Strategie – heute - Oskar Morgenstern - E-Book

Strategie – heute E-Book

Oskar Morgenstern

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Beschreibung

Gibt es im Zeitalter der Kernwaffen begrenzte Kriege? Kann die Bevölkerung im Falle eines Atomkrieges geschützt werden? Wie ist das westliche Verteidigungssystem beschaffen; auf welche Waffengattungen baut es sich auf und welche strategische Konzeption liegt ihm zugrunde? Wird der Weltraum in absehbarer Zeit in die militärischen Überlegungen einbezogen werden? Zeichnen sich Umstrukturierungen ab in den Formen kriegerischer Auseinandersetzung? Das sind einige der Fragen, die sich Oskar Morgenstern in dem vorliegenden, im Original erstmals 1959 erschienenen Buch stellt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 543

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Oskar Morgenstern

Strategie – heute

Aus dem Amerikanischen von Walther Schwerdtfeger

FISCHER Digital

Inhalt

Welt im WerdenFür Dorothy, Carl und [...]Vorwort zur deutschen AusgabeVorwort zur ersten amerikanischen AusgabeVorwort zur zweiten amerikanischen AusgabeI PrologII Die DrohungDer gegenwärtige TatbestandDie BedrohungDie höchste GefahrDie Kosten der BedrohungProvokationDas Prinzip der aufgezwungenen, unfreiwilligen ReaktionAngriffs- und VerteidigungswaffenIII Der Schild: Abschreckungs- und VergeltungskräftePatt oder ParitätAbschreckungVergeltungVerteidigung und VergeltungVergeltungswaffenDie Verteidigung der VergeltungsmachtGemischte SystemeWie läßt sich die Verwundbarkeit der Vergeltungsmacht vermindern?›Härtung‹ zieht das Feuer anVorfeldwarnungDie Überlegenheit der Angriffsmacht gegenüber ›unangreifbaren‹ StreitkräftenAlarm, Irrtum, AngriffWildgänse und MeteoreDer fiktive MajorUnverwundbare Vergeltungsstreitkräfte auf beiden SeitenEine NotlösungIV Das Ozeanische System: Die unangreifbare StreitmachtDie Verstärkung des HeimatkriegsgebietsDas neue Ausmaß der SeemachtDas nahe Ende der festen StützpunkteBewegliche Auflockerung der strategischen VerbändePolitische Folgen des Ozeanischen SystemsAndere Systeme der beweglichen Auflockerung: der WeltraumEine zweite NotlösungV Ermattungsstrategie, Schutzräume und ErholungLanger oder kurzer Krieg?ErmattungsstrategieErmattungsstrategie im begrenzten KriegSchutzräumeSchutzraum und ZeitfaktorKosten der SchutzräumeEvakuierungErholung nach dem AngriffAktive Lagerhaltung: die SchattenwirtschaftErholungSchutzräume als ProvokationVI Begrenzung des KriegesIst die Frage absurd?Ein unscharfer BegriffBegrenzte ZieleLehren der GeschichteThermonukleares Patt und begrenzter KriegWaffensysteme für den begrenzten KriegDas Arsenal der KernwaffenLogistik›Polizeiaktionen‹ und konventionelle WaffenBegrenzter Krieg auf VereinbarungVII Technik und Strategie: Der Krieg der LaboratorienTechnische Veränderungen und strategische ErfahrungenWaffentechnisches WissenWissenschaftliche Grundlagenforschung und WaffenentwicklungDie Universitäten: Säulen unserer künftigen Macht?Der wahre Boß der staatlichen ForschungVIII Wirtschaftskraft und wirtschaftliche BelastungAmerikanische und russische WirtschaftskraftDie BelastungsgrenzeDer ›militärische Wert‹Strategische ErfordernisseAnlaufzeit und ProduktivitätDie Verwundbarkeit der integrierten WirtschaftWirtschaftliche KriegführungMöglichkeiten auf weite SichtIX Das Sicherheitsverfahren: Information, Nachrichtendienst und GeheimhaltungWelche Tatsachen werden mitgeteilt?Das Dilemma der öffentlichen InformationDie russische NachrichtenpolitikDer große Nachrichtenverrat›Wir haben …‹Militärischer NachrichtendienstDas Programm der AbwehrtätigkeitGeheimhaltung aus SicherheitsgründenVertrauensbruch und VerratWissenschaftler und GeheimhaltungSpioneBekanntgabe unserer Stärke: unser Vorrat an KernwaffenX Verhandlungen und Diplomatie bei nuklearer ParitätGesucht: eine Wissenschaft der PolitikHohe Tiere in Uniform und CutVerhandlungen mit dem FeindeVerhandlungen während nuklearer KriegshandlungenDie Technik des politischen KriegesLandläufige IllusionenDas Ende des KampfesXI Das ›n-Länder-Problem‹ oder die internationale Verbreitung der AtomwaffenDie Fähigkeit zur ProduktionKein zwingender Grund für AtomwaffentesteUnterschiede in den WaffenDie EinsatzfähigkeitStabilität und Abschreckung›Der lachende Dritte‹Ein nukleares DänemarkDas Ende der Zweipoligkeit?Das kritische ÜbergangsstadiumDreieckskrieg?XII Rüstungskontrolle und die ›Offene Welt‹Kalter Krieg und WettrüstenNutzlose Verträge zur Verschleierung von KonferenzmißerfolgenGeheimversuche in Tibet?Risiko und PreisDie Offene WeltXIII EpilogDer übliche SchlußDie Faszination des KriegesAnhangLiteraturhinweiseRegister

Welt im Werden

 

Herausgegeben von Pierre Bertaux und Ilse Grubrich

Für Dorothy, Carl und Karin

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch behandelt Probleme der Strategie, wie sie aus dem Ost-West-Gegensatz entstehen. Die großen, ständig sich ergebenden Veränderungen im Bereich der Wissenschaft und der Technik haben einen tiefgehenden Einfluß auf die gegenwärtige und zukünftige Kräfteverteilung der beiden Weltmächte. Eine Untersuchung der strategischen Probleme, sowohl auf militärischem wie auf politischem Gebiet, muß diesen Faktoren Rechnung tragen. Obwohl dieses Werk vorwiegend von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion handelt, sind die betrachteten Probleme von allgemeiner Bedeutung: erstens, weil es neben den beiden Weltmächten keine anderen großen Mächte gibt, und zweitens, weil die ganze Welt von deren Entscheidungen abhängt, ohne diese Entscheidungen wesentlich mitbestimmen zu können. Ich hoffe, gezeigt zu haben, daß die Behandlung dieser Probleme die größten geistigen Anstrengungen aller derjenigen erfordert, denen die Schaffung eines gerechten und stabilen Friedens am Herzen liegt.

Im folgenden wird verschiedentlich angenommen, daß zwischen dem Osten und dem Westen gegenwärtig ein nukleares Patt besteht. An den militärischen Vorbereitungen Amerikas wird mehrfach Kritik geübt. Es sei aber an dieser Stelle mit aller Entschiedenheit gesagt, daß die Vereinigten Staaten die Sowjetunion an Stärke bei weitem übertreffen. Das gilt besonders, wenn man die Kapazität der NATO-Länder hinzurechnet. Diese Lage ist jedoch nicht unbedingt stabil. Hier liegt ein großes Problem.

Die vorliegende deutsche Ausgabe ist, von kleineren Verbesserungen abgesehen, mit der zweiten amerikanischen Auflage identisch. In einem zusätzlichen Kapitel wird das schlimme Problem einer internationalen Verbreitung der Kernwaffen untersucht. Diese Studie ist im März 1961 in Fortune erschienen. Ich danke der Redaktion für die Erlaubnis, diese Abhandlung hier verwenden zu dürfen.

Das Werk in deutscher Sprache herauszubringen, war ein Vorschlag meines Freundes Prof. Edgar Salin (Basel). Ich möchte ihn zwar von aller Verantwortung freisprechen, ihm aber meinen wärmsten Dank sagen für seine großen Bemühungen. Der Übersetzer, Herr Walther Schwerdtfeger, hat eine getreue Wiedergabe gefunden und insbesondere die militärisch-technische Terminologie der beiden Sprachen aufeinander abzustimmen verstanden. Ihm gebührt Dank, ebenso wie Fräulein Ilse Grubrich vom S. Fischer Verlag für die Herausgabe dieses Buches und die entgegenkommende Berücksichtigung der Wünsche des Verfassers.

 

Princeton, N.J., 18. März 1962

Oskar Morgenstern

Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe

Es gehört eine gewisse Kühnheit dazu, angesichts der Kompliziertheit und der Verworrenheit der Lage über die Frage der Landesverteidigung zu schreiben. Seine Rechtfertigung findet dieser Versuch jedoch darin, daß es bei einiger Mühe möglich ist, den Nebelschleier zu durchdringen und wesentliche Sachverhalte klar zu formulieren. Einige meiner Schlußfolgerungen decken sich mit den Bestrebungen, die im amerikanischen Verteidigungsministerium im Gange sind, andere legen eine Verschiebung des Schwergewichts nahe oder fordern sogar eine grundlegende Neuorientierung. Die Prinzipien, die sich daraus ergeben, lassen die zwingende Notwendigkeit erkennen, unsere Abschreckungs- und Vergeltungswaffe durch die Wahl entsprechend gemischter Systeme vom Typ etwa des ›Ozeanischen Systems‹, wie es im vierten Kapitel erläutert wird, ›unverletzlich‹ zu machen. Sie zeigen ferner, daß weitaus größere Anstrengungen gemacht werden müssen – und gemacht werden können –, um die USA auf vielerlei Art in dieser, ihrer kritischsten Periode zu schützen.

Sobald etwas Klarheit in das Bild gekommen ist und gewisse Grundgedanken formuliert sind, wird meine Argumentation den Leser vielleicht überzeugen. Es ist nicht meine Absicht, unter allen Umständen originell zu sein, ich bin vielmehr bestrebt, die Wahrheit zu finden. Um so besser, wenn sie, erst einmal richtig dargestellt, einleuchtend erscheint. Aber eine Reihe von einfachen, wahren Feststellungen braucht, zusammengenommen, nicht mehr einleuchtend zu sein. Der große dänische Physiker Niels Bohr hat einmal gesagt, es gäbe zwei Arten von wahren Behauptungen: diejenigen, die jeder als wahr anerkenne, und die sogenannten ›tieferen Wahrheiten‹, deren Gegenteil ebenfalls ›tiefe Wahrheiten‹ seien. Der Leser mag selbst beurteilen, ob diese Unterscheidung auf Gedanken über Verteidigungsfragen anwendbar ist und in welche Kategorie meine Erkenntnisse oder die anderer Autoren gehören.

Neben einer Beurteilung der Position und der Stärke der Vereinigten Staaten ist eine Bewertung von Stand und Entwicklung des Feindes, Rußlands, notwendig. Dabei habe ich mich von der Tatsache leiten lassen, daß wir, wenn wir die Stärke des Feindes überschätzen, nur Geld und Mühen verschwenden, wenn wir sie aber unterschätzen, unser Leben und das Leben unseres Landes aufs Spiel setzen.

Mein Buch beruht auf einer langen und gründlichen Beschäftigung mit Verteidigungsfragen, die von der mathematischen Spieltheorie bis zur Beobachtung der Nachschublogistik reicht und auch das intensive Studium verschiedener Waffensysteme in den USA und im Ausland umfaßt. Im Laufe der Jahre sind ferner viele Diskussionen mit Freunden aus der Welt der Wissenschaft, in staatlichen und industriellen Laboratorien von Nutzen für mich gewesen. Besonderen Dank schulde ich zahllosen Offizieren der Wehrmachtteile, die stets bereit waren, mit mir zu diskutieren. Wenn wir auch mitunter verschiedener Meinung waren, so fanden wir uns doch immer in der Überzeugung, daß keine Mühe zu groß ist, um festzustellen, in welcher Richtung unsere Verteidigung sich entwickeln muß. Alle diese Männer sollen ungenannt bleiben. Sie möchten vielleicht nicht gerne mit einigen meiner Ansichten und Urteile in Verbindung gebracht werden, und selbst der übliche Hinweis, daß einzig und allein der Verfasser für den Inhalt seines Buches verantwortlich sei, würde sie möglicherweise nicht genügend davor schützen.

 

Princeton, N.J.

Oskar Morgenstern

Vorwort zur zweiten amerikanischen Ausgabe

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage hat das Kräfteverhältnis, wie es auf den folgenden Seiten abgesteckt und beschrieben wird, keine grundlegende Änderung erfahren. Ich glaube deshalb, daß meine Schlußfolgerungen nach wie vor gültig sind. Das erfreuliche Echo auf meine Arbeit hat mich in diesem Glauben bestärkt.

Die Vereinigten Staaten und die westliche Welt befinden sich in einem Kalten Kriege, der zur Zeit heftiger ist als seit vielen Jahren. Die Pariser Gipfelkonferenz hat mit einem Zusammenbruch geendet, die Abrüstungsgespräche sind ergebnislos verlaufen, neue Konfliktgebiete haben sich aufgetan wie Kuba und Kongo. In der öffentlichen Diskussion über die Notwendigkeit einer unangreifbaren, wirksamen Abschreckung sind Fortschritte erzielt worden. Mit manchen Entwicklungen, wie dem Polaris-Projekt, befinden wir uns auf dem richtigen Wege. Doch die Gesamtanstrengungen der Vereinigten Staaten sind kümmerlich im Vergleich zu der Dringlichkeit und zu unserer Leistungsfähigkeit; die Intensität der kommunistischen Anstrengungen aber ist stark geblieben und wächst weiter.

Das Kapitel »Rüstungskontrolle und die ›offene Welt‹« der vorliegenden Ausgabe ist eine veränderte Fassung eines Aufsatzes, der in der Zeitschrift Fortune im Juli 1960 erschienen ist. Ich danke der Redaktion für die Erlaubnis, diese Arbeit hier zu verwenden. Der Vorschlag einer ›offenen Welt‹ verkörpert unsere große Hoffnung auf eine Abwendung der Gefahren, die sich aus dem durch den technischen Fortschritt angetriebenen Wettrüsten ergeben. Für autokratische Systeme mag es schwer sein, sich mit diesem Gedanken zu befreunden, schwerer noch als für unsere Gesellschaft, wo man ebenfalls Einwendungen machen wird. Es läßt sich aber beweisen, daß die Alternative der offenen Welt unerbittlich eine Erweiterung und eine Vertiefung des Konfliktes zur Folge haben wird, was zu neuen Waffen, zu Geheimhaltung, Spionage und Mißtrauen führt. Die Verstärkung des Wettrüstens wird eines Tages die Abschreckung wirkungslos werden lassen. Unvermeidlich muß das in der weltumspannenden Katastrophe eines thermonuklearen Krieges großen Ausmaßes gipfeln.

 

September 1960

Oskar Morgenstern

I Prolog

Selten hat eine große Nation in Friedenszeiten mit der Möglichkeit einer plötzlichen und vollkommenen Katastrophe rechnen müssen. In dieser Lage aber befinden sich heute die Vereinigten Staaten, und falls die Katastrophe über dieses Land hereinbricht, wird sie auch viele andere Länder ereilen. Das ist die selbstverständliche Folge des tiefen Antagonismus zwischen der westlichen Welt und dem kommunistischen Block, sowie einer stürmischen Entwicklung der Waffentechnik. In allernächster Zukunft wird man jeden Punkt der Erde von jedem anderen Punkt der Erde aus bedrohen – und zwar mit totaler Vernichtung bedrohen – und, wenn es dem Angreifer beliebt, auf Jahrhunderte hinaus unbewohnbar machen können. Schon heute kann das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten von einem solchen Angriff heimgesucht werden, obwohl das mit Waffen geschehen würde, die bereits veraltet sind und durch andere, fortschrittlichere ersetzt werden, die neuartige Wirkungen in sich bergen.

Um sich dieser Lage gewachsen zu zeigen und diese Gefahr zu neutralisieren, bedarf es Mittel von einer Kompliziertheit, wie sie Staatsmännern und Soldaten nie zuvor begegnet ist. Die aufgeworfenen Probleme sind härter als die schwierigsten Probleme, die jemals von der Naturwissenschaft gelöst worden sind. Sie sind weit weniger erkannt, nicht klar dargestellt, nicht scharf definiert. Es gibt keine spezifische Wissenschaft, die sich ihre Bewältigung zur Aufgabe gemacht hat, und der reiche Erfahrungsschatz des Militärs ist größtenteils überholt. Auch auf politischem und diplomatischem Gebiet sind neue Erscheinungen aufgetaucht, die in keines der bekannten Verhaltensmuster passen. Neue Drohungen sind möglich geworden, und wahrscheinlich wird man sie auch anwenden –, auf die jegliche Erwiderung äußerst gefährlich ist. Für den gesunden Menschenverstand bleibt nicht mehr viel Raum, weil es hier wenig gibt, was jemals Gegenstand normaler menschlicher Erfahrung gewesen wäre. Man kann weder die Anwendung großer Kernwaffen noch den Verzicht darauf vom gesunden Menschenverstand her erörtern.

In dieser Zeit der Gefahr finden wir, wohin wir auch blicken, qualvolle Verwirrung. Heute versichert man uns, Amerika sei so stark, daß niemand wagen werde, es anzugreifen. Morgen erzählt man uns, wir schwebten in Todesgefahr. Einige unserer militärischen und politischen Führer sagen, die Pläne und Vorkehrungen zur Abwehr feindlicher Anschläge seien vollkommen befriedigend; andere gleichermaßen kompetente und ebenfalls hochgestellte Persönlichkeiten bestreiten das nachdrücklich. Das Verteidigungssystem ist so kompliziert und verwickelt geworden, daß selbst Leute, die sich sein Studium zum Beruf gewählt haben, in Verwirrung geraten und außerstande sind, unsere Stärke unter Berücksichtigung der Mittel des Feindes zu beurteilen. Für den Durchschnittsbürger schrumpft das Vermögen, an jeder Einzelheit der politischen und militärischen Entscheidungsvorgänge teilzunehmen, praktisch auf Null zusammen, und das ist für den Fortbestand einer lebendigen und sinnvollen Demokratie ein ernstes Problem. Eben weil das Verteidigungswesen so kompliziert ist, entsteht auch die allgemeine Ansicht, etwas so Kompliziertes müsse gewiß gründlich überlegt worden sein – eine Ansicht, die natürlich von jedem, der für die Verteidigungsorganisation verantwortlich ist, genährt wird.

Aus alledem ist ersichtlich, daß Erörterung und Analyse der Landesverteidigung auf ungeheure Schwierigkeiten stoßen, sobald der Versuch gemacht wird, über das politische Tagesgezänk, die Rivalität der Wehrmachtteile untereinander und die Verfolgung von Sonderinteressen der verschiedenen Rüstungsindustrien hinauszugehen. Da die zuverlässige Führung durch anerkannte Wissenschaft und gültige Erfahrung fehlt, braucht man sich kaum darüber zu wundern, daß häufig Ausdrücke verwendet werden, die den Anschein der fachlichen Autorität erwecken, während überhaupt nichts dahinter steckt. ›Vernünftige militärische Entscheidung‹ und ›kalkuliertes Risiko‹ sind zwei dieser Phrasen. Der erste Ausdruck ist völlig nichtssagend, und der zweite gibt keinen Hinweis darauf, was das Risiko ist, wie es gemessen werden soll und worin die angebliche Kalkulation tatsächlich besteht. Dennoch stößt man andauernd darauf, ein Zeichen vielleicht für ein Verlangen nach präzisem Denken und für das Gefühl, es sollte doch möglich sein, zu allgemein annehmbaren, objektiven Schlußfolgerungen zu gelangen. Nun wäre Präzision tatsächlich außerordentlich zu begrüßen. Wir brauchen einen Leitfaden, und den kann uns nur Erfahrung in Verbindung mit einem hochentwickelten, bewährten Denksystem geben. Verschwommenes Denken ist selten statthaft. Bei der Erörterung unserer strategisch-militärischen Probleme sollte es gemieden werden wie die Pest, denn die Antworten, die wir brauchen, betreffen unseren Fortbestand als Individuen wie als Nation.

Wir könnten heute weiter sein, wenn man sich stärker und beharrlicher bemüht hätte, eine gedankliche Substanz zu entwickeln, eine Methode, mit der man an diese neuartigen Probleme herangehen kann, die in einer neuen Dimension menschlicher Existenz liegen.

Ein Beispiel. Die geistige Arbeit, die für die Herstellung der ersten Atombombe aufgewandt worden ist, und die kurze, oberflächliche Begutachtung für ihren Einsatz, vielmehr, ob sie überhaupt hätte eingesetzt werden sollen, wann, wo und unter welchen genauen Umständen, lassen sich einfach nicht vergleichen. In den wenigen Ausschußsitzungen, die damals stattfanden, wurde kein Versuch gemacht, tief in die Materie einzudringen, geschweige denn ausgefeilte wissenschaftliche Methoden zu entwickeln, mit denen sich eine Lösung hätte bestimmen lassen. Nicht, daß das einfach gewesen wäre. Unsere Fähigkeit, mit sozialen, politischen und strategischen Problemen fertig zu werden, läßt sich nicht im entferntesten mit unserer ständig wachsenden Erkenntnis und Beherrschung der physikalischen Welt vergleichen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat man sich bemüht, eine fortschrittliche militärische Strategie zu entwickeln, aber bei aller Anerkennung für die zu diesem Zwecke geschaffenen Einrichtungen sind anscheinend wenig greifbare Fortschritte in dieser Richtung gemacht worden. Und doch würde sich gerade hier eine gründliche Denkarbeit am besten bezahlt machen, besser als die Verfeinerung und Vervollkommnung weiterer technischer Systeme, die für die Rüstung kaum von Nutzen sind.

Bei den ersten Schritten auf neuen und schwierigen Gebieten sind viele unbestimmte Begriffe und Ideen, wie das oben erwähnte ›kalkulierte Risiko‹, die ›vernünftige militärische Entscheidung‹ und so weiter unvermeidlich und wirklich notwendig. Aber nach vielen Jahren und Jahrzehnten des Gebrauchs sollten sie eine konkrete Deutung gewonnen haben. Ihr Fortleben in Sprache und Literatur ist ein Zeichen für den Mangel an strengem Denken auf dem Gebiet der militärischen und nationalen Strategie. Der Gebrauch einer scheingenauen Terminologie, das Gerede über ›Kalkulation‹, wenn nichts kalkuliert wird, ist nicht der richtige Weg, die Unklarheit der Betrachtungsweise zu überwinden.

Weder die öffentliche Diskussion um den geheimen Gaither-Bericht von 1957 noch der Rockefeller-Bericht von 1958 (um nur zwei neuere offizielle Darstellungen der strategischen Probleme Amerikas zu nennen) zeigen ein Verständnis für die Hauptfragen, die auf den folgenden Seiten aufgeworfen werden sollen. Darin liegt eine Rechtfertigung für ihre Darlegung.

Unsere Diskussion bezieht sich ausschließlich auf Tatsachen, die im öffentlichen Bereich liegen und von denen man mit gutem Grund annehmen kann, daß sie korrekt bekanntgegeben worden sind. Aus diesen Tatsachen leiten wir Schlußfolgerungen ab. Wir hoffen, daß sie richtig sind; auf jeden Fall können sie untersucht und dann anerkannt oder verworfen werden. Da entsteht nun sofort das eigenartige Dilemma, daß man ohne eine Erörterung der als militärische und atomare Geheimnisse erklärten Fakten unmöglich wissen kann, ob es auf die eine oder andere Weise entscheidend wichtig ist, daß diese Geheiminformationen hier nicht berücksichtigt werden. Wenn unsere Geheimhaltungspolitik so sinnvoll ist, wie behauptet wird, dann sollte der Unterschied beträchtlich sein. Wir können diese Frage nicht entscheiden, wenn wir uns auf die Behandlung öffentlich bekanntgegebener Informationen beschränken. Man könnte also fragen: Warum sollten sich die Leute die Mühe machen, überhaupt irgendwelche Schlüsse aus den ihnen zur Verfügung stehenden beschränkten Informationen zu ziehen? Eine der Antworten darauf lautet: selbst nur auf Grund von öffentlich bekannten Tatsachen gelangt man zu gewissen Alternativen, die so wichtig sind, daß Regierung und Militär sich genötigt sehen werden, der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, warum man auf bestimmte Vorschläge nicht eingehen soll.

Man unterschätzt im allgemeinen, wieviel sich aus öffentlich zugänglichen Informationen entnehmen läßt. Leider ist grundsätzlich festzustellen, daß von diesen Informationen nur unvollständig und unzulänglich Gebrauch gemacht worden ist, sieht man von einigen wenigen Leuten ab, die als Pessimisten oder Kriegshetzer verschrieen worden sind. Die wachsende wirtschaftliche und militärische Stärke Rußlands und seine großen Fortschritte in angewandter Wissenschaft und Technik beispielsweise lagen seit Jahr und Tag klar vor aller Augen. Dennoch wurde das alles durchweg lächerlich gemacht. Die Herausforderung, die für die Vereinigten Staaten in dieser Entwicklung lag, wurde nicht erkannt, und die entsprechende Reaktion blieb aus. Jetzt, nachdem das Auftauchen der russischen Interkontinentalrakete und der großen künstlichen Erdsatelliten zumindest ein wenig unsere Selbstzufriedenheit erschüttert haben, besteht die Tendenz, ins andere Extrem zu verfallen und anzunehmen, die Vereinigten Staaten könnten keine angemessene Position in dieser neuen Welt finden und behaupten.

Die Fehldeutung brauchbarer Fakten ist nun allgemein menschlich. Wenn es anders wäre, brauchten wir keine Wissenschaft. Wir würden nicht jahrtausendelang von einer Erklärung bestimmter Himmelserscheinungen zur andern gestolpert sein, bis schließlich Newton eine Darstellung der Gravitationsgesetze gab. Und so ist es überall. Warum sollte es auf dem ungeheuer komplizierten Gebiet des politisch-militärisch-technischen Lebens anders sein, wo Ziele und Wege so dürftig beschrieben sind und das jetzt schon verwirrende Bild durch unerwartete Wendungen ständig neue Perspektiven gewinnt? Das Studium der Natur ist interessant, erregend und bedeutsam, aber niemals war es mit solchen Gefahren für die gesamte Menschheit verbunden, wie sie in den letzten wenigen Jahren offenbar geworden sind. Es überrascht daher nicht, daß die Erörterung der Rüstungstechnik und die politisch-strategischen Situationen, die durch die neuen Entdeckungen geschaffen wurden, unsere Gefühle tief bewegen. Es ist sehr schwierig, die Gefühle zu beherrschen, wenn diese Probleme auftauchen.

Eine der schlimmsten Folgen ist, daß wir oft blind für manche Tatsachen werden, die unserer Beweisführung, unseren Empfindungen und Idealen unbequem sind. Der Hinweis auf solche Umstände ist ein unfreundlicher Akt. In unserer höflichen Gesellschaft hört man ein offenes Wort nicht gern. Aber wenn es um die nackte Existenz der Nation und jedes einzelnen geht, wäre es ganz und gar unangebracht, bei solchen Ausflüchten zu verharren. Nun ist es nicht nur möglich, sondern sogar die Pflicht eines jeden, unumwunden das zu sagen, was sein Wissen und Gewissen ihn zu sagen zwingen. Wenn Amerika und mit ihm so viele andere Länder bedroht sind, wie das tatsächlich der Fall ist, wäre jedes andere Verhalten verachtenswert. Es erfordert jedoch ungewöhnliche Mühe, genau das zum Ausdruck zu bringen, was man denkt, sei es auch nur, weil sich das, was man tatsächlich denkt oder denken sollte, so schwer bestimmen läßt.

Nur völlige Offenheit und Ehrlichkeit, die keine Gefühle schont, tiefer Respekt vor den Tatsachen, wie unerfreulich und unbequem sie auch sein mögen, große Anstrengungen, sie in Erfahrung zu bringen, wo sie nicht ohne weiteres greifbar sind, und Schlüsse nur nach Maßgabe strenger Logik zu ziehen, kann die Diskussion unserer Verteidigungsfragen vorwärts bringen. Mit anderen Worten: erforderlich ist eine kühl wissenschaftliche Einstellung und Verfahrensweise.

In diesem Sinne wollen wir zuerst die Bedrohung betrachten, der die Vereinigten Staaten ausgesetzt sind.

II Die Drohung

»Wir werden euch begraben.«

Chruschtschow

Der gegenwärtige Tatbestand

Folgende Tatsachen stehen uns vor Augen, und wir können ihnen bei Lebzeiten nicht entrinnen:

1. Niemand hat eine Zuflucht. Es gibt keinen Ort, wo man sich bei Ausbruch eines großen thermonuklearen Krieges sicher verstecken könnte. Für niemand bietet sich eine Zuflucht, weder für die Masse, noch für den ›kleinen Mann‹, weder in den USA, noch in Rußland oder in Europa: nirgendwo. Nur die Spitzen der Regierung und die oberste militärische Führung sind verhältnismäßig sicher … vorausgesetzt, daß sie ihre tiefen Schutzräume binnen einer halben Stunde oder binnen zwei bis drei Minuten – je nach der Art des Angriffs – erreichen können. Regierungen und militärische Führer sind seit undenklichen Zeiten immer an sichereren Orten gewesen als der ›kleine Mann‹. Diese Sonderstellung versuchen sie sich zu erhalten.

2. Die Einzelwaffen gegen Städte und Bevölkerungsmassen sind tausendmal stärker als noch vor zehn Jahren und millionenmal stärker als vor zwanzig Jahren. Eine einzige Bombe kann eine Kraft in sich bergen, die größer ist als die aller Sprengstoffe, die sämtliche Kriegführenden im Zweiten Weltkrieg verwendet haben oder sogar größer als die gesamte Energie, die jemals in irgendeiner Form in allen früheren Kriegen der Menschheit eingesetzt worden ist. Dabei ist diese Kraft in einer Waffe konzentriert, die man in einem herkömmlichen Flugzeug, wie es deren Tausende gibt, transportieren kann, und auf der Welt gibt es Dutzende, wahrscheinlich Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Bomben. Wenn diese Zahl von Bomben nicht vorhanden sein sollte, aber verlangt wird, kann sie ohne Schwierigkeiten von mindestens drei Ländern hergestellt werden: den Vereinigten Staaten, Rußland und Großbritannien. Frankreich stößt gerade zu dieser Gruppe. Bald wird man diese geballte Energie mit Raketen befördern oder auf eine Kreisbahn um die Erde schicken können. Die Raketen kann man an jeden beliebigen Fleck der Erde senden, die Satelliten über jedem beliebigen Gebiet herunterholen, um es zu verwüsten.

3. Eine Verteidigung gegen diese Waffen ist praktisch nicht vorhanden, zur Zeit sogar nicht einmal möglich. Sie besteht nur in der blühenden Phantasie einiger Männer, aber nicht in der physischen Wirklichkeit.

4. Zwei feindliche Parteien stehen heute einander gegenüber; jede behauptet, stark genug zu sein, um die andere zu ›vernichten‹ (in einem Sinne, der die andere Partei überzeugt, daß sie, wenn das Ereignis eintreten sollte, tatsächlich vernichtet wird). Für die Vernichtung des Feindes muß der Angreifer einen Preis bezahlen. Vernichtung bedeutet in diesem Zusammenhang die Tötung von mindestens Dutzenden von Millionen Menschen, obwohl wir noch raffiniertere Methoden erörtern werden, eine Nation aus der Welt zu schaffen. Es gibt keine Dritte Kraft, die die Macht hätte, den Streit zu stabilisieren oder zu neutralisieren.

5. Jede Partei beteuert ihre friedlichen Absichten, aber die andere Seite glaubt nicht daran, vielmehr erkennt jede die tödliche und wachsende Macht der andern. Die naturgegebenen friedlichen Absichten und Wünsche der breiten Massen des Volkes in aller Welt sind ausgeschaltet und bleiben wirkungslos.

6. Diese Situation hat sich seit Endes des Zweiten Weltkrieges herausgebildet, wobei die relative Stellung der Vereinigten Staaten sich ständig verschlechtert hat und relativ weiter verschlechtert.

7. Kriege werden von Regierungen und nicht vom Volke gemacht.

Offensichtlich ist das nicht das Bild einer stabilen Welt. Das Wort ›Stabilität‹ soll hier besagen, daß die gegebene Situation nicht an und für sich die Tendenz hat, sich im vernünftigen Sinne des Wortes zu verschlechtern, wie beispielsweise zu einem bloßen Schießkrieg großen Ausmaßes. Die Situation ändert sich auch, wenn eine der beiden gegnerischen Parteien wesentlich von ihrem gegenwärtigen Verhalten abweicht, wie zum Beispiel, wenn eine Partei eine neue außergewöhnlich wirksame Angriffswaffe entwickelt oder eine sehr wirksame neue Methode der Verteidigung.

Hier müssen wir uns nun fragen, ob wir uns damit zufrieden geben sollen, die gegenwärtige Situation durch irgendwelche neuen Pläne oder Erfindungen zu stabilisieren. Stabilität an sich ist nicht unbedingt wünschenswert, aber sie ist zweifellos wünschenswerter, wenn sie auf einer niedrigen Stufe der Kräfteanspannung und der Waffenkraft erreicht werden kann als auf einer hohen. Wenn mit der derzeitigen Waffentechnik und der gegebenen Kräfteverteilung der streitenden Parteien Stabilität erreicht werden kann, vielleicht durch die Einführung neuer strategischer Begriffe, würden wir das sicherlich lieber sehen als die gegenwärtige Instabilität. Wir wissen natürlich, daß andere Veränderungen, wie etwa eine beträchtliche Abrüstung, zwar noch besser wären, aber unerreichbar bleiben. Wir haben bisher keine Möglichkeit entdeckt, solche Verhältnisse zu schaffen, und wir haben kaum irgendeinen erwähnenswerten geistigen Versuch gemacht, neue Methoden einer echten Abrüstung zu finden. Folglich muß man die Möglichkeit prüfen, zuerst die gegenwärtige Situation gegen eine Verschlechterung zu sichern.

Die Bedrohung

Sehen wir einmal davon ab, daß ein Land Angriffsabsichten hat (in einem solchen Fall wird es selbstverständlich rüsten), so wird sogar ein friedliebendes Land aufrüsten, wenn es sich einer Bedrohung durch eine andere Nation ausgesetzt sieht. In dieser Lage befinden sich die Vereinigten Staaten; daher unsere großen Verteidigungsanstrengungen. Daraus ergeben sich folgende zusammenhängende Schritte.

1. Wir müssen an den durch seine militärische und wirtschaftliche Macht unterstützten Absichten des Feindes erkennen, daß eine Bedrohung für uns besteht. Diese Bedrohung kann echt oder eingebildet sein, sie kann falsch gedeutet werden, das heißt größer oder geringer erscheinen, als sie ›in Wirklichkeit‹ ist, mit anderen Worten, als sie einem vollkommen unterrichteten Beobachter im Augenblick erscheinen oder durch spätere Geschichtsforschung offenbart werden würde.

2. Wir müssen die Art und die zeitliche Nähe der Bedrohung feststellen. Die Art der Bedrohung kann viele Formen annehmen. Allein schon die Tatsache, daß sich Kernwaffen in Feindeshand befinden, stellt eine Bedrohung dar. Sie nimmt durch die Waffentechnik und die strategischen Möglichkeiten des Feindes feste Formen an.

3. Wir müssen die optimale Strategie ausarbeiten, um dieser Bedrohung zu begegnen und sie, wenn möglich, zu beseitigen, wobei wir nur Pläne in Erwägung ziehen, die wirtschaftlich und technisch durchführbar sind.

4. Wir müssen rechtzeitig Waffen finden und entwickeln, die dem gewählten strategischen Konzept entsprechen, und müssen diese Waffensysteme in den durch die optimale Strategie geforderten Mengen produzieren und in Dienst stellen. Wir müssen neue Waffen erfinden und sie mindestens ebenso rasch einführen, wie der Gegner neue Kampfmittel einführt.

5. Wir müssen eine allgemeine Politik zur Unterstützung der erforderlichen Maßnahmen in Gang bringen, das heißt wirtschaftlich-steuerliche Unterstützung, psychologische Maßnahmen usw.

Auf diese Weise wird die gegen uns gerichtete Drohung gekontert, indem wir die andere Seite bedrohen. Das ist unsere Erwiderung. Wahrscheinlich wird sie nicht richtig gedeutet, sondern unter- oder überschätzt. Die beiden Bedrohungen können sich gegenseitig aufheben, aber im Laufe der Zeit wird eine derartige Situation schwerlich stabil bleiben, da sich Fähigkeiten und Technik ändern. Es wird auch zu zufälligen Störungen kommen, die der einen oder der anderen Seite auf beiderseits unvorhergesehene Weise einen Vorteil verschaffen können.

Um die Gefahr, die uns vom Gegner droht, genauer bestimmen zu können, müssen wir versuchen, folgendes herauszubekommen:

a) Die wesentlichen Interessen beider Parteien, damit wir sehen, wo die Quellen des Konflikts liegen. Das brauchen nicht die behaupteten Interessen zu sein, es müssen vielmehr grundsätzliche Interessen sein, ohne alle Verbrämung durch schöne Worte. Wir müssen entdecken, was für den Fortbestand einer jeden Partei lebenswichtig ist und ob diese lebenswichtige Sache in technischer Reichweite der Macht liegt, die der Gegner durch Waffengewalt oder andere Druck- und Zerstörungsmittel auszuüben vermag.

b) Erkundung der Kampfstärke des Gegners, das heißt seiner Waffen (Charakter, Mengen, Ausrüstung, Schnelligkeit der Produktions- und Standortänderungen usw.).

Es wird immer schwierig sein, in mancher Hinsicht sogar unmöglich, beide Bedingungen vollkommen zu erfüllen. Es gibt auch eine Situation, wie sie zur Zeit besteht, wo allein die Technik jedem Gegner solche Macht verleiht, daß der bloße Besitz dieser überwältigenden Macht – ohne Rücksicht auf seine grundlegenden Interessen, die friedlich sein mögen – eine potentielle ›höchste Gefahr‹ darstellt. Unter diesen Umständen bleibt der andern Partei keinerlei Wahl, wenn sie überleben und ihre Eigenständigkeit wahren will: sie muß die gleiche Macht erwerben, um einen Ausgleich zu schaffen, und sie muß das in der denkbar kürzesten Zeitspanne tun, damit die erste Partei nicht in diesen Prozeß der Angleichung oder Neutralisierung eingreift. Das kann durch einen Präventivkrieg geschehen. Kein großes Land befindet sich heute in dieser Situation, aber die Welt hat ab und zu dieses Stadium durchschritten. So hätten zum Beispiel die Vereinigten Staaten vielleicht bis 1948 oder 1950 einen Präventivkrieg führen können. Sie haben das nicht getan, sei es aus moralischen Gründen, sei es, weil die militärische Führung es nicht zu fordern schien.

Die Entwicklung der Waffen begünstigt manchmal die Verteidigung und manchmal den Angriff. Wir werden später sehen, daß gegenwärtig der Angriff klar im Vorteil ist und daß deshalb die Stärke einer Partei in erster Linie nach der Menge der Angriffswaffen bemessen wird, die sie besitzt. Sollte eine Partei unbezwingliche Verteidigungsmittel entdecken und konstruieren und so der bestehenden Drohung durch einen Gegner die Spitze abbrechen, wird sich eine Situation ähnlich wie die obige entwickeln, die zur Präventivaktion einlädt, bevor das Stadium der unüberwindlichen Verteidigung erreicht ist.

Stellt der bloße Besitz überwältigender Macht (heute besonders thermonuklearer Waffen) eo ipso eine Bedrohung dar, so wird diese Bedrohung natürlich um so größer, je stärker die grundlegenden Interessen der Parteien voneinander abweichen. Das ist besonders der Fall, wenn jede Partei nicht nur kurz- und langfristige materielle Interessen hat, etwa an Rohstoffen, an einem Zugang zum Meere usw., sondern auch an einem wesentlichen, aber anderen moralisch-politischen Prinzip festhält. Der Islam zum Beispiel verpflichtete lange Zeit die mohammedanischen Nationen, den Glauben mit Feuer und Schwert zu den Ungläubigen zu tragen. Mit anderen Prinzipien ist es ähnlich. Auch wenn ein Prinzip kein aktives Eingreifen erfordert, kann es doch so sehr von den Prinzipien des Gegners abweichen, daß es die Gegnerschaft verstärkt und das Bestreben hervorruft, aus einem offenen Konflikt eine militärische Aktion zu machen.

Die höchste Gefahr

Bei höchster Gefahr droht die völlige Unterjochung oder Vernichtung des Feindlandes. Sie kann zwei Formen annehmen:

a) Land A kann Land B unterwerfen und völlig als selbständige politische Einheit schlucken. Das kann mit einer Veränderung der Lebensweise der Bevölkerung von B verbunden sein, der man im übrigen weiterzuleben gestattet, braucht aber nicht der Fall zu sein.

b) Land A kann Land B vollständig, das heißt im physischen Sinne, zerstören. Das bedeutet: seine Städte werden ausradiert, die meisten oder alle Menschen getötet und seine Ländereien verwüstet, um das Gebiet unbewohnbar zu machen.

Für beide Formen gibt es in der Geschichte viele Beispiele. Der erste Fall wurde uns noch in jüngster Zeit vor Augen geführt, als Österreich 1938 von Nazi-Deutschland verschlungen wurde; selbst der Name des Landes durfte in Deutschland nicht mehr gebraucht werden. Und im Laufe der Geschichte hat es zahllose andere Fälle dieser Art gegeben. Auch für den zweiten Fall finden sich viele Beispiele, und je weiter wir in der Geschichte der Kriegführung zurückgehen, desto zahlreicher werden sie. Man braucht da nicht nur an die Barbarenhorden der Mongolen zu denken. Selbst die zivilisiertesten Völker ihrer Zeit, wie die alten Griechen und Römer, haben, wenn sie die Macht dazu besaßen, oft ihre Gegner auf diese endgültige Art vernichtet.

Was verstehen wir nun heute unter ›völliger Vernichtung‹? Der höchste Grad einer solchen Vernichtung wäre, der obigen Definition entsprechend, die Zerstörung praktisch des gesamten Lebens in einem Lande, die Zerstörung seiner Städte und jeder Kraft zur Erneuerung.

Unberücksichtigt lassen wir, zumindest im Augenblick, daß es einen noch höheren Grad gibt, nämlich die Auslöschung des gesamten Lebens auf der Erde oder doch aller Menschen und aller höheren Lebewesen der Tierwelt. Sie würde durch die Verbreitung tödlicher radioaktiver Ablagerungen verursacht werden. Das könnte im Zusammenhang mit einem großen thermonuklearen Krieg geschehen, könnte aber auch von einer Gruppe selbstmörderischer Wahnsinniger geplant sein. Ganz zweifellos sind schon heute mindestens zwei, vielleicht sogar drei Länder technisch in der Lage, ein solches Ereignis herbeizuführen[1], und binnen weniger Jahre werden viele weitere die Mittel dazu besitzen, wenn nicht drastische, weitreichende Maßnahmen getroffen werden, die niemals ganz und gar narrensicher sein dürften. Ein Land braucht nicht einmal eine große Rüstungsindustrie, um das zu erreichen. Es genügt der Besitz von Kernreaktoren für friedliche, zivile Zwecke (und wer wird die in zehn Jahren nicht haben?), die leicht auf die Erzeugung besonderer tödlicher Strahlen umgestellt werden können, die sich über die ganze Erde verbreiten lassen. Wer vermag vorauszusehen, welche Erpressungen von welcher Seite die Welt noch zu erdulden haben wird.

In der Regel wird die Zerstörung eines Landes die Zerstörung seines Widerstandswillens und seiner Widerstandskraft bedeuten. Wie wir gesehen haben, ist es mitunter möglich, das erstere kampflos zu erreichen. Aber jetzt befassen wir uns mit der Frage der Widerstandskraft und setzen voraus, daß der Wille, sie zu gebrauchen, ungebrochen sei.

Betrachten wir einmal die stärkste Bedrohung: »Land A kann Land B zerstören«. Das hat zumindest folgende verschiedene Bedeutungen:

1. Die vorhandene, einsatzbereite militärische Macht von A kann die vorhandene, einsatzbereite militärische Macht von B vernichten.

2. Land A kann so vorgehen wie unter 1, kann aber außerdem noch die Bevölkerung, die Industrie und jede Fähigkeit von B, sich wieder zu erholen, vernichten.

Der Unterschied von 1 und 2 besteht darin, daß dem Lande A (im Falle 2) vielleicht so viel Kraft verblieben ist, daß B sich nie wieder erheben kann, weil es entweder einer andauernden Bedrohung ausgesetzt ist oder bereits den entsprechenden physischen Schaden erlitten hat.

Das Neuartige an dieser Zerstörungsmacht liegt in jüngster Zeit in ihrer Einsatzbereitschaft, in der Tatsache, daß man diesen Grad der Zerstörung mit der vorhandenen Macht und in jedem Augenblick herbeiführen kann und daß deshalb die Mobilisierung, die Aushebung und Ausbildung von Heeren, der Bau von Stützpunkten usw. für das angegriffene Land ebensowenig bedeuten wie für den Angreifer. Gewiß erfordert selbst im Raketenzeitalter ein Großangriff eines Landes auf ein anderes Vorbereitungen. In den Anfangsstadien könnten einige dieser Vorbereitungen entdeckt werden, aber die Notwendigkeit solcher Vorbereitungen verringert sich stetig und rasch. Unerbittlich kommt der Augenblick, da überhaupt keine wahrnehmbaren Vorbereitungen mehr nötig sein werden, da tatsächlich nichts weiter erforderlich ist, als ein paar Schalter für Feststoffraketen zu bedienen, die in Tiefbunkern feuerbereit stehen oder von getauchten Unterseebooten transportiert werden, oder Bomben auszulösen, die die Erde umkreisen.

Da es unvorstellbar ist, daß jemand diesen technischen Fortschritt aufhalten kann, und da es keine Verminderung des grundsätzlichen Konfliktes zwischen dem Westen und der kommunistischen Welt gibt, muß eine Organisation gefunden werden, die zumindest die zufällige Auslösung der aufgespeicherten, einsatzbereiten Vernichtungskräfte verhindert.

Die Kosten der Bedrohung

Unsere militärischen Führer sagen uns: »Die Vereinigten Staaten können die Sowjetunion mehrfach vernichten, und bald wird auch das Gegenteil möglich sein«. Eine solche Feststellung bedeutet zumindest zweierlei:

a) »Land A kann Land B angreifen und dessen Verteidigung mit einem so großen Teil seiner vorhandenen Macht durchstoßen, daß B vernichtet wird.« Das geschieht vermutlich mit einem Schlage oder in einer beinahe ununterbrochenen, gleichmäßig durchgeführten Operation von nicht langer Dauer. Das bedeutet Vernichtung nach Typ 2 oben, was offenkundig nicht dasselbe ist wie b unten.

b) »Das Land B behält, wenn es von A angegriffen wird, obwohl es ›vernichtet‹ wird, einige Macht übrig und kann von dieser verbleibenden Macht so viel durch die Verteidigung von A bringen, daß A im gleichen Sinne vernichtet wird wie B.« Das könnte man den großen ›thermonuklearen Austausch‹ nennen.

Die Tatbestände (a) und (b) beschreiben beide eine Bedrohung von B durch A. In jedem Falle ist mit der Ausführung der Drohung ein Preis (Opfer, Kosten) verbunden, und zwar ein anderer als der übliche Preis der wirtschaftlich-industriellen Kosten, die mit Aufbau und Unterhaltung der Bedrohungsmacht verbunden sind. Im Falle (a) sind das die Kosten, die der Verlust eines Teils der Macht bei der eigentlichen Operation verursacht. Das sind die üblichen militärischen Kosten eines Angriffs. Nun mag die Vernichtung von B, obwohl technisch möglich, offenbar diesen Preis nicht wert sein, und in diesem Sinne genügt die Verteidigung, die B errichten kann, um den Aggressor abzuschrecken, obwohl sie im materiellen Sinne nicht voll wirksam ist. Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, daß diese Art der Abschreckung immer mehr an Wirkung verliert, und man kann ohne weiteres vorhersagen, daß die Entwicklung in dieser Richtung weitergehen wird. Neue, in der Entwicklung begriffene Waffen und weitere, die sich bereits am Horizont abzeichnen, werden diese Art der Abschreckung als geeignetes Mittel zur Verhütung eines Angriffs gänzlich zum Verschwinden bringen. Die ›wirklichen‹ Kosten entstehen daher durch den anderen Schaden, den der Angreifer selbst erleidet: Tod und Zerstörung des Heimatlandes, Verwüstung von Städten und Dörfern – völliger Untergang. Diese Kosten können zwischen null und unendlich liegen, wobei das letztere den Totalverlust von allem bedeutet. Sie müssen zu den nicht mehr besonders interessanten normalen Kosten addiert werden, die der Verschleiß seiner Angriffskräfte bedingt. Mögen diese auch noch so groß sein, es gibt einen Punkt, wo die mittelbaren ›realen‹ Kosten so hoch werden, daß man die Verschleißkosten ganz außer acht lassen kann; es ist durchaus denkbar, daß sie sogar mit null angesetzt werden können. Dieser Punkt ist in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland überschritten. Der Wert der vernichteten Angriffskräfte ist in jedem Falle gleich null, verglichen mit dem Wert der Zerstörungen in der Heimat.

Soviel ist klar; aber es gibt dabei immer noch eine Unbekannte erster Größe: Welches Ausmaß an Schäden im eigenen Lande würden sowohl die Vereinigten Staaten als auch Rußland in Kauf nehmen, wenn jeder die Gewißheit hätte, daß der Gegner völlig beseitigt werden könnte? Das ist eine heikle Frage, die erforscht werden muß, aber erst, nachdem viele andere Punkte geklärt sind. Es gibt jedoch Probleme in der Wissenschaft, auf die wir, so berechtigt sie sind, keine Antwort wissen. In einigen Fällen läßt sich sogar beweisen, daß eine Lösung prinzipiell unmöglich ist. Das kommt beispielsweise selbst in einigen Teilen der Mathematik vor, in der man die Fragen präzis formulieren kann. Doch hier, wo wir mit weit lebenswichtigeren Angelegenheiten zu tun haben, sind die Probleme verschwommen, und ihre Behandlung ist entsprechend unklar und ungewiß.

Man kann jedoch folgende Feststellungen machen:

Wenn der Preis der Drohung für die bedrohende Partei sehr viel geringer ist als für die bedrohte, ist es sehr gut möglich, daß ein Kompromiß zustande kommt, indem die bedrohte Partei einen Ausgleich leistet. Obwohl sie etwas preisgeben muß, gewinnen beide Seiten: die erste durch Erhalt der Entschädigung, die andere, indem sie den Schaden vermeidet, den die Ausführung der Drohung ihr verursachen würde. In einer solchen Lage zu stecken, ist nicht gerade angenehm, aber sicherlich trifft man sie häufig – im Geschäftsleben, in der Politik und im Krieg.

Wenn die Drohung sehr kostspielig ist, das heißt wenn wir im Grunde eine Patt-Stellung haben, bei der Verluste der einen Partei nur durch Verluste der andern möglich sind, besteht wenig Chance für eine dauerhafte Beilegung des Streites. Die Verhältnisse sind außerordentlich labil, und jegliche ausgesprochene Drohung wäre unklug. Es ist schlimm genug, in einer Situation zu sein, in der solche drohenden Verhältnisse bestehen. Das ist aber bei einem thermonuklearen Patt der Fall.

Wenn mehr als zwei Parteien im Spiele sind, tauchen neue Verwicklungen auf. Es genügt, auf folgende hinzuweisen: Selbst wenn Rußland imstande wäre, die Vereinigten Staaten um einen Preis zu vernichten, den Moskau für tragbar erachtet, könnte eine dritte Macht existieren, etwa China, deren ungeschwächte Position dann der Stellung Rußlands nahekommt oder sie übertrifft, obwohl diese Macht vor der Vernichtung der Vereinigten Staaten ein unerheblicher Faktor gewesen ist. Die dritte Macht, obwohl an sich schwach, kann daher einen hemmenden Einfluß ausüben, weil ihretwegen der Preis der Drohung anders bewertet werden muß.

Wenn mehr als die beiden großen Parteien über erhebliche Mengen Kernwaffen von hohem Detonationswert verfügen und gleichzeitig in der Lage sind, sie an jedem beliebigen Ort einzusetzen, dann tauchen neben den normalerweise betrachteten Komplikationen noch weitere auf. Aber diese Verhältnisse sind vielleicht erst in etwa zehn Jahren gegeben. Wir werden im elften Kapitel darauf zurückkommen.

Provokation

Gerade zur Zeit der Niederschrift dieses Buches besteht eine Bedrohung der Vereinigten Staaten durch die Sowjetunion. Sie wird pariert durch unsere Abwehrkräfte und durch eine Drohung, die wir gegen Rußland richten können. Vorübergehend besteht ein Gleichgewicht, denn wir befinden uns ja nicht in einem Schießkrieg. Aber die Drohungen können sich ändern, es kann zu einer Provokation kommen. Jede merkliche positive Abweichung einer Partei vom gegenwärtigen Stand kann von der andern als Herausforderung zu einer entsprechenden Reaktion betrachtet werden. Dieses Prinzip ist keineswegs ein Merkmal der modernen Technik, sondern so alt wie der Krieg. Jede Mobilmachung bei dem Nachbarn schafft eine neue Bedrohung. Häufig wurde die Mobilmachung als Mittel benutzt, um politischen Druck auszuüben, und oft gelang es, die gewünschte Wirkung zu erzielen, ohne daß man tatsächlich zum Krieg zu schreiten brauchte. In früheren Zeiten waren solche Veränderungen sichtbar. Mit den üblichen Erkundungsmethoden konnten sie leicht entdeckt werden. Solange Massenheere, die zahlenmäßig in die Millionen gingen, aufgeboten und an die Grenze geschafft werden mußten, konnte es keine Geheimhaltung geben.

Eine Mobilmachung, und das ist der springende Punkt, führte, obwohl sie lediglich den Zustand der Bereitschaft veränderte, eine einseitige Veränderung im Gleichgewicht der einsatzbereiten Kräfte herbei. Aus diesem Grunde wurde eine Mobilmachung immer als alarmierend empfunden, als eine Art Druck oder Provokation. Das gilt auch für die Umgruppierung von Streitkräften, die Zusammenziehung vorhandener Truppen an einer Grenze, die Zusammenballung von Seestreitkräften (wie den – allerdings nutzlosen – Aufmarsch der britischen Flotte im Mittelmeer vor dem Abessinienkrieg, um Mussolini in Schach zu halten).

Solange noch Mobilmachungen befohlen werden und die Technik der Kriegführung auf diesem Stand gehalten wird, dürften Überraschungsangriffe keine entscheidende Rolle spielen. Im Jahre 1914 zum Beispiel hätte kein Land den Versuch machen können, überraschend mit seinen vorhandenen Streitkräften über seine Grenzen vorzupreschen, in der Hoffnung, dadurch eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeizuführen. Die Truppen würden sich bald selbst aufgerieben haben, ohne etwas Wertvolles gegen einen genügend großen Nachbarn zu erreichen. Aber im Jahre 1941 konnte Japan, nachdem neue technische Mittel zur Verfügung standen, einen großen Überraschungsangriff auf Pearl Harbor machen, wenn auch mit den gleichen negativen Ergebnissen. Heute, 1962, könnten sowohl Rußland als auch die Vereinigten Staaten mit einer vielfach größeren Erfolgchance versuchen, mit bestehenden Kräften den andern vollständig zu Boden zu werfen. In naher Zukunft, etwa in ein paar Jahren, wird diese Chance zur Gewißheit geworden sein. Das ist der Lauf unserer technischen Entwicklung, einmal von einem andern Standpunkt aus gesehen.

Beim gegenwärtigen Stande der Technik, wo die vorhandene Schlagkraft so groß sein kann, daß die eigentliche Bereitschaftsstärke der endgültig benötigten entscheidenden Kraft entspricht, ist eine strategische Mobilmachung für den großen thermonuklearen Austausch nicht mehr wichtig und auch nicht mehr möglich. Die übrigen taktischen Operationen der Veränderungen in Aufmarsch, Kräftezusammenziehung usw. behalten noch eine gewisse Bedeutung, aber je näher wir dem Zeitpunkt, sagen wir, fester Raketenstellungen kommen, desto unwichtiger werden diese Fragen.

Da jedoch die Rüstungstechnik sich rasch wandelt, müssen heute mögliche Provokationen auf diesem Gebiet gesucht werden. Statt mobilzumachen (und dadurch einen Kräftevorteil zu gewinnen), wird ein Land eine neue Waffe entwickeln und herstellen und dadurch die einseitige Veränderung im Kräfteverhältnis zum Gegner bewirken.

Während Mobilmachungen, Flottenzusammenziehungen usw. sofort allgemein bekannt werden (mitunter will man sogar, daß sie bekannt werden), können sich waffentechnische Veränderungen in aller Stille vollziehen. Rußland erzählt uns bestimmt nichts von seinen Maßnahmen, während wir törichterweise Pläne und Projekte ausposaunen und ganz offen davon reden, daß wir neue Erfindungen ›besitzen‹, die in Wirklichkeit oft nur in den Köpfen ihrer Verfechter existieren.

Eine gewollte oder ungewollte Provokation braucht nicht immer voll wirksam zu sein. Diese Unwirksamkeit kommt auf zweierlei Weise zustande: erstens, wenn die eine Seite bereits eine gewaltige Übermacht besitzt und diese Macht weiter verstärkt, ohne daß eine Kombination gegen diese neue Stärke, zum Beispiel durch Bündnisbildung, gefunden werden kann. Solche Fälle sind in der Geschichte häufig vorgekommen. Sie waren für die Nachbarn sehr unbequem, änderten aber die ursprüngliche Bedrohung nicht grundlegend. Zweitens, wenn beide Parteien annähernd Gleichstand erreicht haben und jede unter diesen Umständen in der Lage ist, die andere unbedingt, wenn auch unter bestimmten eigenen Opfern, zu vernichten. Diese Möglichkeit ist neu und ausschließlich den modernen Kernwaffen zu verdanken sowie den neuen Verfahren ihres schnellen, fast augenblicklichen Einsatzes.

Der einseitige Stärkezuwachs von A kann zweierlei bedeuten: Entweder kann A imstande sein, B gründlicher, mit größerer Sicherheit zu ›vernichten‹, oder A kann Verteidigungsmaßnahmen einführen, durch die B den Angriff von A nicht mehr so wirksam wie vordem vergelten, A also nicht mehr ›vernichten‹ kann. Wenn A bereits die Macht besitzt, B vollständig zu vernichten, ist ein Machtzuwachs ebenso bedeutungslos wie im ersten Falle oben. Aber ein Zuwachs an Verteidigungskraft ist eine bedeutsame Veränderung der Sachlage und muß als solche erkannt und bewertet werden. Wir werden später, am Schluß des fünften Kapitels, sehen, daß dies vor allem für den Bau bestimmter Arten von Schutzräumen gilt.

Bisher haben wir nur große Anstrengungen beider Gegner, in ihrem Wettrüsten voranzukommen, in Erwägung gezogen. Wir sind insbesondere davon ausgegangen, daß eine Verschiedenheit einzig und allein auf die Ungleichheit der Anstrengungen zurückzuführen sei. Es besteht aber auch die Möglichkeit der Erschöpfung bei einem der Gegner, sei es infolge von Kosten, Ermattung oder nachlassender Entschlossenheit und Willenskraft. Die Folgen eines solchen Verhaltens sind ganz offensichtlich nicht die gleichen wie bei einer Disparität, zu der es kommt, wenn jede Partei die äußersten Anstrengungen macht, die Oberhand zu gewinnen. Im Gegenteil, jetzt wird sich der vorübergehend Schwächere nicht veranlaßt fühlen, denjenigen anzugreifen, der durch Versagen des anderen stärker zu werden droht. Eher umgekehrt. Der Stärkere hält es vielleicht für vorteilhaft, die Situation auszunutzen, damit der erste nicht wieder neuen Mut schöpft. Diese Asymmetrie ist wichtig, wenn auch wohlbekannt. Daraus ergibt sich die Lehre: bei starken Anspannungen auf beiden Seiten kann keine nachlassen, ohne sofort eine Katastrophe heraufzubeschwören. Einseitige Aktionen zur Einschränkung des Wettrüstens sind unmöglich und mit dem Wunsche nach dem Fortbestand der Nation unvereinbar.

Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidungen muß die Frage einer Präventivaktion gestellt werden. Eine solche Aktion ist offensichtlich an Zeitintervalle gebunden, das heißt an die Zeit, die eine Partei braucht, um einen provokatorischen Schritt zu unternehmen. Außerdem gewinnen das Überraschungselement und, was teilweise im Zusammenhang damit steht, der unkonventionelle Gebrauch vorhandener Waffen Bedeutung.

Das Prinzip der aufgezwungenen, unfreiwilligen Reaktion

Der Besitz der Initiative ist bei militärischen Operationen häufig ein großer Vorteil. Das ist aber nicht unbedingt so, weil eine besondere Initiative vielleicht wenig Wert hat und der Feind auf alle Arten der gegen ihn unternommenen Aktionen vorbereitet ist. Er sollte sogar in diesem Sinne vorbereitet sein, wenn er mit strategischen Grundsätzen gut Bescheid weiß. Das gilt für das Gebiet vorhandener Waffen, Streitkräfte und Ausrüstung und wird oft in Verbindung mit taktischen Situationen beurteilt, die wir als kurzfristige Probleme betrachten können.

Aber auch hier gibt es das Phänomen der Veränderungen, besonders im friedlichen Kampf um die Oberherrschaft, die einen Krieg unnötig machen würde, weil sie den absoluten Vorrang sichert.

Die dem Gegner aufgezwungene, unfreiwillige Reaktion kann ein wichtiges Instrument in diesem friedlichen Wettstreit werden. Wenn zum Beispiel das Land A eine starke Panzerwaffe aufbaut, zwingt es den Gegner B, ausreichend große Mittel in panzerbrechenden Waffen anzulegen. Oder wenn, wie das heute der Fall ist, Rußland etwa 500 Unterseeboote gebaut hat, müssen die Vereinigten Staaten notgedrungen U-Boot-Abwehrwaffen entwickeln, produzieren und in Dienst stellen.

Zweckmäßigerweise wählt man die Waffe, deren Bekämpfung die Produktionsanlagen und militärischen Anstrengungen des Gegners am stärksten beansprucht.

Man muß deshalb nach den Stellen in der Rüstung des Gegners Ausschau halten, die ihm die größte Sorge bereiten. Solche Möglichkeiten gibt es recht oft, aber die Vereinigten Staaten haben diese Möglichkeiten jämmerlich vernachlässigt. In der Regel hat Rußland unsere Rüstungsproduktion bestimmt, indem es uns unfreiwillige Reaktionspläne aufzwang. Unser größerer Reichtum würde uns häufig gestattet haben, Waffensysteme zu wählen, die Rußland eine starke Beanspruchung auferlegt hätten. Obwohl es spät ist, ist es doch noch nicht zu spät, und es bietet sich uns noch immer reichlich Gelegenheit, diese Politik einzuschlagen.

Statt nach der Gegenwaffe Ausschau zu halten, wenn eine Seite eine neue Waffe einführt oder, was häufiger vorkommt, sich zur Massenherstellung einer bekannten Waffe entschließt, kann die andere Seite sich bemühen, eine vollkommen neue Art der Kriegführung zu entwickeln, so daß die fragliche Waffe nicht bekämpft, sondern schrottreif gemacht wird. Das ist schwieriger. Es bedingt stets einen Fortschritt in der technischen Entwicklung, der schwer zu erreichen ist. Aber auch das ist im Laufe der Geschichte vorgekommen. Auf unser Beispiel angewendet, würde es die Erfindung einer Waffe bedeuten, die nicht zur Bekämpfung von Panzern verwendet wird, sondern an Stelle von Panzern, wodurch Panzer wie panzerbrechende Waffen gleichermaßen ihren Wert verlieren. Auf diese Weise würde sich der Charakter dieses Teils der Kriegführung ändern. Jagdflugzeuge, die zur Bekämpfung der meisten Bomber brauchbar sind, können gegen moderne Raketenwaffen nichts ausrichten. Diese sind ihrem Wesen nach etwas anderes. Sie stellen eine andere Gegenwehr gegen die Jagdwaffe dar als etwa eine verbesserte Ausrüstung der Bomber gegen Angriffe von Jagdflugzeugen.

Man könnte noch weitere Beispiele für dieses Prinzip anführen, aber um den Punkt hier ausführlich zu erörtern, bedürfte es einer Menge Einzelheiten, für die an dieser Stelle kein Raum ist. Unsere strategischen Pläne und vorgeschlagenen Waffensysteme sollten unter dem Gesichtspunkt dieses Grundsatzes betrachtet werden. In der Regel geschieht das nicht. Diese etwas entlegeneren, aber dennoch äußerst wichtigen Wirkungen unserer Rüstung und Produktionspläne werden nicht untersucht, weil das Verteidigungsministerium und andere Dienststellen nur ungenügend zusammen arbeiten, was wiederum auf eine mangelnde Würdigung der in dieser Richtung vorhandenen Möglichkeiten zurückzuführen ist.

Angriffs- und Verteidigungswaffen

Es gibt drei Arten von Waffen: Waffen für den offensiven Gebrauch, Waffen für den defensiven Gebrauch und Mehrzweckwaffen. Die meisten gehören zur letzten Kategorie, die andern haben sich allmählich im Laufe der Zeit entwickelt. Ein Beispiel: Pfeil und Bogen, Schwert und Schild können für Angriff und Verteidigung benutzt werden. Heute liegen die Dinge ähnlich: Schlachtschiffe, Zerstörer, Panzer, Kanonen oder Flugzeuge haben stets offensive und defensive Verwendungen. Aber Hand in Hand mit der Entwicklung der Waffentechnik ging eine gewisse Spezialisierung. Zum Beispiel: Festungen dienen der Verteidigung ebenso wie die Steine und das siedende Pech, die man von ihren Mauern hinunterschleuderte und -schüttete; Sturmleitern und Rammböcke waren für den Angriff auf Festungen gedacht und für nichts weiter. Manche Waffen sind in erster Linie für den einen oder anderen Zweck bestimmt, können aber, mitunter einfach durch unerwartete, raffinierte Verwendung, für den gegenteiligen Zweck zurechtgemacht werden.

Heute allerdings kommt hinzu, daß die beiden Hauptkategorien von Grund auf verschieden sind. Das ist in unserem Zeitalter der Spezialisierung nicht weiter überraschend, aber die Folgen sind furchtbar und die Tendenzen, die in dieser Entwicklung zum Ausdruck kommen, von höchster Bedeutung. Die Bedeutung liegt in der Bindung, die man durch den Erwerb des einen oder anderen Rüstungstyps eingeht. Eine allgemein verwendbare Waffe oder Truppe, wie man sie früher für Angriff und Verteidigung einsetzen konnte, war billiger. Der bloße Besitz größerer Mengen bot die Gewähr, daß man nicht überraschend gezwungen wurde, sie einseitig zu verwenden, und ihre Handhabung war sehr vereinfacht.

Nun betrachte man dagegen die Interkontinentalrakete, das Strategische Bomberkommando (SAC) und die unter Wasser abgefeuerte Polaris-U-Boot-Rakete. Alle sind sie Angriffswaffen, die nicht zur Verteidigung gegen irgendeinen Angriff verwendet werden können. Selbst als Vernichtungswaffen gegen feindliche Stützpunkte kommen sie wegen des Zeitfaktors, der dabei eine Rolle spielt, kaum in Frage. Da wir von der Annahme ausgehen können, solche Mengen von Interkontinentalraketen zu besitzen, daß ihr gesamter rascher Abschuß der Hauptschlag ist, den wir führen können, dürfen wir annehmen, daß der Feind dadurch ausgeschaltet ist. Das, und nur das, ist der Zweck von Interkontinentalraketen, und nicht, daß wir zu unserer Verteidigung die Stützpunkte des Feindes vernichten, nachdem er angegriffen hat, oder einen im Gange befindlichen Angriff abschwächen. Das würde nur bei einer langwierigen Operation Zweck haben.

Anti-Interkontinentalraketen – wenn es sie bloß gäbe und wenn sie für uns selbst harmlos wären – würden ebenso, vielleicht noch augenfälliger, eine Spezialwaffe sein, die für nichts anderes als die Verteidigung taugt.

Es kommt hier nicht auf die Feststellung an, ob der eine oder andere Typ gut ist, sondern lediglich darauf, die Folgen zu zeigen, die in höheren Kosten, größerer Kompliziertheit und schwierigerer Bedienung bestehen.

In dieser Tendenz liegt eine große und schleichende Gefahr, die man am besten durch einen Vergleich mit anderen ähnlichen Erfahrungen beschreiben kann: Jeder hochspezialisierte Organismus ist mehr und mehr durch die Gefahr des Aussterbens bedroht. Solche Organismen werden weniger beweglich, weniger nützlich, weniger anpassungsfähig. Ihr Fortbestand ist von ganz bestimmten Umständen abhängig, und wenn diese sich ändern – manchmal nur ganz gerinfügig – ist ihr Ende nahe. Es gibt zwei baumbewohnende Bärenarten in Australien. Sie unterscheiden sich vor allem dadurch, daß jede zur Nahrung die Blätter einer anderen Baumart braucht. Sie können die Bäume nicht wechseln, und etwas anderes fressen sie nicht: eine ganz bedenklich schmale Existenzgrundlage. Man vergleiche damit das Schwein, das praktisch alles fressen kann. Eine mögliche Anti-Interkontinentalrakete der Zukunft kann durch eine neue Angriffswaffe schrottreif gemacht werden (zum Beispiel einen Satelliten, der eine große Kernladung mitführt), und mit der Anti-Rakete ist auch alles, was man in ihre Produktion, Installation, in die Ausbildung von Bedienungsmannschaften usw. hineingesteckt hat, verloren. Wenn die Ironie des Schicksals es will, braucht die neue Waffe nicht einmal neu zu sein, sie kann lediglich in einer unkonventionellen Verwendung einer anderen, bereits vorhandenen bestehen. Sie kann sogar einfach sein. Es kann sich zum Beispiel um ein bakteriologisches, nicht tödlich wirkendes Mittel handeln.

Es wäre natürlich zu begrüßen, wenn die Kunst der Kriegführung sich so stark spezialisieren sollte, daß der Krieg hoffnungslos kompliziert wird und schließlich keine Seite mehr Krieg führen kann. Die Komplikationen wachsen sicherlich rasch und zwar bis zu einem Grade, den der uneingeweihte Laie kaum zu ermessen vermag. Leider meinen die Militärs und die Wissenschaftler in beiden Lagern, sie könnten immer noch damit fertig werden – bis auf eine Schwierigkeit: den Terror der Waffen.

Zusammenfassend wäre zu sagen: Die Spezialisierung nimmt zu. Seit dem letzten Weltkrieg haben Angriff wie Verteidigung große Fortschritte gemacht. Die Angriffswaffen der damaligen Zeit hätten keine Chance gegen die Abwehr, die man ihnen heute entgegensetzen könnte. Aber dieselben Abwehrkräfte geraten hoffnungslos ins Hintertreffen im Vergleich mit dem Fortschritt, den die hochspezialisierten Angriffswaffen gemacht haben.

Unter diesem Gesichtspunkt sollte der Leser die leeren Beteuerungen beurteilen, wir besäßen adäquate ›Abwehrmittel‹, um jeden Angriff gegen die Vereinigten Staaten oder irgendein anderes Land entscheidend abzuschlagen.

III Der Schild: Abschreckungs- und Vergeltungskräfte

Patt oder Parität

Als Patt bezeichnet man den Stand, bei dem eine Seite die andere nur schädigen kann, indem sie selber Schäden erleidet, die mindestens ebenso groß sind wie der Schaden, den sie zufügt, oder nur unwesentlich geringer. Das muß zur gleichen Zeit für beide Seiten gelten. Die Macht der beiden Gegner hebt sich auf.

Ein Patt kann bei jedem Stand der Rüstung eintreten. Interessant sind die Fälle bei hohem Rüstungsstand und besonders in bezug auf Kernwaffen. Ein Patt bei hohem Rüstungsstande ist nämlich in der Regel labiler; am labilsten ist ein nukleares Patt, wegen des leichten Gebrauchs und des raschen Fortschritts im Bau neuer Kernwaffen, ein Vorgang, der noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Ein Patt wird nicht gestört, wenn jede Seite ihre Macht im gleichen Maße stärkt oder schwächt. Das Patt hat also eine statische und eine dynamische Seite. Es kann zum Beispiel bestehen, wenn nur die bekannten Waffen in Betracht gezogen werden und wenn die Bestände sich auf beiden Seiten gleichmäßig ändern. Die wahre dynamische Veränderung besteht jedoch in einer durch technische Verbesserungen bewirkten Leistungsänderung. (Wir dürfen hier den Fall außer acht lassen, daß die Beschaffenheit der Bewaffnung, über die beide Seiten verfügen, sich ändern und heikle Fragen über den Vergleichswert zweier Waffensysteme auftauchen.) Ein nukleares Patt auf höchster Stufe ist der Zustand der ›nuklearen Sättigung‹ (nuclear plenty), bei dem jede Seite die Gewißheit hat, die andere Seite vernichten zu können, und sei es um den Preis der Selbstvernichtung.

Ein Patt ist an und für sich nicht unbedingt abzulehnen, aber es bietet auch keine Gewähr, daß nicht eine von beiden Seiten eine kriegerische Handlung unternimmt. Das Patt bezieht sich nur auf die Ausrüstung, über die beide Seiten verfügen und auf die bekannten Formen ihrer Verwendung. Daher besteht ein starker Anreiz, sich neue, unkonventionelle Verwendungsformen oder Taktiken einfallen zu lassen, um den vorhandenen Kampfmitteln neues Gewicht zu verleihen und auf diese Weise die Oberhand zu gewinnen. Eine der wichtigsten ist die Überraschung. Darauf werden wir noch zurückkommen.

Ein Patt braucht sich nicht auf sämtliche Kräfte zweier Gegner zu erstrecken. Es kann ein Patt zur See, in der Luft oder auf einem bestimmten Kriegsschauplatz bestehen. Aus einem Teil-Patt ergibt sich für jede Seite die Notwendigkeit, andere Gebiete zu finden, wo der Konflikt unter günstigeren Bedingungen und mit andern Mitteln und Verfahren ausgetragen werden kann. Im Falle des gegenwärtigen Konflikts zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland hat das, wegen des weltweiten Charakters dieses Konfliktes, vor allem eine Verstärkung der Tendenz zum lokalisierten oder ›begrenzten‹ Krieg in fernen Ländern zur Folge gehabt. Auch damit werden wir uns noch ausführlich befassen (vgl. S. 141).

Abschreckung

Eine Abschreckungsmacht soll einen feindlichen Angriff verhindern. Sie ist voll wirksam, wenn der Feind, der angreifen möchte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, davon Abstand nimmt. In diesem Sinne kann die gesamte Wehrkraft eines Landes als Abschreckung wirken. Wenn die Vereinigten Staaten seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht (unmittelbar) von Rußland angegriffen worden sind, ist das entweder auf die Möglichkeit zurückzuführen, daß Rußland uns nicht angreifen wollte (auch wenn unsere Abschreckungsmacht viel geringer oder vielleicht sogar gleich null gewesen wäre), oder auf die Stärke unserer Abschreckungsmacht und besonders wohl auf unsere atomare Stärke. Die erste Möglichkeit brauchen wir nicht zu berücksichtigen; der Westen wäre bestimmt angegriffen worden, wenn er erheblich schwächer gewesen wäre.

Die einfachste Form voll wirksamer Abschreckung besitzt ein Land mit der direkten Abschreckung, das heißt mit einem für den Feind unüberwindlichen Verteidigungssystem. Wenn ein Land selber keine Angriffs- und Eroberungsgelüste hat, bedarf es keiner anderen Streitkräfte. Ob eine solche Sachlage zwischen großen Ländern oder Ländern von annähernd gleicher Größe jemals bestanden hat, ist zweifelhaft. Selbstverständlich werden Mexiko oder Kuba durch das amerikanische Verteidigungspotential von einem Angriff auf die Vereinigten Staaten abgeschreckt – wenn das überhaupt nötig sein sollte. Die USA brauchen diese Länder also nicht noch zusätzlich mit einer Vernichtungsmacht zu schrecken. Aber das ist uninteressant. Weniger einfach wäre die Feststellung, wie stark die amerikanische Verteidigung sein müßte, um Rußland abzuschrecken. Ob eine solche Verteidigung überhaupt geschaffen werden kann, ist keineswegs sicher.

Mitunter ist eine Abschreckung nie zu erreichen. Das kann daran liegen, daß der Feind ungeheuer stark ist. Mexiko oder Kuba (um bei unserem Beispiel zu bleiben) könnten keine Verteidigung aufbauen, die für die Vereinigten Staaten unüberwindlich wäre. Es kann aber auch daran liegen, daß – ganz unabhängig von den Zahlen- und Größenverhältnissen der betreffenden Länder – die Angriffstechnik sich derart entwickelt hat, daß eine voll wirksame Verteidigung technisch unmöglich ist. Es wäre zum Beispiel denkbar, daß Kuba eine Superwaffe entdeckt, mit der es die ganzen Vereinigten Staaten zerstören könnte. Keine Verteidigungsanstrengung der USA könnte dann einen kubanischen Angriff aufhalten. Die Geschichte lehrt jedoch, daß mit Verteidigungsaufgaben betraute Militärs die Defensivmöglichkeiten gewöhnlich überschätzen. (Das gilt besonders heute. Auf der einen Seite verbreitet man optimistische Erklärungen über die Möglichkeit, die Vereinigten Staaten gegen Angriffe durch Flugzeuge oder selbst durch Raketen zu verteidigen, und gleichzeitig erzählt man uns, daß die meisten Flugzeuge des Strategischen Luftwaffenkommandos die entsprechende Luftverteidigung der Russen durchbrechen könnten.)

Die Frage, wie stark die Verteidigung sein soll, wäre leichter zu beantworten, wenn man es nur mit einem einzigen System von Angriffswaffen zu tun hätte. Aber es gibt heute viele Angriffswaffen, jede hat ihre Vorzüge und ist sehr variabel im Einsatz. Das kompliziert die Sache ungeheuer, und wir müssen die entsprechenden Lehren daraus ziehen (vgl. S. 45ff.). Da eine voll wirksame passive Verteidigung nur ein hypothetischer Grenzfall ist, bei dem die Wahrscheinlichkeit, daß er jemals eintreten könnte, den Nullpunkt erreicht hat, muß man nach anderen Arten suchen, um sich vor Angriffen zu schützen. Damit kommen wir zu dem Gedanken der Vergeltung und des Gegenangriffs.

Der Gegenangriff