Die Tochter des Gerbers - Anne Jacobs - E-Book

Die Tochter des Gerbers E-Book

Anne Jacobs

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Beschreibung

Sie war stolz und schön. Ihr Widerstand wurde gebrochen. Doch sie hörte nie auf, um ihr Glück zu kämpfen ...

Die junge Arlette scheint das Glückskind der Gerberfamilie Fulbert zu sein. Sie ist nicht nur ungewöhnlich hübsch, sondern zudem klug und ehrgeizig. Doch als sie von einem Adeligen vergewaltigt und schwanger wird, fällt sie tief. Sie wird als Hure verschrien und mit Verachtung gestraft. Beschämt weist Arlette den Annäherungsversuch eines jungen Ritters ab, der sie bewundert. Noch ahnt sie nicht, dass Herluin de Conteville in einigen Jahren ihr Ehemann und die große Liebe ihres Lebens sein wird. Auch wenn ihr berühmtester Sohn, Wilhelm der Eroberer, von einem anderen stammt: von Robert, dem Herzog der Normandie ...

Mitreißend, opulent, faszinierend – die Bestsellerautorin der »Tuchvilla-Saga« entführt Sie als Hilke Müller ins Mittelalter.

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Seitenzahl: 878

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Buch

Die junge Arlette scheint das Glückskind der Gerberfamilie Fulbert zu sein. Sie ist nicht nur ungewöhnlich hübsch, sondern zudem klug und ehrgeizig. Doch als sie von einem Adeligen vergewaltigt und schwanger wird, fällt sie tief. Sie wird als Hure verschrien und mit Verachtung gestraft. Beschämt weist Arlette den Annäherungsversuch eines jungen Ritters ab, der sie bewundert. Noch ahnt sie nicht, dass Herluin de Conteville in einigen Jahren ihr Ehemann und die große Liebe ihres Lebens sein wird. Auch wenn ihr berühmtester Sohn, Wilhelm der Eroberer, von einem anderen stammt: von Robert, dem Herzog der Normandie ...

Autorin

Anne Jacobs lebt und arbeitet in einem kleinen Ort im Taunus, wo ihr die besten Ideen für ihre Bücher kommen. Bevor sie mit ihrer »Tuchvilla«-Reihe die Bestsellerlisten eroberte, schrieb sie unter anderen Namen exotische Sagas und den erfolgreichen historischen Roman »Die Tochter des Gerbers«.

Anne Jacobsals Hilke Müller

Die Tochter des Gerbers

Roman

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Copyright © 2011 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Valery Rokhin; mathisprod, JackF; Ruud Morijn ) und Shutterstock.com (NaughtyNut; design36; Mark Carrel; Anna Krivitskaya; PhuchayHYBRID)

LH · Herstellung: DM

ISBN: 978-3-641-29159-4V001

www.blanvalet.de

Herbst 1025

Über Nacht hatte der Teufel seinen kalten Atemhauch auf das Land geblasen, so dass die Gräser gefroren und die Zweige an Büschen und Bäumen zu kristallenem Gespinst geworden waren. Immer noch tobten sich die Dämonen am Himmel aus, trieben die Wolken wie ein Rudel grauer Wölfe zum Horizont und mischten winzige, spitze Eisnadeln in den Wind, um Mensch und Tier zu plagen.

Ein einsames Gespann folgte dem holprigen Weg, der durch Waldstücke, Wiesen und Äcker zur Stadt Falaise führte. Weiße Atemwolken flatterten aus den Nüstern der Stute. Die beiden jungen Menschen, die vorn auf dem beladenen Karren hockten, hatten sich dicht aneinandergedrängt und die wollenen Mäntel fest um sich gezogen.

»Da schau, Arlette!«

Die Stimme des Jungen klang rau und kippte vor Aufregung. Mit ausgestrecktem Arm wies er auf den nahen Wald, wobei sich sein Mantel öffnete und der eisige Wind für einen Moment Gelegenheit hatte, unter den groben Stoff zu fahren.

Ein Raubvogel hatte sich von einer Eiche am Waldrand gelöst, stieß mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen herab und strich dann wie ein schwarzer Schatten über das gefrorene Gras. Sein Flug war rasch und gleichmäßig – der Jäger hatte sein Opfer genau im Blick.

»Ein Habicht«, flüsterte Walter seiner Schwester zu. »Schau, wie der Hase flitzt! Gleich hat er ihn.«

Der Räuber schwebte so dicht über der Wiese, dass seine gezackten Flügelenden fast die Spitzen der Gräser berührten. Eine Windböe zerrte an seinem Federkleid, riss seinen Körper für einen Moment empor und zwang ihn, erneut auf Pirschflug zu gehen.

»Verdammt! Er hat ihn verfehlt!«, rief Walter enttäuscht und stellte sich trotz des Geruckels in dem fahrenden Karren auf.

Der Hase flüchtete in wilder Panik quer über die Wiese, narrte seinen Verfolger mit mehreren Haken, doch kurz bevor er ein rettendes Holundergebüsch erreichte, hatte der Raubvogel ihn eingeholt und stieß auf ihn herab. Hase und Vogel bildeten für einen Augenblick ein zappelndes Knäuel, man hörte einen schrillen, klagenden Schmerzenslaut, dazu das pfeifende Kreischen des Vogels.

»Er ist noch zu unerfahren!«, murmelte Arlette sachverständig. »Er wird den Hasen nicht halten können.«

Tatsächlich gelang es dem verzweifelten Tier, sich aus den Klauen des Angreifers zu befreien. Eine leuchtend rote Blutspur zog sich im Zickzack über den Raureif und verlor sich am Waldrand. Der Raubvogel schien wenig Lust auf die Verfolgung zu haben, denn er blieb mit offenem Schnabel am Boden hocken. Er zuckte nervös das gesträubte Federkleid, dann flatterte er auf, um sich auf den unteren Ästen eines Apfelbaums von der missglückten Jagd zu erholen.

»Hast du gesehen?«, rief Walter aufgeregt. »Er hat einen Riemen am Fuß.«

»Hmm«, machte seine Schwester und zog an den Zügeln. Die Stute gehorchte nur widerwillig; mit gesenktem Kopf blieb sie stehen, schüttelte den Eisregen aus der Mähne und schnaubte. Hinten auf dem Karren lagen drei frisch abgezogene Rinderhäute, deren Aasgeruch eine Menge Krähen anlockte. Walter musste die Ladung immer wieder mit einem Stecken verteidigen, und auch jetzt waren die ungebetenen Begleiter in der Nähe, lauerten auf dem Weg und in den Bäumen mit gierigen Augen auf die lockende Fracht.

Das Geschwisterpaar saß schweigend nebeneinander, beide dachten das Gleiche. Im bereiften Geäst saß der Habicht, einem dunklen Schattenriss gleich, mit seinem gesträubten Gefieder größer, als er eigentlich war. Deutlich sah man den ledernen Riemen, der von seinem rechten Fuß herunterbaumelte.

»Der ist irgendwo abgehauen …«, murmelte Walter fast unhörbar.

Arlette nickte. Ein solches Tier war einiges wert, man konnte es auf dem Markt anbieten und einen guten Preis damit erzielen. Allerdings musste man höllisch aufpassen, beim Einfangen des Vogels nicht erwischt zu werden. Ganz besonders jetzt, da überall im Land Berittene und ihre Knechte unterwegs waren, denn Herzog Richard sammelte sein Heer, um gegen Chalon zu ziehen.

»Dort drüben im Wald könnten die Jäger sein«, warnte das Mädchen.

Walter schob die Filzkappe aus der Stirn und betrachtete aufmerksam den Waldrand. Schwarze, knorrige Stämme, aus denen nackte, gefrorene Äste staken, standen dort wie eine Reihe alter, weißhaariger Krieger.

»Ach was! Wer will bei dieser Kälte schon jagen! Ich hole ihn herunter, und wir wickeln ihn in deinen Mantel.«

»Aber mach rasch!«

Sie beobachtete, wie er durch das gefrorene Gras zum Apfelbaum hinüberstapfte – ein langbeiniger Storch, der durch einen Teich stelzte. Walter war hoch aufgeschossen in diesem Herbst, der Gewandrock aus braunem Tuch, den die Mutter erst im Sommer für ihn genäht hatte, war zur kurz geworden, und an die Beinlinge hatte Arlette jeweils ein ordentliches Stück Stoff anfügen müssen. Wenn der Wind den Rock hochwehte, sah man die angeflickten Stellen an Walters dünnen Oberschenkeln, was ihm ziemlich peinlich war. Genauso peinlich wie die große Nase, die sozusagen über Nacht in seinem Knabengesicht gewachsen war und die für ein seltsames Ungleichgewicht in seinen noch kindlichen Zügen sorgte.

Der Habicht schien sich nicht weiter an dem Jungen zu stören. Sicher gehörte er einem der Ritter des Grafen Robert, dem jüngeren Sohn des Herzogs. Arlette hatte Robert nur wenige Male im Vorüberreiten gesehen; er war noch jung, aber groß gewachsen, das Gesicht war ihr blass erschienen, die Augen ein wenig vorstehend. Die Leute nannten ihn »Lautmund« und wussten zu berichten, dass er viel schwatzte, aber sein Wort nicht hielt. Auch ging die Rede, dass er viel Geld für kostbare Waffen und Gerätschaften ausgäbe. Falls der Habicht Robert Lautmund gehörte, war er ganz sicher ein wertvolles Tier.

Arlette ließ den Blick noch einmal prüfend über den Wald schweifen, der unter dem unruhigen Himmel seltsam starr wirkte. Kaum ein Zweiglein regte sich im Wind, kein aufflatternder Vogel zeigte an, dass die Jäger dort umherstreiften. Sie band die Zügel der Stute fest und stieg vom Karren, hob das lange Kleid bis zu den Waden hoch und lief zu Walter hinüber.

»Ich mache dir die Leiter, dann kannst du den Ast dort oben erreichen.«

Walter verschmähte die ineinander verschränkten Hände seiner Schwester, suchte sich einen niedrigen Ast und hangelte sich daran in die Höhe. Raureif rieselte auf ihn herab, er blinzelte, doch als er endlich rittlings auf einem breiten Ast hockte, war der weitere Aufstieg ein Kinderspiel. Langsam näherte er sich dem Vogel, der ihn völlig ohne Angst mit gelben Augen musterte. Er war schön und edel, dieser gefiederte Jäger, sandfarben, mit schwarzen Einsprengseln am Bauch, der Rücken dunkler, die dicht befiederten Beine sehr hell und buschig. Es war Walters sehnlichster Wunsch, ein solches Tier zu besitzen, und er zwang sich mühsam zur Ruhe, um die Gelegenheit nicht im letzten Augenblick zu verpatzen.

»Runter! Schnell!«

Der Junge war zu vertieft, um den Sinn der Warnung zu erfassen. Er sah nur, dass der Habicht den Kopf ruckartig drehte und sich anschickte, die Flügel zu öffnen. Wie von selbst schoss seine Hand nach vorn und packte den Riemen. Triumphierend hielt er das Lederband zwischen den Fingern, der Habicht flatterte wild mit den Flügeln, riss ihm fast den Arm ab, so dass er sich mit der freien Hand im Gezweig festklammern musste.

»Ich hab ihn!«, jubelte er.

Dann erst entdeckte er die dunkle Silhouette, die am Waldrand aufgetaucht war. Ein heißer Schreck durchfuhr ihn.

Ein Jäger! Ein kräftiger Kerl im hellblauen, geschlitzten Reiterkleid, das wie ein Kettenpanzer leuchtete, die Beinlinge bunt gestreift und abgefüttert gegen die Kälte. Eine Armbrust hing an seinem Sattel, daneben zwei tote Hasen. Andere Männer folgten ihm, und gleich darauf sprangen mehrere große, braune Hunde aus dem Wald, die lederne Halsbänder mit kleinen Ringen für die Leinen daran trugen.

»Dort drüben auf dem Baum!«, schallte es zu ihnen herüber. Die Hufe der Pferde zogen eine dunkle Spur über die Wiese, als die Jäger herbeisprengten; es waren vier, dann fünf, dann immer mehr Reiter, die Hunde hetzten ihnen voraus, und Arlette war im Nu von der kläffenden Meute umgeben.

Sie hatte vor, den Herren zu erklären, ihr Bruder habe den Habicht gefangen, um ihn zur Burg zu bringen, doch im allgemeinen Tumult war es unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen.

»Heda, lass den Habicht los!«

»Nein, halt ihn fest!«

»Runter mit dir, Bauernlümmel!«

Einer der Reiter fasste nach den langen Beinen des Knaben, es knackte im Gezweig, und im gleichen Augenblick, als Walter wie ein reifer Apfel zu Boden fiel, erhob sich der Habicht mit kraftvollen Flügelschlägen in die Lüfte, begleitet von Flüchen und Gelächter. Einige der Reiter gaben ihren Pferden die Sporen und sprengten dem Habicht nach, andere stiegen aus dem Sattel und näherten sich dem Geschwisterpaar.

»Bleib liegen!«, zischte Arlette ihrem Bruder zu. »Beweg dich nicht! Wenn sie dich für verletzt halten, kommen wir vielleicht davon.«

Walter schien nichts gehört zu haben, denn er richtete sich zum Sitzen auf. Er spürte kaum Schmerz, nur sein Kopf dröhnte, und die Stimme des Jägers klang seltsam dumpf in seinen Ohren.

»Einen Habicht klauen, was? In den Sack stecken und wegtragen, wie?«

Seine Worte klangen drohend, der Auftakt zu einem Strafgericht. Der Sprecher war ein mittelgroßer, blonder Kerl, nicht viel älter als Walter selbst, doch weitaus kräftiger und ganz offensichtlich im Umgang mit Pferd und Waffen geübt. Die Kälte hatte sein bartloses Gesicht gerötet, das rund und flach war wie Brotfladen mit einer kleinen, leicht aufgeworfenen Nase darin.

Zwei andere waren ihm gefolgt, beide schmale Knaben, ganz sicher junge Knappen, die dem Älteren zu gehorchen hatten – man konnte schon am boshaften Ausdruck ihrer Gesichter erkennen, dass sie Gelegenheit suchten, ungestraft ihr Mütchen zu kühlen.

»Pfui, wie das stinkt!«, sagte der eine und hielt sich die Nase zu.

»Gerber sind das. Die pissen alle in das gleiche Loch und gerben damit ihre Häute.«

Gelächter folgte. Arlette lehnte gegen den Baumstamm und starrte die drei jungen Kerle mit schmalen Augen an. Die Kinder des Gerbers Fulbert wurden oft gehänselt, und sie hatten es ihren Alterskameraden nicht selten in harten Hieben heimgezahlt. Jetzt aber lagen die Dinge anders, denn diese jungen Burschen waren nicht ihresgleichen, sondern adelige Knappen …

»Weißt du nicht, dass ein solcher Vogel Herrengut ist, du dreckiger Aasschaber? Wir könnten dich an diesem Apfelbaum aufhängen, wenn wir wollten!«

Der blonde Knappe wollte Walter am Kittel fassen, doch unversehens warf sich Arlette vor ihren Bruder.

»Lasst ihn in Ruhe!«, keifte sie den Burschen an. »Ihr solltet uns dankbar sein – wir wollten den Habicht für euch einfangen und zur Burg bringen!«

Der Knappe zog mürrisch die stumpfe Nase hoch und schien unschlüssig zu sein. Zwar spürte er die auffordernden Blicke seiner beiden jungen Kameraden im Rücken, doch er wusste auch, dass sein Herr es nicht liebte, wenn seine Knappen sich herumprügelten. Schon gar nicht mit solchen Bauernlümmeln und auf keinen Fall mit einem Mädchen. Schon wollte er sich abwenden, da keifte sie weiter.

»Hohle Schwätzer seid ihr! Ihr habt gar kein Recht, jemanden zu strafen! Wir sind Freie und gehören unter das Gericht des Grafen Robert.«

Er biss sich auf die Lippen. So wie sie sich jetzt aufspielte, war es schwer, der Herausforderung zu widerstehen.

»Das Gericht wird dir die Diebeshand abhacken lassen«, drohte er mit verbissener Miene. »Die rechte, damit du dich nie wieder an fremdem Eigentum vergreifst.«

Einer der beiden Knaben hinter seinem Rücken stieß ein kurzes Lachen aus.

»Wozu so viel Aufwand? Ein paar Ohrfeigen genügen!«

»Wenn ihr mich anfasst, kratze ich euch die Augen aus!«, kreischte das Mädchen.

Höhnisches Gelächter war die Antwort – einer der jungen Knappen wagte jetzt tatsächlich, sie am Ärmel zu fassen. Gleich darauf schrie er auf, denn Arlette hatte ihm in den Finger gebissen.

»Verdammtes Biest! Schnappt zu wie eine Ratte.«

»Auf sie!«

Sie war zu weit gegangen – zu dritt drangen die Burschen auf sie ein, stießen sie mit dem Rücken gegen den Stamm und hielten ihre Hände fest. Sie trat mit den Füßen und spuckte den Blonden an, doch sie handelte sich nur ein paar kräftige Ohrfeigen ein.

»Jetzt schauen wir mal, was du unter deinem Kleid verbirgst, zänkische Hexe …«, sagte einer der jungen Knappen mit höhnischem Lachen.

Im gleichen Moment kippte er vornüber, denn Walter hatte ihm die Beine weggerissen. Ein wildes Getümmel brach aus, kämpfende Gestalten wälzten sich im Schnee, brüllten, kreischten, rissen sich an den Haaren und gebrauchten die Fäuste.

»Was ist hier los?«

Die tiefe Männerstimme fuhr den Streitenden heftig durch die Glieder. Gleich darauf griffen harte Fäuste in die Menge, packten zwei der Kampfhähne, als wären sie erlegte Hasen, und zogen sie auf die Beine.

»Habt ihr das bei mir gelernt? Euch mit Bauern zu prügeln?«

»Verzeihen Sie, Herr Gilbert«, keuchte der Knappe, und sein Gesicht nahm einen zerknirschten Ausdruck an. »Diese beiden Gerber haben versucht, den Habicht zu stehlen.«

Arlette rappelte sich hoch und wischte sich das Blut vom Kinn, das von ihrer aufgeplatzten Lippe tropfte.

»Mein Bruder und ich haben den Habicht einfangen und in der Burg abgeben wollen«, wehrte sie sich mutig. »Aber diese Dummköpfe haben Walter vom Baum gestoßen, und da hat er den Riemen losgelassen.«

Herr Gilbert gab seine Knappen frei, nicht ohne ihnen einen strafenden Stoß in den Rücken zu versetzen. Sein Blick ruhte jetzt neugierig auf dem Mädchen.

»Nenn mir deinen Namen!«

»Arlette …«

Arlette musterte den Mann unsicher. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, doch schon an Kleidung und Haltung war zu erkennen, dass er ein Ritter war. Er war mittelgroß, hellbraunes, lockiges Haar sah unter seiner Lederkappe hervor und sein blauer Mantel, den er über dem grünen Rock trug, war mit teurem Marderfell besetzt. Obgleich er noch jung war, hatten sich rechts und links seines Mundes zwei senkrechte Falten in die Wangen eingegraben. Dazu fehlte ihm ein Teil der linken Augenbraue, die er vermutlich in einem Kampf eingebüßt hatte; die Narbe war gut verheilt und kaum sichtbar, dennoch verlieh dieser Mangel seinem Gesicht etwas Unwägbares.

Er starrte sie immer noch an, maß sie von oben bis unten mit durchdringenden Blicken, so dass sie große Mühe hatte, ihre aufsteigende Furcht zu verbergen. Wollte er sie tatsächlich vor das Gericht des Grafen schleppen? Für den Diebstahl eines kostbaren Jagdfalken konnte man leicht mehr als nur die rechte Hand verlieren. Doch dann lächelte er, und sein Gesicht erschien ihr auf einmal angenehmer, fast liebenswürdig, was sie Hoffnung schöpfen ließ.

»Setz den Burschen auf dein Pferd, Lambert«, befahl er seinem Knappen. »Wir nehmen ihn mit zur Burg.«

Sie hatte sich getäuscht – es war nichts Liebenswürdiges an diesem Mann, er war grausam und hinterhältig.

»Nein!«, rief Arlette entsetzt. »Lasst ihn hier und nehmt mich mit. Es war meine Idee. Walter kann nichts dafür, er ist doch noch ein Kind …«

»Was für eine fürsorgliche Schwester du bist«, bemerkte der Ritter lächelnd und fasste sie hart am Arm, als sie versuchte, sich zwischen Lambert und ihren kleinen Bruder zu drängen.

Er musste einige Kraft aufbringen, um sie festzuhalten. Was für ein Mädchen! Kämpfte mit Zähnen und Klauen gegen einen erwachsenen Mann, stieß mit den Füßen gegen seine guten Jagdstiefel und wollte ihm sogar in die Finger beißen. »Nun los doch! Worauf wartet ihr?«, rief er seinen Knappen zu.

Walter wehrte sich nach Kräften, verlor die Schuhe und einen seiner Beinlinge, als er versuchte, mit den Füßen zu treten. Dann traf ihn ein kräftiger Schlag im Genick, und er wurde wie ein lebloser Sack auf den Rücken eines der Pferde gezerrt. Der Ritter hielt Arlettes Arm fest umklammert, bis sich die Reiter entfernt hatten, dann betrachtete er wohlgefällig seine Beute.

»Hör zu, kleine Gerberin«, sagte er mit veränderter Stimme. »Wenn du deinem Bruder helfen willst, dann musst du jetzt fügsam sein. Kannst du das?«

Arlette ahnte, wovon er sprach. Er war nicht der Erste, der sie voller Begehren anstarrte. Die meisten Männer taten das, und ihre Mutter hatte ihr deshalb schon Vorwürfe gemacht, als sei es ihre Schuld, dass sie hübsch war. Wenn sie fügsam war … Sie musste fügsam sein, denn es ging um ihren kleinen Bruder. Es war ein Handel – ihre Fügsamkeit gegen Walters Freiheit. Was aber, wenn er sie belog?

»Schwören Sie mir, dass Sie Walter nichts zuleide tun werden!«

»Ich verspreche es.«

»Sie sollen es schwören! Bei unserem Herrn Jesus Christus und allen Heiligen.«

Er begann zu lachen, ihre Dickköpfigkeit bereitete ihm Vergnügen. Gleich darauf unternahm sie einen überraschenden Versuch, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hatte nichts anderes erwartet und packte sie am Haar.

»Du wirst dir wehtun, meine Schöne.«

Er drängte seinen Körper dicht an ihren und atmete den erregenden Duft ihrer jungen Weiblichkeit ein. Allerdings gemischt mit einem strengen Gerbgeruch – verflucht, man hätte das Mädel vorher baden sollen!

»Schwören Sie!«, beharrte sie.

Er war jetzt so verrückt nach ihr, dass ihm gleich war, was er redete. Mit geübter Hand raffte er ihr Kleid und zog es mitsamt dem Hemd in die Höhe. Seine Hände glitten über ihre bloße Haut, hoben die Stoffe weiter hinauf bis zu ihren Schultern. Was er zu sehen bekam, brachte sein Blut in Wallung.

»Ich schwöre …«, hörte er sich flüstern.

Er hatte Mühe, die Brouche rasch genug beiseitezuschieben – sein Glied war steinhart und drängte hinaus. Eigentlich schade, die Kleine war es wert, dass man sich Zeit für sie nahm. Doch es war verdammt kalt, und jedes Mal, wenn er zwischen ihre Beine stieß, zitterte der Stamm des Apfelbaumes, und Raureif rieselte auf sie beide herab. Zu Anfang war es harte Arbeit, denn sie war tatsächlich noch Jungfrau.

Als er sich erleichtert hatte, ließ er ihr Kleid wieder herabfallen und schob seine Brouche zurecht. Sie hatte keinen einzigen Laut, nicht einmal ein leises Wimmern, von sich gegeben, doch jetzt bemerkte er, dass sie ihn aus halb geöffneten Augen anstarrte.

»Hör zu, Arlette«, murmelte er, während er an seinem Beinkleid fingerte und dann den weiten, knielangen Gewandrock ordnete. »Ich halte mein Versprechen: Deinem Bruder wird nichts geschehen. Aber ich stelle eine Bedingung.«

Sie zog die Oberlippe hoch, ihre Miene war feindselig.

»Du wirst Stillschweigen über unsere kleine Begegnung bewahren. Tust du es nicht, werde ich euch beide wegen Diebstahls anklagen.«

»Gehen Sie zum Teufel!«, zischte sie.

Er gab ihr eine Ohrfeige, die sie reglos hinnahm. Immerhin schien seine Drohung gewirkt zu haben, denn sie schwieg, blitzte ihn nur wütend aus zusammengekniffenen Augen an. Zorn stieg in ihm hoch, als er auf sein Pferd stieg und davonritt. Für eine Gerbertochter nahm sie sich allerhand heraus. Jetzt, da sein Drang befriedigt war, ärgerte er sich gewaltig über ihre Frechheit. Es gab Frauen, die ihre Seligkeit und das ewige Leben dafür gegeben hätten, die Kraft seiner Lenden spüren zu dürfen. Frauen, die nicht nach fauligen Häuten stanken wie diese da.

* * *

Noch bevor Arlette die Stadt erreichte, kam ihr Walter entgegen, er ging merkwürdig gekrümmt und wäre fast auf einer überfrorenen Pfütze ausgeglitten. Als er näher kam, erschrak sie. Sein Gesicht war voller Blut und die linke Wange dicht unter dem Auge angeschwollen. Mühsam kletterte er zu ihr auf den Karren, und das Grinsen, das sie beruhigen sollte, glich eher einer schmerzlichen Grimasse.

»Der Herr ist gekommen, und sie mussten mich vor dem Burgtor freilassen«, berichtete er, als habe er einen Sieg errungen.

Der Ritter hatte also Wort gehalten – nun, sie hatte ja auch dafür bezahlt. Es hatte sehr wehgetan, immer noch peinigte sie ziehender Schmerz zwischen den Beinen, und es fühlte sich feucht an, als blute sie.

»Hat dich jemand gesehen?«

Walter schüttelte den Kopf. Die Torwächter waren mit den einreitenden Rittern und ihren Begleitern beschäftigt gewesen  – es waren viele, die sich für den nahenden Heerzug hier in Falaise sammelten. Niemand hatte auf ihn geachtet.

»Gut«, murmelte Arlette.

Beide waren sich darüber klar, dass die Eltern nichts erfahren durften. Sie würden die Risse und Schrammen damit erklären, dass die Dorfkinder sie gehänselt hätten und Streit ausgebrochen sei.

Als der Wald den Blick auf den braunen, zerklüfteten Burgfels und die darunter liegende Stadt freigab, begann die Stute, die ihren Stall witterte, rascher zu laufen. Der Weg führte an gepflügten, frostübersponnenen Ackerstücken vorbei, dazwischen lagen Weiden mit niedrigen, roh zusammengezimmerten Unterständen für Kühe und Schafe. Der scharfe Geruch der Holzfeuer wehte ihnen entgegen. Aus den strohgedeckten Hütten und Häusern hinter der Stadtbefestigung zogen zahllose dünne Rauchfäden schräg in den dunklen Himmel hinauf; auch oben auf dem Fels, hinter den zinnenbesetzten Mauern der Burg, schienen etliche Feuerstellen in Betrieb zu sein.

Kurz vor dem Stadttor, als schon die beiden Wächter nach ihnen spähten, drehte Walter Arlette den Kopf zu und wagte die Frage zu stellen, die ihn die ganze Zeit über beunruhigte.

»Was hat er mit dir gemacht, Arlette?«

Die Züge der Schwester blieben unbewegt.

»Nichts.«

Er wusste, dass sie log. Dumpfe, hilflose Wut überkam ihn. Diese hochnäsigen Burschen hätten ihn nicht überwältigt, wenn Osbern bei ihnen gewesen wäre. Aber Osbern hätte auch niemals versucht, einen Habicht zu fangen, dazu war er zu besonnen, der ältere Bruder.

Dicht vor der Stadt bog ihr Weg nach links ab und folgte dem Bachlauf, der in kleinen Windungen durch die Wiesen zu den Gerberhöfen floss. Sie lagen außerhalb der Stadtbefestigung, damit die Einwohner nicht durch die üblen Gerüche und stinkenden Abwässer belästigt wurden. Das Gerberhandwerk gedieh in der Nähe der Eichenwälder und kleinen Wasserläufe vortrefflich, Sättel und Riemen, Schuhwerk und Wämse, auch die feine Bespannung von Buchdeckeln – alles wurde aus dem Leder aus Falaise gefertigt.

Der Hof des Gerbers Fulbert war nicht weit vom Stadttor gelegen und einer der größten. Ein fester Zaun umfriedete das Anwesen, nicht ganz so hoch wie die Palisaden der Stadtbefestigung, aber doch so, dass ein Mann den Kopf recken musste, um auf die andere Seite zu sehen. Das Wohnhaus war ein einstöckiger, lang gezogener Bau, dessen Holz mit den Jahren fast schwarz geworden war; das Dach war hoch und mit Strohbündeln gedeckt. Mehrere Nebengebäude dienten als Stallungen, Trockenräume und Werkstatt, ein breiter Unterstand mit hölzernen Schindeln schützte die Lohegruben vor Regen. Dort standen auch die beiden Schabebäume – kräftige, glatte Stämme, über die die nassen Häute gezogen wurden, damit der Gerber die anhaftenden, fauligen Fleischreste mit dem gebogenen Scherdegen entfernen konnte. Walter hasste diese Arbeit, sie war nicht nur eklig, sondern auch heikel, denn man durfte auf keinen Fall zu tief in die Haut hineinschneiden. Der Vierzehnjährige hatte schon eine zweijährige Lehrzeit und damit auch eine Unzahl von Maulschellen hinter sich, denn der Vater konnte sehr zornig werden, wenn eine gute Haut durch Unachtsamkeit verdorben wurde. Ein brauchbarer Gerber war trotz alledem nicht aus Walter geworden.

Sie hatten Glück, denn nur der alte Knecht Bertlin stand draußen an einem Schabebaum, ihr zweiter Knecht Nicholas war nirgends zu entdecken. Bertlin war so in seine Arbeit vertieft, dass er nur kurz den Kopf hob und dann weiter mit dem Messer über die Ochsenhaut kratzte. Was er von der Haut herunterschabte, lag um die Arbeitsstelle herum am Boden, eine Schar hungriger Vögel stritt lautstark um die besten Beutestücke. Aus der Werkstatt waren leises Zischen und dumpfe Schläge zu vernehmen, und als die Geschwister näher kamen, sahen sie Nicholas, Osbern und den Vater, die die fertigen, getrockneten Häute weich klopften und schmirgelten.

Die beiden spannten die Stute aus, und während Arlette das Tier im Stall versorgte, machte sich Walter daran, die neu erworbenen Häute in die Remise zu schleppen, wo der Vater sie zunächst begutachten und danach in die Wassergrube legen würde, damit sie sich vollsaugten und geschmeidig wurden. Es gab viel Arbeit zurzeit, und es würde noch mehr werden, denn die Bauern schlachteten jetzt das Vieh, das sie nicht mehr durch den Winter füttern wollten. Fulbert hatte schon daran gedacht, einen weiteren Knecht in Lohn zu nehmen; er konnte es sich leisten, das Handwerk brachte gutes Geld.

Arlette war mit klopfendem Herzen ins Wohnhaus getreten, doch zu ihrer Erleichterung war die Mutter nicht allein. Bertrada, die Frau des Händlers Renier, saß bei ihr auf einem Hocker, die Frauen tranken Cidre und aßen kleine Küchlein, die die Mutter aus Nüssen und Gerstenmehl gebacken hatte.

»Endlich kommst du! Wir haben einen lieben Gast, Arlette!«

Das Mädchen begrüßte die Händlersfrau mit einem artigen Kopfnicken und erntete ein süßliches Lächeln. Die dürre Bertrada war eitel, kleidete sich stets in bunte Gewänder und liebte silberne Ohrgehänge, die ihr Mann in Mantes und Paris gegen normannische Tuche, Leder und Cidre eintauschte. Renier war der reichste Händler der Stadt, doch in seinem Haus geschah nur, was Bertrada anordnete.

»Schau doch, wie rosig ihre Wangen sind«, schwatzte die Händlerin. »Setz dich zu uns, Mädchen, wir haben gerade von dir geredet.«

Arlette spürte, wie ihr schwindelig wurde, und sie zog sich rasch einen Hocker herbei. Der Schmerz zwischen ihren Beinen schien immer heftiger zu werden – sie musste sich zusammennehmen, um ein freundliches Gesicht zu machen.

Wenn sie sich doch nur auf dem Lager ausstrecken könnte, um ein wenig zur Ruhe zu kommen!

Zum Glück schienen die Frauen nicht weiter auf sie zu achten, denn Arlettes Mutter klagte über das schlimme Wetter und den bevorstehenden Kriegszug. Es konnte nicht Gottes Wille sein, dass die Normannen nach Burgund zogen, um Hugo von Chalon zu bekriegen – hätte der Herr sonst diese bittere Kälte geschickt?

»Aber Hugo hat den Schwiegersohn unseres Herzogs gefangen gesetzt, Doda«, widersprach Bertrada. »Das kann Richard der Gute nicht auf sich sitzen lassen. Zumal seine Tochter, die Gräfin Adelheid von Burgund, vor Kummer ganz außer sich ist, weil ihr Ehemann so schimpflich im Kerker schmachtet …«

»Seine eigene Schuld! Hätte Rainald von Burgund sich nicht auf den Streit mit Hugo eingelassen, säße er jetzt nicht im Kerker.«

Bertrada verzog das Gesicht und lächelte hochmütig, wie es ihre Art war, wenn sie eine andere Meinung hatte, es jedoch nicht für nötig hielt, deswegen zu streiten. Stattdessen begann sie jetzt, die neuesten Nachrichten aus der Stadt zu verbreiten, um Doda, die vor den Toren der Stadt wohnte, mit ihrem Wissen zu beeindrucken.

»Es heißt, unser guter Herzog sei krank und das Heer würde von seinem Sohn Richard Kühlauge angeführt. Er ist gestern Abend auf der Burg angekommen, der junge Thronfolger. Was für ein edler Ritter! Hochgewachsen und schlank wie eine Gerte, und seine Augen glänzen wie Edelsteine. Auch waren seine Getreuen heute in unserem Laden, um die Schwertklingen und Dolche anzusehen, die Renier aus Burgund mitgebracht hat. Sie haben auch Kräutersäckchen gekauft, die vor Verwundungen schützen und den Kämpfern Mut geben.«

Doda nickte eifrig, streifte die Tochter mit aufmerksamen Blicken und bot Bertrada Küchlein an. Arlettes Mutter war füllig, nach Walters Geburt hatte sich ihr Bauch nicht mehr zurückgebildet. Sie trug das Haar unter dem Tuch streng zurückgebunden, ihre einst straffen Wangen waren während der letzten Monate herabgesunken. Heute wirkte Doda ungewöhnlich heiter, denn anstatt sich über den schlimmen Lauf der Zeiten zu beklagen, wie es sonst ihre Gewohnheit war, begann sie nun, die Vorzüge ihrer Tochter anzupreisen.

»Sie kommt ganz nach dem Vater, mein Mädel. Kauft schon allein die Häute in den Dörfern und lässt sich nicht übers Ohr hauen. Allzeit fröhlich und fleißig ist sie, tut alle Arbeit im Haus, seit meine Beine mir Sorgen machen …«

Arlette klangen die Ohren von so viel Lob, das sie von der strengen Mutter nicht gewohnt war und das ihr ausgerechnet heute wie blanker Hohn erschien.

»Freilich«, meinte Bertrada, die ein Küchlein kaute, dass die Nüsse zwischen ihren Zähnen knackten. »Ich sehe sie doch alle Woche auf dem Markt und weiß, wie sie handeln kann. Auch mein Eudo lobt sie jeden Tag und mag gar nicht aufhören, von Arlette zu reden …«

Arlette wurde heiß. Der Kopf begann ihr zu kreisen. Es war schon lange die Rede von einer Heirat zwischen ihr und Eudo, die Mutter hatte seit Jahren darauf hingearbeitet, denn Eudo war der einzige Sohn und Erbe des reichen Händlers Renier. Märchenhafte Schätze stapelten sich in Reniers großen Lagerhäusern in der Stadt: Tuche aus Friesland und England, Waffen und Geschmeide aus Burgund, kostbare Seide und honigfarbiger Wachs in dicken Kugeln.

»Nun, ich denke, wir werden uns einig werden«, hörte sie Dodas Stimme. »Wir sind keine armen Leute, und Arlette bringt nicht nur ihre Arbeitskraft mit in die Ehe. Es wird mich allerdings einige Mühe kosten, meinen Mann zu überzeugen, denn Fulbert mag seine einzige Tochter nur ungern aus dem Haus geben.«

Bertrada, die nun merkte, dass der Handel eröffnet war, warf ihre Trümpfe in die Waagschale.

»Einen harten Willen hat das Mädel zuweilen, und ihr Mundwerk ist ein wenig unbeherrscht …«, nörgelte sie.

»Das Wort einer klugen Frau hat noch keinem Mann geschadet«, gab Doda zurück.

»Sie muss lernen, sich zu fügen.«

»Das wird sie ganz gewiss, wenn du sie wie eine Tochter aufnimmst …«

»Was bringt sie denn mit? Schließlich hast du noch zwei Söhne, die auch Ansprüche haben …«

Arlette sah von einer zur anderen und begriff, dass man dabei war, um ihre Mitgift zu feilschen. Es wurde also ernst, noch in diesem Jahr würde sie Eudos Ehefrau werden – eine glänzende Heirat für die Tochter eines Gerbers. Sie mochte den schweigsamen, schüchternen Eudo, er war zwar wenig ansehnlich und auch nicht sehr groß, doch er hatte ein sanftes Gemüt und würde sie gut behandeln.

»Schau, wie dem Mädel die Augen übergehen!«, bemerkte Bertrada mit einem Lachen.

Auch Doda hatte die Aufregung der Tochter bemerkt. Sie war verständlich, doch sie störte sie bei der Verhandlung, denn Bertrada würde Arlettes naive Freude für sich zu nutzen wissen.

»Geh in die Scheune und hole frische Streu, Arlette!«, befahl Doda streng. »Du brauchst dich dabei nicht zu beeilen.«

Das Mädchen begriff und erhob sich langsam. Ihr Herz hämmerte, und sie hatte Mühe, ohne zu schwanken die Tür zu erreichen. Draußen erfasste der eisige Wind ihr Kleid und riss daran, doch sie spürte weder die Kälte noch den ziehenden Schmerz in ihrem Unterleib, vielmehr war ihr seltsam leicht, als trüge der Wind sie über den Hof zur Scheune hinüber.

Es musste ein Glückstag sein, denn was die Eltern so lange erhofft hatten, war nun eingetreten. Auch heute Früh hatte sie Glück gehabt, sie hatte Walter vor Kerker und Strafe bewahrt, und die Geschichte mit dem Habicht war ihr Geheimnis geblieben. Nicht auszudenken, wenn man sie beide des Diebstahls angeklagt hätte – dann wäre es mit der geplanten Hochzeit vorbei gewesen.

Die Scheunentür ließ sich nur schwer öffnen, da der Wind dagegenstand. Drinnen war es dämmrig. Der Geruch von Moder und Stroh stieg ihr in die Nase, ein paar Mäuse huschten mit hohem Pfeifen davon. Sie wartete, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, dann fasste sie einen geflochtenen Korb und wollte eben die Leiter zum Zwischenboden hinaufsteigen, als das Holz über ihr leise knackte.

»Arlette?«

Walters dünne Beine erschienen in der Luke, er trug jetzt Osberns alte Schuhe und die abgelegten, löchrigen Beinlinge des Bruders. Langsam stieg er die Leiter hinunter. Als sie sein Gesicht sehen konnte, atmete sie auf. Er hatte das Blut abgewaschen, so dass nur noch die Schwellung unter dem Auge und ein paar Kratzer geblieben waren. Auch sein Grinsen war zurückgekehrt.

»Ich habe eine Neuigkeit«, platzte Arlette heraus.

»Ich auch«, gab er zurück. »Aber sag du zuerst.«

Natürlich war er der Meinung, dass seine Nachricht die großartigere war, deshalb wollte er sie aufheben. Dass er sich da nur nicht täuschte!

»Ich werde bald heiraten, Walter. Die Mutter verhandelt gerade mit Bertrada – du wirst noch dieses Jahr Eudos Schwager werden!«

Walter starrte sie an, als habe er nicht verstanden. Dann fuhr er langsam mit der Hand durch sein zerwühltes, dunkles Haar und zog einen Strohhalm heraus.

»Du musst nicht traurig sein«, fuhr sie eifrig fort. »Wir werden uns oft sehen. Vielleicht nimmt Eudo dich sogar in sein Geschäft auf, das würde dir sicher besser gefallen, als am Schabebaum zu stehen.«

In den Augen ihres kleinen Bruders lag ein schmerzlicher Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. Es schien, als wolle er davonlaufen, doch er tat es nicht, sondern fasste ihre Hand.

»Was redest du da, Arlette?«, flüsterte er. »Du kannst Eudo nicht heiraten. Weißt du nicht, was Gunhild geschehen ist, der Frau des Walkers Ernost?«

Der Walker hatte seine junge Ehefrau noch in der Hochzeitsnacht mit Stockschlägen aus dem Haus gejagt, denn Gunhild war keine Jungfrau mehr gewesen, als sie sich zu ihm gelegt hatte.

Arlette bewegte sich nicht, eine eisige Starre kroch ihr die Beine hinauf in den ganzen Körper. Walter war fast noch ein Kind, doch er hatte die Wahrheit gesagt: Sie konnte nicht heiraten. Sie würde niemals heiraten können, denn was der Ritter ihr genommen hatte, war für immer verloren.

Mitleidig strich ihr der Bruder über die Wange.

»Mach dir keine Sorgen, Arlette«, murmelte er mit rauer Stimme. »Wenn ich einmal eine Frau nehme, dann wirst du bei uns leben, und es wird dir gut gehen. Bis dahin bleibst du eben hier auf dem Hof, die Eltern werden schon für dich sorgen.«

Er bekam keine Antwort, und es war, als habe Arlette seine tröstenden Worte gar nicht gehört. Ungeduldig rüttelte er sie an der Schulter.

»Komm die Leiter herauf – ich zeige dir jetzt meine Überraschung. Du wirst Augen machen.«

Er musste sie ziehen, sonst hätte sie kein Glied geregt. Oben auf dem Zwischenboden pfiff der Wind durch eine schmale Fensteröffnung an der Giebelseite und wirbelte Strohhalme und Taubenmist auf. Arlette musste husten, ihre Augen tränten vor Staub.

»Ich habe gesehen, wie er ins Fenster geflogen ist, und bin rasch hinaufgestiegen …«

Sie blinzelte, dann entdeckte sie den Habicht. Völlig zerzaust hockte er auf einem Balken, an den Walter den Riemen gebunden hatte, und versuchte, hin und wieder aufzuflattern.

»Gott hat ihn uns geschickt«, flüsterte Walter aufgeregt. »Er gehört jetzt mir – der Ritter wird ihn niemals zurückbekommen. Das wird seine Strafe sein für das, was er dir angetan hat.«

Arlette starrte mit brennenden Augen auf den gefangenen Vogel. Sie spürte, wie Gelächter in ihr aufstieg, ein grelles, hartes Lachen, das eher einem Schluchzen glich und ihren Körper schüttelte wie ein Fieber.

»Hör auf damit«, flüsterte Walter erschrocken. »Wenn der Vater uns hört!«

Doch seine Schwester konnte nicht gegen die irrsinnige Heiterkeit an; sie schlug die Hände vor den Mund, wandte sich ab und lehnte sich zitternd und bebend gegen einen der Dachbalken. Hilflos stand der Junge daneben und fürchtete schon, Arlette habe plötzlich den Verstand verloren, als sie endlich zu reden anfing.

»Strafe …«, stieß sie hervor. »Strafe hat er weiß Gott verdient …«

* * *

Der Weg zur Burg führte durch ein Waldstück und stieg dann in engen Windungen den Fels hinauf. Reiter und Fußvolk kamen dem Mädchen entgegen, Knechte plagten sich mit störrischen Maultieren, die mit unförmigen Lasten beladen waren – die Kämpfer, die sich in Falaise gesammelt hatten, zogen nun weiter nach Rouen. Die Pferde setzten ihre Hufe mit Bedacht, denn über den steilen Pfad floss das Wasser in kleinen Rinnsalen bergab, und das Gestein war glitschig.

Arlette war außer Atem, ihr Herz hämmerte, doch Zorn und Verzweiflung trieben sie voran. Ihr war Unrecht geschehen, und sie würde nicht darüber schweigen. Ungeduldig versuchte sie, sich an den entgegenkommenden Reitern vorbeizuschieben, wurde mit Schimpfworten bedacht und wäre fast unter die Hufe eines Pferdes geraten.

Sie würde niemals heiraten können. Alle Hoffnungen ihrer Eltern waren zerstört, sie würde ihr Leben lang von der Gnade ihrer Brüder abhängig sein, niemals eigene Kinder haben, niemals Herrin eines Hauses sein. Was der Ritter ihr genommen hatte, war mehr als nur ihre Unschuld: Er hatte ihr alle Hoffnungen geraubt und sie zur Bettlerin gemacht. Dafür sollte er einstehen, auch wenn er ein hoher Herr war und sie nur die Tochter eines Gerbers.

»He, Mädchen!«, rief eine Männerstimme dicht neben ihr. »Was willst du für den Habicht haben? Ich kaufe ihn dir ab!«

Sie sah zu dem Reiter hoch, der sein Pferd trotz des steilen Pfades gezügelt hatte. Es war ein dünner, blasshäutiger Kerl, der in dem viel zu weiten Kettenhemd eine lächerliche Figur abgab. Das Auffälligste an ihm war sein rotes Haar, das ihm in dichten Strähnen in die Stirn hing und fast die Augen verdeckte. Er schien sich verspätet zu haben, denn während der größte Teil der Ritter bereits die Burg verließ, ritt er der Menge entgegen zum Burgtor hinauf.

»Er gehört mir nicht.«

Der Ritter zuckte bedauernd die Schultern und trieb sein Pferd an ihr vorüber. Arlette brauchte einen Augenblick, um den aufgeregt flatternden Vogel zu beruhigen. Sie hatte gewartet, bis Walter vom Vater in die Werkstatt gerufen wurde, und sich dann einen Lappen um den Arm gewickelt, um sich vor den scharfen Krallen des Tieres zu schützen. Der schöne Jäger stieg freiwillig auf ihre Hand und ließ sich sogar ohne Flügelschlagen die Leiter hinuntertragen.

Der Habicht war der Beweis. Sie würde ihn auf die Burg bringen, so wie sie es gesagt hatte. Sie, Arlette, war schuldlos, sie war keine Diebin. Also musste sie auch nicht schweigen, wie ihr Peiniger befohlen hatte. Sie würde den Mund auftun und Gerechtigkeit verlangen.

Als sie endlich das massige, aus dicken Quadern gemauerte Burgtor erreichte, erschien es ihr wie ein dunkles Loch, das unaufhörlich Reiter und beladene Maultiere ausspuckte. Zwei Wächter in langen, aus Lederplatten gefertigten Schutzhemden waren neben dem Tor postiert – Knechte mit bärtigen Gesichtern, die gelangweilt mit verschränkten Armen auf das Gewimmel sahen. Der eine hatte sogar seinen kurzen Spieß gegen die Mauer gelehnt, denn es war kaum möglich, alle durchreitenden Herren nach Namen und Anliegen zu fragen. Das Mädchen mit dem Habicht allerdings erregte die Aufmerksamkeit der beiden.

»Was willst du mit dem Vogel?«

»Er ist einem Ritter entflogen, und ich habe ihn eingefangen.«

Die beiden musterten sowohl Arlette als auch den schönen Habicht mit begehrlichen Blicken, und das Mädchen ahnte, was sich in ihren Köpfen abspielte.

»Was für ein Ritter? Wie ist sein Name?«

»Das weiß ich nicht«, log sie. »Aber ich kenne sein Gesicht ganz genau. Es ist ein wertvoller Vogel – der Herr wird froh sein, ihn zurückzubekommen.«

»Gib den Habicht her«, sagte der eine und streckte die Hand aus. »Wir werden den Besitzer schon finden.«

Sie hatte Glück, denn der Habicht verstand die ausgestreckte Hand als Angriff. Er legte das Federkleid eng an den Körper, streckte den Hals vor und versuchte, den Gegner mit dem Schnabel zu hacken. Der Mann fluchte und zog seine Hand zurück.

»Na geh schon mit deinem Satansbraten. Und sieh zu, dass du zeitig aus der Burg verschwindest, das Tor wird bald geschlossen.«

Sie war noch nie in ihrem Leben in der Burg gewesen, doch ihr Triumph, es bis hierhin geschafft zu haben, verflüchtigte sich rasch, als sie das Gewimmel von Mensch und Tier auf dem weiten Platz der Vorburg sah. Wie sollte sie den Ritter in diesem Durcheinander finden? Falls er überhaupt noch auf der Burg war.

Eingeschüchtert drückte sie sich gegen die Wand eines Holzhauses, wurde aber gleich wieder aufgeschreckt, weil einige Knappen, mit Bündeln und Mänteln beladen, laut schwatzend aus dem niedrigen Eingang stürmten.Neben ihr versuchten zwei Knechte in schlammbespritzten Kitteln, Säcke auf ein widerspenstiges Maultier zu packen; eine Magd eilte mit einem Kübel voller Unrat so dicht an ihr vorüber, dass der Habicht erschrocken zu flattern begann.

Verwirrt sah sie sich um und überlegte, an wen sie sich wenden könnte. Auf keinen Fall an die beiden hochnäsig aussehenden Knappen, die gerade ein Pferd für ihren Herrn sattelten. Auch nicht an die Ritter, die bereits aufgesessen waren und ihren Knechten lauthals Befehle zuriefen. Sonderlich kampfbereit schauten diese Herren nicht aus. Zwar hatten alle das Schwert an der Seite hängen, doch die wenigsten trugen Kettenhemd und Helm, die Lanzen und Banner waren vorerst den Knappen überlassen worden, und die mandelförmigen Schilde hatte man auf die Maultiere gebunden. Vermutlich legten die Streiter die schwere Wehr erst an, wenn sie im Feindesland waren und der Kampf unmittelbar bevorstand.

Sie entschied sich, eine Magd anzusprechen, die sich erschöpft auf einen Stein gesetzt hatte und mit der Hand den Schweiß vom Gesicht wischte.

»Ist der Herr Gilbert noch in der Burg?«

Die Magd vernahm die Frage erst, als Arlette sie wiederholte, denn eben war ein prall gefüllter Sack von einem Karren in den Matsch gerutscht, und der Besitzer brüllte fluchend seine Knechte an.

»Was für ein Gilbert?«, fragte die Magd. Sie war jung, hatte grobe Züge und kleine, dunkle Augen. Das Haar, das unter dem Tuch hervorsah, war fast schwarz. Wahrscheinlich waren ihre Eltern halb freie Bauern, die das Mädchen auf die Burg gegeben hatten.

»Es laufen Dutzende von Rittern hier herum, die diesen Namen tragen«, fügte sie missmutig hinzu. »Weißt du nicht, woher er ist, dein Herr Gilbert?«

Arlette sank der Mut. Sie wusste nur, dass sie ihn ganz sicher wiedererkennen würde.

Die Magd starrte in das Gewimmel und schnaubte durch die Nase.

»Gilbert, Robert, Guillaume und wie sie alle heißen. Ich wünschte, die Kerle wären alle beim Teufel. Gesoffen und gefressen haben sie, und keine von uns hat in der Nacht ihre Ruhe gehabt. Ich könnte umfallen vor Müdigkeit – aber solange die nicht alle wieder davongeritten sind, gibt’s kein Ausruhen für uns.«

Mitleidig sah Arlette auf das erschöpfte Gesicht des Mädchens, und plötzlich ging ihr auf, dass niemand etwas Besonderes dabei fand, wenn ein Ritter sich über eine Magd oder eine Bäuerin hermachte.

»Er ist ein vornehmer Herr und trägt einen blauen Mantel, der mit Marderfell besetzt ist«, erklärte Arlette schüchtern.

»Die großen Herren sind alle da drinnen.«

Die Magd wies mit der Hand über das Gewühl hinweg zur Hauptburg hinüber. Dort auf dem Fels erhob sich der hohe Wohnturm, der durch zusätzliche starke Mauern gesichert war. Zum Wohnturm gelangte man nur über eine hölzerne Brücke, die jederzeit eingezogen werden konnte. Leute liefen dort hin und her, schleppten Bündel und Körbe, stießen gegeneinander, und wenn ein Ritter auf dem schmalen Steg auftauchte, wichen die Knechte und Mägde trotz ihrer Lasten zur Seite, um ihm Platz zu machen. Es würde nicht einfach sein, in den Wohnturm zu gelangen, und noch schwieriger würde es werden, Herrn Gilbert dort zu finden. In der Stadt wurde erzählt, dass es im Turm viele Stockwerke, Gänge und Treppen gab, so dass er im Inneren einem Ameisenhaufen glich.

Sie sann noch darüber nach, was sie tun sollte, als plötzlich ein Schieben und Drängen auf der Vorburg entstand: Hunde kläfften, Reiter versuchten, ihre Pferde zurückzuhalten, ein Maultier stemmte sich mit den Vorderhufen in den aufgeweichten Boden und brüllte eigensinnig, als sein Besitzer es am Zaumzeug aus dem Weg ziehen wollte.

»Nimm das verdammte Vieh da weg, oder ich helfe mit dem Spieß nach!«

Arlette reckte den Hals, um die Ursache des Aufruhrs zu erfahren. Pferde wurden durch die Vorburg geführt, edle, starke Tiere mit glänzendem Fell, Sättel und Zaumzeug bunt verziert und von bester Qualität. Arlettes Unruhe stieg, ihre Finger umkrampften das lederne Band, mit dem sie den Habicht hielt. Wem gehörten diese prächtigen Rosse?

Die Frage löste sich bald, denn auf der hölzernen Brücke waren jetzt blitzende Kettenhemden zu sehen. Fünf Männer stapften über den schmalen Steg, vier davon waren mit Kettenpanzer und spitzem Helm gerüstet, der fünfte trug noch den grünen Rock, darüber den kurzen, blauen Mantel mit Pelzbesatz. Sie erkannte ihn sofort, und obgleich sie gekommen war, um ihn zu suchen, erfasste sie jetzt namenlose Furcht. Wie kam sie dazu, diesen adeligen Herrn anzureden, der an der Seite des mächtigen Heerführers ging? Was konnte sie sich davon erhoffen?

»Macht Platz für Richard Kühlauge, unseren Heerführer! Er reitet nach Rouen, wo sich die Truppen sammeln.«

Inzwischen hatten die adeligen Ritter ihre Pferde bestiegen, und man hörte die Knechte des Herzogs fluchen und schelten ob ihrer schwierigen Aufgabe, die Menschen zusammenzudrängen und für ihre Herren eine Gasse bis zum Tor zu schaffen. Kinder jammerten, Weiber kreischten, ein Hund jaulte, doch als die hohen Herren nun langsam zum Burgtor ritten, überdeckte der laute Jubel alle anderen Geräusche.

»Es lebe Richard Kühlauge!«

»Er wird Rainald von Burgund befreien!«

»Hugo von Chalon wird noch bitter bereuen, die normannischen Ritter herausgefordert zu haben!«

»Nieder mit Chalon!«

Ein vierschrötiger Knecht schob sich brutal durch die Umstehenden nach vorn, und Arlette wurde, ohne es zu wollen, von seiner Bewegung mitgezogen. Der Jubel steigerte sich. Einige Knappen waren auf die Karren geklettert, um so den besseren Ausblick zu haben, schwenkten Kappen oder bunte Wimpel und brüllten, so laut sie es vermochten.

Da war er. Richard Kühlauge, der junge Thronfolger. Er hatte den Helm abgenommen, um besser erkannt zu werden, darunter kam sein glattes, blondes Haar zum Vorschein, das er sorgfältig in die Stirn gekämmt trug. Sein langer, blauer Mantel wurde über der rechten Schulter von einer glänzenden Fibel zusammengehalten und war mit bunten Stickereien geschmückt. Die Miene des jungen Mannes zeigte allergrößte Befriedigung, denn es war das erste Mal, dass er das herzogliche Heer anführte.

Auch Arlette wurde jetzt von der allgemeinen Begeisterung mitgerissen, sie schrie laut und hielt den wild mit den Flügeln schlagenden Habicht in die Höhe. Sie kannte Richard Kühlauge, hatte ihn im letzten Jahr am Gerichtstag an der Seite seines Vaters, des Herzogs, gesehen. Der Herzog war ein gerechter Richter, das wussten alle. Jeder konnte seinen Fall vortragen, hatten die Leute gesagt.

Hatte jemand sie gestoßen? Arlette taumelte nach vorn, mitten in die Gasse, und wäre um ein Haar von den Hufen des ersten Reiters gestreift worden.

»Aus dem Weg, verdammt!«, brüllte jemand und packte sie am Arm, um sie zur Seite zu reißen. Da flatterte auch schon der herzogliche Mantel dicht vor ihren Augen, und sie griff danach. Richard Kühlauge war gezwungen, sein Pferd zu zügeln, sonst hätte sie ihm den Mantel von den Schultern gerissen.

»Schafft sie fort!«, hörte sie seine zornige Stimme.

Das Pferd tänzelte auf der Stelle, grobe Hände griffen nach ihr, doch sie ließ den Mantel nicht los.

»Nein!«, rief sie verzweifelt. »Ich habe eine Klage, und Sie müssen mich anhören, Herr!«

Der junge Heerführer presste wütend die Lippen zusammen und gab den Knechten einen Wink, das Mädchen freizugeben. Es war nicht angetan, sie einfach fortzujagen, nicht jetzt, da er sich gerade im Wohlwollen der Menschen sonnte.

»Es ist kein Gerichtstag! Heb dir deine Klage auf, bis die Zeit dazu gekommen ist.«

Doch Arlette ließ sich nicht fortschicken.

»Ich klage diesen Ritter an«, schrie sie und wies mit ausgestrecktem Arm auf den Mann im grünen Rock. »Herr Gilbert hat mir Gewalt angetan!«

Verblüffung machte sich in den vorderen Reihen breit – die weiter hinten Stehenden hatten nur wenig mitbekommen, dazu war der Lärm zu groß.

»Was hat sie gesagt?«

»Sie will Klage führen, die Irrsinnige.«

»Klage? Gegen wen?«

»Gegen den Grafen Gilbert von Brionne!«

Gelächter erhob sich. Richards Züge versteinerten. Was für eine namenlose Dreistigkeit von diesem Weib! Eine Handwerkertochter, der Kleidung nach zu urteilen, wagte es, einen Adelsmann anzuklagen!

»Wie ist dein Name?«, fragte er streng.

»Arlette. Ich bin die Tochter von Fulbert, dem Gerber …«

»Und der Habicht auf deiner Hand?«

»Er gehört dem Herrn Gilbert …«

Ein winziger Wink genügte, und einer der Knappen nahm ihr den Habicht vom Arm, löste den Riemen und trug den Vogel davon.

»Ich verlange, dass Herr Gilbert bestraft wird, Herr. Sie haben die Macht dazu, Sie sind ein gerechter Richter und Herr über unser Land …«

Sie war hartnäckig, diese braunhaarige Hexe. Was für eine Frechheit, einen seiner Begleiter öffentlich anzuklagen. Richard hätte dem Mädchen gern einen festen Fußtritt verpasst, doch er war gezwungen, sich großmütig und gerecht zu zeigen. Nicht nur wegen der Menschen, die mit offenen Mündern auf ihn und das Mädchen glotzten – auch deshalb, weil er ein schlechtes Omen für den anstehenden Kriegszug fürchtete.

»Der Fall gehört unter das Kirchengericht – geh zum Pfarrer, er wird dich anhören«, teilte er ihr mit.

»Aber Sie sind mächtiger als der Pfarrer, Herr …«

»Hast du nicht gehört?«

Mit einem festen Ruck entriss er ihr den Mantelzipfel und stieß seinem Pferd die Sporen in den Bauch. Die Reiter sprengten an ihr vorüber, Schlamm spritzte ihr ins Gesicht, ein Pferdeschweif peitschte über ihr Kleid. Dann schloss sich die Menge um sie. Knechte feixten und warfen ihr zotige Worte zu, Mägde lachten grell und schadenfroh, ein Knappe schnitt Grimassen und fasste sich höhnisch zwischen die Beine.

* * *

Grimald schob die Schüssel von sich und spülte den Mund mit einem Schluck gewässertem Cidre. Er hatte drei Löffelchen von den in Essig gekochten Linsen zu sich genommen, dazu ein paar Bissen Brot. Den gesottenen Fisch hatte er nicht angerührt, ebenso wenig den Gerstenbrei. Dennoch blähte sich sein Magen jetzt und rumorte so laut, dass er erschrak und hastig aufstand, um einige Schritte auf und ab zu gehen. Er hatte schon mehrmals darüber nachgedacht, ob dieses Getöse in seinem Bauch nicht von teuflischen Dämonen stammte, die Besitz von seinem Leib ergriffen hatten, weil er sich der Sünde der Völlerei ergab. Der Teufel lauerte in vielerlei Gestalt, um sich der Seele des Menschen zu bemächtigen. Nun – Gott sei’s gedankt – brach bald die Fastenzeit an, die er streng einzuhalten pflegte. Falls es tatsächlich Dämonen waren, die in seinem Gedärm hausten, dann würden sie durch das strenge Fasten gewiss vertrieben werden.

Er trat zur Fensteröffnung, um den Laden ein wenig weiter aufzuschieben und nach draußen zu sehen. Die Zeit der Vesper nahte, ein paar alte Frauen, die Enkelkinder im Schlepptau, standen bereits vor der Kirche St. Laurent und schwatzten. Bald würden auch die anderen kommen, die Männer zuletzt, dafür waren sie meist die Ersten, die davonliefen, kaum dass die Messe geendet hatte. Er hatte schon oft bemerkt, dass die Männer ihn wenig schätzten, ja sogar über ihn spotteten, und es verletzte ihn sehr, war er doch schüchtern und hatte Angst vor den selbstbewusssten Händlern und Handwerkern aus Falaise.

Grimald war nicht gern Priester. Er war mit sechzehn Jahren zur Ausbildung ins Kloster Fécamp gegeben worden, dort hatte der Geist der neuen Frömmigkeit, den Wilhelm von Volpiano aus Dijon in die Normandie getragen hatte, den lang aufgeschossenen, dürren Knaben mit großer Macht erfasst. Ein heiliger Mann wollte er sein oder zumindest ein gelehrter Mönch, der in den vielen heiligen und profanen Büchern des Klosters lesen und mit seinen Brüdern darüber diskutieren durfte. Doch Grimald hatte keinen so guten Kopf wie die anderen, mit Mühe bestand er die Ausbildung, erhielt die Priesterweihe, und nun wirkte er bereits seit drei Jahren an der Kirche St. Laurent in Falaise.

Es war eine harte Aufgabe, die der Herr ihm gestellt hatte, denn das Volk in der Stadt war voller Sünde und wollte sich nur schwer bekehren lassen. Vor allem die Sünde der Gier beherrschte die Menschen, sie schacherten und rafften den Reichtum, schmückten ihre Häuser und Weiber, doch die Almosen und Gaben an die Kirche flossen nur spärlich. Schlimmer jedoch war die Sünde der Wollust. Wie oft kam ihm zu Ohren, dass verheiratete Leute am heiligen Sonntag, während der Fastenzeit und – dem Herrn sei’s geklagt – sogar an den kirchlichen Feiertagen miteinander verkehrt hatten, was die Kirche streng verboten hatte. Am allerschlimmsten aber waren jene Sünden, die den Weibern anhafteten, die seit Anbeginn der Welt Gefäße des Teufels waren. Nach heidnischem Brauch trieben viele von ihnen bösen Zauber und mischten ihren Männern heimlich unreine Säfte in die Mahlzeit, um sie zur Unzucht zu verführen, ihre Kraft zu lähmen oder sie sogar zu töten.

Der Vorhang wurde zurückgeschlagen, und die gebeugte Gestalt einer Magd erschien. Sie war alt und der zahnlose Mund eingefallen, das weiße Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, war ihr tief in die Stirn gerutscht und berührte fast die Augenbrauen.

»Herr, Sie haben nicht einmal von dem Fisch gekostet«, jammerte sie. »Es kann nicht Gottes Wille sein, dass Sie sich zu Tode fasten.«

»Wer den Leib vernachlässigt, wird dafür den Geist des Herrn gewinnen«, erwiderte Grimald unverdrossen.

Er hätte lieber hundert Tage gefastet, als einen Fisch anzurühren. Es hieß, es gäbe Frauen, die ein solches Geschöpf in ihre weibliche Öffnung schöben und ihn einen ganzen Tag mit sich herumtrügen, um dann daraus eine teuflische Speise zuzubereiten.

Die Magd seufzte und begann, die Holzschüsseln ineinanderzustellen.

»Draußen ist ein Mädchen, das Sie sprechen will, Herr.«

»Was für ein Mädchen?«

»Ich glaube, es ist Arlette, die Tochter von Fulbert, dem Gerber.«

Grimald furchte die Stirn, die Nachricht gefiel ihm nicht. Er kannte Arlette, sie war Dodas Tochter, doch leider glich sie der gottesfürchtigen Mutter wenig. Das Mädchen war hochmütig, neigte zum Spott und lachte häufig. Zudem trug sie die Verlockung der Sünde in sich, denn sie war schön von Angesicht.

»Schick sie rein«, sagte er grämlich.

Er schob den Fensterladen weit auf, es war später Nachmittag, und das Licht nahm bereits ab, dann setzte er sich wieder auf seinen Schemel und ordnete sorgfältig die Falten seines langen Gewandes, damit seine dürren Beine sich nicht darunter abzeichneten.

Er sah eine glatte Frauenhand, die den Vorhang fasste, um ihn beiseitezuziehen. Ganz gegen ihre sonstige, lebhafte Art trat das Mädchen zögernd in den abgeteilten Raum, in dem der Priester saß, und verneigte sich mit gesenkten Augen, wie es der Brauch war.

»Nun?«, richtete er ungeduldig das Wort an sie. »Was führt dich hierher? Mach es kurz, ich habe wenig Zeit.«

Das Licht fiel direkt auf ihre Gestalt, ihr Anblick bereitete ihm Unbehagen. Ihr Haar war offen und vom Wind zerzaust, ihre Wangen waren gerötet. Sie atmete heftig, als sei sie eine Strecke in raschem Tempo gelaufen.

»Gelobt sei Jesus Christus, unser Herr«, sagte sie mit heiserer Stimme.

»In Ewigkeit – Amen. Also was ist?«

Sie hob den Blick zu ihm, und er erschrak vor dem trotzigen, wilden Ausdruck in ihren Augen.

»Ich bitte Sie, mir beizustehen, Herr.«

»Gott ist auf der Seite der Schwachen und derer, die in Not sind. Aber nicht auf der Seite der Hochmütigen und Stolzen. Also rede.«

Sie zögerte, spürte die Welle der Abneigung, die ihr von diesem Mann entgegenschlug, doch er war der Vertreter der Kirche hier in Falaise, und sie war entschlossen, ihr Anliegen durchzufechten.

»Ein Mann hat mir Gewalt angetan, Herr. Und ich will, dass er seine Strafe erhält.«

Sie hatte laut gesprochen, starrte ihn schamlos dabei an, stellte eine Forderung, als habe er ihr zu gehorchen. Grimald erschrak zutiefst. Was für ein Hochmut! Sie bat nicht etwa, fiel nicht auf die Knie und flehte ihn als Priester um seinen Beistand an – nein, sie wollte!

»Mäßige dich, Arlette«, sagte er, um Fassung bemüht.

»Vergeben Sie mir, Herr. Ich bin unglücklich und verzweifelt, denn man hat mir bitteres Unrecht getan.«

Er wagte es, den Blick wieder zu ihr zu heben, und erzitterte. Das schräge Licht der Abendsonne ließ die Haut an ihrem Hals wie weiße Seide schimmern, und ihre Lippen erschienen ihm wie eine frische, blutige Wunde.

»Ich habe vor Richard Kühlauge Klage geführt«, schwatzte sie weiter und schob mit einer raschen Handbewegung das lange Haar zurück. »Doch er sagte mir, er könne diesen Fall nicht richten, da er Sache der Kirche sei.«

Was log sie ihm da vor? Sie wollte vor Richard Kühlauge Klage geführt haben? Das konnte doch gar nicht sein, es war kein Gerichtstag, und der junge Heerführer hatte anderes zu tun. Zudem kümmerte sich das herzogliche Gericht nur dann um Fälle von Vergewaltigung, wenn sie unter adeligen Leuten geschehen war und es darum ging, eine lange, blutige Fehde zu verhindern. Er kam zu der Überzeugung, dass Arlette irgendeine Hinterlist im Schilde führte.

»Die Kirche straft die Sünden des Fleisches – doch sie weiß auch Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, und sie erkennt die Verleumder«, erklärte er und sah rasch zum Fenster hinüber in der Hoffnung, der Glöckner möge mit dem Läuten beginnen. Doch nichts war zu hören außer dem Schwatzen der Frauen, die noch in kleinen Grüppchen vor der Kirche standen.

»Ich schwöre bei Gott dem Herrn, dass ich die Wahrheit spreche«, rief sie so laut, dass er am liebsten aufgestanden wäre, um das Fenster zu schließen. Doch er tat es nicht, denn dann würde er so dicht an ihr vorbeigehen müssen, dass er womöglich ihr Gewand streifte.

»Wen also beschuldigst du?«, flüsterte er.

»Die Leute nennen ihn Gilbert von Brionne!«

Er musste zweimal schlucken, bevor er sprechen konnte.

»Den … Grafen?«

»Vor Gott sind alle Menschen gleich – waren das nicht Ihre Worte, Herr?«

Er hatte sich nicht getäuscht – dieses Mädchen quoll über vor Hochmut und Stolz. Einen Grafen wollte sie anklagen! Noch dazu einen Mann, der mit dem Herzog verwandt war – wenn auch über eine illegitime Linie. Gilbert von Brionne war der Sohn eines Bastards, den der Vater Richards des Guten mit einer Kebse gezeugt hatte. Was im herzoglichen Hause – dem Herrn sei’s geklagt – keine Seltenheit war.

»Er hat mich gezwungen, Herr. Ich werde niemals heiraten können, denn ich bin nun keine Jungfrau mehr …«, rief sie aufgeregt. »Ich will, dass er seine Strafe erhält!«

Grimald wurde schwindelig. Es war bekannt, dass der Graf Gilbert ein sündhafter Mann war, der mit allerlei Weibern Unzucht trieb. Aber wie kam sie dazu, ihn, den Priester, aufzufordern, einen Adeligen zu bestrafen? Sollte sie doch beim Bischof in Sées klagen und ihn damit in Ruhe lassen! Schon wollte er ihr in aller Freundlichkeit raten, ihren Fall dem Bischof vorzutragen, da kam ihm der Gedanke, dass er sich damit am Ende selbst in Gefahr brachte. Falls es dem Bischof in den Sinn käme, den Grafen zu ermahnen, würde der Herr von Brionne seinen Zorn an ihm, Grimald, auslassen. Er begann zu schwitzen, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Klemme.

Wie konnte sie es nur wagen, ihre Schande öffentlich hinauszuschreien und gar eine Bestrafung zu fordern? Wenn überhaupt, dann wäre das Sache ihres Vaters gewesen, der dafür verantwortlich war, dass seine Tochter eine ehrbare Jungfrau blieb. Er wagte einen weiteren, raschen Blick auf das Mädchen und sah seine Vermutung bestätigt: Sie glühte förmlich, und aus ihren Augen sprühten Zorn und Hoffart. Erschrocken kam ihm der Gedanke, dass aus diesem schönen Weib möglicherweise ein boshafter Dämon sprach.

»Gelobt sei unser Herr Jesus Christus, der Herr über Menschen und Geister ist«, sagte er ängstlich.

Sie starrte zu ihm hinüber und versuchte, den Ausdruck seines Gesichts zu deuten, doch es war inzwischen so dämmrig geworden, dass die hageren Züge des Priesters zu einem länglich ovalen Fleck verschwommen waren.

»Wie meinen Sie das, Herr?«, fragte sie beklommen.

»Bist du ganz sicher, Arlette, dass du nicht selbst der Sünde teilhaftig bist?«

»Ich, Herr …?«

Die Glocke, die die Gläubigen zur Vesper rief, begann jetzt zu läuten, und Grimald spürte, wie der Klang ihn ermutigte. Es war ein Zeichen – seine Vermutung war richtig. Dieses Mädchen war von einem heidnischen Dämon besessen, der Lügen in ihren Mund legte und ihn, den Priester, versuchen wollte.