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Jeder kennt ihn, nahezu jeder hat ihn – und die allermeisten von uns haben zu viel davon: Stress. Außer dass wir ihn sehr real am eigenen Leib erfahren und seine Auswirkungen bis in unsere Seele hinein spüren, ist Stress ein Konzept. Aber was genau beschreibt es? Wie funktioniert es? Welche Reaktionen löst Stress in unserem Körper aus?
Nehmen wir ein nachvollziehbares Szenario: Der Chef kommt. Und da ist er auch schon. Mist. Und wahrscheinlich hat er gesehen, dass ich, statt den Kundennewsletter zu schreiben, auf Ebay nach Sonnenbrillen gestöbert habe. Gleich werde ich mit Erwartungen konfrontiert, denen ich nicht gerecht werden kann, außerdem bin ich bei etwas ertappt worden, das ich nicht hätte tun dürfen. Unangenehm. Um es milde auszudrücken. Was geschieht? Richtig: Ich hab Stress. Das passiert nicht nur in meinem Kopf, und das ist gut so. Die Situation löst in meinem Körper eine Reaktion aus, denn – Achtung – hier kommt die erste von hoffentlich vielen weiteren Erkenntnissen: Stress ermöglicht Anpassung. Das Konzept Stress beschreibt eine Anpassungsreaktion an eine bestimmte Situation: körperlich, seelisch und zwischenmenschlich. Wir sprechen auch von physisch oder somatisch, psychisch sowie sozial. Werden wir mit etwas konfrontiert, das ein «Weitermachen wie bisher» unmöglich macht, müssen sowohl unser Körper als auch unsere Gefühle, die Emotionen, und unser Geist, die Kognition, darauf reagieren. Gleichzeitig verändert sich unser Verhalten und damit auch unser Umgang mit den Menschen um uns herum.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eva Petersmit Edgar Rai
Stress verstehen
Wenn Körper und Psyche Alarm schlagen
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Vorwort
1: Die Stressachsen
2: Die Stressreaktion
3: Nichts im Übermaß
4: Erkenne dich selbst
5: Erschöpfung
6: Und was sagt unser Immunsystem dazu?
7: Selbstmedikation mit Nebenwirkungen
8: Noch mehr Selbstmedikation mit Nebenwirkungen
9: Mach mir Stress: Kaffee
10: Stress und Krankheiten
11: Die Symptome erkennen
12: Die Ursache finden
13: 1950 – Der Beginn einer neuen Ära
14: Cola & Chips
15: Finde dein Ding
16: Der Realitätscheck
17: Hilfe!
18: Die rosa Pille
19: Mehr zu den Mechanismen: Mitochondrien
20: Adaption
21: Die Sollbruchstelle
22: Eva
23: Adam
24: Gender
25: Stress und Trauma
26: Stress und Wundheilung
27: Stress und Krebs
28: Five for Life
1. BEWEGUNG
2. ERNÄHRUNG
3. SCHLAF
4. BESCHÄFTIGUNG
5. BEZIEHUNGEN
Bildnachweis
Fußnoten
Zum Buch
Vita
Impressum
Wie kommt es, dass wir so wenig von etwas verstehen, das uns so sehr beschäftigt?
STRESS
Jeder kennt ihn, so gut wie jeder hat ihn, und von denen, die ihn haben, haben gefühlt 80 Prozent zu viel davon. Wie ich auf die achtzig Prozent komme? Ganz einfach: Das ist in etwa die Größenordnung derer, die, wenn sie hören, dass ich ein Buch über Stress schreibe, sagen: Muss ich unbedingt lesen. Oder: Sollte ich lesen. Oder auch: Würde ich sofort lesen. Wenn ich nicht ständig im Stress wäre.
Seit vielen Jahren forsche ich zum Thema Stress in all seinen Facetten und Ausprägungen. Ich bin Ärztin und verbinde in meiner täglichen Arbeit gleich drei Gebiete der Medizin: die Dermatologie (als Fachärztin) – ein ganz somatisches Fach, in dem die Immunantwort eine zentrale Rolle spielt; die Psychosomatik (ebenfalls als Fachärztin) – ein Fach, das die enge Verbindung zwischen psychischen Belastungen und Krankheiten in den Mittelpunkt stellt; die Psychoneuroimmunologie (dafür bin ich habilitiert und Professorin) – ein ganz junges Fach, das die Wege, über die Stress krank machen kann, erforscht.
Wenn ich mit einem Patienten oder einer Patientin im Gespräch bin, erlaubt mir diese Kombination meist schnell, herauszufinden, wo der Stress in deren Leben drückt. Das hat sich schon gezeigt, als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal eine Sprechstunde zum Thema an der Charité in Berlin anbot. Meine Kolleg:innen waren der Meinung, da würde keiner kommen. Doch schon nach zwei Wochen musste ich das Angebot verdoppeln, und es dauerte nicht lang, bis die Kolleg:innen selbst über ihre schwierigen Fälle sprechen wollten. Die Fragen unserer Patienten und Patientinnen führen uns zu den Antworten, und eine zentrale Antwort auf viele Fragen in der Medizin ist tatsächlich: Stress.
Stress ist ein Konzept, also im Großen und Ganzen eine Idee davon, wie bestimmte Dinge zusammenhängen. Aber was genau beschreibt dieses Konzept? Und wie funktioniert das? Welche Reaktionen löst Stress in unserem Körper aus? Wie viel ist gut? Wann ist er toxisch? Wann macht er krank?
Womöglich wird es schon an diesen Fragen deutlich: Wir alle kennen ihn, aber die meisten von uns haben nur eine mehr oder weniger abstrakte Vorstellung von diesem Ding namens Stress. Außerdem verfügen wir offenbar über einen diffus funktionierenden Sensor, der uns sagt, wann der Stress zu viel wird. Oft wird das synonym benutzt: Stress ist, wenn es uns zu viel wird; wenn wir das Gefühl haben, der Druck wird zu groß; wenn wir Angst haben, wir schaffen es nicht. Für den anderen Stress, den, der offenbar gut für uns ist, haben wir noch weniger genaue Vorstellungen im Kopf, dabei wäre das doch genau das, was uns aus dem toxischen Stress herausführen könnte.
Ein Kollege beginnt jedes Telefonat mit dem Satz: «Na, biste im Stress?» Gemeint ist: Oder hast du kurz Zeit? Entscheidend bei dieser Frage ist das «oder». Viele von uns empfinden Stress bzw. das, was wir dafür halten, als Normal- oder Dauerzustand. Die Abwesenheit von Stress dagegen gilt als Ausnahme. Urlaub. Von was auch immer. Endlich mal kein Stress. Und doch, obwohl sich viele von uns täglich gestresst oder dauergestresst oder turbogestresst fühlen, verstehen wir von dem eigentlichen Konzept und dem, was es mit uns macht, herzlich wenig.
Höchste Zeit, das zu ändern. Und zwar aus mehreren Gründen. Zwei davon erscheinen mir besonders wichtig: Zum einen ist es immer hilfreich, nicht nur zu wissen, was den Stress abstellt, sondern außerdem zu verstehen, warum es das tut. Daher der Titel dieses Buches: STRESS VERSTEHEN. Zum anderen ist Stress schlicht interessant und spannend. Wir alle kennen ihn und haben ein Gefühl dafür, wenn er uns trifft, aber das Räderwerk dahinter? Stress besser zu verstehen bedeutet, unseren Körper und damit auch uns selbst besser zu verstehen.
An dieser Stelle vielleicht ein paar Worte zu mir und warum ich mich so intensiv mit dem Thema Stress beschäftige. Als ich in den 1980er-Jahren mit dem Abitur fertig war, wusste ich erstmal nicht so richtig, womit ich mich in meinem Leben beschäftigen wollte. Kurz vor dem Mauerfall ging ich nach Berlin, um an der Freien Universität Philosophie zu studieren. Schnell habe ich gemerkt, dass die Geisteswissenschaften mir zwar Theorien lieferten, mir aber nicht das Gefühl gaben, etwas wirklich zu durchdringen. Ich wechselte in die Medizin und hatte Freude an der praktischen Arbeit.
Doch schon im Studium fiel mir hier auf, dass zu wissen, welches Molekül zu hoch oder zu niedrig im Blut anzutreffen ist oder welche biologische Konstellation das Herz zum Rasen bringt, meist nicht die Ängste und Sorgen unserer Patienten und Patientinnen adressiert. Ein Rezept für ein Medikament hilft auch nicht, eine Krankheit in das Leben zu integrieren. Ich begann in selbstorganisierten Anamnesegruppen das Gespräch mit Patient:innen und künftigen Kolleg:innen zu suchen. Damals gab es im Medizinstudium tatsächlich noch keine Unterrichtseinheiten, die einen darauf vorbereiteten, ein gutes Anamnese- oder Aufklärungsgespräch zu führen oder mit anderen Fachdisziplinen zusammenzuarbeiten. Als ich in den 1990er-Jahren eine wissenschaftliche Studie in der Stressforschung durchführen konnte, ergriff ich diese Gelegenheit mit Begeisterung: Hier floss für mich alles zusammen – vom Molekül bis zum Gefühl.
Seither habe ich zahlreiche eigene wissenschaftliche Arbeiten verfasst, Buchkapitel in einschlägigen Lehrbüchern, Beiträge zu Leitlinien. Täglich zur Arbeit motiviert mich, wenn ich in den Augen meiner Patient:innen oder im Lächeln der Lernenden sehe, wie das Verstehen aufblitzt: «Ach, so hängt das zusammen!»; «Ach, das passiert in meinem Körper, wenn ich das fühle!»; «Oh, hier verändert sich was, wenn ich mich auf dieses neue Wissen einlasse.»
Meine Arbeit mit der nächsten Generation an Medizinner:innen bestätigt es mir immer wieder: Es ist uns ein tiefes Bedürfnis, diese Zusammenhänge zu verstehen. «Warum wollt ihr dieses Thema unter die Lupe nehmen und euch damit einem noch immer ganz jungen Fach, der Psychoneuroimmunologie, zuwenden?» Jedes Semester richte ich diese Frage an meine neuen Student:innen. Die meisten antworten: Weil ich besser verstehen will, wie der Körper funktioniert, das fasziniert mich. Und obwohl der Körper dabei so im Mittelpunkt steht, wird schnell klar, dass die Studierenden auch verstehen wollen, was denn Stress mit unserer Seele zu tun hat, mit unserem Fühlen und Erleben. Dahinter verbirgt sich die Frage, warum und wie Stress auf Körper UND Seele wirkt und was das mit dem Krank- und Gesundwerden zu tun hat. Das Stresskonzept erlaubt es uns, Dinge über uns und unsere Umwelt zu begreifen, die wir vorher im besten Fall geahnt haben. Das ist aufregend. Versprochen.