ripers Therapieansatz

3.6.2 Früher Therapiebeginn

3.6.3 KIDS

3.6.4 Funktionelle Coping-Strategien

3.6.5 Therapieindikation

3.6.6 Bereich Stottersymptomatik

3.6.7 Bereich psychische Reaktionen

3.6.8 Bereich Risikofaktoren

3.6.9 Einbeziehen von Bezugspersonen

3.6.10 Methoden und Techniken von KIDS

3.6.11 Allgemeine Therapieprinzipien

3.6.12 Rahmenbedingungen für KIDS

3.6.13 Qualifikation der Therapeutin

3.7 Mini-KIDS – ein Konzept zur frühen direkten Therapie mit stotternden Kindern

3.7.1 Evaluation

3.7.2 Therapieziel

3.7.3 Modellfunktion der Therapeutin

3.7.4 Überblick über das therapeutische Vorgehen

3.7.5 Phasen der Therapie

3.7.6  Die Arbeit mit 2- und 3-jährigen Kindern

3.7.7 Die Arbeit mit 4- bis 6-jährigen Kindern

3.7.8 Elternbeteiligung in der Einzeltherapie mit Mini-KIDS

3.8 Schul-KIDS

3.8.1 Entwicklungsstand

3.8.2 Stotterverhalten

3.8.3 Psychische Reaktionen

3.8.4 Zielsetzungen von Schul-KIDS

3.8.5 Phasen der Therapie

3.9 Elterngruppen bei Mini-KIDS und Schul-KIDS

3.9.1 Ziele

3.9.2 Planung und Vorbereitung

3.9.3 Rolle und Aufgabe der Therapeutin

3.9.4 Inhalte der Elterngruppe

4 Literatur

5 Bezugsquellen und Adressen

5.1 Bezugsquellen

5.2 Vereinigungen von Stottertherapeuten

5.3 Fortbildungen zum Konzept KIDS

5.4 Selbsthilfeorganisationen

5.5 Beratung, Unterstützung bei der Therapeutensuche

5.6 Weitere Informationen

6 Fragebögen und Dokumentation

6.1 SLS – Screening Liste Stottern

6.2 Elternfragebogen

6.3 Anamnese- und Befundbogen Stottern

6.4 SSI-4 – Stuttering Severity Instrument

6.5 SSI-4 – Auszählbogen

6.6 QBS – Qualitative Beschreibung von Stotterverhalten

6.7 Lesetext

6.8  Protokollbogen zum Lesetext

6.9 FF-SS – Fragebogen für Schülerinnen und Schüler

6.10 FF-SS – Fragebogen für Schülerinnen und Schüler: Bewertungsraster

6.11 FF-E – Fragebogen für Eltern

6.12 FF-E – Fragebogen für Eltern: Bewertungsraster

6.13 RSU – Reaktionen auf das Stottern des Untersuchers

6.14 FESK – Fragebogen für Eltern stotternder Kinder

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Theoretische Grundlagen

„Mein Kind stottert. Ist das bis zur Einschulung wieder vorbei?“ Mit dieser Frage stellen besorgte Eltern ihr Kind zur Diagnostik vor. Häufig haben sie selbst schon eine Vermutung, warum es stottert, etwa weil es „schneller denkt, als es sprechen kann“. Nicht selten sind Eltern verunsichert durch gängige Vorurteile wie: „Das haben alle Kinder, das wächst sich wieder aus.“ Oder: „Stotternde Kinder sind besonders sensibel. Ihr Stottern entstand durch die zu hohe Anspruchshaltung der Eltern. Jetzt braucht es eine Psychotherapie.“ Von der Logopädin erwarten sie nun, dass diese eine Diagnose stellt und vor allem möglichst schnell das Stottern beseitigt.

Kindliches Stottern ist im Vergleich zu anderen Störungen des Spracherwerbs sehr gut erforscht. Es kann sicher von normalen Unflüssigkeiten im Sprechen abgegrenzt werden und es gibt eine Vielfalt von praxiserprobten und theoretisch gut begründeten Vorgehensweisen zur Behandlung. So kann in vielen Fällen den stotternden Kindern und ihren Familien von logopädischer Seite kompetent geholfen werden.

1.1 Eingrenzung des Begriffs „Stottern im Kindesalter“

1.1.1 Ätiologie

Kindliches Stottern ist eine Störung des Sprechablaufs, für die eine Disposition vorliegt, d.h., die Veranlagung zu Stottern ist genetisch bedingt ▶ [217].

1.1.2 Definition

Guitar und auch Bloodstein und Bernstein Ratner beschreiben Stottern als Sprechablaufstörung, die durch Symptome gekennzeichnet sind, die dem Zuhörer als ungewöhnliche Unflüssigkeiten auffallen (▶ [157], S. 10–11; ▶ [83], S. 5–6; ▶ [40], S. 9):

Definition

Stottern

Stottern ist charakterisiert durch unfreiwillige Blockierungen, die Verlängerung von Lauten und die Wiederholung von Lauten.

Da diese knappe Definition das Stottern nicht deutlich genug von den Unflüssigkeiten im Sprechen von Nichtstotternden abgrenzt, erweitert man sie folgendermaßen:

Die oben genannten Unflüssigkeiten werden vom Stotternden wahrgenommen und antizipiert.

Der Stotternde weiß genau, was er sagen möchte, aber er ist in diesem Moment nicht in der Lage, dieses eine Wort flüssig zu sprechen, obwohl er problemlos ein anderes Wort sprechen oder dieses Wort zu einem anderen Zeitpunkt sagen könnte (▶ [455], S. 202, in: ▶ [389]).

Stottern ist demnach gekennzeichnet durch die Veränderung des Sprechflusses, die durch das vermehrte Auftreten bestimmter Unflüssigkeiten hörbar wird und die in manchen Fällen mit Anstrengung und einer Veränderung der Sprechgeschwindigkeit verbunden sein kann.

1.2 Charakteristika des Stotterns im Kindesalter

Die Inzidenz gibt an, wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der irgendwann in seinem Leben an dieser Störung erkrankt. 5 % aller Kinder haben im Laufe ihrer Entwicklung eine Phase, in der sie stottern. Bei diesen Kindern zeigen mindestens 3 % aller gesprochenen Silben stottertypische Symptome. In diesen Silben treten Laut- und Silbenwiederholungen, Dehnungen von Lauten und Blockierungen auf (▶ [9], ▶ [466], ▶ [389], S. 80 f.; ▶ [248]). Das typische Alter für den Beginn des Stotterns ist das 3. – 6. Lebensjahr ▶ [39]. Das Durchschnittsalter zu Stotterbeginn liegt bei 2,8 Jahren (▶ [40] in: ▶ [158], S. 15). Nach dem 12. Lebensjahr ist fast kein Beginn des Stotterns mehr zu erwarten (▶ [274], S. 46; ▶ [39], S. 110; ▶ [389], S. 78; ▶ [466]).

In einer Langzeitstudie in Newcastle upon Tyne konnte durch die Untersuchung von mehr als 1000 Kindern über 16 Jahre hinweg empirisch belegt werden, dass 5 % aller Kinder irgendwann ein Stotterproblem haben, das länger als 6 Monate anhält ▶ [9], ▶ [399]. Bis zur letzten Untersuchung im Alter von 16 Jahren hatten 79,1 % der Kinder ihr Stottern überwunden, wobei hier auch Kinder einbezogen wurden, die nur kurze Zeit gestottert haben.

In Dänemark wurden einige Jahre lang fast alle Kinder logopädisch erfasst, die innerhalb von 2 Jahren auf der Insel Bornholm geboren wurden. Wie in der britischen Studie wurde bei 5 % dieser mehr als 1000 Kinder Stottern diagnostiziert, wobei es nach 2 Jahren in 74 % und nach 5 Jahren in 85 % der Fälle zu einer Remission kam ▶ [248], ▶ [468]. Ungefähr 1 % aller Kinder blieb also stotternd.

Studien zur Inzidenz können methodische Probleme aufweisen, die zu Ungenauigkeiten führen. In der Studie von Mansson ▶ [248] werden keine Angaben gemacht, wie viele Kinder eine Therapie wegen ihres Stotterns erhielten. So kann nicht zwischen einer Spontanremission (Remission ohne therapeutische Intervention) und einer Remission im Zusammenhang mit einer Therapie unterschieden werden. In der Studie von Andrews und Harris ▶ [9] wurden Kinder nicht erfasst, deren Stotterepisode so kurz ist, dass sie nicht in das Intervall zwischen 2 Untersuchungszeitpunkten (6 Monate) fällt.

1.3 Developmental Stuttering

In der englischsprachigen Literatur spricht man daher von „developmental stuttering“, also Stottern, das im Verlauf der kindlichen Entwicklung entsteht (▶ [63] in: ▶ [242], S. 382). Dieses ist klar abzugrenzen von den normalen Unflüssigkeiten, die im Verlauf der Sprachentwicklung auftreten (▶ [389], S. 81; ▶ [344]).

In der aktuell bearbeiteten AWMF-Leitlinie hat sich die Expertenkommission auf die Beschreibung geeinigt: „Stottern, das in der Kindheit ohne erkennbare Ursache entsteht”. Damit ist es abzugrenzen von neurogenem oder psychogenem Stottern.

Merke

Die Diagnose „Stottern“ erlaubt noch keine Aussage darüber, ob das Stottern bei einem Kind bestehen bleibt oder ob das Kind sein Stottern überwinden wird.

1.3.1 Remission

Definition

Prävalenz

Die Prävalenz gibt an, wie groß der Anteil an der Bevölkerung ist, der zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Störung betroffen ist.

Der Vorteil gegenüber den Studien zur Inzidenz liegt darin, dass es ausreicht, die Datenerhebung einmal durchzuführen und keine Verlaufsbeobachtungen erforderlich sind. Solche Daten sind wichtig, um z.B. den therapeutischen Bedarf für die Gesamtbevölkerung zu ermitteln.

Da die durchgeführten Studien unterschiedliche (Alters-)Gruppen untersucht haben, bleiben die Zahlen uneinheitlich ▶ [158]. Nur bei ungefähr 1 % aller Kinder entwickelt sich ein überdauerndes Stottern, das bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt. Das bedeutet, dass 60 – 80 % der stotternden Kinder das Stottern vollständig überwinden ▶ [466], ▶ [389], ▶ [248], ▶ [40].

Eine neue Studie zu Inzidenz und Prävalenz wurde in Australien durchgeführt: Dort wurde telefonisch in einer repräsentativen Auswahl von mehr als 4600 Haushalten nachgefragt, ob stotternde Personen in diesem Haushalt leben. Mit den Betroffenen wurde dann ein Telefoninterview durchgeführt, das aufgezeichnet und nach Stotterereignissen untersucht wurde. Außerdem wurde erfragt, ob jemand in diesem Haushalt früher einmal gestottert hat. Craig und Mitarbeiter ermittelten auf diese Weise eine Prävalenz von 0,72 % in der gesamten Bevölkerung mit einer Inzidenz von 2,1 % Stotternder in der Altersgruppe von 21 bis 50 Jahren ▶ [88].

1.3.2 Geschlechtsspezifisches Auftreten

Zu Beginn des Stotterns ist der Anteil von Jungen und Mädchen noch fast gleich groß (▶ [209] in: ▶ [158]). Im Verlauf verschieben sich dann die Anteile, weil mehr Mädchen eine Remission haben: Im Jugendalter stottern deutlich mehr Jungen als Mädchen ▶ [158].

1.3.3 Zeitfenster für Remissionen

Die meisten Remissionen sind in den ersten beiden Jahren nach Stotterbeginn zu erwarten, aber auch nach jahrelangem Bestehen der Störung kann es noch zur Heilung kommen. Yairi und Mitarbeiter begleiteten Kinder zeitnah zum Stotterbeginn 4 Jahre lang und konnten Remissionen auch noch am Ende der Studie beobachten ▶ [468]. Bei den von ihnen untersuchten Kindern konnte außerdem kein Zusammenhang zwischen der Stärke des Stotterns und der Wahrscheinlichkeit einer Remission gefunden werden. Dabei ist wichtig zu beachten, dass die Kinder im Untersuchungszeitraum Therapie erhielten, wenn die Eltern das wünschten.

Nach klinischer Erfahrung schließt sich das Zeitfenster für Remissionen mit der Pubertät. Danach kommt es nur noch in Einzelfällen zur Remission. Diese Besonderheit muss in der Beratung berücksichtigt werden.

1.4 Abgrenzung des Stotterns im Kindesalter

Die Nomenklatur im deutschsprachigen Raum ist sehr uneinheitlich und teilweise irreführend. In der medizinischen und pädagogischen Literatur spricht man von:

Entwicklungsunflüssigkeiten,

Entwicklungsstottern,

beginnendem Stottern,

physiologischem Stottern

und bezieht mit diesem Begriffen nicht eindeutig Stellung, ob nun wirklich „Stottern“ vorliegt oder ob es sich um normale Unflüssigkeiten handelt.

1.4.1 Eindeutige Nomenklatur

Daher scheint es sinnvoll, in der Nomenklatur eindeutig zu unterscheiden zwischen:

normalen Sprechunflüssigkeiten und

Stottern.

Auf der Grundlage des aktuellen Wissensstands ist es mit großer Sicherheit möglich, Stottern auch schon bei sehr jungen Kindern anhand der Art ihrer Redeunflüssigkeiten zu diagnostizieren und von normalen Sprechunflüssigkeiten abzugrenzen.

Merke

Da nur bei 5 % aller Kinder stottertypische Unflüssigkeiten in 3 % oder mehr aller Silben auftreten ▶ [466], ▶ [248], sind Begriffe wie „physiologisch“ oder „entwicklungsbedingt“ im Zusammenhang mit Stottern ▶ [421], ▶ [15] nicht vertretbar.

Begriffe wie „entwicklungsbedingt“ oder „physiologisch“ suggerieren Laien und anderen Fachgruppen, dass Stottern eine übliche Erscheinung im Spracherwerb sei und bei fast allen Kindern auftrete. Ihren Ursprung hat diese Meinung in einer Zeit, als man die verschiedenen Arten von Unflüssigkeiten noch nicht differenzierte und normale Unflüssigkeiten, die bei allen Kindern vorkommen, mit einer Stottersymptomatik gleichsetzte.

1.4.2 Diagnose und Indikation zur Therapie

Die gute empirische Datenlage ermöglicht es Logopädinnen, dass die Diagnose zu jedem Zeitpunkt gestellt werden kann. Es besteht damit aber noch nicht zwingend die Indikation für eine therapeutische Intervention. Früher wurde die Diagnose „Stottern“ oft sehr willkürlich ab einem bestimmten Alter gestellt, wenn man keine Remission mehr erwartete (vgl. ▶ [15]). Die neueren Erkenntnisse zur Remission erfordern ein differenzierteres Vorgehen in der logopädischen Befunderhebung:

In einem 1. Schritt muss die Diagnose abgesichert werden.

Bei Vorliegen von Stottern muss in einem 2. Schritt geklärt werden, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine therapeutische Intervention notwendig ist.

1.4.3 Differenzialdiagnostik

Stottern muss von anderen Störungen des Redeflusses abgegrenzt werden, nämlich von:

Poltern,

neurogen oder psychogen erworbenem Stottern,

spasmodischer Dysphonie.

Die Abgrenzung von normalen Unflüssigkeiten, die im Laufe jeder Sprachentwicklung auftreten, wird im Kap. ▶ 1.5 vorgestellt.

1.4.3.1 Poltern

Definition

Poltern

Nach Daly und Burnett (▶ [93], S. 239) handelt es sich beim Poltern (cluttering) um eine Störung der Sprach- und Sprechverarbeitung, die zu schnellem, unrhythmischem, sporadisch unorganisiertem und häufig unverständlichem Sprechen führt. Akzeleriertes Sprechen tritt beim Poltern nicht immer auf, Störungen der Formulierung jedoch fast immer.

Wie Stottern beginnt Poltern meist im Kindesalter und ist situationsabhängig. Im Gegensatz zu Stotternden verbessert sich aber die Symptomatik bei Polternden kurzfristig, wenn sie:

sich darauf konzentrieren, flüssiger und langsamer zu sprechen und

auf ihr hastiges Sprechen aufmerksam gemacht werden.

Stottern und Poltern kann gleichzeitig bei einer Person auftreten (▶ [388], S. 26 – 29). Bei Sick ▶ [385], ▶ [386] finden sich wertvolle Hinweise zu Theorie und Therapie von Poltern.

1.4.3.2 Neurogenes Stottern

Definition

Das neurogene erworbene Stottern (neurogenic acquired stuttering) ist im Zusammenhang mit einer neurologischen Störung zu beobachten und kann in jedem Alter auftreten. Stotterähnliche Symptome können auftreten (▶ [46], S. 89; ▶ [389], S. 221; ▶ [39], S. 1, 100 ff.; ▶ [487]):

nach Schlaganfällen,

nach Schädel-Hirn-Traumen,

bei neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose,

bei zerebralen Tumoren,

nach neurochirurgischen Operationen,

als Nebenwirkung von Medikamenten,

als Folge von Drogenmissbrauch.

Merke

Neurogenes Stottern kann transient (vorübergehend) oder persistierend (anhaltend) auftreten.

Hinsichtlich der symptomatischen Unterscheidung zwischen Stottern und neurogenem Stottern herrscht noch Uneinigkeit ▶ [235]. Differenzialdiagnostisch lässt es sich aber meist dadurch unterscheiden, dass neurogenes Stottern in jedem Lebensalter auftreten kann und mit einer neurologischen Störung in Verbindung steht. Nach Zückner und Ebel besteht bei neurogenem Stottern „ein vergleichsweise stabiles Symptommuster“. Eine absichtliche Veränderung (Variation) der Sprechweise bewirkt, dass, „wenn überhaupt, nur geringgradige Variationen des Unflüssigkeitsmusters auftreten“ ▶ [487]. Dehnungen, Wiederholungen und Blockierungen sind nicht wie bei chronisch stotternden Erwachsenen hauptsächlich auf initialen Silben ▶ [172], sondern können auch in mittleren und finalen Silben auftreten.

1.4.3.3 Psychogenes Stottern

Zusatzinfo

Psychogenes erworbenes Stottern im Erwachsenenalter

Es gibt auch Fälle von psychogenem erworbenem Stottern (psychogenic acquired stuttering), das fast nur im Erwachsenenalter bekannt ist. Dabei tritt Stottern plötzlich und in Verbindung mit psychodynamischen Prozessen auf. Verursachende psychische Faktoren können Konversionsstörungen als häufigste Form sein, daneben Angstneurosen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und posttraumatische Neurosen (vgl. ▶ [487]).

Nach Baumgartner und Duffy ▶ [24] sind Symptomhäufigkeit und -schwere kein Unterscheidungsmerkmal für neurogenes und psychogenes Stottern. Es treten überwiegend Laut- und Silbenwiederholungen auf, aber auch Dehnungen und Blockierungen bzw. gespannte Pausen werden beschrieben. Ankämpfverhalten ist möglich. Bei den meisten Patienten ist das Unflüssigkeitsmuster sowohl bei Veränderungen der Sprechweise, bei unterschiedlichen Sprechaufgaben (z.B. Lesen, Nachsprechen) als auch in der Spontansprache sehr variabel. Die Sprechgeschwindigkeit variiert bei vielen Patienten stark. Das Sprechen kann untypische Charakteristika aufweisen, wie telegrammstilartiges Sprechen, außergewöhnliche Unflüssigkeitsmuster oder verlangsamtes Sprechen.

1.4.3.4 Spasmodische Dysphonie

Nach Boone (▶ [50] in: ▶ [388], S. 34) wird auch die spasmodische Dysphonie, früher auch „spastische Dysphonie“ genannt (spastic dysphonia), gelegentlich als „laryngeales Stottern“ beschrieben.

Die Symptomatologie der spasmodischen Dysphonie ähnelt dem Stottern durch die intermittierenden Unterbrechungen im Sprechen und in der situationsgebundenen Veränderung des Auftretens.

Definition

Spasmodische Dysphonie

Die spasmodische Dysphonie wird zu den zentralen Stimmstörungen gerechnet und zählt neurologisch zu den Dystonien. Es handelt sich um eine zentralnervöse Fehlfunktion bei der Kontrolle von Bewegungen ▶ [46]. Durch tremorähnliche Bewegungsabläufe und eine Überadduzierung der Stimmlippen kommt es neben einem reduzierten Stimmumfang zur verlängerten Dauer hauchiger Stimmsegmente ▶ [46].

Ätiologisch werden die spasmodischen Dystonien unterschieden in:

primäre laryngeale Dystonien bei unbekannter Ursache und

sekundäre laryngeale Dystonien infolge Neuroleptika, Schädel-Hirn-Trauma oder Anoxie ▶ [46].

Merke

Bei Stottern handelt es sich um eine Störung, die überwiegend in den ersten Lebensjahren auftritt. 5 % aller Kinder beginnen während der Sprachentwicklung zu stottern. Durch den großen Anteil an Remissionen liegt in der erwachsenen Bevölkerung der Anteil bei ungefähr 1 %. Symptome kindlichen Stotterns sind Dehnungen, Blockierungen und Wiederholungen von Lauten, Silben oder einsilbigen Wörtern. Es ist abzugrenzen von Poltern, neurogenem und psychogenem Stottern sowie gegenüber der spasmodischen Dysphonie.

1.5 Unflüssiges Sprechen und Stottern

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit normalen Unflüssigkeiten im flüssigen Sprechen und damit, wie sich Stottern grundlegend davon unterscheidet. Daran anschließend wird die Theorie des flüssigen Sprechens von Starkweather diskutiert, aus der sich wesentliche Schlussfolgerungen für die hier vorgestellten Therapieansätze kindlichen Stotterns ableiten lassen.

1.5.1 Was ist unflüssiges Sprechen?

Alle kompetenten Sprecher sind einen Teil ihrer Sprechzeit „unflüssig“. Sie machen Pausen und Einschübe, wiederholen ein Wort und korrigieren angefangene Phrasen.

1.5.1.1 Funktionelle Unflüssigkeiten

Diese Unflüssigkeiten werden meistens weder vom Sprecher noch vom Zuhörer beachtet. Erwachsene, nichtstotternde Sprecher sind bis zu 20 % ihrer Sprechzeit unflüssig ▶ [151], ohne dass sie sich deshalb als unflüssige Sprecher oder Stotternde bezeichnen würden. Offensichtlich achten auch Zuhörer wenig auf Ereignisse, die sich nicht auf den Inhalt des Gesprochenen beziehen. Dies resultiert aus dem kommunikativ-pragmatischen Nutzen dieser Unflüssigkeiten: Der Zuhörer erhält durch ihr Auftreten das Signal, dass der Sprecher seine Äußerung noch nicht beenden will und den inhaltlichen Fluss unterbricht, um ihn gleich fortzusetzen. Da diese Unflüssigkeiten auch funktionell eingesetzt werden, tragen sie die Bezeichnung funktionelle Unflüssigkeiten. Die Begriffe normale Unflüssigkeiten und funktionelle Unflüssigkeiten werden synonym verwendet.

Es gibt Hinweise darauf, dass Kinder im Laufe der Sprachentwicklung lernen, diese funktionellen Unflüssigkeiten zunehmend für ihre Sprechplanung zu nutzen (▶ [215], ▶ [397], S. 79 ff.). Starkweather ▶ [397] beobachtete in einem Experiment, dass Zuhörer das Gesprochene bei Nichtstotternden erst dann als „auffällig“ betrachten, wenn mindestens 15 % der gesprochenen Wörter wiederholt werden oder 20 % der Sprechzeit nur aus Pausen besteht.

Die Toleranz, Unflüssigkeiten im Sprechen als unauffällig einzustufen, hängt natürlich auch vom Kontext ab, in dem gesprochen wird. Je formaler die Situation ist, z. B. eine vorbereitete Ansprache, ein Interview im Radio, desto eher werden Zuhörer die Unflüssigkeiten im Sprechen wahrnehmen und negativ bewerten.

1.5.1.2 Abgrenzung zu Stottern

Im Unterschied zu dieser normalen Art des unflüssigen Sprechens werden Stottersymptome auch dann von Zuhörern als auffällig empfunden, wenn sie nur einen kleinen Anteil des Sprechens ausmachen.

Merke

Beim Stottern handelt es sich nicht nur um ein „Mehr“ an Sprechunflüssigkeiten, sondern um eine für die Störung typische Qualität von Sprechunflüssigkeiten, die im Sprechen von nichtstotternden Kindern sehr selten vorkommt.

1.5.2 Arten von Sprechunflüssigkeiten

1.5.2.1 Unflüssiges Sprechen

Unflüssiges Sprechen ist der Oberbegriff, dem man unterschiedliche Gruppen von Unflüssigkeiten unterordnet. Diese werden in 2 Kategorien eingeteilt:

Die normalenoder funktionellen Unflüssigkeiten sind unauffällig. Zu ihnen zählen Wiederholungen von Wörtern und Satzteilen, Pausen, Satzabbrüche, Satzkorrekturen und Einschübe.

Die stottertypischen Unflüssigkeiten, die auch als symptomatische Unflüssigkeiten bezeichnet werden, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie unfreiwillig sind, keinen funktionellen Charakter haben und häufig an Stellen auftauchen, an denen Zuhörer keine Unflüssigkeiten erwarten. Sie umfassen Wiederholungen von Lauten und Silben, auffällige Wortwiederholungen, Dehnungen und Blockierungen (Kap. ▶ 1.7.3: „Definition von Stottern”).

Stottertypische Unflüssigkeiten

Die Bezeichnung „stottertypische Unflüssigkeiten“ soll nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass diese nur im Sprechen von Stotternden auftreten und bei Nichtstotternden nie zu finden sind. Vereinzelt können sie auch bei Nichtstotternden beobachtet werden, aber so selten, dass die 3-%-Schwelle die meisten Stotternden zuverlässig von den Nichtstotternden trennt. Für die Fälle, in denen die Differenzialdiagnose anhand der zahlenmäßigen Bestimmung der stottertypischen Unflüssigkeiten nicht gelingt, kann der Verlauf und die Qualität der Symptomatik als diagnostisches Kriterium genutzt werden ▶ [6], ▶ [322].

Merke

Zu den normalen Unflüssigkeiten zählen Wiederholungen von Wörtern und Satzteilen, Pausen, Satzabbrüche, Satzkorrekturen und Einschübe. Stottertypische Unflüssigkeiten sind Wiederholungen von Lauten und Silben, Dehnungen und Blockierungen.

Funktionelle Unflüssigkeiten
Wiederholungen/Repetitionen

Damit sind Wiederholungen von einem Wort oder mehreren Wörtern gemeint. Häufig haben diese Wiederholungen die Funktion, Zeit für die weitere Sprechplanung zu gewinnen, z.B. „Ich will … ich will … ich will Saft haben.“ Wiederholungen einsilbiger Wörter können sowohl funktionell als auch stottertypisch sein. Stottertypische Einsilberwiederholungen weisen jedoch qualitative Veränderungen auf (Kap. ▶ 1.5.2.3).

Pausen

Unterschieden werden ungefüllte und gefüllte Pausen:

Ungefüllte Pausen sind eine stumme Unterbrechung des Sprechflusses. Manchmal haben sie die Funktion, den Rhythmus der Satzstruktur zu unterstützen (z.B. zu Phrasenbeginn) oder einen nachfolgenden, inhaltlich wichtigen Begriff zu betonen („Und plötzlich – Pause – fiel der ganze Turm mit lautem Krachen um.“). Da ungefüllte Pausen von erwachsenen Sprechern dem Zuhörer ab einer Dauer von etwa 1 s als unnatürliche Unterbrechung im Sprechfluss auffallen, vermutet Starkweather ▶ [397], dass sie dann normalerweise in gefüllte Pausen übergehen. Entsprechend der Satzstruktur und dem Inhalt erwarten Zuhörer eine bestimmte Dauer von Pausen. Wenn diese Dauer überschritten wird, werten Zuhörer sie als Fehler in der Sprechplanung ▶ [403]. Die Konvention in einer Sprachgemeinschaft, eine bestimmte Dauer der ungefüllten Pausen zu tolerieren, scheint zudem von kulturellen Einflüssen abhängig zu sein und vom Alter des Sprechers (sehr jungen Kindern werden längere Pausen zugestanden).

Gefüllte Pausen sind Geräusche und Interjektionen wie „hmm“, „äh“. Sie dienen dem Zuhörer als Signal, dass der Sprecher seine Äußerung noch nicht beendet hat und nicht unterbrochen werden möchte. Dem Sprecher verschaffen sie Zeit, um den weiteren Sprechablauf zu planen und z.B. ein passendes Wort zu suchen oder die syntaktische Struktur des nachfolgenden Satzes festzulegen, z.B.: „Wir treffen uns, hmm, im Schloss.“

Funktionelle Dehnungen

Sie werden eingesetzt, um ein Wort zu betonen, und können auch während der gefüllten Pausen auftreten.

Satzabbrüche und -korrekturen

Sie erfolgen im Rahmen der fortwährenden Selbstkontrolle, die ein Sprecher während des Sprechens übt. Zur inhaltlichen oder syntaktischen Korrektur wird ein begonnener Satz entweder abgebrochen oder verändert weitergeführt, z.B.: „Dann sind wir – dann haben wir die Reise fortgesetzt.“

Floskeln und Einschübe

Sie vermitteln auf der Inhaltsebene keine Bedeutung, geben aber dem Sprecher – ähnlich wie die gefüllten Pausen – die Möglichkeit, Zeit für die weitere Sprechplanung zu gewinnen, ohne unterbrochen zu werden. Gelegentlich haben sie die Funktion, die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu gewinnen („nicht wahr?“) oder einen Begriff zu ersetzen, bis er benannt werden kann („Zum Tee gab es diese köstlichen – Sie wissen schon – Törtchen.“).

Merke

Bei all diesen Unflüssigkeiten wird das Vorhaben, einen Inhalt mitzuteilen, unterbrochen und verzögert, obwohl der Sprechfluss – außer in den ungefüllten Pausen – erhalten bleibt.

1.5.2.2 Stottertypische Unflüssigkeiten

Stottertypische Unflüssigkeiten sind unfreiwillig, haben keinen funktionellen Charakter und tauchen häufig an Stellen auf, an denen Zuhörer keine Unflüssigkeiten erwarten. Beim Sprecher können sie das Gefühl von Kontrollverlust hervorrufen ▶ [403]. Die Meinung, dass Kinder sich bis zum Schulalter ihres Sprechens noch nicht bewusst sind, ist widerlegt ▶ [91], ▶ [182]. Weiterhin steht außer Zweifel, dass Kinder schon früh auf eigene Unflüssigkeiten reagieren können. Dies wird dadurch deutlich, dass bereits 2-Jährige auf ihr Stottern mit Anstrengung und Ankämpfverhalten antworten können ▶ [464], ▶ [467].

Teilwortwiederholungen

Laut- und Silbenwiederholungen haben keinen informativen Charakter für den Zuhörer und bergen keinen beabsichtigten Zeitgewinn für den Sprecher. Sie unterscheiden sich quantitativ und qualitativ von den normalen Wiederholungen ganzer Wörter oder Satzteile. Stotterspezifische Wiederholungen betreffen kleinere Segmente, also einzelne Silben oder Laute. Sie stehen oft zu Beginn einer Phrase, z.B. „Ka-ka-ka-kannst du mir mal sagen …“. Die „Zerstörung“ der Wortgestalt in Teilwörter wird von Zuhörern als irritierend empfunden ▶ [389].

Quantität und Qualität

Zur qualitativen Bestimmung ist es üblich, die Anzahl der Iterationen anzugeben, wobei der Ziellaut oder die Zielsilbe nicht mitgezählt wird, z.B. entspricht „kö-kö-kö-können“ 3 Iterationen. Spricht man von der Quantität von stottertypischen Wiederholungen, dann ist damit gemeint, wie viele Wörter oder Silben in der Sprechprobe betroffen sind, z.B. 8 Teilwortwiederholungen in 100 Silben. Die stottertypischen Wiederholungen stellen eine Unterbrechung des Sprechtempos oder des Rhythmus dar. Es können zusätzlich Zeichen von Anstrengung hör- oder sichtbar werden, z.B. Anspannung der orofazialen Muskulatur oder Veränderung der Sprechstimmlage ▶ [339].

Merke

Eine Beschreibung von stottertypischen Teilwortwiederholungen beinhaltet:

die Angabe, ob es eine Laut- oder Silbenwiederholung war,

die Häufigkeit der Wiederholungen in den untersuchten Sprechproben,

die dabei beobachtete Anzahl an Iterationen.

Eine präzise Beschreibung lautet z.B.: In 100 Silben wurden 4 Silbenwiederholungen mit bis zu 5 Iterationen festgestellt.

Dehnungen

Diese liegen vor, wenn ein Laut länger andauert, als es der erwartbaren Artikulationsdauer entspricht. Dehnungen können bis zu mehreren Sekunden dauern. Sie unterbrechen den Informationsfluss, obwohl der Sprechfluss durch die andauernde Phonation aufrechterhalten bleibt, z.B.:„Sssssssag doch endlich, Mmmmmama.“ Da ein Sprecher normalerweise 5 bis 6 Silben pro Sekunde realisiert, wird durch eine Dehnung der Rhythmus des Gesprochenen verändert und die Sprechgeschwindigkeit verringert. Entsprechend ihrer phonetischen Struktur können Vokale, Frikative und Nasale verlängert werden. Es ist auch möglich, andere Laute wie z.B. /k/ und /p/ zu verlängern. Dadurch verändert sich deren phonetische Struktur und sie werden zu sog. Kontinuanten, also Lauten, deren Luftstrom ununterbrochen fortbesteht.

Blockierungen, Blocks, Stopps

Hierbei handelt es sich um unfreiwillige Unterbrechungen des Sprechablaufs oder stimmlose Verzögerungen der einsetzenden Phonation. Sie können auf artikulatorischer Ebene stattfinden, auf glottaler Ebene und auf der Ebene der Atemmuskulatur ▶ [157]. Diese Ebenen können bei einer Blockierung aber auch gleichzeitig beteiligt sein. Ein gemeinsames Charakteristikum ist die übermäßige Aktivierung von antagonistischer Muskulatur (▶ [373], S. 43). Bei glottalen Blockierungen schließen sich die Stimmlippen. Damit wird der Luftstrom unterbrochen und die Phonation oder die Vorbereitung zur Phonation wird gestoppt. Der Stimmabsatz ist hart, es kann zu einem „vocal fry“ kommen. Bei artikulatorischen Blockierungen kommt es zu einem Stillstand der Artikulationsbewegungen. Blockierungen der Atemmuskulatur äußern sich in der gleichzeitigen Anspannung von in- und exspiratorischen Muskelgruppen, sodass der zum Sprechen benötigte subglottische Druck verloren geht ▶ [396].

Weitere Hinweise zu Blockierungen:

Blockierungen können flüchtig sein oder bis zu mehreren Sekunden andauern. Blockierungen erleben die Patienten durch die oft spürbare Anspannung der laryngealen Muskulatur, der Atem- oder Artikulationsmuskulatur als physisch unangenehm ▶ [339].

Blockierungen sind unhörbar. Von ungefüllten Pausen unterscheiden sich Blockierungen dadurch, dass sie unfreiwillig sind und häufig an für Pausen untypischen Stellen auftreten. Außerdem können manchmal Artikulationsbewegungen beobachtet werden. Bei angestrengten Blockierungen können im Sinne einer Begleitsymptomatik Geräusche hörbar sein.

Der Kontrollverlust über das Sprechen kann bei Blockierungen sehr deutlich erlebt werden. Versuche, Blockierungen zu überwinden, werden im folgenden Kapitel vorgestellt. Es sei hier schon darauf hingewiesen, dass Stottern nicht durch „falsche Atmung“ entsteht, sondern dass die Unterbrechung des Luftstroms Teil des Symptoms ist. Therapien, die auf eine Veränderung der Atmung abzielen, setzen lediglich an einem Merkmal an, das das Symptom begleitet.

Einige Autoren unterscheiden nicht zwischen Blockierungen und Dehnungen. Sie gehen davon aus, dass Blockierungen nichts anderes seien als stumme, sehr angespannte Dehnungen eines Lautes („silent prolongations”). Daher verwenden sie den Oberbegriff „Dehnung“ und beschreiben die qualitativen Unterschiede.

Yairi und Ambrose ▶ [468] fassen Dehnungen, Blockierungen und Wiederholungen von Lauten oder Silben unter dem Begriff „unrhythmische Phonation“ (disrhythmic phonation) zusammen.

1.5.2.3 Sonderfall: Wiederholung von Einsilbern

Die Wiederholung von einsilbigen Wörtern stellt einen Sonderfall dar. Sie kann entweder symptomatisch sein oder als funktionelle Unflüssigkeit genutzt werden.

Merke

Differenzialdiagnostische Kriterien sind:

kurze Pausen zwischen den Iterationen, bzw. zwischen Iteration und Zielwort,

unrhythmische Iterationen,

Begleitsymptomatik,

mehr als eine Iteration.

Gestotterte Einsilberwiederholungen

Sie fallen durch kurze Pausen und eine unrhythmische Produktion auf. Eine exakte Zeitmessung ist nicht zwingend nötig – selbst ungeübte Zuhörer fällen intuitiv mit großer Übereinstimmung die Entscheidung, ob das Wort absichtlich wiederholt ist oder gestottert wurde ▶ [479]. Wenn eine Begleitsymptomatik vorliegt, werden Einsilberwiederholungen als gestottert angesehen. Für die praktische Handhabung und eine mögliche Therapieplanung empfiehlt sich eine qualitative Beschreibung der Einsilberwiederholung und ggf. eine Begründung, warum sie bei diesem Patienten als gestottert interpretiert werden.

Anzahl der Iterationen

Yairi ▶ [469] schließt aus den Daten von mehr als 200 Kindern, die kurz nach Stotterbeginn untersucht wurden, dass die Anzahl der Iterationen ein weiterer Hinweis darauf ist, ob die Wiederholung stottertypisch ist oder nicht: Bei stotternden Kindern sind mehr als einmalige Wiederholungen üblich.

Definition

Begriffserklärung „Symptom“

eindeutige stottertypische Unflüssigkeiten,

Hinweis auf einen Kontrollverlust, erkennbar durch stottertypische Unflüssigkeiten in der Kommunikation mit Coping-Strategien; hier kann ein Symptom komplex werden, z.B. „gib den b…, ähm, ich mein’ den ähm, gib mal den b-b, das Leder“,

Hinweise auf Kontrollverlust ohne stottertypische Unflüssigkeiten, z.B. „in der Jugendher-ähm-ähm-berge“.

1.5.2.4 Komplexe Symptome

Ein Laut oder eine Silbe kann gleichzeitig mehrere Arten von Unflüssigkeiten aufweisen. Zum Beispiel kann vor der Realisierung eines Lautes eine Blockierung auftreten und der Laut selbst dann gedehnt oder wiederholt werden (z.B. „[Blockierung] – ka-ka-kakannst“). Bei der quantitativen Bestimmung der Symptome zählt man pro Laut oder Silbe der Sprechprobe generell nur eine Unflüssigkeit. Die Komplexität wird später in der qualitativen Bestimmung berücksichtigt. Hierzu ist es notwendig, die einzelnen Elemente genau zu beschreiben. Dabei kann es schwierig sein, herauszufinden, ob es sich ausschließlich um stottertypische oder um ein Zusammentreffen von funktionellen und stottertypischen Unflüssigkeiten handelt. Im Beispiel „da-da-da ähh da-da-das“ könnte „äh“ sowohl eine gefüllte Pause, also eine funktionelle Unflüssigkeit als auch ein Teil der Stottersymptomatik sein. Im Verlauf des Stotterns kann es nämlich vorkommen, dass normale Unflüssigkeiten eingesetzt werden, um einen Laut oder ein Wort hinauszuzögern, bei dem ein Stottersymptom erwartet wird. Dieses Phänomen wird als Aufschubverhalten bezeichnet.

Viele Stotternde erleben, dass sie normale Unflüssigkeiten leichter aussprechen können und setzen sie vor einer stottertypischen Unflüssigkeit ein. Dann spricht man von einem Starter, mit dem die Phonation initiiert werden soll. Normale Unflüssigkeiten werden auch in anderen Strategien verwendet, mit dem Stottern umzugehen, z.B. um eine Blockierung zu überwinden oder um einen „Anlauf“ zu nehmen, damit man besonders schnell durch die Äußerung kommt, in der Hoffnung, dass das gefürchtete Wort bei diesem Tempo flüssig bleibt (▶ [274], S. 21; ▶ [280], S. 20). In diesem Fall ist eine Unterscheidung in „normale“ und „stottertypische“ Anteile der komplexen Unflüssigkeit schwer. Die gefüllte Pause oder Floskel wird als normale Unflüssigkeit erfasst, aber für die Therapieplanung wird festgehalten, dass es sich um ein Begleitsymptom handeln könnte. In der Diagnostik können Kinder ab dem Vorschulalter auch gezielt danach befragt werden.

1.5.2.5 Coping-Strategien

Das oben erwähnte Aufschubverhalten ist eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten, die Stotternde entwickeln, um das Auftreten oder den Verlauf von Stottern zu beeinflussen. Diese Coping-Strategien, also Strategien zur Bewältigung, werden im folgenden Kapitel näher erläutert.

Fazit

Es gibt normale und stottertypische Sprechunflüssigkeiten. Normale Unflüssigkeiten werden zumeist von Zuhörern als unauffällig eingestuft. Blockierungen, Dehnungen und Wiederholungen sind charakteristisch für Stottern. Auf stottertypische Unflüssigkeiten, auch wenn sie von kurzer Dauer sind, können Zuhörer irritiert reagieren und ihr Auftreten als auffällig bewerten. Dabei spielt eine Rolle, dass sie keinen praktischen Nutzen haben. Dehnungen und Blockierungen verändern zudem auch den Sprechfluss und haben somit Auswirkungen auf Rhythmus und Sprechgeschwindigkeit. Stottertypische Unflüssigkeiten können beim Sprecher das Gefühl von Kontrollverlust über das Sprechen hervorrufen.

1.6 Stottern

Das vereinzelte Auftreten stottertypischer Unflüssigkeiten ist kein ausreichendes Anzeichen für das Störungsbild Stottern, da die Unflüssigkeiten auch bei nichtstotternden Personen vorkommen können. Entscheidend sind ihre Häufigkeit und ihre Qualität.

1.6.1 Kernsymptome

Merke

Im Zusammenhang mit Stottern werden stottertypische Unflüssigkeiten auch als Kernsymptome (core behavior) bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde von Charles Van Riper ▶ [431], ▶ [434] geprägt. Kernsymptome sind unfreiwillige Blockierungen, Dehnungen von Lauten und Wiederholungen von Lauten und einzelnen Silben. Qualitative Veränderungen entscheiden darüber, ob auch die Wiederholung einsilbiger Wörter Stotterereignisse sind (▶ [157], S. 88; ▶ [468]).

Wie bereits ausführlich dargestellt, unterscheiden sich normale und stottertypische Unflüssigkeiten grundsätzlich. Es gibt bislang keinerlei empirische Hinweise darauf, dass Kernsymptome aus normalen Unflüssigkeiten entstehen, die sich zu Stottersymptomen „weiterentwickeln“.

Die Bezeichnungen „tonisches“ Stottern für angespannte Blockierungen und Dehnungen und „klonisches“ Stottern für Wiederholungen sind obsolet. Sie stammen aus einer Zeit, in der noch vermutet wurde, dass es sich beim Stottern um ein zerebrales Krampfleiden handele (▶ [159], S. 430; ▶ [138], S. 469; ▶ [242], S. 385; ▶ [379], S. 287) und als noch von Stotterspasmen die Rede war ▶ [437]. Bereits 1931 verwies Fröschels auf die Gefahr, durch die Begrifflichkeit fälschlicherweise die Assoziation eines Krampfleidens herzustellen (▶ [138], S. 414 ff.). Für die Befunderhebung und die Therapieplanung ist es sinnvoll, Kern- und Begleitsymptome zu ermitteln und ihre Qualität zu erfassen (z.B. „Kernsymptomatik in Form von Lautwiederholungen mit bis zu sieben Iterationen und Begleitsymptomatik in Form von Anstrengung, die durch muskuläre Anspannung im orofazialen Bereich und eine Erhöhung der Stimmlage während der Iterationen deutlich wird”).

1.6.2 Begleitsymptome

Definition

Begleitsymptome

Als Begleitsymptome werden alle Erscheinungen bezeichnet, die zur Kernsymptomatik hinzukommen, meist Reaktionen auf die Kernsymptomatik. Die Begleitsymptomatik weist eine große individuelle Vielfalt auf. Bei ihrer Entstehung sind Lernprozesse beteiligt, häufig entsteht sie unbewusst.

Das Auftreten von Begleitsymptomatik wird aus therapeutischer Sicht als negativ bewertet, da es körperlich oder emotional belastender sein kann als die reine Kernsymptomatik und die Kommunikation auf der sozialen Ebene wesentlich stärker behindern kann.

Begleitsymptomatik kann sich auf folgenden Ebenen äußern:

Emotionen und Einstellungen: z.B. psychische Anspannung, Frustration, Sprechangst, Abwertung der Sprechfähigkeit, Selbstabwertung als Sprecher, Versagensangst,

Verhalten/Sozialverhalten: z.B. Vermeiden von Situationen, in denen gesprochen werden muss, Abbruch des Blickkontakts,

Sprechverhalten: z.B. Veränderung der Sprechweise wie Flüstern, Langsamsprechen, Schweigen, veränderte Sprechatmung,

sprachliche Ebene: z.B. Vermeiden gefürchteter Wörter, Satzabbrüche, Einschub von Floskeln, um ein gefürchtetes Wort aufzuschieben, Satzumstellungen,

Motorik: z.B. physische Anspannung, Mitbewegungen wie Grimassieren, Kopf- und Armbewegungen,

vegetative Ebene: z.B. Erröten, Schweißausbruch.

Aus dieser Liste wird deutlich, dass viele dieser Begleitsymptome als Strategien interpretiert werden können, die dazu dienen sollen, besser mit dem Stottern zurechtzukommen.

1.6.3 Coping-Strategien

Definition

Coping-Strategie

Während der Begriff „Begleitsymptomatik“ wertend alle ungünstigen Begleiterscheinungen meint, betont der wertneutrale Begriff „Coping-Strategie“ den zielgerichteten Charakter vieler Reaktionen auf Stottern.

Das Wort „Coping“ leitet sich ab vom englischen Verb „to cope with“: mit etwas fertig werden (Schöffler u. Weis 1978). Mit dem Stottern „fertig werden“ müssen sowohl das Kind als auch seine Bezugspersonen. Sie haben den Kontroll- und Zeitverlust durch Stottern, das Erleben von Versagen und die Reaktionen aus der Umgebungzu bewältigen.

Die dafür verwendeten Coping-Strategien sind Ausdruck eines kreativen Problemlöseverhaltens. Die Wechselwirkung der Coping-Strategien des Kindes mit denen seiner Bezugspersonen und der Einfluss gesellschaftlicher Vorurteile auf diesen Prozess werden im Kap. ▶ 1.12.5 näher erläutert. Vom Kind werden Coping-Strategien bewusst oder intuitiv unbewusst eingesetzt, um den Stottermoment zu überwinden oder ihm vorzubeugen.

1.6.3.1 Fluchtverhalten

Es dient dazu, ein Symptom zu überwinden und so schnell wie möglich daraus zu fliehen. Oft lässt sich erkennen, dass Kinder regelrecht gegen die Störung im Sprechablauf mit erhöhtem Kraftaufwand ankämpfen, weswegen manche Formen des Fluchtverhaltens auch als „Ankämpfverhalten“, z.B. in Form von Mitbewegungen oder erhöhter muskulärer Anspannung, bezeichnet werden. Fluchtverhalten liegt auch vor, wenn Kinder im Symptom Atemveränderungen anwenden, um sich daraus zu befreien (inspiratorisches Stottern, Atemvorschub).

1.6.3.2 Vorbeugeverhalten

Es wird bereits eingesetzt,bevor ein Symptom beginnt, um dieses zu unterdrücken oder zu vermeiden. Zum Vorbeugeverhalten zählen:

Veränderungen der Sprechweise (Flüstern, skandierendes Sprechen, Singsang, inspiratorische Sprechen etc.), die symptomfreies oder symptomvermindertes Sprechen ermöglichen.

Sprachliches Vermeideverhalten ist dadurch gekennzeichnet, dass gefürchtete Laute oder Wörter durch Umformulieren umgangen werden.

Situatives Vermeiden liegt vor, wenn die Angst vor dem Stottern dazu führt, Sprechsituationen zu vermeiden.

Aufschubverhalten nennt man Versuche, ein gefürchtetes Wort hinauszuzögern, bis das Gefühl entsteht, dass es flüssig gesprochen werden kann. Hierzu werden flüssige Elemente (meist Floskeln, Interjektionen, Wiederholung von Wörtern oder Satzteilen) so lange dem gefürchteten Wort vorangestellt, bis die Gefahr eines Symptoms gebannt scheint. Wenn ein Symptom erwartet wird, sollen Starter den Sprechbeginn erleichtern. Starter können Floskeln und Interjektionen, aber auch die Wiederholung von sprachlichen Elementen sein und sind in diesem Fall nur schwer von Aufschubverhalten zu unterscheiden. Auch Atemvorschub oder ein vertieftes Einatmen vor einem gefürchteten Laut können Starter sein. Auf diese Weise soll das folgende Wort flüssig gesprochen werden können.

Sprachliches Vermeiden, Aufschubverhalten und Starter lassen sich manchmal nur schwer von funktionellen Unflüssigkeiten abgrenzen. Einsilber- und Teilwortwiederholungen können Starter- oder Aufschubfunktion haben (z.B. „Ich bin bin bin bin Peter.“).

Selbst wenn Symptome erfolgreich vermieden werden, können Vorbeugestrategien zu einer unnatürlichen Sprechweise führen.

1.6.3.3 Nachteile der Flucht und Vorbeugestrategien

Coping-Strategien können sich als mehr oder weniger zweckmäßig erweisen. Einige können die Stotterproblematik sogar aufrechterhalten und erschweren das Sprechen. Sie entstanden, weil sie eine Zeit lang vermeintlich oder wirklich geholfen haben, Kernsymptome zu verhindern oder schnell zu beenden. Üblicherweise verlieren sie nach einiger Zeit ihre Funktion, Kernsymptome gut zu bewältigen. Sie bestehen aber häufig automatisiert weiter. Um die gewünschte Kontrollwirkung zu erreichen, werden nun neue Strategien entwickelt oder ausgeprägtere Formen der alten Strategien kommen hinzu. So kann ein immer komplexeres, auffälligeres und belastenderes Stotterverhalten entstehen.

Im Sinne einer ICF-geleiteten Diagnostik ist es sinnvoll, die eingesetzten Coping-Strategien mit den Betroffenen zu bewerten. Beispielsweise kann es kulturell bedingt zu einer positiven Bewertung von vermeidenden Strategien geben.

Die Coping-Strategien Vermeidung und Tabuisierung dienen dazu, mit unangenehmen Emotionen umzugehen.

1.6.3.4 Funktionelle und dysfunktionelle Coping-Strategien

Vermeidung und Tabuisierung tragen dazu bei, dass sich die Angst vor dem Stottern erhöht und dadurch die Wahrscheinlichkeit für Stotterereignisse zunehmen kann (Kap. ▶ 1.12.5). Daher ist es sinnvoll, Coping-Strategien nach den Kriterien„funktionell“und, langfristig gesehen,„dysfunktionell“ zu bewerten (▶ Tab. 1.1).

Tab. 1.1

 Beispiele für dysfunktionelle und funktionelle Coping-Strategien des Kindes

Ziel

Dysfunktionell

Funktionell

Symptom überwinden

Fluchtverhalten, z.B.

Anstrengungs- und Ankämpfverhalten

Mitbewegungen

Atemauffälligkeiten

stoppen

ohne Anspannung weiterstottern

Symptomen vorbeugen

Vorbeugeverhalten, z.B.

Vermeiden, z.B. von Wörtern oder Situationen

Starter/Aufschub, z.B. Floskeln, Interjektionen, Satzteil-Wiederholungen

Veränderung der Sprechweise, z.B. Singsang, Flüstern, Skandieren

intuitive Verlangsamung der Sprechweise

unangenehme Emotionen bewältigen

Tabuisierung

Vermeidung

Bagatellisierung

thematisieren

offenes Stottern

Merke

Das Ziel der Therapie des chronischen Stotterns bedeutet nichts anderes als die Vermittlung funktioneller Coping-Strategien auf den nachfolgend genannten Ebenen und den Abbau von dysfunktionellen Coping-Strategien.

In der therapeutischen Praxis werden überwiegend Kinder mit dysfunktionellen Coping-Strategien vorgestellt. Darüber darf man nicht aus den Augen verlieren, dass viele Kinder, die eine Spontanremission haben, intuitiv funktionelle Coping-Strategien entwickelt hatten – sie haben sich sozusagen selbst geholfen.

Funktionelle Coping-Strategien

Diese können auf folgenden Ebenen beobachtet werden:

Emotionen und Einstellungen: Selbstakzeptanz und geringe negative Emotionalität in Verbindung mit Stottern; große Toleranz gegenüber Zeitdruck und negativen Zuhörerreaktionen

Verhalten/Sozialverhalten: situationsangemessenes Kommunikationsverhalten; Fähigkeit, Stottern angemessen zu thematisieren und den Kommunikationspartner im Umgang mit Stottern zu unterstützen; Fähigkeit, sich gegenüber negativen Reaktionen zu behaupten

Sprech- und Stotterverhalten: eine natürliche Sprechweise, d. h. flüssiges Sprechen in angemessenem Rhythmus und ohne große Anstrengung

Sprachliche Ebene: keine Satzabbrüche, Umformulierungen, Interjektionen etc., um Stottern zu vermeiden

Motorik: Strategien zur Symptombearbeitung, die sich auf eine Verlangsamung der normalen Artikulationsabläufe unter taktil-kinästhetischer Kontrolle beschränken

Entwicklung dysfunktioneller Coping-Strategien

Die Entwicklung dysfunktioneller Coping-Strategien wird begünstigt durch:

den ständigen Wechsel von Stotterhäufigkeit und -stärke; stotternde Kinder und ihre Eltern werden dadurch immer wieder in ihren Hoffnungen enttäuscht, dass die Störung vorüber sei

ungünstige emotionale Reaktionen der Eltern und anderer Personen im Umgang mit dem Stottern ihres Kindes (z.B. starke Schuldgefühle, Scham)

ungünstige Reaktionen der Umgebung auf das Stottern, z.B. Entzug der Aufmerksamkeit auf der Inhaltsebene, Beschämung, Ermahnung zum langsamen Sprechen

mangelnde oder falsche Kenntnisse der Bezugspersonen über das Stottern, da ungünstige Reaktionen auf das Stottern häufig hierin begründet sind

ungünstige Umgebungsfaktoren wie Zeitdruck, Unruhe, schlechtes Zuhörerverhalten

das Temperament des Kindes (z.B. geringe Frustrationstoleranz, Perfektionsanspruch) und geringe Fähigkeit, Probleme zu lösen.

1.6.4 Wechselwirkung von Kern- und Begleitsymptomatik

Die Entstehung und der Verlauf des Stotterns ist ein dynamischer Prozess mit großen individuellen Unterschieden ▶ [467], ▶ [321]. In diesem Prozess beeinflussen sich Kern- und Begleitsymptome gegenseitig (▶ Abb. 1.1).

Abb. 1.1 Wechselwirkung von Kern- und Begleitsymptomatik.

Kernsymptome führen einerseits zur Entwicklung von Begleitsymptomen, diese lösen aber auch andererseits Kernsymptome aus und verstärken sie. Zusätzlich können sich auch verschiedene Kern- oder Begleitsymptome jeweils untereinander beeinflussen. Im Folgenden sind einige Beispiele für diese Wechselwirkung aufgeführt:

Das emotionale Begleitsymptom „unangenehmes Empfinden von Kontroll- und Zeitverlust während einer Unflüssigkeit“ kann dazu führen, dass Ankämpfverhalten entsteht. Dies wird sichtbar in einem Ansteigen von Tonhöhe und/oder Lautstärke während der Unflüssigkeit. Hinsichtlich des flüssigen Sprechens wird also der Parameter „motorische Anstrengung“ verändert.

Das Begleitsymptom „Sprechangst“ kann in einer Situation ein gehäuftes Auftreten von Kernsymptomen auslösen.

Das Kernsymptom „Blockierung“ in einer Situation, in der bisher nicht gestottert wurde, kann dazu führen, dass beim nächsten Mal in einer vergleichbaren Situation das Begleitsymptom „Sprechangst“ auftritt.

Das Kernsymptom „Blockierung“, das gehäuft einen bestimmten Laut oder ein Wort betrifft, kann zu der Begleitsymptomatik führen, dass dieser Laut oder dieses Wort als besonders problematisch eingeschätzt und deshalb vermieden wird.

An diesen Beispielen wird deutlich, dass es irreführend ist, Kernsymptome als „Primärsymptome“ des Stotterns und Begleitsymptome als „Sekundärsymptome“ zu bezeichnen. Diese Begriffe suggerieren fälschlich eine einseitige Kausalität und zeitliche Abfolge in der Entwicklung des Stotterns.

Man ging früher noch davon aus, dass „tonisches“ Stottern aus „klonischem“ Stottern entstehe (▶ [138], S. 432). In diesen Bezeichnungen vermischen sich Beschreibung der Symptomatik und Vermutung über die Entwicklung des Stotterns auf unpräzise Weise. Denn dass angespannte stottertypische Unflüssigkeiten aus ursprünglich lockeren stottertypischen Unflüssigkeiten entstehen, ist eine Annahme, die sich durch empirische Daten nicht bestätigen lässt.

1.6.4.1 Stotterbeginn und Begleitsymptome

Bei manchen Kindern treten von Anfang an deutliche Blockierungen mit Anspannung sowie von Mitbewegungen begleitete häufige Iterationen von Silben auf ▶ [464], ▶ [465], ▶ [321]. Alle empirischen Untersuchungen, die sich mit Stottern zu einem frühen Zeitpunkt nach Beginn beschäftigten, konnten nachweisen, dass Begleitsymptome auch schon in den ersten Wochen nach Stotterbeginn möglich sind ▶ [6]. Es bestehen große interindividuelle Unterschiede in der Entwicklung von Kern- und Begleitsymptomatik, und zwar sowohl hinsichtlich der Art und Häufigkeit der Symptome als auch hinsichtlich der Abfolge und Geschwindigkeit der Veränderungen der Symptomatik im weiteren Verlauf der Störung. Glücklicherweise gibt es eine große Anzahl von Kindern, die auf ihr Stottern mit keinerlei Begleitsymptomatik reagieren, weswegen sie nur selten zur Diagnostik vorgestellt werden.

1.6.4.2 Typische Verläufe

Ob anhand der unterschiedlichen Entwicklung von Kern- und Begleitsymptomatik verschiedene Untergruppen von stotternden Kindern mit jeweils typischen Verläufen differenziert werden können, ist noch ungeklärt. Hier sind Längsschnittuntersuchungen erforderlich, um festzustellen, inwieweit die Entwicklungsverläufe des Stotterns therapeutisch beeinflusst werden können und welchen prognostischen Faktor die Qualität der stottertypischen Unflüssigkeiten zu Beginn der Störung hat ▶ [482]. Erste Untersuchungen zeigen, dass die Prognose ungünstiger ist, wenn in den ersten 12 Monaten nach Beginn des Stotterns die Stärke der Symptomatik gleich bleibt oder zunimmt ▶ [470].

1.6.4.3 Situationsabhängigkeit des Stotterns

Sie wurde von Yaruss ▶ [471] in einer Studie nachgewiesen, in der Sprechproben von Kindern in unterschiedlichen Situationen, z.B. mit unterschiedlich vertrauten Personen, analysiert wurden. Es konnten große Schwankungen festgestellt werden, die individuell stark variierten. Kognitive und emotionale Prozesse, wie z.B. Aufregung, könnten dafür verantwortlich gemacht werden.

1.6.4.4 Veränderte Einstellung zum Sprechen

Die Situationsabhängigkeit von Stottern kann zu einer Veränderung der Einstellung zum Sprechen führen. Erklärt wird dies mit den Lernmechanismen, die im Verlauf der Entwicklung des Stotterns eine immer größere Rolle spielen können. Durch das Lernen am Modell (z.B. schambesetzte Zuhörerreaktionen) und durch klassisches und operantes Konditionieren können stotternde Kinder Sprechen zunehmend als unangenehm empfinden. So konnten Stes und Boey mit einem nonverbalen Test zur Einstellung zum Sprechen bei 5- bis 7-Jährigen zeigen, dass die Gruppe der stotternden Kinder eine deutlich negativere Einstellung zum Sprechen hatte als die nichtstotternde Kontrollgruppe ▶ [44], ▶ [45]. Zu vergleichbaren Ergebnissen kamen Vanryckeghem et al. ▶ [439] und Schulze ▶ [372].

1.6.4.5 Kontrollverlust

Stotternde Kinder erleben in bestimmten Situationen einen Verlust der Kontrolle über das Sprechen und negative Zuhörerreaktionen. Dies kann dazu führen, dass solche Situationen als unangenehm empfunden werden und in der Folge als auslösender Stimulus wirken. Dann nehmen die Kinder das unangenehme Stottern vorweg (Antizipation) und reagieren mit Angst, Vermeidung oder vermehrter Anstrengung beim Sprechen ▶ [404].

Fazit

Die Kernsymptome des Stotterns sind Teilwortwiederholungen, Dehnungen und Blockierungen. In Wechselwirkung mit der Kernsymptomatik können sich Begleitsymptome entwickeln. Diese können schon früh nach Stotterbeginn auftreten und belastender und auffälliger werden als die Kernsymptomatik. Der Begriff „Coping-Strategien“ betont den zielgerichteten Charakter vieler Reaktionen auf Stottern. In der Therapie müssen dysfunktionelle Coping-Strategien abgebaut und funktionelle Coping-Strategien etabliert werden.

1.7 Theorie des flüssigen und unflüssigen Sprechens

Um Störungen des flüssigen Sprechens beurteilen zu können, ist es nötig, ein Konzept von flüssigem Sprechen zu haben und Kategorien für die verschiedenen Arten der Unflüssigkeiten zu definieren. Der Begriff „Flüssigkeit“ leitet sich vom lateinischen Verb „fluere“ (fließen) ab. Das Attribut „flüssig“ wird häufig genutzt, um anzugeben, wie kompetent sich eine Person in einer Fremdsprache ausdrücken kann.

1.7.1 Sprachliche Flüssigkeit

Der Begriff der sprachlichen Flüssigkeit ▶ [133] ist eng verknüpft mit der Kompetenz eines Sprechers, sich in einer Sprache auszudrücken. Dazu gehören:

die syntaktische Flüssigkeit, also die Fähigkeit korrekte Sätze zu bilden,

die semantische Flüssigkeit, womit die Verwendung eines reichen Lexikons beschrieben wird, und schließlich

die pragmatische Flüssigkeit, die angibt, in welchem Maße der Sprecher in der Lage ist, sich in einer Vielzahl von sozialen Situationen angemessen verbal zu verständigen.

Merke

Die Sprachflüssigkeit ist bei Stotternden gegeben. Sie wissen, was sie wann sagen wollen.

1.7.2 Sprechnatürlichkeit – Starkweathers Konzept des flüssigen und unflüssigen Sprechens

Sprechflüssigkeit ist das Ziel vieler Therapieansätze. Für die Bestimmung einer natürlichen Sprechflüssigkeit entwickelte Starkweather in den 80er-Jahren ein Modell, das die Forschungsergebnisse aus der Psycholinguistik, der Linguistik und der Stotterforschung berücksichtigt. Er formulierte ein mehrdimensionales Konzept des flüssigen Sprechens, in dem das Auftreten von Unflüssigkeiten nur einen Parameter darstellt. Flüssiges Sprechen nur durch die Abwesenheit von Stottern zu definieren, reicht nicht aus.

Definition

Flüssiges Sprechen

Starkweathers Definition lautet: Flüssiges Sprechen heißt, mit einem normalen Maß an Kontinuität, Geschwindigkeit und Anstrengung zu sprechen (▶ [397], S. 18).

Abb. 1.2 Flüssiges Sprechen (▶ [397], S. 18).

Die in späteren Kapiteln beschriebenen Diagnostik- und Therapieverfahren beziehen sich auf diese Definition.

1.7.2.1 Anstrengung

Das normale Maß an Anstrengung wertet Starkweather als Primärvariable des flüssigen Sprechens. Positiv formuliert bedeutet dies die Leichtigkeit, mit der ein Sprecher seine Äußerung realisiert. Aus dieser Leichtigkeit resultieren die anderen Parameter, d. h. Geschwindigkeit und Kontinuität. Dabei unterscheidet er die mentale Anstrengung zur Planung der Äußerung und die muskuläre Anstrengung zur Ausführung des Sprechens ▶ [399].

1.7.2.2 Kontinuität

Der zweite Parameter, Kontinuität, ist durch die Aufrechterhaltung des Informationsflusses gegeben. Üblicherweise wird durch den Sprechfluss die Kontinuität gewahrt. In der Tradition, Unflüssigkeiten als Unterbrechung zu empfinden, erscheint es zunächst merkwürdig, dass Starkweather sie zwar als Diskontinuitäten bezeichnet, ihnen aber nur bei auffälligen, vor allem stottertypischen Unflüssigkeiten einen unterbrechenden Charakter zuschreibt. Er betrachtet die funktionellen Unflüssigkeiten als Elemente, die zwar den Informationsfluss unterbrechen, gleichzeitig jedoch zu dessen Aufrechterhaltung beitragen. Die Beobachtung, dass Phrasen schneller gesprochen werden können, wenn sie auf gefüllte Pausen folgen, interpretiert Starkweather dahingehend, dass die Pausen für die Planung und Realisierung der nachfolgenden Phrase von Nutzen sind und damit der Aufrechterhaltung des Sprechflusses dienen. Er schreibt: „Die direkte Konsequenz dieser Unflüssigkeit ist zusätzliche Zeit für die Sprechplanung.“ ▶ [397]. Im Gegensatz dazu haben symptomatische Unflüssigkeiten keinen pragmatischen Nutzen. Sie unterbrechen die Kontinuität und können den Zuhörer irritieren.

1.7.2.3 Geschwindigkeit

Die Kontinuität ist abhängig von der Geschwindigkeit der Realisation der gesprochenen Silben. Die Sprechgeschwindigkeit nimmt im Laufe der kindlichen Sprachentwicklung zu ▶ [215], ▶ [105]. Ein kompetenter Sprecher spricht mit einer Geschwindigkeit von 5 – 6 Silben pro Sekunde. Dass diese Geschwindigkeit kaum variiert, ist ein Hinweis darauf, dass alle Menschen ständig am Rande ihrer motorischen Kapazität sprechen ▶ [397]. Eine Erhöhung dieser Geschwindigkeit ist nur durch eine Verkürzung der Pausen und eine stärkere Koartikulation möglich ▶ [397].

1.7.2.4 Rhythmus

Die Dauer der einzelnen Laute und damit das Betonungsmuster bestimmen den Rhythmus des Gesprochenen. Rhythmus wird von Starkweather als unterstützender Faktor für die Sprechflüssigkeit gewertet. Betonungsmuster und die dadurch bedingte Verkürzung von Silben werden im Laufe der Sprachentwicklung gelernt ▶ [309]. Starkweather vermutet, dass der Rhythmus die Ausführung des Gesprochenen erleichtert und dadurch auch indirekt auf den Parameter „Anstrengung“ einwirkt, was wiederum die Geschwindigkeit erhöht.

1.7.3 Starkweathers Definition des Stotterns

Stottern ist nach Starkweathers Definition nicht das Gegenteil von flüssigem Sprechen. Alle Menschen sprechen unflüssig und viele Unflüssigkeiten werden nicht als stottertypisch eingestuft.

Merke

Stotternde sind während eines Stotterereignisses nicht in der Lage, mit einem normalen Maß an Kontinuität, Geschwindigkeit und Leichtigkeit zu sprechen. Im Vergleich zu normalen Unflüssigkeiten können stottertypische Unflüssigkeiten neben dem hörbaren Verhalten eine Fülle von kognitiven und emotionalen Reaktionen beinhalten ▶ [399]. Zu diesen Reaktionen gehören das Gefühl des Kontrollverlustes und die zusätzliche Sprechanstrengung.

1.7.3.1 Anstrengung

Das Auftreten von stottertypischen Unflüssigkeiten kann für den Sprecher mit erhöhter physischer und/oder psychischer Anstrengung verbunden sein. Wenn eine stottertypische Unflüssigkeit das Gefühl des Kontrollverlustes hervorruft, kann das zu erhöhter physischer oder mentaler Anstrengung beim Sprechen führen:

Physische Anstrengungzeigt sich als äußerlich sichtbare Anspannung der Muskulatur oder als Ankämpfverhalten und kann gemessen werden.

Mentale Anstrengungist nicht direkt beobachtbar und steht nicht in direktem Zusammenhang mit dem Schweregrad der Stottersymptomatik; sog. verdeckt Stotternde haben wenig hörbare Auffälligkeiten in ihrem Sprechen und erreichen dies durch ein hohes Maß an mentaler Anstrengung, z.B. durch die Umformulierung gefürchteter Wörter.

1.7.3.2 Einfluss auf Kontinuität, Geschwindigkeit und Rhythmus

Stottertypische Unflüssigkeiten unterbrechen die Kontinuität des Gesprochenen, da der Sprecher keinen Nutzen aus ihnen zieht und der Zuhörer keine relevanten Informationen erhält. Stottertypische Dehnungen und Laut- und Silbenwiederholungen haben Auswirkungen auf die Geschwindigkeit des Gesprochenen. Die vom Zuhörer erwartete Dauer des Lautes wird nicht eingehalten. Ein sprechplanerischer Nutzen fehlt. Alle stottertypischen Unflüssigkeiten können den Rhythmus einer Äußerung stören.

1.7.4 Ziel einer Therapie des Stotterns

Diese Definition des flüssigen Sprechens nach Starkweather impliziert, dass eine Therapie des Stotterns, die den Anspruch erhebt, zu flüssigem Sprechen zu führen, alle diese Parameter erfüllen müsste. Unseriöse Therapieangebote profitieren häufig davon, dass Laien die Überwindung des Stotterns im Sinne einer Heilung dadurch gegeben sehen, dass keine Stotterereignisse mehr auftreten.

Diese formulierten Therapieziele erlauben eine ICF-gesteuerte Vorgehensweise, da in der Beratung und Therapieplanung die zu bearbeitenden Bereiche benannt und ihre Veränderung überprüft werden kann.

Wenn z.B. in einer Therapie die gesamte Sprechweise verändert wird, darf die daraus resultierende Sprechflüssigkeit nicht nur anhand der Häufigkeit der Unflüssigkeiten bewertet werden. Ein wesentliches Kriterium ist auch das Maß an mentaler Anstrengung bei dieser Technik und die Veränderung der Sprechnatürlichkeit, z.B. hinsichtlich der Sprechgeschwindigkeit bzw. des Rhythmus.

Merke

Eine verlangsamte Sprechgeschwindigkeit wird im selben Maße als unnatürlich empfunden, wie eine hohe Stotterrate (Martin et al. in: ▶ [397]).

Wenn eine Sprechtechnik flüssiges Sprechen auf Kosten einer erhöhten mentalen Anstrengung und einer reduzierten Sprechgeschwindigkeit erreicht, ist diese Intervention nur in Bezug auf den Parameter „Kontinuität“ erfolgreich, also nur hinsichtlicheiner Variable im Gefüge des flüssigen Sprechens.

Praxis

Vor Therapiebeginn muss offengelegt werden, welche Parameter des natürlichen flüssigen Sprechens Priorität haben sollen, damit der Patient entscheiden kann, ob dies mit seinen Zielvorstellungen übereinstimmt.

Fazit

Beim Stottern ist die sprachliche Flüssigkeit üblicherweise gegeben – der Stotternde weiß, was er sagen will. Natürlich klingendes, flüssiges Sprechen ist gekennzeichnet durch ein angemessenes Maß an Geschwindigkeit, Kontinuität und Leichtigkeit. Wenn Stottern auftritt, sind eine oder mehrere dieser Variablen beeinträchtigt.

1.8 Entwicklung des flüssigen Sprechens

Die Entwicklung flüssigen Sprechens ist eng mit der sprachlichen, kognitiven und motorischen Entwicklung von Kindern verknüpft. Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Sprechgeschwindigkeit und mit der Automatisierung von Bewegungsabläufen nimmt die Anstrengung ab. Unflüssigkeiten werden zunehmend funktionell eingesetzt und dienen damit der Kontinuität ▶ [399]. Mehrere Untersuchungen ▶ [215], ▶ [99], ▶ [169] deuten darauf hin, dass sich die Summe der Unflüssigkeiten mit zunehmendem Alter nicht zwingend verringert. So sinkt zwar die Anzahl der Wiederholungen kontinuierlich, die Einschübe hingegen nehmen zu (Abb. 1.3, Abb. 1.4).

Abb. 1.3 Die altersabhängige Häufigkeit von Wiederholungen vom Kindergarten bis zur 12. Klasse ▶ [99].

Abb. 1.4 Die altersabhängige Häufigkeit von Interjektionen vom Kindergarten bis zur 12. Klasse ▶ [99].

Entsprechend Starkweathers Modell des flüssigen Sprechens kann diese Entwicklung so interpretiert werden, dass Unflüssigkeiten mit zunehmendem Alter zum Vorteil des Sprechers eingesetzt werden ▶ [399].

Merke

Ein normal sprechendes Kind entwickelt die Fähigkeit, kompetent funktionelle Unflüssigkeiten zu nutzen.

1.8.1 Entwicklung von Unflüssigkeiten

In der Längsschnittuntersuchung von Kalveram und Mitarbeitern ▶ [344] zeigten die Gruppen der stotternden Kinder die gleiche Entwicklung der funktionellen Unflüssigkeiten wie die Gruppe der nichtstotternden Kinder. Der zeitliche Anteil an funktionellen Unflüssigkeiten nimmt im Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung zu ▶ [344]. Für den deutschsprachigen Raum gibt es kaum empirische Daten über die Entwicklung von Unflüssigkeiten und deren Abhängigkeit von anderen Faktoren in der unauffälligen kindlichen (Sprach-)Entwicklung. Hartmann und Mitarbeiter ▶ [168] haben in einer Studie die Sprechunflüssigkeiten von 11 nichtstotternden Kindern im Alter von 2,7 bis 5 Jahren untersucht. Im Abstand von 6 Monaten wurden 2 Spontansprachproben erhoben und hinsichtlich normaler bzw. stottertypischer Unflüssigkeiten analysiert. Es zeigte sich, dass die Summe aller Unflüssigkeiten mit zunehmendem Alter nicht signifikant abnimmt, dass sich aber die Häufigkeit der auftretenden Unflüssigkeiten dahingehend verändert, dass immer weniger stottertypische Unflüssigkeiten auftreten.

Fazit

Bei der Entwicklung flüssigen Sprechens werden funktionelle Unflüssigkeiten zunehmend zum Vorteil des Sprechers und zur Strukturierung der Kommunikation eingesetzt. Genau genommen entwickeln sich normal sprechende Kinder zu Sprechern, die kompetent normale Unflüssigkeiten einsetzen. Die Bedeutung der Entwicklung normaler Unflüssigkeiten beim Auftreten von Stottern ist noch nicht geklärt.

1.9 Beginn und Verlauf des Stotterns

Schon lange sind Forscher und klinisch arbeitende Therapeuten auf der Suche nach Kriterien, die eine Voraussage möglich machen, welche der Kinder, die zu stottern beginnen, ein persistierendes Stottern entwickeln werden. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Faktoren, die statistisch nachweisbar einen Einfluss auf den Beginn und den Verlauf von Stottern haben. Dennoch ist eine Vorhersage für ein einzelnes Kind auf der Grundlage des jetzigen Wissensstandes nicht möglich.

1.9.1 Praxisrelevanz

Für die Praxis bedeutet dies, dass bisher noch nicht sicher zwischen stotternden Kindern, die zu Normalsprechern werden, und denen, die sich auf überdauerndes Stottern einstellen müssen, unterschieden werden kann. Aber es ist möglich, die Diagnose zu stellen, ob ein Kind zum Untersuchungszeitpunkt stottert, und über mögliche Risikofaktoren zu beraten.

Merke

Eine angemessene Konsequenz ist es daher, alle stotternden Kinder zu erfassen, sobald aus dem Stottern für sie oder ihre Umgebung ein Problem erwächst, um so früh wie möglich mit einer Beratung oder einer vergleichsweise kurzen Therapie einem negativen Verlauf vorzubeugen und die damit verbundenen hohen Therapiekosten für eine lebenslange therapeutische Versorgung zu vermeiden.

Viele stotternde Kinder brauchen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung keine Therapie. In vielen Fällen reicht eine Beratung der Eltern aus, um ihnen Informationen über mögliche Verläufe zu geben und ihre günstigen Reaktionen auf das Stottern zu verstärken und mit ihnen abzusprechen, bei welchen Veränderungen eine Wiedervorstellung notwendig ist. Schlecht oder falsch informierte Eltern haben öfter – und aus therapeutischer Sicht oft auch unnötigerweise – einen Wunsch nach Therapie ihres Kindes als gut informierte Eltern ▶ [342] (Kap. ▶ 1.15).

1.9.2 Daten zu Beginn und Verlauf

Stottern tritt frühestens in der Phase auf, in der Zweiwortäußerungen gebildet werden (▶ [39], S. 109). Reilley et al. berichten von einem klassischen Stotterbeginn mit dem Eintritt in die syntaktische Phase (▶ [316], S. 273). Die früheste Manifestation für kindliches Stottern liegt damit im 2. Lebensjahr. Am wahrscheinlichsten beginnen Kinder im 3. – 6. Lebensjahr zu stottern ▶ [399], das Durchschnittsalter wird von Guitar ▶ [158] mit 2,8 Jahren angegeben. Es gibt keinen typischen Verlauf in der Entwicklung von stottertypischen Unflüssigkeiten zu Beginn der Störung.

1.9.2.1 Entwicklung

Die Entwicklung von Anzahl und Qualität der stottertypischen Unflüssigkeiten kann interindividuell sehr unterschiedlich sein. Entgegen früherer Annahmen, dass Stottern einen schleichenden Beginn aufweist, gibt es eine sichere Datenlage, dass Stottern in der Hälfte der Fälle innerhalb von 1–3 Tagen beginnt (▶ [316], S. 273; ▶ [470]). Bei manchen Kindern nimmt der Schweregrad im weiteren Verlauf kontinuierlich zu, bei vielen entwickelt sich das Stottern schubweise, bei manchen bleibt die Symptomatik stabil. Häufigkeit und Schweregrad der Symptomatik können phasenweise Schwankungen unterworfen sein. Dell ▶ [102] spricht von einer „Quecksilberstörung“. Eine Reduzierung oder das Verschwinden der Symptomatik bedeutet damit nicht unbedingt die Überwindung des Stotterns. Es kann auch eine Phase mit zunehmender Symptomatik folgen ▶ [39], ▶ [399].

1.9.2.2 Situationsabhängiges Auftreten

Die Situationsabhängigkeit wurde von Yaruss ▶ [471] in einer Studie nachgewiesen, in der Sprechproben von Kindern in unterschiedlichen Situationen, z.B. mit unterschiedlich vertrauten Personen, analysiert wurden. Es konnten große Schwankungen festgestellt werden, die individuell stark variierten. Das kann bedeuten, dass Kinder in unterschiedlichen Situationen (Kindergarten, zu Hause, unterschiedliche Gesprächspartner, unterschiedliche emotionale Beteiligung, Tageszeit, psychische, physische Verfassung etc.) mit deutlichen Unterschieden in der Symptomhäufigkeit und -schwere reagieren können; d. h., das Stottern kann schwerer oder leichter werden, was Laien häufig sehr irritiert. Dieser Sachverhalt ist in der Beratung, der Diagnostik und der Therapie zu berücksichtigen.

1.9.3 Remission

1.9.3.1 Remissionsrate

In der Literatur werden Remissionsraten bis zu 80 % angegeben (Überblick in: ▶ [40], S. 86–87). Die unterschiedlichen Angaben resultieren daraus, dass von unterschiedlichen Definitionen von Stottern und Remission ausgegangen wird, dass die Stichproben Kinder aus unterschiedlichen Altersgruppen umfassen, dass nicht immer zwischen therapierten und untherapierten Kindern unterschieden wird sowie uneinheitliche Erhebungsmethoden verwendet werden. Übereinstimmend zeigen die Studien geschlechtsspezifische Besonderheiten: Die Remissionsrate ist bei Mädchen wesentlich höher als bei Jungen. Zur Zeit des Stotterbeginns stottern fast so viele Jungen wie Mädchen. Bis zum Erwachsenenalter verschiebt sich das Verhältnis zu Ungunsten der Männer. Die Verteilung wird in der Literatur mit 2,2 : 1 bis 6,3 : 1 angegeben (▶ [40], S. 89), wobei die meisten Autoren ein Verhältnis von 4 : 1 angeben.

1.9.3.2 Zeitraum der Remission

Die Remissionsrate ist in den ersten 3 Jahren am höchsten ▶ [470]. Die hohe Remissionsrate erschwert es, den Erfolg einer frühen Behandlung von stotternden Kindern von einer spontanen Remission abzugrenzen.

Wichtige Erkenntnisse brachte eine Langzeitstudie an der Universität von Illinois. Hier wurden 84 stotternde Kinder mindestens 4 Jahre lang beobachtet und untersucht, beginnend kurz nach dem ersten Auftreten des Stotterns ▶ [468]. Das Durchschnittsalter der Kinder zu Stotterbeginn betrug 33 Monate. Die Remissionsrate lag hier bei 74 %, wobei die Dauer des Stotterns bis zur vollständigen Remission variierte und sich über den gesamten Beobachtungszeitraum dieser 4 Jahre erstreckte. Die Autoren nehmen an, dass auch spätere Remissionen (nach den beobachteten 4 Jahren) im Kindesalter möglich sind. Durch die lange Beobachtung zeigte sich, dass sich Remissionen häufig über einen langen Zeitraum hin erstrecken. Da ein Teil der beobachteten Kinder auch eine Therapie erhielt, über deren Inhalt und Ausmaß in der Studie nichts ausgesagt wird, lässt sich nicht zwischen Remissionen im Zusammenhang mit einer Therapie und Spontanremissionen unterscheiden.

Zusammenfassung

Stottern beginnt überwiegend im frühen Kindesalter und in der Hälfte der Fälle innerhalb weniger Tage. Zu Beginn der Störung kann der Schweregrad des Stotterns verschieden ausgeprägt sein. Auch danach sind individuell unterschiedliche Verläufe zu beobachten. Es lässt sich unterscheiden, ob sich die Symptomatik in Phasen verändert und ob es situationsabhängige Schwankungen gibt. Diese Schwankungen können sich zwischen völliger oder annähernder Symptomfreiheit und einer starken Symptomatik bewegen. Bis zu 80 % der betroffenen Kinder haben eine Remission, also eine Heilung der Störung. Unter den Kindern, die remittieren, sind deutlich mehr Mädchen, sodass im Erwachsenenalter männliche Stotternde im Verhältnis von etwa 4 : 1 überwiegen. Die Häufigkeit der Remissionen nimmt mit zunehmender Dauer der Störung ab. Nach der Pubertät sind Remissionen beinahe ausgeschlossen.

1.10 Ursache der Störung

Wenn man die Ursache des Stotterns reflektiert, muss man die Ursache der Störung und den Auslöser einzelner Stotterereignisse sorgfältig unterscheiden. Häufig wird irrtümlich der Auslöser der ersten Stotterereignisse eines Kindes mit der Störung gleichgesetzt. Beispielsweise berichten viele Eltern, dass das Kind stottert, „... weil es in den Kindergarten kam, die Familie umgezogen ist, ein Geschwisterkind geboren wurde, es nach einem Unfall ins Krankenhaus musste ...”.

1.10.1 Genetische Verursachung

Es ist unbestritten, dass genetische Veränderungen wesentliche Ursachen für das Stottern sind ▶ [217], ▶ [218].

Inzwischen beschäftigt sich die genetische Forschung mit der Frage, welche Gene involviert sind und wie deren Veränderungen die phänotypischen Charakteristika des Stotterns produzieren (▶ [217], S. 3). Kraft stellt in ihren Veröffentlichungen ▶ [217], ▶ [218], ▶ [219] 4 Phasen der genetischen Forschungen eindrucksvoll dar:

1.10.1.1 Phase 1

Seit den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts weiß man, dass Stotternde häufiger stotternde Verwandte haben als nicht Stotternde. Wepman (1939 in: ▶ [217]) schloss damals daraus, dass Stottern eine erbliche Ursache hat und deshalb lediglich die Symptome, nicht aber die Ursache behandelt werden kann. Ebenfalls nahm er an, dass nur Fälle, in denen Stottern lediglich in einer der beiden Elternfamilien vorliegt, behandelt werden können, während Stotternde, bei denen Angehörige in beiden elterlichen Familien ebenfalls stotterten, nicht behandelbar wären.

1.10.1.2 Phase 2

In Zwillingsstudien wurden eineiige Zwillinge, die in 100 % der DNA übereinstimmen, mit zweieiigen Zwillingen verglichen, die, wie andere Geschwister, nur in 50 % der DNA übereinstimmen. Zugrunde lag die Beobachtung, dass bei eineiigen Zwillingen häufiger beide Kinder stotterten als bei zweieiigen ▶ [206]. Die Zwillingstudien wurden fortgesetzt bis ins 21. Jahrhundert. Sie weisen methodologisch große Unterschiede auf. Van Bijsterveldt et al. ▶ [424]