Stressfreier erziehen - Felicitas Römer - E-Book

Stressfreier erziehen E-Book

Felicitas Römer

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Beschreibung

Kinder im Vorschulalter fordern immer mehr Freiräume. Doch wie sollen Eltern auf Widerworte und Wutausbrüche ihrer Sprösslinge reagieren? Schelten und Strafen helfen nicht wirklich weiter, sondern sorgen nur für schlechte Stimmung. Viele Eltern merken selbst, dass Schimpfen keine Lösung ist, wissen aber nicht, was sie stattdessen tun können. Ihnen vermittelt Felicitas Römer Wege, wie sie ihr Kind mit mehr Souveränität, Geduld und Empathie erziehen können. Die erfahrene Familientherapeutin zeigt, wie Stressfallen zu vermeiden sind, und gibt ganz konkrete Tipps, wie eine empathische Erziehung gelingt.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Felicitas Römer

Stressfreier erziehen

Einfühlen statt schimpfen

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

1. »Muss ich erst ärgerlich werden?« Über Sinn und Unsinn des Schimpfens

Was heißt schon »Schimpfen«? Definition und Funktion

Stress, Konflikte, »Ungehorsam«: 7 häufige Auslöser für elterliches Schimpfen

Die Tradition des Schimpfens und wie man sie überwindet

2. »Bin ich böse?« Warum häufiges Schimpfen schädlich sein kann

Schimpfen tut weh. Über Scham-, Schuld- und andere unangenehme Gefühle

Ständiges Ermahnen, Ironisieren, Vorwürfemachen: Verhaltensweisen, die Sie lieber vermeiden sollten

3. Mini-Philosophen und Flow-Expertinnen: Vorschulkinder besser verstehen

Von der Neugier an der Welt: Juniorforscher und Flow-Experten

Planen, testen, scheitern: Von der Freude, etwas zu schaffen

Es lebe der Zusammenhang! Warum Warum-Fragen jetzt so wichtig sind

Sprechen und sprachliche Selbstwirksamkeit

Kneten, radeln, malen: Die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten

Magisches Denken, Ängste und Alpträume: Das beschäftigt Ihr Kind jetzt besonders

Von Gut und Böse: Die Sache mit der Moral

»Ich bin doch kein Mädchen!« Geschlechtsidentität und »ödipale Phase«

Sozialverhalten: Sandkastenspiele und der Umgang mit Streit

Warum eine sichere Bindung so wichtig ist

»Ich kann das schon!« Autonomiebestrebungen des Vorschulkindes

Verständnis, Aufmerksamkeit, Nachsicht: Das braucht Ihr Kind jetzt von Ihnen

4. Empathie: Wie Einfühlungsvermögen die Eltern-Kind-Beziehung stärkt

»Oskar macht nur Quatsch!« Oder: Warum es Fehlverhalten nicht gibt

Abgrenzung, Akzeptanz, Anteilnahme: Die sieben Grundannahmen einer empathischen Erziehung

5. Annahme und Achtsamkeit im Familienalltag: Es ist, was es ist

Annahme: Die innere Haltung macht’s

Durch Achtsamkeit zur Präsenz: Da sein statt nur anwesend sein

Mit Kindern achtsam umgehen: Wahrnehmen statt schimpfen

6. Anti-Schimpf-Strategien: So können Sie sich das Schimpfen sparen

»Ich bin genervt« statt »Du nervst mich!«: Ärger angemessen ausdrücken

Stressreduktion und Schimpfprophylaxe: So sorgen Sie für mehr Gelassenheit im Familienalltag

7. »Ich will aber nicht!« Wie man Erziehungskonflikte im Alltag freundlich löst

FAQ: Was tun, wenn …? Sieben typische Elternfragen

Kleine Schlussbemerkung

Anmerkungen

Vorwort

Sind Sie auch oft gestresst? Und schimpfen Sie manchmal herzhaft? Etwa über Ihren Kollegen, der Sie genervt hat? Vermutlich, denn wir alle machen das gelegentlich. Es kann unheimlich guttun, seinem Stress und Ärger Luft zu machen. Danach geht es einem oft besser. Na ja, zumindest vorübergehend. Denn meist hinterlässt das Schimpfen ein schales Gefühl. Wirklich verändert hat sich ja nichts. Auch morgen werden wir uns wieder über den nervigen Kollegen aufregen. Lohnt sich das Schimpfen also wirklich? Wäre es nicht sinnvoller, die dahinterstehenden Konflikte zu lösen und sich einen anderen Umgang mit Stress zuzulegen?

Vermutlich. Schimpfen ist vor allem dann gar nicht so harmlos, wenn andere Menschen davon betroffen sind. Unsere Kinder etwa. Die meisten Eltern wissen, dass Schimpfen nicht das erzieherische Mittel der Wahl ist, sondern oft nur Ausdruck von Gereiztheit und Hilflosigkeit. Vielen passiert es trotzdem.

Die gute Nachricht: Eine erfolgreiche und stressfreie(re) Erziehung ohne Schimpfen ist möglich! In diesem kleinen Buch möchte ich Sie dabei unterstützen, mit stressigen Erziehungssituationen anders umzugehen, das Schimpfen immer mehr sein lassen zu können und geduldiger mit sich selbst und Ihrem Kind zu werden. Auch dann, wenn es sich mal »danebenbenimmt« oder Sie auf die Palme bringt.

Und obwohl sie uns manchmal wirklich herausfordern: Kinder verdienen unseren Respekt und eine empathische, (weitgehend) schimpffreie Erziehung. Und möglichst wenig gestresste Eltern. In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß bei der Lektüre und hoffe, dass Sie den einen oder anderen Tipp rasch umsetzen können.

Hamburg, im Oktober 2016

Felicitas Römer

1. »Muss ich erst ärgerlich werden?« Über Sinn und Unsinn des Schimpfens

»Wenn Annika zum dritten Mal abends aus dem Bett kommt, werde ich ärgerlich und fange an, herumzuzetern. Dann weint sie und es tut mir wieder leid, dass ich mit ihr geschimpft habe. Ich bin dann hin- und hergerissen und weiß nicht genau, was ich tun soll. Ich weiß nur, dass ich eigentlich nicht schimpfen möchte. Meine Eltern haben sehr oft mit mir geschimpft, als ich klein war. Ich fand das ungerecht von ihnen. Deshalb möchte ich das bei meinem eigenen Kind eigentlich anders machen. Aber es klappt halt leider oft nicht.« (Martina, 34)1

Schimpfen Sie auch ab und zu mit Ihrem Kind? Vermutlich. Fast alle Eltern tun das. Wenn Sie nur gelegentlich schimpfen und Ihr Schimpfen meistens moderat ausfällt, dann brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Keine Mutter ist eine »schlechte« Mutter, nur weil sie gelegentlich schimpft oder ärgerlich auf ihr Kind ist. Und überhaupt: Ein schlechtes Gewissen ist überflüssig. Es hilft ja nicht wirklich dabei, etwas zu verändern. Sondern quält nur.

Dennoch ist Schimpfen in der Kindererziehung unnötig und wenig hilfreich. Manchmal ist es sogar schädlich, da es die Beziehung zwischen Eltern und Kind empfindlich belasten kann. »Wieso?«, könnte man fragen. »Wurden Kinder nicht schon immer ausgeschimpft?« Sicher, mit Kindern wurde in der Vergangenheit oft und viel und laut geschimpft. Das macht es nicht besser. Man fand das ziemlich lange normal und angemessen. Eltern durften nicht nur mit ihren Kindern schimpfen, es wurde sogar von ihnen erwartet. Und es wurde als legitime oder gar nützliche Erziehungsmethode deklariert. Die Ansicht, man müsse Kinder ausschimpfen und betrafen, hat (nicht nur) in Deutschland eine lange Tradition. Noch Ende des 19. Jahrhunderts war der gottes- und obrigkeitsfürchtige Mensch das erklärte Erziehungsziel. Es ging um Zucht und Ordnung: Das Kind sollte Befehle entgegennehmen und gehorsam sein. Der Rohrstock war das Erziehungsinstrument Nummer 1, mithilfe dessen diese Erziehungsziele durchgesetzt wurden.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts formierte sich eine Gegenbewegung, die sogenannte Reformpädagogik. Der Schweizer ­Johann Heinrich Pestalozzi, die Italienerin Maria Montessori oder der Brite Alexander Sutherland Neill etwa forderten, das Kind als Individuum zu achten und seine kreativen Kräfte zu fördern. Dieser Ansatz war revolutionär, konnte sich jedoch nicht dauerhaft durchsetzen. Denn der Nationalsozialismus brachte eine verheerende Wende mit sich: Kritisches, eigenständiges Denken des Kindes wurde fortan unterbunden. Das Kind sollte zu einem angepassten Mitläufer, einem unkritischen Befehlsempfänger erzogen werden. Es ging mehr denn je darum, dem Kind den bedingungslosen Gehorsam einzuprägen, den das Naziregime brauchte, um willige Soldaten zu produzieren. Ein liebloser Umgang mit Säuglingen und Kindern wurde zum Ideal erhoben, in der Absicht, das Kind abzuhärten und seinen Willen zu brechen. Noch bis in die 1950er Jahre hinein wurden viele Kinder nach diesen Erziehungsmaximen erzogen: Ein Baby stundenlang in seinem Bettchen schreien zu lassen war an der Tagesordnung, angeblich sei das gut für die Lungen. Tatsächlich hatte aber die Bindungstheorie nach Bowlby u. a. schon längst gezeigt, dass eine hohe Frustration der sogenannten Basalbedürfnisse des Babys nach körperlicher Nähe und emotionaler Sicherheit schwere psychische Störungen und massive Bindungsprobleme verursachen kann.

Glücklicherweise berücksichtigen wir heute, dass ein Säugling auch ein »Tragling« ist, der auf körperlich-emotionale Zuwendung sowie eine verlässliche und intensive Bindung zu einer Vertrauensperson angewiesen ist. Und wir sind allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass bereits kleine Kinder ernst zu nehmende Wesen sind, deren psychische und physische Integrität es unbedingt zu respektieren und zu schützen gilt. Auch das ist eine erfreuliche Entwicklung, die der gesunden psychischen Entwicklung unserer Kinder dienlich ist.

Ziel all unserer Erziehungsbemühungen ist heute also der mündige, selbstbestimmte und verantwortungsbewusste Mensch, der die demokratischen Werte respektiert und zu einem fried­lichen Miteinander in der Gesellschaft beitragen kann. Im Zuge dieser Veränderung der Erziehungsziele sind glücklicherweise auch viele altmodische und grausame Erziehungsmethoden aus der Mode gekommen. So ist der Rohrstock schon längst kein gesellschaftlich akzeptiertes Erziehungsinstrument mehr. Im Gegenteil: Gewaltanwendung in der Erziehung ist nach § 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches gesetzlich verboten. Dort heißt es: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.«2 Dieses Gesetz wurde im Jahr 2000 verabschiedet – spät, aber besser als nie. Es besagt: Weder Eltern noch andere Aufsichts- bzw. Erziehungspersonen dürfen Kinder in Deutschland psychisch oder physisch angreifen, verletzen oder erniedrigen.

Wenngleich es auch immer noch zu viel Gewalt in Familien gibt und auch die entsprechende Dunkelziffer leider hoch sein mag: Der gesellschaftliche Konsens in Deutschland geht allen Untersuchungen zufolge in Richtung »Gewaltfreiheit in der Erziehung«. Die Mehrheit der Eltern sieht auch den Einsatz von Strafmaßnahmen in der Erziehung mittlerweile kritisch.

Schimpfen hingegen ist noch recht weit verbreitet, auch wenn es in den gängigen Erziehungskonzepten durchaus als unzeitgemäß und wenig hilfreich eingeschätzt wird. Schimpfen ist also eher das Relikt eines veralteten Erziehungsstils als eine notwendige und zeitgemäße Erziehungstechnik. Ist denn elterliches Schimpfen überhaupt eine Erziehungstechnik? Nein, keinesfalls. Doch was ist es dann? Und warum halten Eltern so hartnäckig am Schimpfen fest?

Was heißt schon »Schimpfen«? Definition und Funktion

Der Duden definiert Schimpfen als »seinem Unwillen, Ärger mit heftigen Worten [unbeherrscht] Ausdruck geben« oder »jemanden schimpfend zurechtweisen«3. Schimpfen ist also nichts anderes als der Ausdruck des eigenen Ärgers über das Verhalten eines anderen. So weit, so klar. Doch welche Funktion erfüllt das Schimpfen eigentlich? Was bringt es uns, wenn wir unsere Kinder ausschimpfen? Und was passiert mit demjenigen, der ausgeschimpft wird?

Zunächst ist das Schimpfen eine Art Affektabfuhr. Der schimpfende Elternteil lässt seiner Frustration über das Verhalten des Kindes freien Lauf und erlebt so eine (kurzfristige und oberflächliche) emotionale Entlastung – freilich auf Kosten des Kindes, das sich durch die Schimpftirade herabgesetzt oder gar gedemütigt fühlt.In der Verhaltensbiologie wird das Schimpfen als Drohgebärde verstanden, die der Einschüchterung oder Abschreckung dient. Eltern, die ihr Kind demonstrativ und häufig ausschimpfen, erschrecken ihr Kind und schüchtern es ein.Weiterhin gilt Schimpfen in der Verhaltensbiologie als Demonstration der eigenen Stärke. Indem Eltern ihr Kind aus- oder sogar beschimpfen, demonstrieren sie ihre Macht. Dem Kind bleibt – da es schwächer ist – nur noch, klein beizugeben und sein Verhalten so zu verändern, dass die Erwachsenen beschwichtigt und beruhigt sind. Werden Kinder etwa ausgeschimpft, wenn sie wütend sind oder wenn sie weinen, so lernen sie rasch, ihre Traurigkeit und Wut dauerhaft zu unterdrücken.Eine weitere Funktion des elterlichen Schimpfens besteht darin, die eigenen Interessen beim Kind durchzusetzen. Ist das Kind etwa »ungehorsam«, dann wird es durch Schimpfen so unter Druck gesetzt, dass es sich wie gewünscht verhält. Dass dieser Effekt nur vordergründig funktioniert und hohe Nebenwirkungen und Risiken birgt, werden wir im nächsten Kapitel sehen.Elterliches Schimpfen resultiert oft aus der eigenen gefühlten Hilflosigkeit und sorgt dafür, die gefühlte Ohnmacht vorübergehend in Macht umzuwandeln. Schimpfen wäre in diesem Sinne eine Abwehrstrategie: Um das eigene Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit nicht spüren zu müssen, wird der Betroffene laut und macht das eigene Kind hilflos. Man kann also davon ausgehen, dass ein oft oder laut schimpfender Elternteil, der an sich vom Schimpfen als Erziehungsmethode nichts hält, gerade selber stark in Bedrängnis ist.

Übung: Das eigene Schimpfverhalten verstehen

Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit und überlegen Sie in Ruhe, wann Sie das letzte Mal mit Ihrem Kind geschimpft haben. Versetzen Sie sich noch einmal in die Situation hinein und lassen Sie das Geschehen vor Ihrem geistigen Auge Revue passieren. Lassen Sie dabei alle Gefühle zu, die kommen.

Überlegen Sie:

Was war der Auslöser/Anlass Ihres Schimpfens? Was genau ist passiert, bevor Sie angefangen haben zu schimpfen? Was hat das kindliche Verhalten bei Ihnen ausgelöst?Wie haben Sie sich gefühlt, bevor Sie angefangen haben zu schimpfen? Wie war Ihre Stimmungslage?

– Hat Sie etwas akut belastet oder gestresst?

– Waren Sie unter Zeitdruck?

– Haben Sie sich über jemand anderen geärgert?

– Hatten Sie Schmerzen oder andere Beschwerden?

Wie haben Sie sich während des Schimpfens gefühlt?Was haben Sie danach empfunden?Wie hat Ihr Kind die Situation erlebt? Wie hat es reagiert?Fällt Ihnen im Nachhinein etwas ein, das Sie möglicherweise hätten anders machen können, um das Schimpfen zu verhindern?

Stress, Konflikte, »Ungehorsam«: 7 häufige Auslöser für elterliches Schimpfen

»Mir geht meine Schimpferei ja selbst auf die Nerven! Ich weiß nur nicht, wie ich das abstellen soll. Kaum fühle ich mich von Nick provoziert oder überfordert, geht es mit mir durch. Ich kann mich dann kaum noch bremsen. Und nachher habe ich ein blödes Gefühl und ärgere mich über mich selbst.« (Monika, 31)

Fast alle Eltern wissen, dass Schimpfen zwar manchmal kurzfristig Wirkung zeigt, aber selten wirklich den erwünschten dauerhaften Effekt erzielt. Sie fühlen sich oft selbst nicht wohl, wenn sie viel schimpfen, und haben danach ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle. Vielen Eltern tut ihr Verhalten im Rückblick leid oder sie schämen sich sogar dafür. Intuitiv wissen sie ja, dass sie ihrem Kind mit dem Schimpfen nichts Gutes oder sogar Unrecht tun.

Manche Eltern rechtfertigen ihr Verhalten allerdings mit dem »ungebührlichen« Verhalten des Kindes, frei nach dem Motto »Er/sie hat es ja nicht anders verdient!«. Diese elterliche Reaktion ist eher als Abwehrverhalten zu verstehen: Statt sich selbst einzugestehen, dass man vielleicht nicht besonders souverän und schon gar nicht hilfreich reagiert hat, schiebt man die Schuld dem Kind zu. So stellt man sich selbst als Opfer dar und fühlt sich dadurch wiederum (zumindest vorübergehend) emotional entlastet. Der Erwachsene gibt so die Verantwortung von sich fort und überträgt sie auf das Kind: Was für eine verkehrte Welt! Es sind doch die Erwachsenen, die Verantwortung übernehmen können; ein Kind muss das erst noch mühsam lernen.

Wichtig!

Ein Kind hat es weder selbst verschuldet noch verdient, dass wir mit ihm schimpfen. Es sind immer die Erwachsenen, die ihr Verhalten zu verantworten haben – niemals jedoch sind die Kinder verantwortlich für das Verhalten der Erwachsenen.

Obwohl Eltern wissen, dass Schimpfen keine besonders gute Konfliktlösungsstrategie ist, fällt es ihnen manchmal schwer, es zu lassen und durch andere Verhaltensweisen zu ersetzen. Auch Eltern, die Schimpfen für wenig sinnvoll halten und im Umgang mit ihren Kindern überwiegend gelassen sind, können in bestimmten Situationen und unter bestimmten Umständen regelrecht zum »Rohrspatz« mutieren:

1. Stresssituationen: Auch friedliche und geduldige Eltern neigen zum Schimpfen, wenn sie zeitlich oder mental unter großem Druck stehen. Übermäßiger Stress macht reizbar, die Nerven liegen blank, da kann es mit einem schon mal richtig durchgehen. Besonders morgens, wenn alles zügig zu gehen hat, damit Mutter und Vater pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen und das Kind rechtzeitig in der Kita ist, sind die Nerven oft angespannt. Auch abends, wenn alle müde und erschöpft vom Tag sind, werden Eltern manchmal ungeduldig und schneller als sonst zu »Moralpredigern« oder »Rohrspatzen«. Auch Kummer und Sorgen, Belastungen am Arbeitsplatz, Krankheiten oder Schmerzen, Beziehungsprobleme und Ehekonflikte setzen die Frustrationstoleranz und Belastbarkeit der Eltern stark herab. Auch der ansonsten ruhigste Mensch der Welt kann unter solchen Bedingungen zetern, schimpfen oder ungerecht werden.

2. Öffentliche Situationen oder Situationen, in denen Autoritätspersonen oder andere wichtige Menschen dabei sind: Wenn Eltern unter Beobachtung stehen, neigen sie ebenfalls zum Schimpfen. Etwa, wenn sich das Kind in Gegenwart anderer »schlecht benimmt«, z. B. wenn die Großeltern oder die strenge Tante Emma zu Besuch sind. Oder aber an der Quengelzone der Supermarktkasse, wenn das Kind laut plärrend einen Schokoriegel einfordert und die umherstehenden Anwesenden verbal oder nonverbal von Eltern fordern, sie sollten nun aber mal »ordentlich durchgreifen«. Oder wenn sie fragen, warum das Kind denn so schlechte Manieren habe. Oder wenn das Kind als unhöflich erlebt wird, wenn Autoritätspersonen wie etwa Erzieherinnen oder Lehrer anwesend sind. Dann ist das elterliche Schimpfen möglicherweise ein Tribut an die anderen, die erwarten, dass das Kind sich »ordentlich« zu benehmen habe. Mutter und Vater wollen dann nicht dastehen, als hätte sie ihr Kind nicht im Griff, und schon halten sie ihrem völlig überraschten Kind eine ordentliche Moralpredigt.

3. In angstbesetzten Situationen: Wenn Mütter und Väter emotional stark aufgewühlt sind, kommt es häufiger zu Schimpftiraden. Etwa, wenn sie eine Art Schock oder starke Angst empfinden. Ein Beispiel hierzu:

Ein achtjähriges Mädchen war mit seinem Fahrrad gestürzt. Es lag am Boden, weinte und klagte über Kopfschmerzen. Ein vorbeikommendes älteres Ehepaar beruhigte das Mädchen, rief per Telefon den Rettungswagen und informierte die Eltern. Als die Mutter nach ein paar Minuten eintraf, tröstete sie das Mädchen nicht, sondern schimpfte los: »Warum hast du auch den Helm nicht aufgesetzt, das habe ich doch schon tausend Mal gesagt, warum hörst du nie auf mich? Das ist ja unmöglich, ich bin so sauer …« Sie war außer sich vor Wut und Empörung. Die ältere Dame war fassungslos ob der lieblos scheinenden Reaktion der Mutter und sagte freundlich, aber bestimmt: »Ach wissen Sie, das ist jetzt aber wirklich nicht der richtige Moment für Vorwürfe, meinen Sie nicht?« Daraufhin herrschte die Mutter des verletzten Kindes die Dame an: »Wie ich mit meiner Tochter umgehe, geht Sie gar nichts an! Mischen Sie sich da gefälligst nicht ein.« Kurz danach traf der Krankenwagen ein und das ältere Ehepaar entfernte sich kopfschüttelnd, nachdem es dem Mädchen noch alles Gute gewünscht hatte.

Es kann sich bei dieser Mutter natürlich um eine prinzipiell gefühlskalte Frau handeln. Es ist jedoch eher zu vermuten, dass sie die tiefe Angst um ihre Tochter mithilfe von Wut und Schimpfen verdrängt hatte. Das Schimpfen war also eine unbewusste Strategie, die eigene heftige Angst abzuwehren. Diese Strategie entlastete die Mutter kurzfristig von ihrer Sorge. Dem Mädchen jedoch fehlte so der tröstliche mütterliche Zuspruch, den es in dieser Situation sicherlich gebraucht hätte. Insofern handelte es sich in diesem Fall zwar um eine verständliche Reaktion (wer möchte schon mit einer starken Angst konfrontiert werden, die man nur schwer ertragen kann?), aber auch eine Reaktion, bei der die Bedürfnisse des Kindes nach Trost und mütterlicher und liebevoller Präsenz unberücksichtigt und unbefriedigt blieben.

4. In Situationen, in denen Eltern sich hilflos fühlen: Auch wenn Eltern wütend oder enttäuscht sind, neigen Sie zum Schimpfen. Dabei können sich die Gefühle auf das Kind beziehen, etwa weil es nicht »gehorcht«: Am häufigsten werden Kinder ausgeschimpft, wenn sie nicht das tun, was die Eltern von ihnen erwarten. In diesem Fall ist das Schimpfen oft Ausdruck von Hilflosigkeit und Machtgebaren.

Es kann aber ebenso sein, dass sich jemand über seinen Chef geärgert hat und diesen Frust unbewusst an seinem Kind ablässt. Man nennt dieses Verhalten in der Psychologie Verschiebung: Weil es schwierig bis unmöglich ist, dem Chef offen die Meinung zu geigen, richtet man seine Wut auf jemanden, von dem keine Bedrohung ausgeht. So kommt es, dass schwächere Familienmitglieder oft die Aggressionen abbekommen, die ursprünglich ganz anderen, oft mächtigeren Personen gelten.

5. In schambesetzten oder peinlichen Situationen: Eltern schimpfen auch oft, wenn sie Schamgefühle wegen des Kindes haben, etwa wenn es in der Öffentlichkeit etwas tut, das den Eltern peinlich ist. Das Schimpfen ist dann Ausdruck der eigenen Empörung und Scham. Für ein junges Kind ist diese Reaktion jedoch oft unverständlich, da es sich ja in der Regel nicht darüber bewusst ist, etwas Peinliches getan zu haben. Besser, als zu schimpfen, wäre in einem solchen Fall, dem Kind zu erklären, was man von ihm erwartet: »Ich möchte nicht, dass du laut rülpst, wenn wir im Bus sitzen, das finde ich nicht so schön.«