Sturmtod - Volker Dützer - E-Book
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Volker Dützer

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Beschreibung

Ein tödlicher Sturm zieht auf …
Der spannende Cornwall-Krimi von Bestsellerautor Volker Dützer

Nachdem Jennifer Nowak bei einem Unfall ihren Verlobten verloren hat und seitdem durch Brandnarben entstellt ist, nimmt das Schicksal nun eine unerwartete Wendung. Sie erbt ein altes Haus auf den Klippen im abgelegenen Fischerdorf Pennack in Cornwall. Obwohl sie sich auf Anhieb wohl fühlt, versucht ein Unbekannter sie mit allen Mitteln zu vertreiben. Und bald entdeckt sie, dass das Haus und der verwilderte Garten ein schreckliches Geheimnis bergen. Während sie sich zusammen mit dem Außenseiter Travis Sayer auf die Suche nach Antworten macht, kommen sie einem gefährlichen Mörder immer näher. Doch auch Travis hat ein Geheimnis und bald weiß Jennifer nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Als ein Sturm heraufzieht, gerät sie in tödliche Gefahr …

Erste Leserstimmen
„die Spannung ist von Anfang bis Ende hoch gehalten“
„ein Kriminalroman, in dem die Schatten der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen“
„beim Lesen dieses Krimis ist man selbst am Rätseln und Ermitteln“
„dieses Buch hat mir mit seinen unerwarteten Wendungen einige fesselnde Lesestunden beschert“

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Seitenzahl: 512

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Über dieses E-Book

Nachdem Jennifer Nowak bei einem Unfall ihren Verlobten verloren hat und seitdem durch Brandnarben entstellt ist, nimmt das Schicksal nun eine unerwartete Wendung. Sie erbt ein altes Haus auf den Klippen im abgelegenen Fischerdorf Pennack in Cornwall. Obwohl sie sich auf Anhieb wohl fühlt, versucht ein Unbekannter sie mit allen Mitteln zu vertreiben. Und bald entdeckt sie, dass das Haus und der verwilderte Garten ein schreckliches Geheimnis bergen. Während sie sich zusammen mit dem Außenseiter Travis Sayer auf die Suche nach Antworten macht, kommen sie einem gefährlichen Mörder immer näher. Doch auch Travis hat ein Geheimnis und bald weiß Jennifer nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Als ein Sturm heraufzieht, gerät sie in tödliche Gefahr …

Impressum

Erstausgabe September 2021

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-756-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-119-7 Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-758-8

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Steve Heap, © Sergey Sidelnikov, © Nejron Photo, © Romolo Tavani, © Thomas Lusth, © brickrena Lektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 08.01.2024, 15:18:55.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Sturmtod

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Sturmtod
Volker Dützer
ISBN: 978-3-96817-758-8

Ein tödlicher Sturm zieht auf …Der spannende Cornwall-Krimi von Bestsellerautor Volker Dützer

Das Hörbuch wird gesprochen von Moritz Brendel.
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1

29. April 2016, Pennack, Cornwall

Sie holten ihn ab, bevor die Sonne hoch genug am Himmel stand, um den Nebel über den Klippen von Land‘s End zu vertreiben. Holz splitterte krachend, als sie die Tür des Bootsschuppens aufbrachen. Travis Sayer erwachte quälend langsam aus einem bleiernen Rausch. Fremde Stimmen drangen in seinen vom Alkohol benebelten Kopf, ein greller Lichtstrahl bohrte sich in seine Augen. Bevor er begriff, was mit ihm geschah, wälzten sie ihn auf den Bauch und drückten ihn auf die Ladefläche des Pick-ups. Jemand faselte etwas von Rechten und dass alles, was er von nun an sagte, gegen ihn verwendet werden könnte.

Aus dem Halbdunkel tauchte das gerötete Gesicht von Jenkins auf, des einzigen Polizisten von Pennack und Liebhabers von Küchenweisheiten und Sprichwörtern.

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Sayer. Du bist genauso verdorben wie dein Vater“, sagte er. „Besser, wir entfernen dich aus Pennack, bevor du den ganzen Ort vergiftest.“

Teilnahmslos sah Jenkins zu, wie seine Kollegen Travis auf die Beine stellten. Sie fesselten ihn mit Handschellen und brachten ihn nach Exeter. Über der erwachenden Stadt lag eine Glocke aus milchigem Dunst, aus der nur die Spitzen der ehrwürdigen St.-Peter-Kathedrale ragten wie zwei mahnende Zeigefinger. Travis sah sie nicht, denn er war damit beschäftigt, den Inhalt seines Magens im Fond des Streifenwagens zu verteilen.

Das Nächste, woran er sich später erinnern sollte, war der harte Plastikstuhl unter seinem Hintern und der dumpfe, pochende Schmerz in seinen Schläfen. Jemand stellte einen Becher mit schwarzem Kaffee und ein Wasserglas vor ihn hin, in dem sich sprudelnd eine Tablette auflöste.

Ein Polizeibeamter setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Er trug keine Uniform, sondern Jeans und ein weißes Hemd. Das bedeutete, dass Travis es nicht mit der County-Polizei zu tun hatte. Der Mann mit den kohlschwarzen Augen und der Nase in Form eines Messerrückens war Kriminalbeamter. Es ging nicht darum, dass Travis betrunken randaliert hatte, es ging um … Susan.

„Trinken Sie das aus“, sagte der Polizist.

Travis bekam nach zwei Versuchen das Glas zu fassen. Seine Hand zitterte so heftig, dass Wasser über den Rand schwappte. Er trank es in einem Zug aus. Der saure Geschmack in seinem Mund verschwand, und auch die Watte in seinem Kopf löste sich so weit auf, dass er ein Gefühl tiefer Scham empfand.

Er mied den Alkohol, nur selten ließ er sich in Bills Pub zu einem Guinness einladen. Doch der gestrige Abend war nicht nach dem üblichen Muster verlaufen. Er wusste noch, dass er Steve Perkins auf dem Weg zum Bootsschuppen getroffen hatte. Steve hatte ihn überredet, eine Runde durch die Kneipen am Hafen zu drehen. Alles, was dann geschehen war, war weggewischt wie Kreide von einer Schultafel. Hatte Travis einmal mit dem Trinken angefangen, konnte er nicht mehr aufhören. Das war das furchtbare Erbe der Sayers. Wenn man von einem Erzeuger abstammte, in dessen Adern mehr Gin als Blut floss, ließ man besser die Finger vom Alkohol. Dass er es trotzdem getan hatte, gab den Spöttern recht, die ihm die gleiche Schussfahrt in die Trinkerhölle prophezeiten, auf der ihm sein Vater schon ein gutes Stück voraus war.

Travis versuchte angestrengt, die vergangenen Stunden zu rekonstruieren. Er sah sich selbst auf der Ladefläche des Pick-ups liegen und durch das Oberlicht des Bootsschuppens in den Himmel blicken. In dem kleinen Rechteck funkelten Sterne wie Quecksilbertropfen auf schwarzem Samt.

Im vergangenen Sommer hatte er sich mit Susan oft in dem verbotenen Garten getroffen. Dort oben über den Klippen von Pennack hatten sie im Gras gelegen, in die gewaltige dunkle Kuppel der Nacht hinaufgeblickt und Stecknadelköpfe aus Licht gezählt. Susan hatte diese Nächte ebenso geliebt wie Travis, doch mit dem Anbruch des Herbstes waren ihre heimlichen Ausflüge immer seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Susan hatte erklärt, sie brauche Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

Der Polizist stellte ein Aufnahmegerät auf den Tisch und drückte eine Taste. Er sah auf seine Armbanduhr.

„Heute ist der 29. April 2016. Es ist jetzt 8:12 Uhr.“ Er warf Travis einen abschätzenden Blick zu. „Fühlst du dich in der Lage, dem Verhör geistig zu folgen?“

Travis wollte antworten, aber er brachte nur ein Krächzen hervor. Stattdessen nickte er und nippte an dem heißen Kaffee, um den bitteren Geschmack des Aspirins zu vertreiben. Es gelang ihm, sich so weit zu konzentrieren, dass er seine Umgebung bewusst wahrnahm. Sein Blick begegnete dem des Ermittlers. In dessen Augen lag eine triumphierende Gewissheit, die Travis an einen Angler denken ließ, an dessen Haken ein fetter Fisch zappelte.

„Warum bin ich hier?“, fragte er. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Detective Chief Inspector Paul Tremaine, Territorial police force Devon & Cornwall, Abteilung für Gewaltverbrechen. Ab jetzt stelle ich die Fragen. Dein Name?“

„Travis Sayer.“

„Adresse?“

„TR 18, Pennack. Harbour St.“

„Wie alt bist du?“

„Dreiundzwanzig.“

„Du sieht jünger aus. Ist es okay, wenn ich dich duze?“

„Kein Problem.“

Tremaine trug die Angaben in ein Formular ein.

„Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du das Recht hast, einen Anwalt hinzuziehen.“

„Ich brauche keinen, weil ich nichts Unrechtes getan habe.“

„Wie du willst.“

Ein zweiter Polizist trat ein und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand.

„Ich denke, da irrst du dich, mein Junge“, sagte er.

„Bemerkung für das Protokoll“, sagte Tremaine, „Detective Sergeant Collins wird dem Verhör beiwohnen.“

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Travis noch einmal.

„Erzähl uns mal, in welchem Verhältnis du zu Susan Prescott stehst“, sagte Collins.

„Sie ist … wir sind befreundet.“

„Nur befreundet?“, fragte Tremaine.

„Nein. Mehr als das.“

„Zwischen dir und Susan läuft also etwas.“

„Ja … nein … Susan … ist sich nicht sicher, wie es mit uns weitergehen sollte.“

War es falsch, das zu erwähnen? Wenn er nur nicht so viel getrunken hätte. Er spürte instinktiv, dass jedes Wort wichtig sein könnte und darüber entschied, was mit ihm geschehen würde.

„Und Garreth Wyne?“, fragte Tremaine.

„Wir waren mal Freunde, aber das ist lange her. Den Grund dafür kennt jeder in Pennack. Was unsere Väter angezettelt haben, müssen wir ausbaden. Aber …“

Collins schnitt ihm das Wort ab. „Ziemlich miese Nummer, dem besten Kumpel das Mädchen auszuspannen.“

„Ich hab doch gesagt, wir sind nicht mehr befreundet. Und es war nicht meine Absicht. Es ist eben passiert … außerdem ist Garreth selbst schuld daran.“

„Du hast dich also regelmäßig mit Susan Prescott getroffen“, sagte Tremaine. „Auch gestern Abend?“

Travis dachte an den verwilderten Garten, an die warmen Nächte, in denen man das Meer unterhalb der Klippen rauschen hörte, und an den geheimnisvollen alten Grabstein, der Susan so faszinierte.

„Sie kam zu den Docks, das war so gegen sechs“, antwortete er. „Susan war ziemlich durcheinander und wollte unbedingt mit mir reden, aber nicht vor all den Leuten. Pennack ist ein Nest, in dem jeder über jeden Bescheid weiß. Es gibt schnell Gerede. Also verabredeten wir uns.“

„Hat sie gesagt, was es so Dringendes gab?“

„Nein. Vermutlich ging es um Garreth.“ Immer ging es um Garreth und seine verfluchte Eifersucht.

„Und weiter?“

„Ich hab dann von sieben bis kurz vor acht auf sie gewartet, aber sie kam nicht.“

„Wo wolltet ihr euch treffen?“

Travis zögerte. Plötzlich glaubte er zu wissen, was geschehen war. Wenn Garreth herausgefunden hatte, dass Susan ihn ausgerechnet mit ihm betrog, musste das seiner Eitelkeit einen ungeheuren Schlag versetzt haben. War er ihr gefolgt und hatte sie auf dem Weg zum Maugham-Garten abgefangen? Aber was war dann geschehen? Eine schreckliche Ahnung beschlich Travis. Wenn Garreth nicht bekam, was er wollte, konnte er schnell aufbrausend und jähzornig reagieren.

„Sagen Sie mir erst, was passiert ist.“

„Genau das wollen wir von dir wissen“, sagte Collins. „Also noch mal: Wo wolltet ihr euch treffen?“

„Ich sage nichts mehr, bevor ich nicht weiß, warum Sie mich mit einer ganzen Armee aus dem Bootshaus geholt haben.“

„Spiel hier keine Spielchen mit uns“, sagte Tremaine. „Wir haben genug gegen dich in der Hand, um dich für die nächsten fünfzehn Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. Du solltest besser mit uns zusammenarbeiten. Das kann sich strafmildernd auswirken.“

„Ich habe nichts Unrechtes getan“, wiederholte Travis.

Collins grinste. „Das hat dein Alter auch immer behauptet.“

„Mein Vater ist kein Mörder! Niemand weiß, was damals an Bord der Eloise passiert ist.“

„Natürlich nicht. Dein Alter war zu betrunken, um sich daran erinnern zu können, dass er deine Mutter über Bord gestoßen hat.“

Travis sprang auf und ballte die Fäuste. „Nur weil die Leute eine Lüge dauernd wiederholen, wird sie nicht wahr.“

„Schluss jetzt“, rief Tremaine. „Collins, halten Sie sich zurück. Setz dich wieder hin, Travis.“

Kraftlos sank er auf den Stuhl, alles drehte sich um ihn. Allmählich wurde ihm klar, dass er in größeren Schwierigkeiten steckte, als er befürchtet hatte. Sie hatten ihn nicht zum Spaß hochgenommen wie einen Schwerverbrecher. Kalte Furcht kroch in sein Herz. Würde Garreth so weit gehen, ihm die Schuld für eine Tat in die Schuhe zu schieben, die er selbst begangen hatte? Wenn es so war, standen Travis‘ Chancen schlecht. Schließlich war er der Sohn eines stadtbekannten Säufers, von dem die Leute behaupteten, er habe seine Frau ermordet. Ein Rumtreiber, der sich auf dem vergammelten Kutter seines Vaters die Finger blutig schuftete, damit der Alte sich Gin kaufen konnte. Dessen schlechter Ruf färbte unwillkürlich auf Travis ab. Die Leute machten da keinen Unterschied. Er war der Sohn eines Versagers, und nun stand sein Wort gegen das von Garreth Wyne, der in Exeter studierte und bald die Leitung des Hotels seines Vaters übernehmen würde – einem angesehenen Bürger Pennacks, der im Stadtrat saß, Macht und Einfluss hatte und die Taschen voller Geld. Die Wynes konnten sich Anwälte leisten, die jede Spur eines Verdachts vom Tisch wischen würden. Und was hatte er vorzuweisen? Den Ruf eines faulen Apfels, der das ganze Fass anzustecken drohte, hätte Jenkins gesagt.

Travis spürte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Er hatte Angst, Angst um Susan. Was um Gottes willen hatte Garreth getan?

„Wir wollten uns hinter dem Maugham-Haus treffen, im alten Garten oberhalb der Klippen“, sagte er. „Dort waren wir oft zusammen.“

„Aber Susan kam nicht?“

„Nein.“

Collins schüttelte den Kopf und lachte.

„Was hast du dann gemacht?“, fragte Tremaine.

„Ich hab bis Viertel vor acht gewartet, dann bin ich runter zum Bootshaus. Ich hab den Pick-up geholt und bin herumgefahren, um Susan zu suchen.“

„Du hast nicht versucht, sie anzurufen?“

„Doch, natürlich. Aber sie hat sich nicht gemeldet.“

„Wir checken gerade sein Handy“, sagte Collins.

Tremaine nickte. „Und dann?“

„Unterwegs hab ich Steve Perkins getroffen. Er hat mich überredet, mit ihm ein, zwei Bier zu trinken.“

„Und du bist einfach mitgegangen? Du sorgst dich um deine Freundin und fährst durch die Nacht, um sie zu suchen, aber dann beschließt du plötzlich, durch die Pubs zu ziehen?“

Travis brauchte nicht lange darüber nachzudenken, warum er Steves Einladung gefolgt war. Er hatte Vergessen gesucht, weil die Wirklichkeit zu schmerzhaft war, um sie ertragen zu können. Er hatte es wegen Susan getan. Wegen Garreth und seinem verfluchten Jähzorn. Wegen des Alten, der ihn mit dem Bootshaken jagte, weil er ihn im Delirium für den Leibhaftigen hielt, der gekommen war, um ihn in die Hölle mitzunehmen. Er hatte getrunken, weil er wenigstens eine Zeit lang vergessen wollte, dass er dieses öde Kaff und seine einfältigen und starrsinnigen Bewohner niemals hinter sich lassen konnte, bevor er seine Schulden abbezahlt hatte. Seine einzige Chance war Susan gewesen. Als sie nicht kam, war ihm klar geworden, was das bedeutete. Er war raus aus dem Spiel und Garreth drin. Erst nachdem er den Garten verlassen hatte und mit düsteren Gedanken beladen nach Pennack hinunterging, war in ihm der Verdacht gekeimt, Garreth könnte das Treffen gewaltsam verhindert haben.

„Ich war vorher in der Wache und habe Susan als vermisst gemeldet“, sagte er. „Aber Jenkins hat mich nicht ernst genommen. Er weigerte sich, etwas zu unternehmen.“

„Verständlich“, sagte Collins. „Warum sollte er eine Suchaktion einleiten, nur weil Susan nicht zu eurer Verabredung erschienen ist?“

„Weil ich ihm sagte, ich hätte Grund anzunehmen, dass Garreth ihr etwas angetan hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass er gewalttätig wird. Ich habe Susan nie zuvor so ängstlich erlebt. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst wäre sie nicht derartig in Panik geraten.“

„Du glaubtest also, Garreth sei dahintergekommen, dass du ein Verhältnis mit ihr hast?“, fragte Collins.

„Ja, es gab keine andere Erklärung.“

„Wann bist du auf der Wache gewesen?“, fragte Tremaine.

„Hab ich doch gesagt. So gegen acht.“

Collins verließ den Raum. Travis sah durch die gläserne Trennscheibe, dass er telefonierte. Wahrscheinlich würden sie jetzt den Maugham-Garten absuchen und mit Jenkins reden, um die Angaben zu überprüfen.

„Weiter“, sagte Tremaine.

„Ich hab den Wagen im Bootshaus abgestellt. Kurz darauf lief mir Steve über den Weg. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und brauchte jemanden zum Reden. Steve lud mich zu einem Bier ein, aber dann …“, er senkte beschämt den Kopf, „… hab ich die Kontrolle verloren. Wie ich in den Schuppen zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr.“

Er beugte sich vor und barg das Gesicht in den Händen. Der verfluchte Alkohol! Warum nur hatte er Steves Drängen nachgegeben? Er wusste doch, wie es endete, wenn er in einen Pub ging.

„Sagen Sie mir jetzt endlich, was passiert ist.“

Tremaine lehnte sich zurück. „Ich werde dir mal erklären, wie ich die Sache sehe. Du fängst ein Techtelmechtel mit der Freundin deines ehemals besten Kumpels an, aber sie bekommt Gewissensbisse. Sie muss sich zwischen euch entscheiden, und das tat sie gestern Abend. Sie bestellt dich in den Maugham-Garten und macht dir klar, dass es aus ist. Ihr streitet euch, und du verlierst die Beherrschung. Du willst nicht wahrhaben, dass sie sich für Garreth entschieden hat. Ausgerechnet für ihn, der es zu etwas gebracht hat, während du ihr nichts zu bieten hast außer einem schrottreifen Fischkutter und einen Haufen Schulden.“

„Das ist nicht wahr.“

Travis ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in die Handflächen, bis der Schmerz unerträglich wurde. Tremaine stieß ihm ein Messer ins Herz und drehte es in der Wunde herum.

„Nein, nein, nein“, sagte er, „so war das nicht.“

„Dann sag mir, was passiert ist.“

„Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Okay, Travis. Vielleicht war es keine Absicht, sondern ein Unfall. Du hast Susan gestoßen, und sie ist unglücklich gestürzt. Plötzlich liegt sie da und rührt sich nicht mehr. Überall ist Blut. Du gerätst in Panik und handelst kopflos.“

„Nein. Das stimmt nicht. Mir ist übel.“

„Kotz uns bloß nicht das Büro voll!“, sagte Tremaine.

Er klopfte an die Scheibe. Zwei uniformierte Beamte kamen und begleiteten Travis zu den Toiletten. Er stolperte in eine der Kabinen und erbrach sich in die Toilettenschüssel, bis sich sein leerer Magen krampfhaft zusammenzog. Erst jetzt wurde ihm die Bedeutung dessen, was Tremaine sich zusammenreimte, klar. Er war davon überzeugt, dass Susan einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, und hielt ihn für den Täter. Aber … irgendetwas stimmte nicht an dem, was er sagte. Etwas Wichtiges fehlte.

„Komm jetzt! Weiter geht‘s.“

Die Beamten zogen ihn hoch. Travis steckte den Kopf ins Waschbecken und spülte sich den Mund aus. Dann brachten sie ihn zurück in den Verhörraum und drückten ihn auf den Stuhl.

„Okay“, sagte Tremaine, „hast du ein bisschen nachgedacht?“

„In der Kloschüssel? Ich kam gerade nicht dazu.“

„Dann muss ich das für dich machen. Du warst in Panik. Die Leiche musste verschwinden, denn du wusstest genau, dass wir dir den Mord sonst leicht nachweisen würden. Also hast du sie mit deinem Wagen zum Bootsschuppen gebracht. Aber da konnte sie nicht bleiben. Du schaffst sie fort und triffst kurz darauf deinen Kumpel Steve. Obwohl du normalerweise keinen Tropfen anrührst, ziehst du sofort mit ihm los und betrinkst dich bis zur Besinnungslosigkeit. Warum hast du das getan? Ich werd‘s dir sagen: um dein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Die verdammte Stimme in deinem Kopf, die nicht aufhören wollte, dich anzuklagen. Wie konntest du so etwas Böses tun, Travis? Was hast du dir dabei gedacht? Warum ausgerechnet Susan, die du doch geliebt hast? Du hast sie totgeschlagen und verbuddelt wie einen Hundekadaver.“

„Hören Sie auf.“

„Nein, Travis. Ich fange gerade erst an. Also?“

„Also was?“

„Wo hast du die Leiche versteckt?“

„Leiche?“

Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht einer stumpfen Axt. Susan war tot. Alles, was Tremaine vermutete, entsprach der Wahrheit – mit einem Unterschied. Nicht er, Travis, hatte Susan umgebracht, sondern Garreth. Er kämpfte gegen die schwarze Woge der Trauer an, die über ihm zusammenschlug. Die quälende Vorstellung, dass es Susan nicht mehr geben sollte, brachte ihn fast um den Verstand.

„Sie könnte noch leben, wenn Jenkins etwas unternommen hätte!“, schrie Travis unter Tränen.

Collins kehrte zurück, er hatte die letzten Worte offenbar gehört.

„Demnach ist Susan Prescott tot?”, fragte er.

„Das habe ich nicht behauptet. Sie haben von einer Leiche geredet.“

Travis biss sich auf die Unterlippe. Er war nicht ausgekocht genug, um es mit zwei erfahrenen Mordermittlern aufnehmen zu können, die ihm jedes Wort im Mund herumdrehten. Schon gar nicht in seinem Zustand. Es war ohnehin sinnlos. Sie hatten einen Schuldigen gefunden, einen Kerl aus den Docks, der sich an die Tochter eines der reichsten Bürger Pennacks herangemacht hatte, um Zutritt zu einer Welt zu erlangen, die ihm auf anderem Weg verschlossen war.

Collins legte zwei durchsichtige Plastikbeutel auf den Tisch. Travis wurde schlagartig nüchtern. In dem ersten Beutel steckte ein Bootshaken. Es war keiner der modernen aus Aluminium oder Kunststoff, sondern ein schwerer, eiserner Haken mit einer konischen Tülle, in die man eine Holzstange stecken konnte. Es war einer von denen, wie sein Vater sie benutzte. Im Bootshaus und auf der Eloise gab es mehrere davon. An diesem klebten Blut und Haare.

Der zweite Beutel enthielt ein zerfetztes, orangefarbenes T-Shirt mit dem Aufdruck Sunny seaside.

„Kommt dir bekannt vor, oder?“, fragte Tremaine.

Travis nickte. Leugnen machte keinen Sinn. Es war das T-Shirt, das Susan gestern Abend getragen hatte.

„Okay. Wo ist sie?“

„Ich weiß es nicht.“

Tremaine seufzte. „Begreifst du nicht, dass wir dir gerade eine Brücke bauen? Wenn du gestehst, kommst du mit Totschlag im Affekt davon und bist nach ein paar Jahren wieder draußen. Für einen Mord wanderst du für den Rest deines Lebens ins Gefängnis. Denk darüber nach.“

„Ich schwöre bei Gott, ich habe ihr nichts getan.“ Travis wollte nicht weinen, aber er tat es doch. Nicht um seinetwillen, sondern um Susan.

„Es war Garreth“, sagte er, „er hat sie umgebracht.“

„Wir haben heute Morgen mit ihm gesprochen. Er hat für die Tatzeit ein Alibi“, sagte Collins. „Er ging mit seinem Vater zusammen Abrechnungen durch. Eine Angestellte des Hotels hat das bestätigt.“

Travis schüttelte den Kopf und lachte. „Na klar, was sonst? Haben Sie sie auch gefragt, wie viel der Alte ihr für die Aussage bezahlt hat?“

Tremaine faltete die Hände auf dem Tisch. „Wir wollen dir helfen, Travis. Aber dazu musst du uns die Wahrheit sagen. Wo ist Susan Prescott?“

„I C H  W E I ß  E S  N I C H T !”

Collins begann, auf und ab zu laufen. „Fassen wir mal zusammen. Du hattest ein Motiv, die Gelegenheit und das passende Mordwerkzeug zur Hand.“

„Wozu hätte ich denn einen Bootshaken in den Maugham-Garten mitnehmen sollen?“

„Vielleicht lag er ja auf der Ladefläche des Pick-ups. Dein Vater und du, ihr benutzt den Wagen doch zum Fischtransport, oder?“

„Warum hast du ihr das Shirt ausgezogen?“, fragte Tremaine. „Wolltest du ein Andenken?“

„Sie sind ja krank!“

„Okay, wir machen eine Pause.“

Sie steckten ihn in eine Zelle, in der nur ein Eimer und eine schmale Pritsche standen. Nach einer Stunde holten sie ihn wieder ab und begannen von vorn. Sie stellten ihm die gleichen Fragen, und er gab die gleichen Antworten. Das Spiel wiederholte sich bis zum Abend des folgenden Tages.

Travis brach zusammen, aber er sagte ihnen nicht, wo Susan war. Er wusste es nicht. Sie analysierten die Blutspuren am Bootshaken und auf dem T-Shirt und verglichen die DNA mit Haaren, die sie einer Bürste entnahmen, die Susan Prescott gehört hatte. Das Ergebnis war eindeutig. Auf der Tatwaffe identifizierten sie Travis‘ Fingerabdrücke. Das war nicht weiter verwunderlich, denn auf der Eloise hantierte er ständig damit. Doch das interessierte niemanden.

Achtundvierzig Stunden später wurde er dem Haftrichter vorgeführt. Er konnte sich keinen Anwalt leisten, also stellte man ihm einen Pflichtverteidiger. Victor Penrose war kaum älter als Travis, es war zudem sein erster Mordfall. Er kannte die Verfahrensabläufe, gab sich aber keine Mühe, ihn ernsthaft zu verteidigen. Die Beweislast war erdrückend.

Die Hauptverhandlung endete mit einem klaren Schuldspruch. Der Richter verurteilte Travis wegen Totschlags zu fünfzehn Jahren Haft. Sie brachten ihn nach Exeter zurück. Wieder lag die Stadt im Nebel. Die Tore der Haftanstalt schlossen sich hinter Travis. Susan Prescotts Leiche wurde nie gefunden.

2

Fünf Jahre später, Deutschland

Jennifer Nowak schlug die Augen auf und begriff augenblicklich, dass sie in tödlicher Gefahr schwebte. Die Berghütte, in der sie das Wochenende verbringen wollte, brannte wie eine Pechfackel.

„Miro!“

Ein qualvolles Husten erstickte ihren Schrei. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber kraftlos auf das Bett zurück. Etwas hielt sie fest und bemühte sich, ihren Überlebenswillen zu brechen. Die Stimme flüsterte ihr ein, dass es sinnlos wäre, sich zu wehren, und so viel leichter, sich der Dunkelheit hinzugeben. Dort war es kühl und friedlich, und es gab keine Schmerzen mehr.

Verzweifelt kämpfte sie gegen die drohende Ohnmacht an. Wenn sie das Bewusstsein verlor, würde sie nie wieder aufwachen. In der schrecklichen Erkenntnis, dass ihr nur Sekunden blieben, um sich zu retten, versuchte sie zu verstehen, was geschehen war. Beißender Qualm sammelte sich unter dem Hüttendach und nahm ihr die Sicht. In der fremden Umgebung verloren Dimensionen ihre Bedeutung, oben und unten, nah und fern tauschten ihre Plätze. Jennifer tastete orientierungslos auf der Bettdecke umher, bis ihr klar wurde, dass der Platz neben ihr leer war. Miro war nicht da, wo er sein sollte.

„Miro! Wo bist du?“

Jeder Atemzug wurde zur Qual, Panik überflutete sie wie eine heiße, schwarze Woge. Jennifer kroch aus dem Bett, legte sich bäuchlings auf den Fußboden und atmete so flach wie möglich. Die Dielen unter ihr waren so heiß, dass jede Berührung schmerzte. Sie zog die karierte Daunendecke vom Bett und schlang sie über Kopf und Oberkörper. Immerhin bot sie ihr einen gewissen Schutz vor den giftigen Rauchgasen, die sich unter dem Hüttendach sammelten. Vielleicht gerade lange genug, um die Panik niederzuringen und einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste einen Weg aus diesem Inferno finden, bevor sie wieder die Besinnung verlor, doch die Kraft, die ihr noch blieb, wehte der Feuersturm davon wie Ascheflocken. In der sauerstoffarmen, rauchgeschwängerten Luft wurde ihr schwindelig, alles drehte sich um sie.

„Miro!“

Es sollte ein kraftvoller Ruf nach Hilfe werden, doch ihrer Kehle entrang sich nur ein staubtrockenes Krächzen. Miro antwortete nicht. Selbst wenn er sich in unmittelbarer Nähe aufhielt, würde er sie dennoch nicht hören können. Das Prasseln und Knistern brennender Balken übertönte jedes andere Geräusch.

Die Hütte bestand aus einem einzigen, großen Raum im Erdgeschoss. Eine steile Stiege führte zu einem Schlafzimmer hinauf, dessen vorderer Teil in einer offenen Empore mündete. Hier hatten sie sich noch vor Kurzem mit einer Hingabe und Leidenschaft geliebt, die Jennifer überrascht hatte. Niemals zuvor hatte sie sich einem Mann so bedingungslos und offen hingegeben wie Miro.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war und was in der Zwischenzeit geschehen war. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie eingeschlafen war. In der wohligen Entspanntheit ihres Liebesnests hatte sie in seinen Armen gelegen, geredet und gelacht, Zärtlichkeiten ausgetauscht und dann … sie wusste es nicht mehr. Und sie würde auch keine Gelegenheit mehr bekommen, sich zu erinnern, wenn sie nicht sehr schnell einen Fluchtweg fand.

Sie kroch auf die Empore zu, tastete sich am Geländer entlang und stieß auf die oberste Treppenstufe. Ein Blick hinab reichte aus, um ihr jede Hoffnung zu nehmen. Sie hätte ebenso gut in einen brodelnden Vulkan springen können. Die Flammen leckten an den Holzwänden empor und würden in wenigen Minuten die Empore erfassen. Die Höllenglut, die ihr entgegenschlug, versengte ihre Haare und brannte wie ätzende Lauge in ihren Lungen.

Jennifer schlang die Decke fester um die Schultern und kroch ins Schlafzimmer zurück. In der hinteren Giebelwand befand sich ein Fenster, gerade groß genug, um sich hindurchwinden zu können. Wahrscheinlich würde sie den Brand zusätzlich anheizen, wenn frischer Sauerstoff hineinströmte, aber ihr blieb keine Wahl. Sie öffnete das Fenster, streckte den Kopf ins Freie und sog gierig die kalte Luft in die Lungen. Jeder Atemzug schmerzte wie ein Messerstich, aber allmählich klarte sich ihr Verstand.

Der Boden lag etwa fünf Meter unter ihr, ein schmaler Streifen Wiese mündete in einen steil abfallenden, mit Fichten bewachsenen Hang. Die Bäume standen zu weit entfernt, um sie erreichen zu können. Aus der Wiese ragten Felsbrocken, die in der Dunkelheit kaum auszumachen waren. Wenn sie sprang, würde sie sich vermutlich mehr als nur die Beine brechen. Doch selbst diese Aussicht erschien ihr verlockender, als bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Die Berghütte war in Blockbauweise erstellt worden und ruhte auf einem Sockel aus Bruchsteinen. In regelmäßigen Abständen ragten die Enden kräftiger Stämme aus der Außenwand, auf denen sie Halt finden würde. Zwar bedeutete der Abstieg eine lebensgefährliche Kletterei, aber hinter ihr lauerte der Tod.

Ein dumpfer Knall aus dem Innern der Hütte schreckte sie auf und bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. In einer Kammer hinter dem offenen Küchenbereich lagerten Propangasflaschen, mit denen der Kochherd betrieben wurde. Wenn die Hitze eine kritische Schwelle überschritt, würde die Hütte in die Luft fliegen wie eine Streichholzschachtel, die man mit Benzin übergossen und angezündet hatte.

Jennifer streifte die Decke ab und schwang ein Bein über die Fensterbrüstung. Es gelang ihr, den Oberkörper durch die Öffnung zu zwängen, sich am Rahmen abzustützen und das andere Bein nachzuziehen. Sie tastete mit den nackten Füßen nach Halt und schöpfte Hoffnung. Ihr Schutzengel hatte sie bestimmt nicht aufgeweckt, nur um sie jetzt im Stich zu lassen. Aber wo war Miro? War er mitten in der Nacht aufgestanden, um zur Toilette zu gehen? Warum hatte er das Feuer nicht bemerkt? Oder hatte er die Besinnung verloren und war längst zu Asche verbrannt? Jennifers Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen bei der Vorstellung, ihn zu verlieren. Sie kannte ihn erst seit drei Monaten, aber sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens. Endlich war sie sicher gewesen, dass das Schicksal sie nach den Pleiten und Enttäuschungen der vergangenen Jahre in die richtige Bahn lenkte. Sie klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, dass er die Hütte rechtzeitig hatte verlassen können.

Jennifer umklammerte das Fensterbrett und ließ sich langsam in die Tiefe herab. Erschrocken stellte sie fest, wie schwach sie war. Sie rutschte mit den Zehen von einem nassen Balkenvorsprung ab und hing ein, zwei Sekunden nur an einer Hand, bevor sie wieder Halt fand. Sie grub ihre Finger in das nasse Holz und kletterte nach unten, bis sich ihr Kopf auf Höhe des vergitterten Fensters der Vorratskammer befand. In diesem Augenblick explodierten die Gasflaschen. Ein kochend heißer Sturm aus Feuer und Glassplittern traf sie im Gesicht und fegte sie davon wie eine Stoffpuppe. Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen stürzte sie der Dunkelheit entgegen. Gegen diese Gewalt war auch ihr Schutzengel machtlos.

3

Fremde Stimmen und Wortfetzen hallten geisterhaft verzerrt durch Jennifers Kopf, ohne einen Sinn zu ergeben. Jemand fragte sie nach ihrem Namen. Sie versuchte sich zu erinnern, aber dann flog der Gedanke davon, ohne dass sie ihn festhalten konnte. Es kam ihr vor, als wäre sie Zuschauer eines Films, in dem die meisten Einzelbilder fehlten. Übrig blieben grelle Fetzen, die sich schemenhaft wie die Sequenzen eines Albtraums aneinanderreihten. Vergangenheit und Gegenwart vermischten sich bis zur Unkenntlichkeit, dazwischen lauerten Bereiche tiefer Bewusstlosigkeit.

Miro, die Hütte, das Feuer.

Plötzlich wurde sie emporgehoben und schien zu schweben. Ohne Vorwarnung explodierte ein furchtbarer Schmerz in ihrem Kopf wie eine grellrote Blume. Jennifer schrie und schlug um sich. Ihr Herzschlag hämmerte und stolperte wie ein aus dem Takt geratenes Pendel gegen ihre Rippen.

„Sie kollabiert!“, rief jemand.

Er redete auf sie ein, beruhigend diesmal und tröstend. Dann tat er etwas, was ein kurzes Stechen in ihrer Armbeuge hervorrief. Angesichts der Schmerzwelle, die durch ihren Körper raste, nur wie ein Mückenstich. Er versprach, dass sie gleich einschlafen und dass alles gut werden würde. Sie wusste, dass er log, aber nicht, warum. Dann senkte sich erneut das Vergessen über sie.

Als sie wieder erwachte, war aller Schmerz verschwunden. Es war kühl und still. Aus einer Maske auf Mund und Nase strömte frische Luft mit einem metallischen Beigeschmack in ihre Lungen.

„Sie ist aufgewacht.“

Stoff raschelte, ein Vorhang wurde zurückgezogen. Jemand nahm ihr die Maske ab. Ein fremdes, bärtiges Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf.

„Wie fühlen Sie sich?“

Jennifer versuchte zu antworten, aber ihre Kehle schmerzte, als hätte sie flüssiges Blei getrunken. Heraus kam nur ein heiseres Flüstern, das einen heftigen Hustenreiz auslöste. Jemand schob eine Hand unter ihren Hinterkopf und gab ihr zu trinken. Sie schluckte gierig.

„Langsam.“

Sie ließ sich zurücksinken. Nun fühlte sie sich besser, der Schleier vor ihren Augen löste sich auf.

„Wo bin ich?“ Sie erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte - brüchig und trocken wie uraltes Pergament.

„Im Universitätsklinikum in Freiburg. Ich bin Dr. Schenk. Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist?“

„Wir wollten das Wochenende zusammen verbringen. Miro hatte eine Blockhütte oberhalb des Schluchsees gemietet. Es sollte eine Überraschung sein. Ich bin …“, sie versuchte angestrengt, sich zu entsinnen, stieß aber auf einen blinden Fleck in ihrem Kopf, der sich leer und fremd anfühlte. „Ich weiß nicht mehr … ich muss eingeschlafen sein. Etwas hat mich geweckt, sonst wäre ich wohl tot. Als ich aufwachte, war die Hütte voller Rauch, es brannte.“

Der Arzt leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihre Augen und schien zufrieden zu sein.

„Wie steht es um mich?“, fragte Jennifer.

Es war eine einfache, naheliegende Frage, aber sie fürchtete sich vor der Antwort. Ihre Arme und Hände steckten in dicken Verbänden. Da war etwas in ihrem Gesicht, das nicht dorthin gehörte, ein heißes Päckchen bedeckte ihre linke Wange. Sie tastete danach, was dem Doktor nicht zu gefallen schien.

„Sie haben bei dem Sturz Prellungen und Hautabschürfungen davongetragen, aber keine Frakturen. Dazu Verbrennungen ersten Grades an Armen und Beinen und eine schwere Rauchvergiftung. Alles in allem haben Sie großes Glück gehabt.“

„Was ist da in meinem Gesicht?“

Er runzelte die Stirn und sah sie schweigend an. Überlegte er, ob sie bereit war, die Wahrheit zu verkraften?

„Bitte, ich muss wissen, was mit meinem Gesicht passiert ist.“

„Sie haben sich bei der durch den Brand ausgelösten Explosion Schnittverletzungen zugezogen“, sagte der Arzt.

„Wie schlimm?“

„Wir müssen abwarten. Es zu früh, um eine Prognose zu wagen. Ruhen Sie sich aus, Sie werden Ihre Kraft brauchen.“

„Wie geht es Miro? Kann ich ihn sehen?“

„Haben Sie Geduld.“

„Bitte! Ich will zu Miro.“

Jennifer versuchte, sich aufzurichten. Entsetzt stellte sie fest, dass diese kleine Bewegung sie alle Kraft kostete, die noch in ihr steckte. Ohne auf ihre Forderung einzugehen, drückte der Arzt sie sanft auf das Kissen zurück.

„Ich schaue später noch einmal nach Ihnen“, sagte er. „Versuchen Sie zu schlafen.“

Jennifer blieb allein zurück. Eine nagende Unruhe erfasste sie. Sie verschwiegen ihr etwas. Hatte es mit ihr zu tun … oder mit Miro? Durften sie ihr nichts über seinen Zustand sagen, weil sie nicht verheiratet oder verwandt waren? Wieder tastete sie nach dem Verband in ihrem Gesicht. Die flüchtige Berührung löste eine Schmerzwelle aus, die ihren Kiefer, die Augenpartie und schließlich den ganzen Kopf erfasste. Sie suchte den Notrufknopf und drückte ihn. Sofort kam die Krankenschwester.

„Würden Sie mir etwas gegen die Schmerzen geben?“, fragte Jennifer.

„Sie bekommen bereits starke Schmerzmittel. Ich muss den Arzt fragen, ob wir die Dosis erhöhen können. Ihr Kreislauf ist noch sehr labil.“

„Wie lange … wie lange war ich eigentlich bewusstlos?“

Sie versuchte, die Frage möglichst beiläufig zu stellen, hatte aber zugleich Angst vor der Wahrheit.

Die Krankenschwester zögerte. „Zwei Tage“, sagte sie dann.

Die Antwort war ein Schock. Zwei Tage!

„Wir mussten sie vorübergehend in ein künstliches Koma versetzen“, sagte die Schwester, „ihre Lungen drohten zu kollabieren. Sie werden eine Weile brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen.“

„Können Sie mir sagen, wie es meinem Freund geht? Ist er hier in der Klinik? Sein Name ist Miro Arendt. Bitte, ich muss wissen, ob er lebt.“

„Besprechen Sie das mit Dr. Schenk. Ich darf Ihnen leider keine Auskunft geben. Da wäre noch etwas. Wir haben versucht, Ihre Angehörigen ausfindig zu machen. Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollen?“

Jennifer wurde schmerzlich bewusst, dass es außer Miro niemanden gab, der sie vermissen würde. Lou vielleicht, ihre einzige Freundin. Eine Familie hatte sie nicht, ihre Mutter war vor zwei Jahren an Krebs gestorben, und ihren Vater hatte sie nie kennengelernt.

„Nein, nur Miro“, antwortete sie.

„Dann brauche ich noch Ihre Krankenkassendaten. Außerdem sollten wir Ihren Arbeitgeber informieren, sofern es einen gibt.“

Jennifer nannte ihr die Namen und Adressen. Sie hielt sich mit gleich drei Aushilfsjobs über Wasser, um ihr Studium zu finanzieren. Die konnte sie jetzt wahrscheinlich abschreiben, und das Studium noch dazu.

„Können Sie mir einen Spiegel bringen?“, fragte sie.

„Später. Sie brauchen jetzt vor allem Ruhe.“

„Bitte, ich muss wissen, was mit meinem Gesicht passiert ist.“

Die Schwester hantierte an dem durchsichtigen Schlauch, der in Jennifers Handrücken steckte. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen, ihre Bitten blieben ungehört. Die Dunkelheit kehrte zurück.

Als sie wieder erwachte, war die Infusionsnadel verschwunden, ebenso die Verbände an ihren Unterarmen. Bis auf ein dumpfes Pochen in ihrer Wange hatte sie keine Schmerzen. Offenbar hatte man sie in der Zwischenzeit von der Intensivstation auf ein Krankenzimmer verlegt. Es gab zwei weitere Betten, die mit durchsichtigen Plastikplanen abgedeckt waren. Es war heller Tag, Regen trommelte leise gegen die Fensterscheibe. Die Tür wurde geöffnet, eine Krankenschwester schob einen Tablettwagen herein, maß Jennifers Temperatur und kontrollierte den Verband in ihrem Gesicht.

„Ich habe Hunger“, sagte Jennifer.

„So gefallen Sie mir schon besser. Ich bringe Ihnen gleich das Frühstück.“

Als der Duft von Kaffee in ihre Nase stieg, aß sie mit mehr Appetit, als sie sich hatte vorstellen können. Doch jede Bewegung ihrer Kaumuskeln schmerzte. Es dauerte lange, bis sie das Frühstück in kleinen Bissen verzehrt hatte. Satt, aber erschöpft sank sie danach auf das Kissen zurück. Die Schwester räumte das Tablett ab.

„Fühlen Sie sich in der Lage, Besuch zu empfangen?“, fragte sie.

Augenblicklich war sie hellwach. Miro! Endlich würde sie ihn sehen.

„Ein Polizeibeamter möchte Sie zu dem Unglück befragen“, fuhr die Schwester fort, „wenn Sie wollen, kann ich ihn fortschicken und auf morgen vertrösten.“

„Nein, bitten Sie ihn herein“, antwortete sie enttäuscht. Vielleicht erfuhr sie auf diese Weise wenigstens, wie es zu dem Brand gekommen war.

Die Krankenschwester verließ das Zimmer. Kurz darauf trat ein etwa fünfzigjähriger Mann ein. Er trug Zivilkleidung und stellte sich als Kriminalhauptkommissar Uwe Kamps vor. Beiläufig erkundigte er sich nach Jennifers Befinden.

„Es geht mir den Umständen entsprechend gut“, sagte sie ungeduldig.

„Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?“

„Ich habe mindestens genauso so viele Fragen an Sie“, entgegnete sie, „niemand hier gibt mir Auskunft über Miro Arendt.“

Kamps warf seinen grauen Regenmantel über einen Stuhl und lehnte sich gegen das Fensterbrett.

„In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?“, fragte er.

„Wir kennen uns seit drei Monaten. Er wollte mich mit dem Wochenende in der Hütte überraschen. Es sollte ein besonderer Abend werden – nur für uns beide.“

Kamps begann sich Notizen zu machen.

„Und war es das?“

„Ja. Es war wunderbar. Ein gutes Essen, eine Flasche Wein, ein Kaminfeuer. Miro hatte alles perfekt vorbereitet, das ist so seine Art. Nach dem Essen saßen wir zusammen und …“ Sie runzelte besorgt die Stirn. Jedes Mal, wenn sie sich in ihrer Erinnerung einem bestimmten Zeitpunkt näherte, stieß sie auf eine Grenze, die sich nicht überwinden ließ.

„Sie hatten keinen Streit?“, fragte Kamps.

„Nein. Warum fragen Sie?“

„Reine Routine.“

„Wir gingen nach oben – unter dem Dach der Hütte gab es ein Schlafzimmer. Irgendwann … muss ich eingeschlafen sein. In der Nacht bin ich plötzlich wach geworden. Die Hütte stand in Flammen. Der einzige Weg nach draußen war das kleine Fenster im Schlafzimmer.“ Jennifer schloss die Augen und spürte wieder die Wucht der Explosion. „Ich bin an der Außenwand hinabgeklettert und gestürzt, von da an weiß ich nichts mehr.“

„Sie haben einen Riesendusel gehabt, dass Sie sich nicht den Hals gebrochen haben“, sagte Kamps, „hinter der Hütte ist das Gelände felsig und fällt steil ab.

„Ich hatte keine Wahl. Wie bin ich hierhergekommen?“

„Urlauber, die eine der anderen Hütten gemietet hatten, kamen erst spät in der Nacht an. Ihre Ankunft hatte sich durch einen Stau verzögert, und das war Ihr Glück. Sie bemerkten den Brand und alarmierten die Feuerwehr.“

Kamps Kugelschreiber schabte über seinen Schreibblock.

„Sie kamen etwa gegen 18 Uhr an. Ist das richtig?“

„Miro hielt in dem kleinen Ort unterhalb des Sees. Er tat sehr geheimnisvoll und verschwand in einem Gasthaus. Aber fragen Sie ihn doch selbst.“

„Wir haben mit der Wirtin gesprochen. Herr Arendt holte wie vereinbart den Schlüssel für die Berghütte, außerdem einige Vorräte.“

Jennifer lächelte. „Er hat sich große Mühe gegeben, den Abend unvergesslich zu machen.“

„Sie sind dann zur Hütte hinaufgefahren?“

„Nachdem er den Wagen oberhalb des Sees abgestellt hatte, sind wir das letzte Stück hinaufgewandert. Bis zur Hütte haben wir etwa zwanzig Minuten gebraucht.“

Sie stützte sich auf die Ellenbogen. Kamps Fragerei machte sie immer besorgter. „Warum antwortet mir niemand? Warum lässt man Miro nicht zu mir? Wie kam es überhaupt zu dem Feuer?“

Kamps klappte seinen Notizblock zu.

„Nach allem, was unsere Experten herausgefunden haben, wurde der Brand durch ein nachlässig angeschlossenes Ofenrohr ausgelöst. Durch die fehlende Isolierung erhitzte sich die Holzwand, bis sie zu schwelen begann und schließlich Feuer fing.“

„Und warum interessiert sich die Kriminalpolizei dafür?“

„Wir ermitteln die Brandursache. Das ist ein normaler Vorgang. Darüber hinaus gibt es da einige merkwürdige Details, auf die wir Antworten suchen.“

„Die werden sie von mir nicht bekommen, solange ich nicht weiß, wo Miro ist.“

Kamps presste die Lippen zusammen und schwieg. Schließlich sagte er: „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Lebensgefährte tot ist, Frau Nowak.“

Sie hatte es geahnt, vielleicht die ganze Zeit über gewusst. Das beredte Schweigen der Ärzte und Schwestern, Kamps ausweichende Antworten … und doch traf die Wahrheit sie völlig unvorbereitet. Der Tod kam immer unerwartet und so plötzlich, dass der Verstand ihn nicht zu erfassen vermochte. Es konnte, durfte nicht sein. Nicht Miro.

„Aber er lag nicht neben mir, als ich aufwachte.“ Sie klammerte sich an eine letzte, irrationale Hoffnung. Sie musste hier raus, etwas tun, nur nicht daliegen und nachdenken.

„Wir müssen ihn suchen. Vielleicht liegt er verletzt irgendwo im Wald.“

Mit einer hastigen Bewegung schlug Jennifer die Decke zurück und setzte sich auf. Sie spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat, ihre Wange pochte vor Schmerz, sie holte rasselnd Luft wie eine Asthmakranke. Ihr wurde klar, wie lächerlich der Gedanke war, den Wald rings um die Hütte abzusuchen. In ihrem geschwächten Zustand würde sie nirgendwohin gehen.

„Beruhigen Sie sich bitte, Frau Nowak.“

Sie hockte zitternd auf der Bettkante.

„Ich werde besser den Arzt rufen“, sagte Kamps.

„Nein. Ich … ich bin okay.“

„Sicher?“

Sie nickte krampfhaft. „Wie ist Miro gestorben?“

„Das versuchen wir herauszufinden. Waldarbeiter haben ihn in der Schlucht unterhalb der Hütte gefunden. Er starb an den Verletzungen eines Sturzes aus großer Höhe. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass sein Todeszeitpunkt ungefähr mit dem Ausbruch des Feuers zusammenfällt.“

„Wollen Sie damit andeuten, er hätte den Brand gelegt?“

„Bis jetzt gehen wir nicht davon aus.“

„Aber warum verließ er mitten in der Nacht die Hütte?“

„Er arbeitete als Unfallarzt. Ist das richtig?“, fragte Kamps.

„In einer Stuttgarter Klinik, ja.“

„Die Wirtin des Gasthauses hat ausgesagt, dass sie ihn gegen Mitternacht angerufen hat.“

„Aber warum? Woher kannte sie seine Telefonnummer?“

„Als er die Berghütte gebucht hat, erwähnte er wohl seinen Beruf. In dem Dorf unterhalb des Sees gibt es keinen Arzt, das nächste Krankenhaus liegt eine halbe Autostunde entfernt. Gegen 23:45 Uhr informierte ein Gast den Nachtportier, dass er gesundheitliche Beschwerden hatte, er vermutete einen Herzinfarkt. Die Wirtin erinnerte sich an das Gespräch mit dem Arzt aus Stuttgart, der telefonisch eine der Berghütten gemietet hatte. Dabei hinterließ er auch seine Handynummer. Der Zustand des Gastes schien tatsächlich ernst zu sein, also rief sie Herrn Arendt an und bat ihn um Hilfe. Ein Notarztwagen aus Freiburg hätte mindestens eine halbe Stunde gebraucht. Wir vermuten, dass Ihr Lebensgefährte sich nach dem Anruf auf den Weg zu seinem Wagen machte. Leider kam er dort nicht an.“

„Warum hat er mich nicht geweckt?“

Kamps zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollte er Sie nicht beunruhigen. Ich hoffte, Sie könnten es mir erklären.“

Jennifer schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich kann mich ja nicht mal erinnern.“

„Im Augenblick gehen wir davon aus, dass er auf dem schmalen Pfad oberhalb der Schlucht in der Dunkelheit vom Weg abkam und tödlich verunglückte“, fuhr Kamps fort. „Das Feuer brach vermutlich kurze Zeit später aus. Das würde erklären, warum er die Hütte unversehrt verlassen konnte. Allerdings ist da eine Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet. Sie sagen, Sie wären sehr plötzlich eingeschlafen und können sich an nichts erinnern?“

Jennifer nickte widerstrebend.

„Leiden Sie unter Schlafproblemen?“, fragte Kamps.

„Nein. Warum fragen Sie?“

Er zog einen durchsichtigen Plastikbeutel aus einer Manteltasche. „Das hier könnte eine Erklärung für Ihre Gedächtnislücke liefern.“

„Was ist das?“

„Wir fanden dieses Medikament bei Herrn Arendt. Es ist ein starkes Schlafmittel und enthält Gammahydroxybutyrat - ein Wirkstoff, der auch als K-o.-Tropfen bekannt ist.“

„Sie meinen … Miro hat mir das Zeug in den Wein gemischt?“

„Wir wissen es nicht. Das Mittel ist nur begrenzte Zeit im Körper nachweisbar. Es bestand keine Veranlassung, Sie darauf zu testen, darum werden wir es nie erfahren. Ich frage mich, warum er es bei sich trug.“

„Ich weiß es nicht. Miro … hätte das niemals getan. Wir liebten uns … wollten heiraten.“

„Ich muss Sie das fragen“, sagte Kamps, „hatten Sie Geschlechtsverkehr in jener Nacht?“

„Ja. Aber warum hätte Miro mich betäuben sollen, um sich zu nehmen, was er ohnehin freiwillig von mir bekam? Er hatte überhaupt keinen Grund dazu.“

„Litt er selbst unter Schlafstörungen? Neigte er zu Stimmungsschwankungen oder war er gar depressiv?“

„Nein, nichts von alledem. Das heißt …“

„Ja?“

„An eine seltsame Begebenheit erinnere ich mich doch. Der Weg zur Hütte führt an einer tiefen Schlucht vorbei. Es gibt dort einen kleinen Felsvorsprung, einen Aussichtspunkt, von dem aus man den Wasserfall und die Stromschnellen sehen kann.“

Kamps nickte. „Der Teufelssitz. Unterhalb dieses Felsens haben wir ihn gefunden.“

„Wir legten dort eine kurze Rast ein“, sagte Jennifer. „Miro versank in einer düsteren Stimmung, die ich vorher nie an ihm bemerkt hatte. Es dauerte höchstens ein oder zwei Minuten, und ich maß dem keine große Bedeutung zu. Doch jetzt fällt es mir wieder ein. Er sagte: ‚Es ist nur ein kleiner Schritt zwischen Leben und Tod.‘ Als ich ihn fragte, was er damit meinte, besann er sich, lächelte und bezog es auf seine Arbeit als Unfallarzt. Es kam mir dennoch merkwürdig vor. Ich habe ihn nie zuvor so etwas sagen hören. Ist das wichtig?“

„Das kann ich noch nicht sagen. Aber es ist gut, dass Sie es mir erzählt haben.“

„Was geschieht jetzt?“

„Vorerst nichts weiter. Ich sehe keine Möglichkeit, Licht in diese sonderbare Geschichte zu bringen. Vielleicht stand er selbst noch unter dem Einfluss des Schlafmittels und verunglückte deshalb. Da wir Herrn Arendt nicht mehr befragen können, bleibt nur Ihre Aussage – die uns allerdings auch nicht weiterhilft.“

Kamps griff nach seinem Regenmantel und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“ Er ging zur Tür.

„Was ist eigentlich aus dem Gast geworden?“, fragte Jennifer.

„Ach, der. Er erholte sich überraschend schnell. Es war wohl nichts Ernstes. Er ist wieder nach England abgereist. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Nowak.“

Kamps schloss die Tür hinter sich. Jennifer blieb allein zurück. Langsam wurde ihr klar, was Miros Tod bedeutete. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen hatte sie sich an ihn geklammert wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz. Nun trieb sie ohne ihn in einem Ozean aus Einsamkeit.

Am meisten quälte sie die Ungewissheit, die Kamps in ihr geweckt hatte. War Miro überhaupt der Mann gewesen, für den sie ihn gehalten hatte? Was hatte es mit dem Medikament auf sich, das die Polizei bei ihm gefunden hatte? Drei wundervolle Monate war sie mit Miro zusammen gewesen, und doch wusste sie eigentlich nichts über ihn. Lou hatte sie vor ihm gewarnt, aber Jennifer hatte ihre Schwarzseherei nicht ernst genommen. Schließlich vermutete ihre Freundin hinter jedem harmlosen Mann einen Serienkiller; mindestens einen Stalker, den man nicht mehr loswurde. Ein abgebrochener Fingernagel oder ein verpasster Bus bedeuteten für Lou ein Trauma, das sie unweigerlich für den Rest ihres Lebens belasten würde. Vor acht Wochen hatte sie einem Medium tausend Euro bezahlt, damit die schrill gekleidete Frau Lous Wohnung exorzierte. Lou hatte zufällig erfahren, dass der Vormieter sich in ihrem Schlafzimmer erhängt hatte. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass er nun darin spukte. Die nächtlichen Geräusche hatten sich dann allerdings als Defekt der altersschwachen Heizungsanlage herausgestellt.

Hatte Lou Miro ausnahmsweise richtig eingeschätzt? Warum hielt der Polizist eine depressive Erkrankung für möglich? Hatte Miro einen erweiterten Suizid geplant, der nur zufällig gescheitert war, weil die Dosis des Schlafmittels zu niedrig gewesen war? Ein Assistenzarzt sollte eigentlich wissen, wie er ein Medikament dosieren musste. Wahrscheinlich würde sie nie die Wahrheit erfahren.

Vorsichtig strich sie mit den Fingerspitzen über den Verband in ihrem Gesicht. Miros Tod war ein furchtbarer Schlag, aber Jennifer ahnte, dass noch weitere Prüfungen auf sie warteten.

Seit ihrer Einlieferung verweigerten die Ärzte und Krankenschwestern ihr einen Spiegel. Sie hatten sie über Miro belogen, und Jennifer fürchtete, dass sie ihr auch über die Schwere ihrer Verletzungen nicht die Wahrheit sagten. Das Päckchen auf ihrer Wange glühte und pochte wie ein Skorpion, der seinen giftigen Stachel in ihr Gesicht bohrte.

Der Infusionsschlauch behinderte sie nun nicht mehr, und niemand hatte ihr verboten, aufzustehen. Sie biss die Zähne zusammen, stützte sich auf dem Bett ab und stellte sich vorsichtig auf die Füße. Die Prellungen und Hautabschürfungen, die sie sich bei dem Sturz zugezogen hatte, schmerzten. Mit jedem Atemzug schien sie Ruß und Ascheflocken auszuatmen.

Mit unsicheren Schritten durchquerte sie das Zimmer und öffnete die Tür zur Toilette. Sie schaltete das Licht ein und näherte sich langsam dem Waschbecken. Aus dem Spiegel glotzte ihr ein hohlwangiges Gespenst mit Sonnenbrand entgegen. Nase und Kinn waren mit verschorften Schnitten übersät, die allmählich heilten. Das Feuer hatte die rechte Augenbraue abgesengt. Ein dicker Verband bedeckte die linke Gesichtshälfte und einen Teil des Kopfes. Sie musste wissen, was darunter war.

Ihre Finger zitterten so stark, dass sie dreimal vergeblich versuchte, den Anfang der Mullbinde zu ertasten. Schließlich schaffte sie es, ein Ende zu lösen, und wickelte den Verband ab.

Als das letzte Stück zu Boden fiel, schrie sie vor Entsetzen. Jennifer hörte nicht auf zu schreien, bis zwei Krankenschwestern sie mit sanfter Gewalt ins Bett zurückbrachten und der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel gab, das sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen ließ.

4

Exeter, Cornwall

Travis wartete angespannt auf Nachricht von Charlie O’Sullivan, der vor drei Monaten neue Hoffnung in ihm geweckt hatte. Zwischen Zuversicht und Verzweiflung schwankend, lief er in seiner Zelle auf und ab und zählte die Schritte von Wand zu Wand. Plötzlich hielt er inne und blickte auf das winzige Stück Himmel, das er von hier aus sehen konnte. Er dachte an jenen Morgen zurück, an dem der ehrgeizige junge Anwalt ihn zum ersten Mal aufgesucht hatte.

Travis liebte den Geruch von frischem Holz. Er mochte das sanfte Zischen, das der Hobel erzeugte, wenn er an der Maserung entlangglitt, und das Gefühl, den Formen nachzuspüren, die unter der noch rohen Oberfläche darauf warteten, ans Licht geholt zu werden. Das Holz lebte und sprach zu ihm. Doch anders als die Menschen log es nicht, verstellte sich nicht und zeigte ihm sofort, wenn es schlecht behandelt wurde.

Über seinen Wunsch, eine Ausbildung zum Schreiner oder Bootsbauer zu beginnen, hatte sein Vater stets nur gelacht. Travis hatte trotzdem versucht, eine Lehrstelle zu finden, und dafür die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens bezogen. Der Alte brauchte ihn auf der Eloise, wenn er hinausfuhr. Bevor sie die reichen Fischgründe in dem kalten Wasser vor Land‘s End erreicht hatten, war Jack Sayer allerdings meistens zu betrunken gewesen, um die Netze auszubringen. Travis war nichts anderes übrig geblieben, als die harte Arbeit allein zu erledigen. Das wenige Geld, das sie mit dem Fischfang verdienten, trug der Alte anschließend in die Pubs.

In den vergangenen fünf Jahren hatte Travis nachgeholt, was ihm verwehrt worden war. In der Gefängnisschreinerei in Exeter hatte er das Tischlerhandwerk erlernt und anschließend die Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden. Die Arbeit hielt ihn am Leben. Das Hobeln, Sägen und Schleifen erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Wenn er sich auf die Bewegungen seiner Hände konzentrierte, konnte er nicht gleichzeitig über seine aussichtslose Lage nachdenken. Für eine Weile verstummte dann auch die Stimme in seinem Kopf, die nach Rache für das Unrecht schrie, das sie ihm angetan hatten.

Er nahm einen weiteren Span von dem Werkstück ab, an dem er arbeitete, und beobachtete befriedigt, wie sich der hauchdünne Holzstreifen im Hobel zu einer Spirale formte.

„He, Sayer. Mach mal Pause.”

Travis wandte sich um. Der baumlange Jones – einer der Vollzugsbeamten, mit denen er gut auskam, winkte ihn zu sich heran.

„Besuch für dich.“

„Kann nicht sein“, antwortete Travis. „Niemand besucht mich.“

„Diesmal schon.“

Travis legte den Hobel behutsam auf die Werkbank, wischte sich die Hände an der Hosennaht ab und folgte Jones in einen der Besuchsräume. An einem Tisch saß ein Mann, der kaum älter als Travis war. Sein jungenhaftes Gesicht war rund und rosig wie ein Apfel, das dunkle Haar lichtete sich bereits an Stirn und Schläfen. Er trug einen gut geschnittenen, anthrazitfarbenen Anzug mit passender Krawatte und ein blütenweißes Hemd. Neben seinen auf Hochglanz polierten Schuhen stand ein Aktenkoffer, was sein Auftreten irgendwie offiziell erscheinen ließ. Er stand auf, als Travis eintrat, rückte eine randlose Brille mit starken Gläsern zurecht und streckte die Hand aus.

„Mein Name ist Charlie O’Sullivan. Ich bin Rechtsanwalt.“

Travis ignorierte die dargebotene Hand. „Wozu sollte ich einen Anwalt brauchen? Ich habe mich nicht übers Essen beschwert.“

„Das nicht, aber ich bin sicher, dass wir beide von einer Zusammenarbeit profitieren könnten.“

Travis musterte ihn misstrauisch. „Einem Typ wie Ihnen habe ich zu verdanken, dass ich hier drin bin. Was wollen Sie von mir?“

„Ihnen helfen.“ O‘Sullivan deutete auf den freien Stuhl an dem kleinen Besuchertisch. „Geben Sie mir ein paar Minuten, um meine Absichten zu erklären, Sie werden es nicht bereuen.“

Jones setzte sich neben die Tür und faltete eine Zeitung auseinander. „Mach schon, Sayer. Du hast eine Viertelstunde. Verpass die Chance nicht.“

Travis nahm gegenüber dem Anwalt Platz, der geschäftig Schriftstücke aus seinem Koffer nahm und penibel auf dem Tisch ordnete.

„Ich habe mir Ihre Ermittlungsakten besorgt“, sagte er, „und ich stimme Ihnen zu, dass mein Vorgänger miserable Arbeit geleistet hat.“

„Ich kann mich nicht erinnern, Sie engagiert zu haben. Wer hat Ihnen Einsicht in meinen Fall gewährt?“

O’Sullivan lächelte und kniff die Augen hinter den dicken Brillengläsern zusammen, was ihm einen listigen Ausdruck verlieh.

„Dass es mir gelungen ist, Akteneinsicht zu bekommen, spricht für mich, finden Sie nicht? Lassen Sie es mich in kurze Worte fassen: Ich bin jung und ehrgeizig und will mir einen Namen machen. Aussichtslose Fälle zu gewinnen ist die beste Werbung fürs Geschäft. Glauben Sie mir, ich bin aus ganz eigennützigen Gründen hier.“

„Und was habe ich damit zu tun?“

„Ihre Verurteilung ist nach meiner Einschätzung eine krasse Fehlentscheidung. Mit anderen Worten: Ich will Sie hier rausholen.“

Travis lachte. „An Ehrgeiz fehlt es Ihnen tatsächlich nicht, eine Spur Größenwahn scheint mir auch dabei zu sein.“

O’Sullivan schüttelte den Kopf. „Sie irren sich. Es geht um nüchterne Fakten. In Ihrem Fall wurde schlampig und einseitig ermittelt, Beweismittel wurden nicht ausreichend ausgewertet und entlastende Aussagen ignoriert. Ich glaube, dass Sie unschuldig sind.“

„Und wie wollen Sie das Wunder vollbringen, einen Richter davon zu überzeugen, Mr O’Sullivan?“

„Ganz einfach. Wir werden den Fall neu aufrollen, nach Beweisen für Ihre Unschuld suchen und darlegen, dass Polizei und Justiz eklatante Fehler begangen haben. Dann streben wir ein Wiederaufnahmeverfahren an.“

Travis schwieg und dachte nach. Dieser kurzsichtige Kerl schien seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Inzwischen beschlich ihn das Gefühl, dass er O’Sullivan besser nicht unterschätzen sollte. Er war offenbar cleverer, als er aussah.

„Sie kommen doch nicht mit leeren Händen. Ich wette, Sie haben bereits in Pennack herumgestochert.“

„Allerdings. Was dabei herauskam, dürfte Sie interessieren.“

„Es spielt keine Rolle. Ich kann Sie nicht bezahlen“, sagte Travis.

„Machen Sie sich über Geld keine Gedanken. Die Presse wird sich um die Geschichte des unschuldigen jungen Mannes reißen, der aufgrund eines Justizirrtums um die besten Jahre seines Lebens gebracht wurde. Wir verkaufen Ihre Story an den Meistbietenden, dann können Sie sich auch mein Honorar leisten.“

„Sie sind erstaunlich geschäftstüchtig. Ich frage mich, ob Sie auch als Anwalt etwas taugen.“

„Worauf Sie sich verlassen können.“ O’Sullivan streckte seine Hand aus. „Was ist? Schlagen Sie ein?“

„Sie werden sich die Zähne ausbeißen.“

„Das ist mein Spezialgebiet.“

Travis zögerte. Er hatte nichts zu verlieren, aber eine Menge zu gewinnen. Schließlich schüttelte er die dargebotene Hand. „In Ordnung.“

„Fein. Ich fange sofort mit der Arbeit an.“

Travis schob seinen Stuhl zurück. „Wie viele aussichtslose Fälle haben Sie denn schon gewonnen?“

O’Sullivan grinste wie ein Schuljunge, der einen Streich ausheckt. „Noch gar keinen.“

Travis kehrte in die Gegenwart zurück. O’Sullivan hatte sich drei Wochen lang nicht gemeldet. Gestern hatte er ihm eine Nachricht zukommen lassen, dass er ihn heute in Exeter aufsuchen wollte. Ob es ihm wirklich gelingen würde, das Blatt zu wenden? Travis hörte, wie die Zellentür entriegelt wurde.

„Dein Anwalt ist da, Sayer.“

Jones führte ihn in den Besuchsraum. O’Sullivan war damit beschäftigt, seine Unterlagen auf dem kleinen Tisch zu sortieren. Seine Hamsterbacken glühten vor Eifer.

„Hallo Mr Sayer. Ich habe gute Nachrichten für Sie.“

Travis setzte sich. Der kleine Anwalt tupfte sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

„Meine Güte, ist das heiß heute. Finden Sie nicht?“, fragte er.

„In meiner Zelle scheint keine Sonne.“

O’Sullivan faltete umständlich das Taschentuch zusammen und steckte es in seine Hosentasche.

„Äh ja, das werden wir ändern“, sagte er, „Sie sollten sich vorsichtshalber mit Sonnencreme eindecken.“

„Sie haben Neuigkeiten?“

Der Anwalt nickte heftig, seine Brillengläser funkelten im Licht der Neonröhre.

„Es wurden so viele Ermittlungs- und Verfahrensfehler begangen, dass ich mich wundere, wie eine Verurteilung überhaupt möglich war. Dieser Pflichtverteidiger …“

„Penrose“, sagte Travis.

„… richtig, Penrose. Nur er war …“

„… eine Pfeife.“

„Ich wollte es nicht ganz so drastisch ausdrücken. Kommen wir zum Wesentlichen. Sie wurden in einem Indizienprozess verurteilt, denn es konnte nicht bewiesen werden, dass Susan Prescott tatsächlich ermordet wurde. Ihre Leiche wurde ja nie gefunden. Niemand kann sagen, ob sie überhaupt tot ist.“

Travis nickte. „Das weiß ich alles.“

„Punkt 1: Man fand ein T-Shirt mit dem Blut des Opfers und die Tatwaffe mit Ihren Fingerabdrücken im Bootshaus Ihres Vaters. Man konstruierte ein Motiv und unterstellte Ihnen die Gelegenheit zur Tat. Hier wurden bereits die ersten Fehler begangen. Jeder hätte den Schuppen betreten können, um die Beweisstücke dort zu deponieren. Es wurden aber keine Anstrengungen unternommen, nach anderen Verdächtigen zu suchen.

Punkt 2: Ich fand in den Polizeiakten einen Vermerk, dass frische Einbruchsspuren an einem der Fenster entdeckt wurden. Es ist also sehr wohl möglich, dass jemand das Bootshaus betrat, während Sie alkoholisiert waren.“

„Davon war im Prozess keine Rede“, sagte Travis.

„Darauf will ich hinaus. Diese Spur wurde nicht weiter verfolgt. Das allein reicht noch nicht für ein Wiederaufnahmeverfahren, aber ich habe noch mehr Material. Die ermittelnden Beamten grenzten den Zeitpunkt von Susan Precotts vermeintlichem Tod ziemlich genau ein. Sie gingen davon aus, dass sie am 29. April 2015 zwischen 19:30 Uhr und 20 Uhr getötet wurde.“

„Zu der Zeit, in der ich im Maugham-Garten wartete.“

„Korrekt. Das Protokoll des diensthabenden Constables in Pennack belegt, dass Sie Susan Prescott um 19:56 Uhr als vermisst meldeten.“

„Weiter.“

„Was würde wohl der Staatsanwalt sagen, wenn wir beweisen könnten, dass das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hat?“

„Dann … kann ich gar nicht der Mörder gewesen sein.“

„So ist es. Es ist mir gelungen, eine Zeugin aufzutreiben, die gesehen hat, wie Susan Prescott um kurz vor acht in einen Wagen gestiegen ist. Kennen Sie den Kiosk in der King’s Road?“

„Die alte McGornick!“, rief Travis.

„Der Kiosk liegt auf halber Strecke vom Hafen hinauf zum Maugham-Haus. Die Besitzerin schließt immer um acht. Sie war gerade damit beschäftigt, ihren Laden zu verriegeln, als sie beobachtete, wie Susan Prescott in einen Lieferwagen stieg. Sie beharrt außerdem darauf, dass es zuvor zu einem Streit zwischen Susan und dem Fahrer gekommen war.“

„Warum hat sie das damals nicht ausgesagt?“

„Das wollte sie zunächst, als sie von Susans Verschwinden hörte. Aber am nächsten Tag las sie in der Zeitung, dass der Mörder gefasst worden war, nämlich Sie. Daher hielt sie es für überflüssig, sich bei der Polizei zu melden. Ich musste sie ein bisschen bearbeiten, aber jetzt ist sie bereit, eine Aussage zu machen.“

„Garreth Wyne setzt sie unter Druck, nicht wahr?“, sagte Travis.

„Nun ja, die Wynes verfügen über Macht und Geld. Ich bin sicher, dass sein Vater die Ermittlungen damals beeinflusst hat. Schließlich war das Mordopfer seine zukünftige Schwiegertochter. Außerdem wollte er jeden Verdacht von seinem Sohn ablenken und unternahm alles, um ihn zu schützen. Da kam ihm ein Taugenichts aus den Docks gerade recht als Bauernopfer. Entschuldigen Sie meine Wortwahl, ich gebe hier nur Wynes Sichtweise wieder. Ein Mord ist zudem schlecht fürs Geschäft. Pennack lebt vom Tourismus, und Wyne ist der größte Arbeitgeber des Ortes. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass Cornwall eine der ärmsten Gegenden Großbritanniens ist. Mit Sicherheit war jeder in Pennack bestrebt, mitzuhelfen, das Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Alle waren erleichtert, als die Polizei einen Täter präsentierte.“

„Wenn Susan noch gelebt hat, als ich bei Jenkins war, müssen sie mich freilassen.“ In Travis glomm Hoffnung auf. „Das müssen sie doch, oder?“

„Nur Geduld. Ich arbeite daran. Nach allem, was ich herausgefunden habe, sitzen Sie eine Haftstrafe ab für eine Tat, die Sie nicht begangen haben. Ich bin sicher, dass wir in einem neuen Verfahren Erfolg haben werden.“

„Eine Frage noch. Konnte die alte McGornick den Lieferwagen beschreiben?“