Sturm über der Tuchvilla - Anne Jacobs - E-Book

Sturm über der Tuchvilla E-Book

Anne Jacobs

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Beschreibung

In Zeiten des Sturms muss die Familie Melzer zusammenhalten, um ihre geliebte Tuchvilla zu retten ...

Augsburg, 1935. Der Sturm, der sich über Deutschland zusammenbraut, hat auch für die Familie Melzer und ihre geliebte Tuchvilla weitreichende Konsequenzen: Maries erfolgreiches Schneideratelier steht kurz vor dem Aus, als bekannt wird, dass sie jüdischer Abstammung ist. Und auch ihr Mann Paul hat mit großen Sorgen zu kämpfen, denn die finanzielle Lage der Tuchfabrik und der wachsende Druck von Seiten der Regierung, bereiten ihm schlaflose Nächte. Als Paul eines Tages dringend geraten wird, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, muss Marie eine folgenschwere Entscheidung treffen, die ihr aller Leben für immer verändern wird …

Sie lieben mitreißende, romantische Familiensagas, die in vergangen Zeiten spielen? Dann entdecken Sie weitere Romane von Anne Jacobs!

Die Tuchvilla-Saga:
1. Die Tuchvilla
2. Die Töchter der Tuchvilla
3. Das Erbe der Tuchvilla
4. Rückkehr in die Tuchvilla
5. Sturm über der Tuchvilla

Die Gutshaus-Saga:
1. Das Gutshaus. Glanzvolle Zeiten
2. Das Gutshaus. Stürmische Zeiten
3. Das Gutshaus. Zeit des Aufbruchs

Anne Jacobs als Leah Bach:
Der Himmel über dem Kilimandscharo
Sanfter Mond über Usambara
Insel der tausend Sterne

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Seitenzahl: 846

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Buch

Augsburg, 1935. Der Sturm, der sich über Deutschland zusammenbraut, hat auch für die Familie Melzer und ihre geliebte Tuchvilla weitreichende Konsequenzen: Maries erfolgreiches Schneideratelier steht kurz vor dem Aus, als bekannt wird, dass sie jüdischer Abstammung ist. Und auch ihr Mann Paul hat mit großen Sorgen zu kämpfen, denn die finanzielle Lage der Tuchfabrik und der wachsende Druck von Seiten der Regierung bereiten ihm schlaflose Nächte. Als Paul eines Tages dringend geraten wird, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, muss Marie eine folgenschwere Entscheidung treffen, die ihr aller Leben für immer verändern wird …

Autorin

Anne Jacobs veröffentlichte unter anderem Namen bereits historische Romane und exotische Sagas. Mit ihrer »Tuchvilla«-Saga gestaltete sie ein Familienschicksal vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte und eroberte damit mit allen Bänden die SPIEGEL-Bestsellerliste.

Auch ihre Trilogie um »Das Gutshaus«, die von einem alten herrschaftlichen Gutshof in Mecklenburg-Vorpommern und vom Schicksal seiner Bewohner erzählt, war ein großer Erfolg. Anne Jacobs lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Von Anne Jacobs bei Blanvalet erschienen:

Die Tuchvilla

Die Töchter der Tuchvilla

Das Erbe der Tuchvilla

Rückkehr in die Tuchvilla

Das Gutshaus – Glanzvolle Zeiten

Das Gutshaus – Stürmische Zeiten

Das Gutshaus – Zeit des Aufbruchs

Anne Jacobs als Leah Bach

Der Himmel über dem Kilimandscharo

Sanfter Mond über Usambara

Insel der tausend Sterne

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ANNE JACOBS

STURM

über der

TUCHVILLA

Roman

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Copyright © 2021 der Originalausgabe by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von © Nikaa/Trevillion Images und

Shutterstock.com (fgwim; K.INABA; K.INABA;

andreiuc88; Mistervlad; Kiev.Victor; CCat82; david fryer)

LH · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24169-8V004

www.blanvalet.de

DIE BEWOHNER DER TUCHVILLA

Die Familie Melzer

Johann Melzer (*1852–1919) Gründer der Melzer’schen Textilfabrik

Alicia Melzer (*1858) geb. von Maydorn, Witwe von Johann Melzer

Die Kinder von Johann und Alicia Melzer und ihre Familien

Paul Melzer (*1888) Sohn von Johann und Alicia Melzer

Marie Melzer (*1896) geb. Hofgartner, Ehefrau von Paul Melzer, Tochter von Luise Hofgartner und Jacob Burkard

Leopold,genannt Leo (*1916),Sohn von Paul und Marie Melzer

Dorothea,genannt Dodo (*1916), Tochter von Paul und Marie Melzer

Kurt,genannt Kurti (*1926), Sohn von Paul und Marie Melzer

Elisabeth, genannt Lisa, Winkler (*1893) geb. Melzer, geschiedene von Hagemann, Tochter von Johann und Alicia Melzer

Sebastian Winkler (*1887) 2. Ehemann von Lisa Winkler

Johann(*1925) Sohn von Lisa und SebastianWinkler

Hanno(*1927) Sohn von Lisa und SebastianWinkler

Charlotte(*1929) Tochter von Lisa und Sebastian Winkler

Katharina, genannt Kitty, Scherer (*1895) geb. Melzer, verwitwete Bräuer

Alfons Bräuer (*1886–1917) 1. Ehemann von Kitty Scherer

Henny(*1916) Tochter von Kitty Scherer und Alfons Bräuer

Robert Scherer (*1888) 2. Ehemann von Kitty Scherer

Weitere Verwandte

Gertrude Bräuer (*1869) Witwe von Edgar Bräuer

Tilly von Klippstein(*1896) geb. Bräuer, Tochter von Edgar und Gertrude Bräuer

Ernst von Klippstein(*1891) Ehemann von Tilly von Klippstein

Elvira von Maydorn (*1860) Schwägerin von Alicia Melzer, Witwe von Rudolf von Maydorn

Die Hausangestellten in der Tuchvilla

Fanny Brunnenmayer (*1863) Köchin

Else Bogner (*1873) Stubenmädchen

Maria Jordan (*1882–1925), Kammerzofe

Hanna Weber (*1905) Mädchen für alles

Humbert Sedlmayer (*1896) Hausdiener

Gerti Koch (*1902) Kammerzofe

Christian Torberg (*1916) Gärtner

Gustav Bliefert (*1889–1930), Gärtner

Auguste Bliefert (*1893) ehemaliges Stubenmädchen

Liesl Bliefert (*1913) Küchenmädchen, Tochter von Auguste Bliefert

Maxl(*1914) Sohn von Auguste und Gustav Bliefert

Hansl(*1922) Sohn von Auguste und Gustav Bliefert

Fritz(*1926) Sohn von Auguste und Gustav Bliefert

TEIL I

1

Augsburg, im Mai 1935

Es war kurz vor zehn Uhr am Vormittag. Die Schlafzimmer der Herrschaft waren in Ordnung gebracht, die Bäder gereinigt, die Vorbereitungen für das Mittagsmahl gerichtet – jetzt hatten die Angestellten Zeit für einen Milchkaffee und einen kleinen Imbiss in der Küche; schließlich war man seit halb sechs in der Frühe auf den Beinen.

»Da kommt er endlich angeradelt, der Postalische«, sagte Auguste, die am Küchenfenster stand und in die Allee der Tuchvilla hineinspähte.

»Immer am Schluss erst in die Tuchvilla. Damit die Herrschaft die Post erst zum Mittagsmahl auf dem Tisch hat!«, knurrte die Köchin Fanny Brunnenmayer.

»Heut frag ich ihn einmal, ob er für die Reichspost oder für die Schneckenpost austrägt«, meinte Humbert.

Hanna, die gerade den Korb mit den Semmeln, die die Herrschaft übrig gelassen hatte, auf den langen Küchentisch stellen wollte, hielt erschrocken inne. »Sei nur vorsichtig, Humbert«, warnte sie ängstlich. »Mit dem ist net zu spaßen, es heißt, er hätte schon Leute angezeigt.«

Der alte, freundliche Postbote war vor einem halben Jahr in Rente gegangen, was alle Bewohner der Tuchvilla sehr bedauerten. Sein Nachfolger war aus anderem Holz geschnitzt. Jung war er, noch keine dreißig, dünn wie ein Windhund, blass von Angesicht und grantig von Gemüt. Dazu ein strammer Parteigenosse, ein Nationalsozialist der ersten Stunde, wie er sich immer brüstete. Das hatte ihm vermutlich auch die Einstellung bei der Reichspost verschafft.

»Früher hätten die doch so einen Deppen net genommen!«, hatte Fanny Brunnenmayer gesagt. »Dreimal die Woche bringt er uns Briefe, die an andere Leut’ adressiert sind, und wohin er unsere Post trägt, das weiß der Himmel!«

Das Lästigste an dem »Postalischen«, wie sie ihn inzwischen getauft hatten, war jedoch sein demonstrativer Hitlergruß. Jedes Mal, wenn er in den Hof der Tuchvilla hineinfuhr, riss er den rechten Arm hoch und brüllte ein zackiges »Heil Hitler«, das man noch bis auf die Haagstraße hinunter hören konnte. Wenn diese staatlich vorgeschriebene Begrüßung nicht entsprechend erwidert wurde, konnte er unangenehm werden. Vorgestern hatte er Hanna, die ihm ein freundliches »Grüß Gott« zur Antwort gegeben hatte, gedroht, dass man die verstockten Katholiken auch bald auf Kurs bringen würde. Was natürlich lächerlich war, aber seinen Eindruck auf die ängstliche Hanna nicht verfehlt hatte.

»Jetzt ist er gleich im Hof«, meldete Auguste.

Hanna richtete ihre Schürze und wollte davoneilen, um die Haustür zu öffnen, aber Humbert hielt sie am Arm fest.

»Du nicht!«, sagte er energisch. »Ich geh’ und werd’ ihn schon gebührend empfangen.«

»Bitte nicht, Humbert«, bat sie. »Mit so einem darf man sich nicht anlegen.«

»Dann geh’ ich halt«, meinte Liesl und sie stellte einen wattierten Kaffeewärmer über die Kanne, damit der heiße Kaffee nicht kalt wurde.

Aber das gefiel Fanny Brunnenmayer nicht, weil Liesl ihr besonderer Schützling und inzwischen so gut wie ihre Nachfolgerin war.

»Du schon einmal gar net, Liesl!«, befahl sie. »Du bist hier als Köchin angestellt und net als Hausmädchen.«

Auguste rollte die Augen, weil sie einsah, dass es an ihr hängen bleiben würde. Seit fast zwei Jahren war sie nun wieder in der Tuchvilla angestellt, weil Gerti ja damals gekündigt hatte und ihre beiden Nachfolgerinnen der gnädigen Frau Elisabeth so gar nicht gefallen hatten. Auguste war stolz und glücklich über diese Fügung und fest entschlossen, diese Stellung bis an ihr Lebensende zu behalten.

»Ich geh schon«, meinte sie. »Mir kann der nix. Ich sag freundlich ›Heil Hitler‹, und wenn der meint, ich müsste dazu den rechten Arm hochreißen, dann lass ich ihn wissen, dass ich grad da eine böse Arthrose hab und mich net einmal an der Nase kratzen kann.«

Es war auch höchste Zeit, weil der Postbote mit seinem Radl schon in den Hof hineinfuhr und dabei in aufdringlicher Weise die Fahrradklingel betätigte. Humbert stand grimmig neben Hanna am Fenster, um die Szene zu beobachten; auch Liesl kam jetzt dazu, nur Fanny Brunnenmayer blieb auf ihrem Stuhl sitzen, weil sie wieder einmal dicke Beine hatte und das Aufstehen ihr schwerfiel.

»Da reißt er schon den Arm hoch«, sagte Liesl. »Dabei ist er noch net einmal abgestiegen …«

»Jessas!«, schrie Hanna. »Das geht net gut!«

»Ich glaub’s net!«, jubelte Humbert. »Jetzt hat’s ihm die Lenkstange verrissen. Sauber! Rein ins Blumenbeet. Und feste den Schädel an die Kante gehauen!«

»Die ganzen Briefe über den Hof verstreut!«, sagte Hanna und hielt erschrocken die Hand vor den Mund.

Diesen Anblick wollte sich auch Fanny Brunnenmayer nicht entgehen lassen; sie erhob sich trotz ihrer schmerzenden Beine und eilte zum Fenster. Tatsächlich, da lag das Radl im Hof, und der »Postalische« saß daneben und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Die beiden Postsäcke, die hinten auf dem Radl befestigt waren, hatten sich bei dem Sturz geöffnet und einen Teil ihres Inhalts von sich gegeben.

»Jessus, Maria!«, hörte man Augustes aufgeregten Ruf. »Sie haben sich doch hoffentlich net wehgetan?«

Der Postmann würdigte sie keiner Antwort; er suchte in seiner Jackentasche nach einem Sacktuch, weil seine Nase blutete. Auguste war inzwischen die Eingangstreppe hinabgelaufen, um dem Verletzten beizustehen.

»Wissen Sie, ich hab mir das ja gleich gedacht«, sagte sie, über das Fahrrad gebeugt. »So ein schwer beladenes Radl, da braucht einer doch beide Händ’ an der Lenkstange, sonst kann er leicht das Gleichgewicht verlieren. Da müssen’s halt erst absteigen, damit Sie festen Boden unter den Füßen haben, bevor Sie den Hitlergruß …«

»Das hat damit nix zu tun!«, grollte der Verunglückte hinter dem Taschentuch. »Da hat was im Weg gelegen. Da bin ich gerutscht!«

»Also, ich seh nix, was da im Weg gelegen hätt’«, entgegnete Auguste. »Warten’s, ich helf Ihnen, die Briefe einsammeln …«

»Nehmen Sie die Finger von den Postsendungen«, schimpfte der Verletzte und stand mühsam auf. »Die unterliegen dem Postgeheimnis. Bringen Sie mir ein feuchtes Tuch.«

Auguste tat immer noch, als sei sie tief erschrocken, und erging sich in Hilfsbereitschaft.

»Für Ihre Nasen, netwahr? Jessus, Maria – die ist ja dick angeschwollen. Wenn’s nur net gebrochen ist! Da bekommen’s später einen Höcker auf der Nase …«

»Ein feuchtes Tuch!«, beharrte der Verletzte und nahm probeweise das Taschentuch herunter, um seine Nase zu befühlen. Tatsächlich – geschwollen.

In der Küche erging man sich in reiner, boshafter Schadenfreude. Hanna erbarmte sich schließlich, nahm ein frisches Küchentuch aus dem Schrank und hielt es unter den Wasserhahn.

»Der Spüllumpen hätte auch gereicht«, bemerkte Humbert.

»Geh, wie kannst du nur so boshaft sein!«, tadelte sie ihn und lief davon, um Auguste das Tuch zu bringen.

Dann beobachteten sie durchs Fenster, wie sich der »Postalische« das Gesicht abwischte, immer wieder die Nase betastete und dann daran ging, sein Radl wieder aufzustellen, an dem das vordere Schutzblech verbogen war. Leider lehnte er das Gefährt nun gegen die Hauswand, sodass man ihn vom Küchenfenster aus nicht mehr sehen konnte. Nur das nasse Tuch, das er Auguste vor die Füße warf, konnte gesichtet werden. Dann sammelte er seine Briefe wieder ein und klemmte sie bündelweise unter den Arm, um sie zurück in die Postsäcke zu stopfen.

»Und was ist jetzt mit der Post für die Tuchvilla?«, hörte man Auguste unverdrossen fragen.

»Können’s net abwarten?«

»Ich frag ja nur …«

»Ein Nachspiel wird das haben«, drohte er. »Das verspreche ich Ihnen. Eine Falle wurde mir gestellt. Da hat was im Weg gelegen!«

»Ich hab nix gesehen, das kann ich jederzeit beschwören. Dankschön für die Post. Viel ist’s net grad, haben’s da noch was vergessen?«

»Ein Nachspiel wird das haben …«, beharrte der Postbote wütend.

»Ja freilich«, schwatzte Auguste unbefangen weiter, und sie bewegte sich mit den Briefen in der Hand zur Eingangstreppe hinüber. »Dann nix für ungut, und passen’s in Zukunft besser auf. Ja, und noch ›Heil Hitler‹ nachträglich …«

»Das hätt’s jetzt net gebraucht«, bemerkte Fanny Brunnenmayer am Küchenfenster und wandte sich stöhnend ab, um sich wieder auf ihren Stuhl zu setzen.

»Da radelt er davon«, berichtete Liesl. »Wie der in die Pedale tritt! Der hat eine riesige Wut im Bauch.«

»Hoffentlich gibt das keinen Ärger«, seufzte Hanna. »Wenn die Herrschaft nun unseretwegen angezeigt wird …«

»Ach du Angsthase!«, meinte Humbert und legte ihr beschwichtigend den Arm um die Schultern. »Wir frühstücken jetzt erst einmal, sonst wird der Kaffee kalt.«

Auguste kehrte mit zufriedener Miene in die Küche zurück. »So geht’s im Leben«, meinte sie schmunzelnd. »Wer die Nase zu hoch trägt, der stößt sie sich wund. Ich hab dem Christian gesagt, er soll schnell den Hof kehren.«

Damit eilte sie zum Spülstein, um sich die Hände zu waschen, und setzte sich auf ihren Platz. Auch die anderen begaben sich an den Frühstückstisch. Die Zeit war knapp geworden, die Köchin musste sich ums Mittagsmahl kümmern, Humbert den Tisch im Speisezimmer herrichten, und Auguste hatte ihren Einsatz, wenn Johann, Hanno und Charlotte gleich aus der Schule kamen.

»Warum soll Christian denn den Hof kehren?«, wollte Fanny Brunnenmayer wissen.

Auguste kaute schon an einer Buttersemmel, die sie in den Milchkaffee getunkt hatte.

»Weil da Splitt herumliegt.«

»Splitt?«

»Ach du liebe Zeit«, rief Liesl erschrocken. »Der Christian wollte heute früh die beiden Schlaglöcher auf der Allee ausfüllen. Da muss ihm etwas von dem Splitt aus der Schubkarre gefallen sein …«

»Dann ist der Postalische …«, stammelte Hanna. »Dann ist der arme Kerl am End auf dem Splitt ausgerutscht …«

Humbert setzte den Becher ab, weil er sich vor Lachen beinahe verschluckt hätte. »Ein Pfundskerl, der Christian«, lachte er. »Kommt immer so harmlos daher, dabei hat er’s faustdick hinter den Ohren!«

»Aber das hat er doch net mit Absicht getan!«, empörte sich Liesl. »So etwas würde mein Christian nie im Leben machen!«

Humbert winkte ab und langte nach einem Stück Räucherschinken, um es auf seine aufgeschnittene Semmel zu legen.

Fanny Brunnenmayer schaute auf die Küchenuhr, dann blickte sie suchend in die Runde. »Wo ist überhaupt die Else?«

Tatsächlich – Else war nicht zum zweiten Frühstück erschienen. Das hatten sie vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt. Schon weil Else sowieso meist schlafend am Tisch saß und man sie zum Essen aufwecken musste. Sie wurde alt, die Else, schaffte es kaum noch, ein Zimmer in Ordnung zu bringen, und beim Teppichklopfen tat sie schon lange nicht mehr mit. Aber in der Tuchvilla wurde kein Angestellter aus Altersgründen fortgeschickt. Else gehörte dazu, arbeitete, was noch möglich war, saß mit den anderen in der Küche und bewohnte nach wie vor ihre Schlafkammer oben unterm Dach.

»Heute früh war sie doch noch da«, sagte Humbert.

»Freilich. Wir sind zusammen hinauf in den ersten Stock«, ließ sich Auguste vernehmen. »Da ist sie ins Zimmer von den gnädigen Herrschaften, um die Betten zu beziehen, und ich bin hinüber in den Anbau, weil die Kinder für die Schule fertig gemacht werden mussten.«

Hanna hatte im roten Salon und im Wintergarten aufgeräumt, wo die Herrschaften gestern Abend gesessen hatten, das Herrenzimmer war tagelang nicht mehr benutzt worden. In den Zimmern der »jungen Herrschaften«, also Dorothea und Leopold, musste nur ein wenig abgestaubt werden, sie wurden zurzeit nicht bewohnt. Leo hatte im vergangenen Jahr sein Abitur bestanden und studierte jetzt Musik und Kompositionslehre in München. Seine Schwester Dodo hatte die Schule – zum Entsetzen ihrer Mutter – kurz vor dem Abitur verlassen, um in Berlin Staaken eine Ausbildung zur Motorfliegerin zu absolvieren. Finanziert hatte den teuren Kurs Tante Elvira, die sich mittlerweile hervorragend in der Tuchvilla eingelebt hatte und von Dodos Flugambitionen begeistert war.

»Ich geh einmal nachschauen«, meinte Hanna und trank rasch ihren Becher aus. »Am Ende ist die Else irgendwo eingeschlafen.«

»Dass die sich aber auch net zusammenreißen kann«, schimpfte Fanny Brunnenmayer. »Ist gut acht Jahre jünger wie ich, aber kommt daher wie eine uralte Frau!«

Die langjährige Köchin der Tuchvilla hatte die siebzig schon im vorletzten Jahr überschritten, aber sie regierte nach wie vor mit eiserner Faust in der Küche, überwachte ihre »Nachfolgerin« Liesl bei der Arbeit und legte selbst Hand an, wo immer sie es für nötig befand. Nur die Beine machten ihr Kummer. Die Knie waren beständig dick angeschwollen und schmerzten, auch die Füße wollten nicht mehr so richtig ihren Dienst tun, weshalb sie nur noch in weiten Filzpantoffeln umherlaufen konnte.

»Das kommt halt daher, wenn eine fünfzig Jahre lang am Herd gestanden hat«, meinte sie verdrossen.

Die Glocke von der Terrasse klingelte – das galt Auguste, die sich seufzend erhob, weil dort die gnädige Frau Elisabeth mit ihrem Ehemann in der Sonne saß und vermutlich noch eine Kanne Limonade und frisches Gebäck haben wollte. Als sie schon an der Tür zur Halle war, tauchte Hanna im Gesindegang auf, die eine ganz und gar verzweifelte Else an der Hand führte.

»Da bist du ja, Else!«, rief Auguste. »Wo hast dich denn versteckt? Wir haben dich vermisst.«

Else schluchzte und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Dass mir das auf meine alten Tage passieren muss …«, heulte sie. »Wenn’s nur keiner dem gnädigen Herrn erzählt. Ich schäm’ mich ja zu Tode vor ihm …«

»Jetzt trink erst einmal einen Milchkaffee, Else«, meinte Hanna begütigend. »Es hat ja keiner etwas bemerkt, weil ich dich rechtzeitig gefunden hab.«

Zu ihrem Leidwesen hatte Auguste nicht mehr die Zeit für weitere Nachfragen, sie musste sich sputen, weil die gnädige Frau Elisabeth eine ungeduldige Person war. In der Küche aber erfuhr man, dass Else nach der anstrengenden Arbeit des Bettenbeziehens sehr müde geworden und eingeschlafen war. Hanna hatte sie im Bett des gnädigen Herrn selig schnarchend vorgefunden.

»Ist ja schon weit mit dir gekommen!«, schimpfte Fanny Brunnenmayer empört. »Wenn dich der gnädige Herr da gefunden hätt, da hätt er sich wohl sehr gewundert!«

Else hockte mit gesenktem Kopf am Tisch und ließ sich von Hanna trösten, trank Kaffee ohne Milch in langen Schlucken und versicherte ein ums andere Mal, dass ihr so etwas ganz sicher niemals wieder passieren würde.

»Jetzt bin ich aufgewacht«, behauptete sie. »Ein Wink vom Herrgott ist das gewesen, dass ich mich zusammennehmen muss.«

Auf der anderen Seite vom Tisch saß Christian, stopfte die letzte Semmel in sich hinein und trank bedächtig seinen Milchkaffee. Auch er hatte ein schlechtes Gewissen, denn inzwischen war ihm klar geworden, was er angerichtet hatte.

»Ich hab ein paar Schaufeln Splitt zu viel auf die Schubkarre geworfen«, gestand er. »Weil ich keine Lust hatte, dreimal zu fahren, da hab ich die zwei Fuhren halt zu voll gemacht. Und wie ich mit Schwung ums Blumenrondell schieb’, da fällt mir doch ein Schwapp von der Ladung auf den Hof. Ich wollt’s ja gleich wegkehren, aber dann hab’ ich gesehen, dass der Hengst schon wieder den Zaun eingedrückt hat, und da bin ich …«

»Ist ja gut, Christian«, tröstete Liesl, die schon am Herd stand, um die Zwiebeln für das Gulasch anzubraten. »Deine Schuld ist es nicht, wenn der Dummkopf net Rad fahren kann.«

»Und wenn der jetzt eine Anzeige macht?«, sorgte sich Christian. »Wo der es sowieso auf uns abgesehen hat. Im April, weißt du noch, da hat er einen Riesenzirkus gemacht, weil wir die Hakenkreuzflaggen net rausgehängt hatten.«

Tatsächlich war die Beflaggung zu des Führers Geburtstag zunächst vergessen, später aber nachgeholt worden. Auch die Familie Melzer hatte sich mit dem neuen Regime abfinden müssen, das das Land inzwischen fest im Griff hatte. Schon allein der Fabrik wegen, die die Wirtschaftskrise nur mit Mühe überlebt hatte und die ohne eine deutliche Orientierung zum nationalsozialistischen Geist hin keine Chance auf weitere Aufträge gehabt hätte. Es waren schlimme Dinge geschehen vor zwei Jahren, als Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt worden war und bald danach die Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl eine Mehrheit bekommen hatten. Nur wenige Tage später setzte überall die »Nationale Revolution« ein, wie die Nazis es nannten. Auch in Augsburg war es zu zahlreichen Verhaftungen gekommen. Schutzhaft nannte man es, wenn einer, der den Nazis nicht genehm war, über Nacht oder auch am hellen Tag ins Gerichtsgefängnis am »Katzenstadel« und von dort aus ins Konzentrationslager Dachau gebracht wurde. Angesehene Bürger hatte es getroffen, Stadträte der SPD und der KPD, Gewerkschafter, aber auch einfache Arbeiter. Auch drüben in der Melzer’schen Tuchfabrik waren welche abgeholt worden, und die meisten hatte man bis zum heutigen Tag nicht wiedergesehen. Nur dem Herrn Winkler, der gleich zu Anfang ins Gefängnis gebracht worden war, hatten die Melzers mit Hilfe guter Freunde das Konzentrationslager Dachau ersparen können. Aus dem »Katzenstadel« hatten ihn die Nazis aber erst nach vier Wochen entlassen. Da hatte die gnädige Frau Elisabeth ihren Ehemann abholen dürfen, und Humbert hatte den Wagen gefahren.

Von dem Anblick des befreiten Gefangenen hatte sich Humbert noch immer nicht ganz erholt. »Abgemagert war er«, hatte er berichtet. »Das Haar geschoren und lauter Beulen im Gesicht. Geschlagen haben sie ihn. Ins Gesicht getreten mit den Stiefeln. Jeder Schwerverbrecher wird besser behandelt als die armen Kerle, die sie jetzt bei Nacht und Nebel abführen.«

Seitdem hauste der Herr Winkler in der Tuchvilla wie ein Gefangener, wagte sich nicht mehr nach Augsburg hinein und verbrachte seine Zeit mit der Familie, ging höchstens mal hinüber zu den Pferdeställen der Tante, wo seine Kinder das Reiten lernten. Und an den Abenden – so hatte Auguste berichtet – schrieb er an irgendeinem »gelehrten« Buch. In der Fabrik, wo er vorher die Buchhaltung unter sich gehabt hatte, durfte er sich nicht mehr blicken lassen.

»Eine Schande ist’s«, sagte Fanny Brunnenmayer oft. »Hat’s doch immer gut gemeint mit seinen kommunistischen Ideen, der Herr Winkler. Ist ein guter Mensch, könnt’ keiner Fliege was zuleide tun.«

»Ich denk, wir können sehr froh sein, dass er überhaupt wieder bei uns ist«, bemerkte Humbert dazu.

Nach dem ersten Schreck hatte man sich vorsichtig mit den neuen Verhältnissen arrangiert. Es half ja nichts – das Leben musste weitergehen. In der Fabrik lief es besser, es waren Arbeiter eingestellt worden, die Weberei hatte wieder Aufträge, und die Schulden waren bezahlt. Allerdings gab es auch jetzt noch Kurzarbeit, die Textilindustrie war lange nicht so gut dran wie andere Branchen in Augsburg, allen voran die MAN, wo inzwischen Zusatzschichten gefahren werden mussten. Aber die Sorge der Angestellten in der Tuchvilla, sie müssten am Ende fremden Herren dienen oder würden gar ihren Arbeitsplatz verlieren – die plagte niemanden mehr. Stattdessen freute sich die Köchin darüber, dass sie wieder aus dem Vollen schöpfen und nach Herzenslust ihre Herrschaft mit allerlei Speisen verwöhnen durfte. Vor allem hatte sie nun die Möglichkeit, ihre Kochkünste an die Liesl weiterzugeben, die schon seit vier Jahren mit dem Gärtner Christian verheiratet war. Einstweilen hatte sich bei der Liesl noch nichts angekündigt, und darüber war Fanny Brunnenmayer recht froh, weil die Liesl sonst vielleicht ihre Stelle in der Tuchvilla aufgegeben hätte. Und das wär schade gewesen, weil sie ein großes Talent für die Kochkunst hatte.

»Schafft’s euch besser keine Kinder an«, meinte die Köchin. »Habt ja doch beide eine gute Arbeitsstelle, da bleibt keine Zeit, ein Kind großzuziehen.«

Dabei wussten alle, dass die Liesl und der Christian sehr gerne ein Kind gehabt hätten. Nur der Klapperstorch, der weigerte sich beständig, die Liesl ins Bein zu beißen.

Heute hatte Christian es eilig, wieder hinaus in den Park zu kommen, angeblich musste er die Blumenrabatten bei der Terrasse neu bepflanzen. So waren in der Küche nur noch Else, Liesl und Fanny Brunnenmayer zurückgeblieben. Liesl hatte Else das Holzbrett mit dem Schnittlauch und dazu ein Küchenmesser vor die Nase geschoben, damit sie etwas zu tun hatte und nicht etwa wieder einschlief. Fanny Brunnenmayer saß am Tisch und formte die Klöße, wobei sie die Hände immer wieder in einen Topf mit kaltem Wasser tauchte, damit der Teig nicht an den Fingern klebte. Liesl gab verschiedene Zutaten zu dem Gulasch, dessen Duft sich bereits köstlich in der ganzen Küche verbreitete.

»Den Muskat darfst’ net vergessen, Liesl«, warnte die Köchin. »Einen winzigen Hauch nur, aber der muss sein. Knoblauch hast’ zu viel drangetan, der steigt mir schon die ganze Zeit über in die Nase …«

»Ach herrje«, seufzte Liesl. »Ich hab’s schon befürchtet, aber da war’s halt geschehen.«

Else hatte brav den Schnittlauch geschnippelt und stand nun auf, um das Brett der Köchin zu bringen. Die warf einen kurzen Blick darauf und bemerkte, ein wenig feiner hätte sie die Stängel schon schneiden können für den Salat.

»Da ist ein Wagen in den Hof gefahren«, vermeldete Else.

»Das wird der gnädige Herr sein«, vermutete Liesl. »Der ist heute aber früh dran …«

»Das ist net der Wagen vom gnädigen Herrn«, widersprach Else. »Da kommt Besuch ins Haus.«

»Besuch?«, murrte die Köchin. »Als hätt’ ich es geahnt. Hab ein paar Knödel mehr gemacht, und das Gulasch müssen wir halt strecken. Wer ist’s denn, Else? Kannst du’s vom Fenster aus sehen?«

Else begab sich zum Küchenfenster und vermeldete, eine Dame sei ausgestiegen.

»Eine dürre ist’s, aber teuer angezogen. Und einen Chauffeur hat sie auch. Der hat ihr die Wagentür aufgehalten und eine Verbeugung gemacht wie vor einer Königin. Jetzt dreht er sich um – ja, den kenn ich doch … ist das net der … der Russe?«

»Was für ein Russe?«, wunderte sich Liesl.

Fanny Brunnenmayer aber hatte verstanden.

»Der Grigorij am End? Der unsere Hanna einmal verführt hat und dann auch der Auguste schöne Augen gemacht hat? Wenn der das ist, dann weiß ich auch, wer da aus dem Auto gestiegen ist.«

Liesl kannte diese Geschichten nur vom Hörensagen, deshalb zuckte sie die Schultern und rührte weiter im Gulasch. »Und wer soll da ausgestiegen sein?«, fragte sie über die Schulter hinweg.

»Die Serafina, das Luder«, gab Fanny Brunnenmayer zur Antwort. »Die hat den Grigorij doch als Chauffeur eingestellt, wie sie aus Maydorn zurückgekommen ist.«

»Die Serafina Grünling«, staunte Else. »Die einmal Gouvernante hier in der Tuchvilla gewesen ist, als sie noch eine ›von Dobern‹ war?«

»Genau die«, knurrte die Köchin und setzte den letzten Knödel auf den großen Teller. »Nur dass es mit dem Grünling vorbei ist. Hat sich von ihm scheiden lassen.«

»Ja, warum das denn?«, staunte Else. »Da ist sie doch reich geworden, wie sie den geheiratet hat.«

»Freilich«, gab Fanny Brunnenmayer zurück. »Aber der Grünling ist ein Jude.«

»Ja so«, sagte Else, als sei das eine schlüssige Erklärung. »Und was mag die hier in der Tuchvilla wollen?«

»Jedenfalls nichts Gutes!«, knurrte Fanny Brunnenmayer, und sie stand ächzend auf, um die Knödel ins siedende Wasser zu legen.

2

Lisa war keineswegs unzufrieden mit der momentanen Situation. Nach der grauenhaften Angst, die sie um ihren Sebastian ausgestanden hatte, den schlaflosen Nächten und zahllosen geweinten Tränen war sie nun glücklich, ihn wieder bei sich zu haben. Auf bewährte Weise hatte sie ihn liebevoll gepflegt, war ihm Mutter und Krankenschwester gewesen, hatte ihm Vorhaltungen gemacht, dass er ihre Warnungen nicht beachtet habe, nicht aus der KPD ausgetreten war, als dazu noch Zeit war. Er war fügsam wie ein Kind gewesen, was sie ganz besonders rührend fand, nur mit der Liebe wollte es seitdem nicht mehr so recht gehen, die schrecklichen Erlebnisse im Gefängnis hatten irgendetwas an seiner Männlichkeit kaputtgemacht. Nicht körperlich, da war alles in Ordnung, aber in seinem Inneren war etwas zerbrochen.

»Sei mir nicht böse, Liebes«, sagte er an den Abenden zu ihr. »In meinem Kopf ist ein solches Durcheinander, ich glaube, ich würde dich enttäuschen. Lass uns noch ein wenig warten.«

Lisa hatte Verständnis – schließlich liebte sie ihn. Wirkliche Liebe war mehr als nur das Körperliche, sie liebte ihn mit ihrer ganzen Seele, und deshalb lag es ihr fern, ihn zu bedrängen. Eines Tages würde er wieder der Alte sein, davon war sie fest überzeugt, sie brauchte nur etwas Geduld. Die abendlichen Parteiveranstaltungen oder karitativen Einsätze in der Mittelstraße waren Vergangenheit. Die KPD gab es nicht mehr, und das kommunistische Arbeiterheim in der Mittelstraße hatte die Polizei geschlossen. Auch sein übereifriger Einsatz als Leiter der Buchhaltung in der Fabrik hatte ihr nicht gefallen, weil er den ganzen Tag über fort gewesen war und nicht selten an den Abenden mit Paul im Herrenzimmer gesessen hatte, um Cognac zu trinken und über geschäftliche Dinge zu reden. Nein, während dieser Zeit hatte sie kaum etwas von ihrem Liebsten gehabt, höchstens an den Sonntagen, aber da hatte er sich mehr mit den Kindern beschäftigt als mit ihr, seiner Ehefrau.

Nun aber hatte sie ihn an den Vormittagen, wenn die Kinder in der Schule waren, ganz für sich allein, durfte beständig in seiner Nähe sein, um ihn zu verwöhnen und für seine Gesundheit zu sorgen. Das Unheil war vorübergezogen – er brauchte nur vernünftig zu bleiben und in allem ihrem Rat zu folgen, dann würde ihm nichts mehr geschehen. Eines Tages würde auch dieser Verrückte, der Adolf Hitler, wieder verschwinden, wie es mit all den früheren Reichskanzlern und auch mit dem armen, guten Kaiser Wilhelm gegangen war. Dann würden neue, bessere Zeiten anbrechen.

Es war heute sehr heiß auf der Terrasse, vor allem jetzt, da es auf Mittag zuging. Lisa hatte ihr Strickzeug mit hinuntergenommen und zwei Sonnenschirme aufgespannt, Sebastian war mit einem Buch unter dem Arm aus der Bibliothek dazugekommen.

»Was liest du da, Liebster?«, fragte sie, eifrig mit den Stricknadeln klappernd.

»›Im Westen nichts Neues‹, von Erich Maria Remarque …«

»Ach Gott«, meinte sie und besah prüfend die Socke, an der sie strickte. »Immer nimmst du dir so ernste Bücher vor, Liebster. Möchtest du mir den Strang Wolle halten? Ich muss ihn zu einem Knäuel wickeln.«

»Gern, Liebes, ich möchte nur noch das Kapitel zu Ende lesen«, gab er zurück und nahm die Brille ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Dieser Roman ist ungemein spannend, weil er darlegt, wie ein Krieg jegliche Kultur und Ethik der Menschheit zerstört und die Bestie in uns freilässt.«

Lisa erschauerte und musste die Maschen auf ihren Stricknadeln noch einmal zählen.

»Was für grauenhafte Bücher du liest«, seufzte sie.

»Auch der Schrecken ist lehrreich«, meinte er und wandte sich wieder seiner Lektüre zu. »Wir sollten alle daran arbeiten, dass es niemals wieder zu einem Krieg kommt. Stattdessen muss die Menschheit einen Weg finden, in Frieden und Gerechtigkeit miteinander zu leben.«

Lisa seufzte, denn sie fürchtete, er würde nun wieder zu seinen Thesen von der kommunistischen Weltrevolution überleiten. Sie legte das Strickzeug in den Korb zurück und stand auf, um die elektrische Klingel zu betätigen, die man neben der Terrassentür angebracht hatte.

»Wie heiß es heute ist«, meinte sie. »Auguste soll deinen Strohhut bringen und noch eine Karaffe Limonade mit Eiswürfeln.«

»Nun lass doch, Liebling, meinen Strohhut kann ich mir auch selbst holen …«

»Aber nein«, sagte sie kopfschüttelnd und drückte auf die Klingel. »Das ist Augustes Aufgabe. Du tust dem Personal keinen Gefallen, wenn du ihnen ihre Arbeit wegnimmst, verstehst du? Jeder Mensch hat ein Recht auf Arbeit, auch unsere Angestellten. Was glaubst du, was passieren würde, wenn ich in die Küche ginge, um ein Mittagessen zu kochen? Die Köchin würde mich vermutlich steinigen.«

Er setzte wortlos seine Brille auf und tauchte mit gefurchter Stirn zurück in die Zeiten des Weltkriegs. Lisas Korbsessel knirschte hörbar, als sie sich wieder setzte, das Klappern der Stricknadeln und das Zetern einiger Spatzen füllte die sommerliche Mittagsstille, dann mischte sich plötzlich ein anderer Klang hinein.

»Danke, ich kenne mich aus!«, hörte man eine Frauenstimme sagen.

»Aber … aber soll ich Sie nicht anmelden, gnädige Frau?«

»Nicht nötig. Mein Gott – wie schön der Ausblick auf den Park durch die offenen Terrassentüren doch ist! Dieses Spiel des Lichts in den Büschen! Hier, nehmen Sie meinen Hut, Hanna!«

Lisa ließ vor Schreck zwei Maschen fallen, Sebastian hob verwundert den Kopf – da trat die Besucherin schon über die Schwelle. Ein siegreiches Lächeln stand in den schmalen Zügen der Serafina von Dobern, geschiedene Grünling. Hinter ihr tauchte eine sehr unglückliche Hanna auf, die Lisa mit Blicken und Gesten mitteilte, dass sie nicht in der Lage gewesen war, diesen Überfall zu verhindern.

»Heil Hitler«, sagte Serafina mit deutlicher Betonung. Dabei lächelte sie zuerst Lisa und dann Sebastian an.

Verblüfftes Schweigen folgte auf diesen Gruß. Serafina von Dobern war in der Tuchvilla keine Unbekannte, sie hatte einmal zu Lisas engsten Freundinnen gehört, später allerdings hatte sie sich als Intrigantin entpuppt, die vor allem Marie das Leben schwer gemacht hatte. Nach ihrer Heirat mit Rechtsanwalt Grünling, der an der Wirtschaftskrise gut verdient hatte, hatte das Ehepaar unter anderem das Gut Maydorn von Tante Elvira erworben.

Lisa hatte sich nach einigen Sekunden gefasst und zeigte, dass sie jene »Haltung« besaß, die Alicia Melzer ihren Töchtern anerzogen hatte.

»Serafina!«, sagte sie mit kühler Höflichkeit. »Was verschafft mir die Ehre dieses unangemeldeten Besuches?«

Serafina hatte einen ähnlichen Empfang erwartet, schließlich war sie weder dumm noch naiv. Sie machte eine abwehrende Handbewegung und verstärkte ihr Lächeln.

»Oh, keine Sorge, ich komme nur auf einen Sprung. Seit einiger Zeit engagiere ich mich in der örtlichen NSV und kümmere mich um das Winterhilfswerk, ein großes und wichtiges Anliegen, das von der Regierung und dem ganzen deutschen Volk getragen wird. Mir fiel auf, dass auf der Haustür der Tuchvilla immer noch nicht unsere Plakette klebt …«

Dieses hässliche Ding bekamen alle diejenigen, die für das Winterhilfswerk spendeten. Es wurde jährlich ausgegeben, und man konnte darauf lesen: »Wir haben geholfen.«

»Sie klebt auf der Küchentür«, bemerkte Lisa spitz. »Wir fanden es nicht passend, damit unsere schöne Haustür zu verschandeln.«

»Da schau einer an«, gab Serafina indigniert zurück und hob die Augenbrauen. »Zu schade, dass unsere segensreiche und wichtige Arbeit hier so wenig Anerkennung findet.«

»Wir spenden regelmäßig einen stattlichen Betrag!«, stellte Lisa fest und ging zum Gegenangriff über. »Im Übrigen bin ich überrascht, dich wieder hier in Augsburg zu sehen, Serafina. Ich glaubte, du hättest inzwischen deine Leidenschaft für das Landleben entdeckt.«

Serafinas Blicke hingen an dem Buch, das Sebastian auf seinen Schoß hatte sinken lassen. Hatte sie den Titel entziffert? Vermutlich. Ihr entging so schnell nichts, dieser lästigen Zecke.

»Das Landleben?«, meinte sie und zog sich einen der Korbstühle heran, um sich unaufgefordert zu setzen. »Ach, weißt du, Lisa – wenn man so lange in der Stadt gelebt hat, dann kann man sich nur schwer umgewöhnen. Gewiss habe ich meine Kindheit auf den Gütern meiner Eltern verbracht, aber das ist ein Weilchen her, und den Winter über waren wir meist in unserem Stadthaus in Berlin.«

Jetzt gibt sie aber mächtig an, dachte Lisa ärgerlich. Du liebe Güte – ihre Eltern besaßen zwar vor dem Krieg einen Gutshof in Brandenburg, aber von »Gütern« und »Stadthaus« zu reden, das ist schon dreist. Außerdem ging alles nach dem Krieg den Bach hinunter, das wissen wir nur allzu gut.

»Ach, wie schade«, meinte Lisa mit falschem Bedauern. »Tante Elvira hat so sehr gehofft, dass du an ihrem schönen Gutshof Gefallen finden könntest. Zumal dort ein ganz hervorragender Verwalter tätig ist.«

»In der Tat«, bemerkte Serafina mit einem amüsierten Seitenblick, während sie es sich in dem Korbstuhl bequem machte. »Dein verflossener Ehemann macht seine Sache recht gut. Wirklich, Lisa – ich habe ihn schätzen gelernt, deinen Klaus von Hagemann …«

Lisa holte Luft, um etwas zu erwidern, doch in diesem Moment erschien Auguste auf der Terrasse, um nach ihren Wünschen zu fragen. Ein verständnisinniger Blick traf Lisa; Auguste hatte – wie das gesamte Personal – wenig für Serafina übrig.

»Was kann ich Ihnen bringen, gnädige Frau?«

»Den Strohhut für meinen Mann, Auguste. Es ist unangenehm heiß hier auf der Terrasse.«

»Das ist wahr, gnädige Frau«, gab Auguste zurück. »Geradezu stechend, die Sonne. Die Köchin lässt ausrichten, dass das Mittagsmahl serviert werden könnte.«

»Danke, Auguste …«

Serafina registrierte ohne Zweifel, dass niemand Anstalten machte, sie zu einer Erfrischung geschweige denn zum Essen einzuladen; vermutlich hatte sie auch nicht damit gerechnet. Dennoch machte sie keine Anstalten, sich zu empfehlen, sondern blieb gelassen auf dem Korbstuhl sitzen, lehnte sich ein wenig zurück und schlug die Beine übereinander. Seidene Strümpfe trug sie bei dieser Hitze. Die Schuhe mussten ein Vermögen gekostet haben, auch das Sommerkostüm war maßgefertigt und ohne Zweifel teuer gewesen. Lisa sah rasch zu Sebastian hinüber, der der Unterhaltung mit tiefer Beklommenheit zugehört hatte und nun verlegen in seinem Buch blätterte. Wie unangenehm diese Szene für ihn doch sein musste!

»Klaus von Hagemann und ich, wir haben uns seinerzeit in aller Freundschaft getrennt«, behauptete sie lächelnd zu Serafina. »Und er hat ja inzwischen auch eine liebe Frau gefunden, die ihm so reizende Kinder geschenkt hat.«

Das war eine Bosheit, die sie nur allzu gern von sich gab. Pauline, die zweite Frau ihres Exehemannes, war eine widerliche Tyrannin, die Tante Elvira das Leben vergällt hatte. Man sprach sogar von einem Mordanschlag auf die Tante, was zwar nicht bewiesen, aber sehr wahrscheinlich war. Auch Serafina hatte vermutlich mit dieser Dame ihre Mühe gehabt.

»Ja, eine ganz bezaubernde Person«, säuselte Serafina, wobei man ihr dieses Mal deutlich ansehen konnte, dass sie log. »Ein wenig … ländlich vielleicht. Nicht unbedingt das, was dein ehemaliger Gatte verdient hätte, aber wir haben uns ganz gut verstanden. Sie war recht bekümmert, als ich das Gut verließ.«

Lisa hätte sehr gern gewusst, welche der beiden Giftnudeln wohl den Sieg davongetragen hatte, aber darüber würde sich Serafina nicht auslassen. Vermutlich war es Serafina gewesen: Sie war die Intelligentere und hatte als Gutsbesitzerin am längeren Hebel gesessen. Wobei diese Pauline, wie Tante Elvira berichtet hatte, selbst vor Tätlichkeiten nicht zurückschreckte. Tante Elvira hatte hie und da ein paar Details dieses Kampfes erfahren, weil Dörte vor zwei Jahren nach Maydorn zurückgekehrt war und mit ihrer alten Herrin in Briefkontakt stand. Allerdings war Dörte keine große Briefschreiberin. Was sie zu Papier brachte, war eher dürftig und voller Rechtschreibfehler.

»Wie ich hörte, hast ja auch du inzwischen eine Ehescheidung hinter dich gebracht, liebe Serafina …«, setzte Lisa wieder an.

Es gelang ihr leider nicht, die ehemalige Freundin in Verlegenheit zu bringen. Serafina legte schützend die Hand an die Stirn, weil die Sonne sie blendete, und gab erstaunlich freimütig Auskunft.

»Das war eine Selbstverständlichkeit, liebe Lisa. Ich hatte mich seinerzeit aus der Not heraus zu dieser Heirat entschlossen, aber nun, da unser Deutschland einen so wunderbaren neuen Weg mit Adolf Hitler geht, habe ich eingesehen, dass ich als deutsche Frau unmöglich in einer Ehe mit einem Juden leben kann.«

Lisa dachte daran, wie die falsche Schlange seinerzeit den armen Grünling umgarnt und schließlich geheiratet hatte. Wobei auch Rechtsanwalt Grünling kein Waisenknabe war, er hatte sich während der Wirtschaftskrise, als die Melzers wie viele andere um ihre Existenz rangen, mit allerlei dubiosen Geschäften gesundgestoßen.

»Und dein geschiedener Ehemann? Hat er Deutschland verlassen?«, wollte sie wissen.

»Nun ja, ich habe seine Auswanderung nach Amerika finanzieren müssen, das war leider teuer, aber ich bin nun einmal ein gutmütiges Wesen, und letztlich bin ich auch froh, ihn nicht mehr sehen zu müssen. Die Erinnerung an diese … Verirrung liegt immer noch schwer auf meiner Seele. Gott sei Dank war es mir möglich, seinen Namen bei der Scheidung loszuwerden, sodass ich mich wieder ›von Dobern‹« nennen darf.«

Lisa blieb für einen Moment die Sprache weg. Dann versuchte sie zu begreifen, was hinter diesen Worten stand.

»Habe ich das richtig verstanden? Du hast seine Auswanderung finanziert?«

Serafina gönnte ihr ein herablassendes Lächeln. Dabei fiel Lisa auf, dass sie sich neue Zähne hatte machen lassen. Makellos weiß und beinahe echt sahen sie aus.

»Natürlich«, meinte sie in harmlosem Ton. »Grünling hatte mir schon vor einigen Jahren alles überschrieben. Aus steuerlichen Gründen und aus Vorsicht, du verstehst? Nun, er hat tatsächlich geglaubt, ich würde ihm weitere Zahlungen nach Amerika überweisen, aber das werde ich natürlich nicht tun. Warum soll ich als deutsche Frau einen Juden in Amerika finanzieren? Das kann niemand von mir verlangen.«

Dieses widerliche, hinterhältige Aas, dachte Lisa. Der dumme Kerl hat ihr seinen ganzen Besitz anvertraut und geglaubt, sie würde ihm zumindest einen Teil davon nach Amerika überweisen. Da hatte er sich gründlich geirrt. Serafina behielt alles, und er konnte sehen, wie er da drüben wieder auf die Füße kam. Wie merkwürdig, dass ausgerechnet der Fuchs Grünling so naiv gewesen war, einer solchen Ratte zu vertrauen. Nun ja – jeder findet seinen Meister. Oder seine Meisterin.

Ein Geräusch unterbrach ihren Gedankengang. Sebastian war das Buch vom Schoß geglitten und auf die Steinplatten der Terrasse gefallen. Serafina hob den Kopf und musterte den Ehemann ihrer ehemaligen Freundin mit Interesse.

»Ach, Herr Winkler! Sie waren so in Ihre Lektüre vertieft, dass ich gar nicht wagte, Sie anzusprechen. Ich hoffe, es geht Ihnen besser.«

Es war nicht ganz klar, was sie damit meinte, aber ganz sicher war es auch Serafina zu Ohren gekommen, dass man Sebastian Winkler als aktives Mitglied der KPD in Schutzhaft genommen hatte.

Sebastian brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Lisa wusste, dass er zutiefst entsetzt von dem war, was er gerade vernommen hatte. Und vermutlich war dies auch Serafina nicht entgangen.

»Danke …«, sagte Sebastian; er musste sich räuspern. »… danke der Nachfrage.«

»Es ist im Leben immer wichtig, gute Freunde zu haben, nicht wahr?«, meinte Serafina. »Die Familie Melzer ist ja in Augsburg eine Institution, nicht wahr? Da stehen alle zueinander und halten zusammen, komme, was da wolle …«

Lisa war inzwischen kurz davor, diese bissige Schlange mit einer ihrer Stricknadeln zu durchbohren. Natürlich spielte Serafina darauf an, dass Sebastian durch Pauls Vermittlung aus dem Gefängnis freigekommen war.

»So ist es«, sagte sie energisch und hob kampfbereit das Kinn. »Wir Melzers haben Familiensinn. Wir würden keinen der Unsrigen mittellos in die Fremde schicken, das ist in unserer Familie nicht üblich!«

»Wie schön!«, bemerkte Serafina boshaft, die diese Spitze sehr wohl verstanden hatte. »Nun, dann möchte ich die Familie auf keinen Fall von ihrem wohlverdienten Mittagsmahl abhalten. Allerdings ist mein Anliegen, die Spende für die Winterhilfe, bisher nicht gehört worden. Sehe ich das richtig, dass es von der Tuchvilla keine Spende für diese segensreiche Einrichtung unserer Regierung geben wird?«

»Selbstverständlich werden wir spenden«, sagte Lisa wütend. »Der Betrag wird wie üblich überwiesen, mein Bruder wird sich darum kümmern!«

Serafina erhob sich von ihrem Sitz und strich mit den Händen über ihren Rock, als wäre der Korbstuhl schmutzig.

»Ich werde den Zahlungseingang prüfen und euch die Plakette zukommen lass…«

In diesem Moment wurde sie unterbrochen, weil Tante Elvira und Alicia an der Terrassentür erschienen. Sie hatten einen kleinen Gang zu den Pferden unternommen und kehrten zum Mittagsmahl in die Tuchvilla zurück.

»Ja, wen sehe ich denn da?«, rief Tante Elvira mit gewohnt lauter Stimme. »Frau Grünling höchstpersönlich wieder in Augsburg! Wie nett, dass Sie hier in der Tuchvilla vorbeischauen. Wie steht’s auf dem Gutshof? Läuft alles wie am Schnürchen?«

»Heil Hitler«, gab Serafina in verbindlichem Ton zur Antwort, und sie nickte den Damen zu. »Auf dem Gutshof Maydorn steht alles bestens, wie mein Verwalter mir erst gestern schriftlich mitgeteilt hat. Ich selbst allerdings habe beschlossen, mich vom Landleben zurückzuziehen und eines meiner Häuser in Augsburg zu bewohnen.«

»Dachte ich mir schon, dass die Landluft nichts für Sie ist«, meinte Tante Elvira und sah an Serafina herunter. »Stadtmaus bleibt Stadtmaus. Na, nichts für ungut. Wollen Sie schon aufbrechen, oder bleiben Sie zum Essen?«

Lisa bekam vor Entsetzen einen Schluckauf. Tante Elvira war wirklich eine ganz unmögliche Person.

»Verbindlichen Dank, aber ich bin in Eile«, erwiderte Serafina zu Lisas größter Erleichterung.

»Na, dann nicht«, gab Tante Elvira mit einem Schulterzucken zurück. »Schade, ein kräftiges Essen hätte ihnen gutgetan, junge Frau. Sie schauen etwas verhungert aus.«

»Das scheint nur so, gnädige Frau«, gab Serafina kühl zurück. »Ich empfehle mich den Herrschaften. Heil Hitler.«

»Gottes Segen!«, antwortete Alicia, die dem Gespräch stumm gefolgt war und sich jetzt Luft verschaffen musste. Als überzeugte Katholikin war es ihr unerträglich, dass die neue Regierung einen Gruß verordnete, in dem der Herrgott durch Adolf Hitler ersetzt wurde.

Man hielt sich mit Bemerkungen zurück, bis Serafina in der Halle ihren Hut aufgesetzt und die Tuchvilla verlassen hatte. Dann konnte Lisa sich nicht mehr beherrschen.

»Wie kannst du diese falsche Schlange auch noch zum Essen einladen, Tante Elvira? Weißt du, was sie mit ihrem Mann gemacht hat?«

Der Essensgong mischte sich in ihre Rede, in der Halle waren inzwischen Paul und Marie eingetroffen, die beide eilig die Treppe zum ersten Stock hinaufrannten, wo Humbert im Speisezimmer den Gong betätigte.

»Ich laufe rasch hinüber, um nach den Kindern zu schauen«, sagte Sebastian und hob sein Buch vom Fußboden auf, um es auf den Tisch zu legen.

»Aber Liebling, Auguste ist doch drüben …«

»Ich möchte aber gern selbst zugegen sein!«, beharrte er. »Ich habe es Lotti versprochen.«

Lisa seufzte. Für seine Kinder war er immer da, spielte mit ihnen, begleitete die Hausaufgaben, dachte sich Methoden aus, um ihnen die Fächer Geschichte, Naturkunde oder Mathematik nahezubringen. Wenn er mit ihr zusammen war, las er ein Buch oder eine Zeitschrift und ließ sich nur hie und da zu einem Gespräch bewegen. Ach ja, sie wollte geduldig sein. Aber manchmal fürchtete sie fast, er liebte sie nicht mehr …

»Was hat sie denn mit Herrn Grünling veranstaltet?«, erkundigte sich Alicia, während sie die Treppe hinauf zum Speisezimmer gingen.

»Später, Mama«, gab Lisa wortkarg zur Antwort.

Der Duft des Gulaschs versöhnte sie wieder mit ihrem Schicksal. Man nahm die gewohnten Plätze bei Tisch ein, Sebastian erschien mit Charlotte an der Hand, die diese Ostern eingeschult worden war und die neue Würde als »Schulkind« mit Stolz trug. Dass daraus bald eine Bürde werden würde, hatten ihr die Brüder schon prophezeit, aber Charlotte hatte ihnen nur den Vogel gezeigt. Aus dem dicklichen blonden Engelskind war eine schlanke Sechsjährige geworden, die mit Cousin Kurt und den Brüdern im Park herumlief und auf Bäume kletterte. Johann, der zehnjährige Rotschopf, war ihr Beschützer; er hatte sich zu einem kleinen Raufbold entwickelt, was seinen Vater oft zu längeren Strafpredigten bewegte. Hanno war inzwischen acht, zeigte ausgesprochen gute Leistungen in der Schule, ohne dass er sich besonders anstrengte, und steckte fast immer hinter einem Buch. Kurt, der neunjährige Nachkömmling von Paul und Marie, war zur Freude seines Vaters ein begeisterter Techniker, der jedes Gerät in seine Einzelteile zerlegte und wieder zusammenbaute. Äußerlich ähnelte er immer mehr seiner Mutter: Das anfangs helle Haar war stark nachgedunkelt, auch Maries schöne braune Augen hatte er geerbt.

Für das Mittagsmahl und zum Abendessen hatten die Kinder sauber gekleidet, gekämmt und mit gewaschenen Händen zu erscheinen – das war Tradition in der Tuchvilla. Das bunte Treiben beim Frühstück, das Alicia so genossen hatte, als die Enkel noch klein waren, hatte sich inzwischen zu einer hastigen Angelegenheit entwickelt, denn auch die kleine Charlotte musste nun am frühen Morgen zur Schule. Daher nahmen sich die beiden älteren Damen, Alicia und ihre Schwägerin Elvira die Freiheit, eine Stunde später am Frühstückstisch zu erscheinen und bei Kaffee und Buttersemmeln von alten, schönen Zeiten zu plaudern.

Heute ging es wieder lebhaft im Speisezimmer zu, denn jedes Kind hatte Aufregendes aus der Schule zu berichten. Sebastian war ganz Pädagoge, er forderte jedes Kind auf, etwas zu erzählen, wobei die anderen – auch die Erwachsenen – zuhören sollten. Paul und Marie fanden diese Methode zwar etwas übertrieben, aber so lernten die Kinder, sich verständlich auszudrücken und vor einem Publikum zu sprechen. Die Ergebnisse waren unterschiedlich. Charlotte und Hanno schlugen sich gut, Johann musste wegen »unpassender Ausdrücke« oft getadelt werden, und Kurt verhedderte sich, weil er mehrere Dinge gleichzeitig erzählen wollte. Wenn die Zeremonie beendet war, durften sich die Kinder leise miteinander unterhalten, und auch die Erwachsenen nahmen ihre Gespräche wieder auf.

Serafinas Besuch wurde nur kurz erwähnt. Lisa hielt sich vor den Kindern mit Details zurück, man musste vorsichtig sein.

»Es gefällt mir nicht, dass diese ›Dame‹ uns so unbefangene Besuche abstattet«, meinte Marie.

»Mir auch nicht«, gestand Paul. »Aber wenn es denn so ist, werden wir sie höflich behandeln. Zumal sie offensichtlich in der hiesigen Ortsgruppe für das Winterhilfswerk eine Position hat.«

Paul hatte sich von seiner Herzbeutelentzündung vor fünf Jahren gut erholt, er ging nun stramm auf die fünfzig zu, hatte ein paar Pfund zugenommen und widmete sich mit großem Eifer dem Gedeihen der Melzer’schen Textilfabrik. Gott sei Dank ging es aufwärts, die Maschinen liefen wieder, die Auftragslage war zwar noch schwach, aber Paul blickte mit Optimismus in die Zukunft. Marie hatte gezögert, ihr Atelier in der Karolinenstraße wieder zu öffnen. Pauls Zusammenbruch damals am Fabriktor hatte sie zutiefst erschreckt, und sie fürchtete lange Zeit, dass sein Herz auf Dauer geschädigt sein könnte. Was sich zum Glück nicht bewahrheitet hatte. Seit zwei Jahren gab es nun wieder »Maries Atelier«, auch die Näherinnen waren zurückgekehrt, nur Frau Ginsberg fehlte. Sie und ihr Sohn Walter waren von Iowa nach New York umgesiedelt, wo sie einen kleinen Schneiderladen eröffnet hatte und Walter seine Ausbildung als Geiger fortsetzte. Der Briefkontakt war seit ihrer Auswanderung zum Glück nie abgerissen.

Das Gulasch fand wie immer großen Anklang, nur Charlotte weigerte sich energisch, davon zu essen. Sie mochte kein Fleisch, sondern ernährte sich von Mehlspeisen, Gemüse, Brot und Kuchen. Eine Marotte, die die Großmutter immer wieder zu einer sorgenvollen Miene veranlasste.

»Das ist nicht normal«, seufzte sie. »Ich fürchte sehr, dass das arme Kind irgendwann Mangelerscheinungen haben wird.«

»Meine liebe Alicia«, sagte Sebastian lächelnd. »Sogar die römischen Gladiatoren lebten fleischlos.«

Johann, der eben noch mit seinem Bruder Hanno gestritten hatte, horchte auf. Gladiatoren, das waren doch die starken Kerle, die in der Arena mit Löwen und Bären gekämpft hatten!

»Was haben die Gladiatoren denn gegessen, wenn sie kein Fleisch bekamen, Papa?«

»Sie aßen täglich Oliven, Zwiebeln und Bohnen, mein Sohn.«

»Zwiebeln und Bohnen?«, meinte Johann zweifelnd. »Da haben die aber bestimmt ganz schön gepupst.«

Gekicher brach unter den Kindern aus, Paul verbiss sich mühsam ein Grinsen.

Marie gelang es, ernst zu bleiben. »Johann!«, rief die Großmutter entsetzt. »Solche Worte möchte ich hier am Tisch nicht hören!«

»Entschuldigung, Großmama«, sagte Johann mit schiefem Blick auf seinen Vater. »Ist mir so rausgerutscht.«

»Du meine Güte, Alicia«, rief Tante Elvira. »Was regst du dich auf? Solche Dinge sind eben menschlich.«

»Aber doch nicht bei Tisch, Elvira!«

»Das sind die verweichlichten Städter«, widersprach die Tante kopfschüttelnd. »Mein lieber Rudolf pflegte bei Tisch kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Da kamen noch ganz andere Dinge zur Sprache …«

»Mein Bruder Rudolf war in Sachen gutes Benehmen kein Vorbild, das weiß ich selbst, Elvira …«

»Was hat der Großonkel denn gesagt?«, fragte Kurt voller Interesse.

»Da hast du es!«, flüsterte Alicia ihrer Schwägerin zu.

Humbert, der mit dem Nachtisch eintrat, erlöste die Tante aus der Verlegenheit. Der leckere Schokoladenpudding mit Vanillesoße zog auf der Stelle die Aufmerksamkeit aller Kinder auf sich; auch Lisa ließ sich eine stattliche Portion in das Glasschälchen geben, nur Sebastian lehnte dankend ab, weil er um die Leibesmitte merklich zugenommen hatte. Der Geräuschpegel im Speisezimmer senkte sich, es wurde kaum noch gesprochen, man genoss Fanny Brunnenmayers Pudding, der nach einem alten Rezept ganz besonders locker und schaumig zubereitet worden war.

»Meine Lieben«, sagte Paul schließlich und schob das geleerte Schälchen zurück. »Bevor ich wieder hinüber in die Fabrik gehe, will ich euch noch eine gute Nachricht verkünden. Unsere Dodo hat heute früh angerufen.«

»Aus Berlin?«, rief Lisa. »Du liebe Zeit … hat sie etwa …«

»Sie hat den A-2-Schein ebenfalls mit Auszeichnung bestanden!«, verkündete Marie, die die große Neuigkeit schon erzählt bekommen hatte. »Gestern war die Prüfung, sie hat den Abend über mit ihren Freundinnen gefeiert und packt nun ihre Sachen. Übermorgen wird sie bei uns sein.«

Tante Elvira hob das Glas, in dem noch ein Rest Rotwein geblieben war. »Auf unsere Dodo!«, rief sie begeistert. »Ich wusste doch, dass das Mädel es schafft. Übermorgen kommt sie nach Hause? Nun – da wäre ja wohl eine Belohnung fällig.«

»Es war sehr großmütig von dir, Tante Elvira, unserer Tochter diese teure Ausbildung zu finanzieren«, sagte Marie. »Die Belohnung überlass nun bitte uns.«

»Wenn ihr eurer Tochter einen Motorflieger kaufen wollt …«

»Daran hatten wir eher nicht gedacht.«

Lisa sah, wie Paul und Marie besorgte Blicke wechselten. Ein eigenes Flugzeug war Dodos heißester Wunsch. Damit könnte sie an Wettbewerben im In- und Ausland teilnehmen oder einen Mäzen finden, der ihr einen spektakulären Langstreckenflug finanzierte. So wie die berühmte Elly Beinhorn, über die in allen Zeitungen geschrieben wurde, als sie in Afrika notlanden musste und bei einem Eingeborenenstamm Aufnahme fand. Solche Pläne gefielen Paul und Marie verständlicherweise wenig, deshalb wollte Marie auf keinen Fall, dass Tante Elvira ihrer Tochter ein eigenes Flugzeug kaufte.

»Aber das Mädel wünscht sich nichts sehnlicher als einen Flieger!«, regte sich Tante Elvira auf. »Und ich hab das Geld dazu. Wo also liegt das Problem?«

»Du solltest mit deinem Vermögen besser etwas haushalten, Tante Elvira«, gab Paul zu bedenken. »Man weiß nie, ob nicht irgendwann wieder schlechte Zeiten kommen.«

»Quatsch!«, sagte die Tante. »Ich habe noch genügend Penunzen vom Verkauf des Gutshofs auf der Bank liegen, und außerdem läuft die Pferdezucht hervorragend. Was soll ich alte Frau mit dem vielen Geld? Bevor es der Herr von Hagemann mit seiner ›Bäuerin‹ erbt, erfülle ich meiner Großnichte lieber ihren Herzenswunsch.«

Laut Testament war eigentlich Lisa die Erbin des Gutshofs in Pommern gewesen, sie hatte bei ihrer Scheidung diesen Anspruch jedoch an ihren ehemaligen Ehemann, Klaus von Hagemann, abgetreten. Dem hatte Tante Elvira aber ein Schnippchen geschlagen, indem sie den Gutshof verkaufte und alles daransetzte, das Geld, das sie dafür erhalten hatte, zu ihren Lebzeiten unter die Leute zu bringen.

Nun mischte sich Alicia in das Gespräch ein. »Hör mal zu, Elvira. Deine Großzügigkeit in allen Ehren, aber ich finde, du kannst Dodo nicht gegen den Willen ihrer Eltern ein Flugzeug kaufen.«

Alicia war die einzige Person in der Tuchvilla, auf die Tante Elvira gelegentlich hörte, deshalb lehnte sie sich nun im Stuhl zurück und meinte verdrossen: »Aber das Mädel freut sich doch so …«

Paul blinzelte seine Mutter dankbar an, und Lisa ahnte schon, dass auch er ein Ass im Ärmel hatte.

»Ich denke, Dodo wird nicht enttäuscht sein, wenn sie unser Geschenk sieht, Tante Elvira.«

»Euer Geschenk?«, wunderte sich Elvira.

Auch die Kinder waren jetzt aufmerksam, weil Geschenke immer interessant waren. Lisa kratzte unauffällig das letzte Häppchen Schokopudding aus ihrem Schälchen; sie hatte sich noch einmal an der Schüssel bedient.

»Was für ein Geschenk bekommt Dodo denn?«, wollte der kleine Bruder Kurt wissen.

Paul lächelte Marie zu. Es war klar, dass die beiden alles miteinander beraten und vorbereitet hatten.

»Dodo bekommt von uns einen Wohnwagen geschenkt«, verkündete Paul. »Und da sie unter anderem auch einen Führerschein für Kraftwagen besitzt, kann sie damit in der Gegend herumfahren und Deutschland kennenlernen.«

Der Wohnwagen, der an ein Automobil angehängt werden konnte, war eine ganz neue Erfindung. Etwas für Wandervögel und Benzin-Zigeuner, wie Sebastian neulich abfällig gesagt hatte. Aber für viele Menschen in Deutschland hatte dieses »mobile Wohnzimmer« etwas vom Atem der großen Freiheit.

»Na ja«, meinte Tante Elvira. »Ganz nett. Aber ein Flugzeug ist doch etwas ganz anderes!«

3

Im Haus in der Frauentorstraße hatte man das Abendbrot bereits beendet, Oma Gertrude war mit dem Abwasch beschäftigt, und Henny hatte sich ausnahmsweise bereiterklärt, das Geschirr abzutrocknen.

»Ich verstehe das nicht«, seufzte Oma Gertrude, während sie den Kochtopf schrubbte, in dem ihr heute Mittag die Kartoffeln angebrannt waren. »Sie ruft doch sonst immer an, wenn sie nicht zum Essen nach Hause kommt. Ich habe extra Bratkartoffeln mit Ei gemacht, weil sie die doch so gerne isst.«

»Es hat auch sehr gut geschmeckt, Oma«, versicherte Henny. »Nur etwas zu viel Pfeffer, aber das hat man erst beim Herunterschlucken gemerkt.«

Oma Gertrude war Kritik gewohnt, sie tat ihrer leidenschaftlichen Liebe zur Kochkunst keinen Abbruch.

»Das liegt an diesem dummen Pfefferstreuer, Kind. Da löst sich immer dieser Deckel mit den kleinen Löchlein ab …«

»Verstehe.«

Von draußen waren jetzt Motorengeräusche zu vernehmen, es klang nach Tante Tillys Automobil. Erleichtert ging Oma Gertrude zum Fenster und versuchte, durch das dichte Gartengestrüpp zur Einfahrt zu schauen.

»Ich glaube, sie ist es! Du liebe Güte, bin ich froh! Dass meine Tilly aber auch solch ein unstetes Leben führt. Wo sie früher immer so ein braves Mädchen gewesen ist.«

Tatsächlich hatte sich Tante Tilly in den vergangenen Jahren auf erstaunliche Weise verändert, was nicht zuletzt Mamas Einfluss zu danken war. Als die Tante vor einigen Jahren aus München zurückkam, fand Henny sie schrecklich konservativ. Immer nur grau in grau gekleidet, das Haar schlecht gekämmt, die Schuhe fade und flach – eine graue Maus. Inzwischen hatte die Tante das Mäusefell abgestreift und alle verklemmte Schüchternheit abgelegt, und sie genoss das Leben als berufstätige Frau ohne Bindung in vollen Zügen.

»Ach, Kitty«, hatte sie neulich zu Hennys Mama gesagt. »Ich war bisher immer überzeugt, das Pech hafte an meinen Fersen. Und nun zeigt sich mir das Leben von einer ganz anderen, glückhaften Seite. Weißt du was? Ich glaube, seit meiner Scheidung von Ernst bin ich ein ganz neuer Mensch geworden.«

Henny fand das auch. Von der Hauptklinik, wo Tante Tilly als Ärztin arbeitete, hörte man nur Gutes, das Verhältnis zu Vorgesetzten und Kollegen war ausgezeichnet, und auch das Pflegepersonal hatte sie akzeptiert. Unter Mamas Regie hatte sich Tante Tilly auch äußerlich verändert, sie ließ regelmäßig ihre Haare bei Mamas Friseur schneiden, sie kleidete sich modern und schminkte sich. Hübsch zurechtgemacht und voller Tatendrang, ging sie in ihrer Freizeit aus, besuchte Kino und Theater, schaute sich Revuen an, und die Tanzveranstaltungen, die sie früher schrecklich fand, waren zu ihrer Leidenschaft geworden.

»Ich glaube fast«, hatte Mama einmal gesagt, »unsere liebe Tilly übertreibt es jetzt ein wenig. Aber nun ja – sie hat viel nachzuholen.«

Vor allem Mamas Erziehung in puncto Liebe war bei Tante Tilly auf fruchtbaren Boden gefallen. Zwar war Jonathan Kortner ihr ein häufiger, treuer Begleiter, doch sie ging hin und wieder auch mit anderen Männern aus. Henny, die mit ihren neunzehn Jahren schon ziemlich viel über die Beziehungen der Geschlechter wusste, hatte mitbekommen, dass die beiden mehrere Wochenenden gemeinsam in einem Hotel verbracht hatten. Wenn es stimmte, was Tante Tilly neulich erzählt hatte, dann war für diesen Sommer sogar eine mehrtägige Reise zu zweit in den Schwarzwald geplant. Und das ohne Trauschein. Wer hätte das der einstigen grauen Maus wohl zugetraut?

Die Haustür knarrte, als Tilly sie aufschloss, was daran lag, dass sich das Holz bei feuchtem Wetter gern ein wenig verzog.

»Tilly!«, rief Gertrude vorwurfsvoll. »Warum rufst du denn nicht an, wenn du später kommst? Ich hatte extra deinetwegen Bratkartoffeln mit …«

Tante Tilly kam nicht in die Küche, sie ging geradewegs zur Treppe in den ersten Stock.

»Danke, Mama. Ich hab heute keinen Appetit und gehe gleich zu Bett.«

Oma Gertrude trat fassungslos in den Flur, aber Tante Tilly war schon nicht mehr zu sehen.

»Du bist doch nicht etwa krank, Tilly«, rief Oma Gertrude ins Treppenhaus.

Es dauerte einen Moment, bis Tante Tilly antwortete, man hörte, dass sie sich räuspern musste. »Vielen Dank, Mama. Mir geht es gut. Ich bin nur sehr müde, weil ich letzte Nacht schlecht schlafen konnte …«

Die Tür ihres Zimmers schloss sich, und Oma Gertrude wandte sich kopfschüttelnd ab. »Da stimmt doch was nicht«, murmelte sie.

Auch Henny fand, dass Tante Tilly heute komisch war. Dennoch bemühte sie sich, Oma Gertrude zu beruhigen, damit sie nicht etwa auf die Idee kam, nach oben zu laufen und an Tante Tillys Tür zu klopfen. Oma Gertrude war eine Seele von einem Menschen – aber sie war schrecklich altmodisch und hielt ihrer Tochter ständig lästige Gardinenpredigten.

Jetzt kamen Mama und Onkel Robert aus dem Wohnzimmer, und Mama schaute kurz in die Küche. Sie trug eines der Sommerkleider, die Tante Marie für sie entworfen hatte, hellroter Crêpe mit einem schwarzen Ledergürtel, der aussah wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt.

»Ist Tilly endlich gekommen?«, fragte sie.

»Ja, sie ist oben, aber sie …«

Mama redete wie üblich einfach weiter.

»Wir sind bei Wieslers zum Gartenfest eingeladen, sag deiner Tante doch bitte, dass wir auf sie warten. Frau Dr. Wiesler hat mir extra auf die Seele gebunden, ich solle doch bitte meine reizende Schwägerin mitbringen. Aber nun ja, ich fürchte, meine umtriebige Tilly hat für heute Abend andere Pläne …«

»Die hat sie«, sagte Henny. »Sie will schlafen gehen.«

Mama blieb der Mund vor Überraschung offen. Hinter ihr ging die Haustür; Onkel Robert, der schon draußen beim Auto gewesen war, kehrte wieder ins Haus zurück.

»Was ist denn nun, Schatz«, meinte er ungeduldig. »Wir kommen ja zu spät.«

Mama machte ein Gesicht, als verstünde sie die Welt nicht mehr.

»Stell dir vor, Robert, Henny sagte gerade, dass Tilly schlafen gehen will. An diesem wundervollen Frühlingsabend – das kann doch gar nicht sein! Hat sie das wirklich gesagt, Gertrude?«

Oma Gertrude nickte beklommen und füllte den Wasserkessel. »Sie ist ganz sicher krank«, sagte sie. »Ich koche auf alle Fälle einen heißen Kamillentee. Es ist immer das Gleiche: Diejenigen, die am wenigsten auf ihre Gesundheit achten, das sind die Ärzte.«