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Boris Meyn

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Beschreibung

Ein toter jüdischer Bankier. Warum wundert das keinen im Hamburg des Jahres 1929? Ilka Bischop ist eine emanzipierte Frau: wohlhabend, Fliegerin, Journalistin, neuerdings auch schwanger – von wem, weiß sie selbst nicht genau. Eines Tages wird der Mieter eines ihrer Hamburger Häuser ermordet. Ein jüdischer Bankier. Ein antisemitisches Verbrechen? Ilka recherchiert und macht eine schmerzhafte Entdeckung: Ihr jüngerer Bruder Robert hat Kontakte zu einer der neuen rechten Parteien. Sie heißt NSDAP, der Parteichef namens Hitler wird von den reichen Hanseaten hofiert. Ilka erkennt ihre Heimatstadt nicht wieder; immer mehr ist sie davon überzeugt, dass die Mordtat ein politisches Verbrechen war. Und sie fragt sich: Welche Rolle spielte dabei ihr Bruder? Die erfolgreiche Hamburg-Serie erreicht mit dem Ende der Weimarer Zeit eine besonders spannende historische Phase

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Boris Meyn

Sturmzeichen

Historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Ilka Bischop ist eine emanzipierte Frau: wohlhabend, Fliegerin, Journalistin, neuerdings auch schwanger – von wem, weiß sie selbst nicht genau. Eines Tages wird der Mieter eines ihrer Hamburger Häuser ermordet. Das Opfer war Jude – ein antisemitisches Verbrechen? Ilka recherchiert und macht dabei eine schmerzhafte Entdeckung: Ihr jüngerer Bruder Robert hat Kontakte zur NSDAP. Und auch ihre Freundin Toska liebäugelt plötzlich mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten. Ilka erkennt ihre Heimatstadt nicht wieder; immer mehr ist sie davon überzeugt, dass die Mordtat einen politischen Hintergrund hat. Und sie fragt sich: Welche Rolle spielte ihr Bruder bei dem Verbrechen? Doch bei einem Mord bleibt es nicht …

 

Der achte Band von Boris Meyns historischer Kriminalserie: Mit einem Tafelteil, mit einer einmaligen Ermittlerin und mit viel Hamburger Geschichte.

Vita

Boris Meyn, Jahrgang 1961, ist promovierter Kunst- und Bauhistoriker. Sein Romandebüt, «Der Tote im Fleet», erschienen 2000, avancierte in kürzester Zeit zum Bestseller («spannende Krimi- und Hamburglektüre», so die taz). Die Serie um die ermittelnde Hamburger Familie Bischop umspannt inzwischen fast ein Jahrhundert, über einen neueren Band urteilte die Welt: «Man weiß nicht so recht, ob man ‹Elbtöter› als kriminalistischen Reißer oder einfach nur als glänzend recherchierten historischen Roman über Hamburg nach dem Ersten Weltkrieg lesen soll.» Der Autor lebt im Lauenburgischen, ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.

Vorspiel

Simon Bernstein unternahm den abendlichen Rundgang, wie er es seit Jahren tat. Es war ihm zu einer die Gedanken reinigenden Gewohnheit geworden. Erst der Weg ans Wasser, dann am Ufer entlang in Richtung Krugkoppel und Alsterlauf, von dort zurück bis zum heimischen Anleger. Die Dunkelheit des Spätherbstes hatte etwas Beruhigendes. Hin und wieder spiegelte sich der Mond im Wasser des Sees, wenn die Wolkendecke aufriss. Vom anderen Ufer her leuchteten die Villen der Uhlenhorst wie eine lichterne Kette zu ihm herüber.

Bernstein schlug den Kragen seines Mantels hoch. Der strenge Wind hatte zugenommen und kündigte unmissverständlich den nahenden Winter an. Aber er brauchte diesen Abstecher, bevor er das allabendliche Ritual im Hause in Angriff nahm. Es war die Abtragung der täglichen Arbeit im Bankhaus, sein Kampf mit dem Mammon gegenüber dem friedlichen Miteinander in der Familie. Und doch verspürte er seit Tagen einen unangenehmen Druck in der Magengegend, der sich nicht lösen wollte. Nein, eigentlich war ihm speiübel.

Er war das tägliche Auf und Ab in der Finanzwelt seit Jahren gewohnt. Aber diesmal setzte es ihm unerwartet zu. Die Börsengeschäfte versprachen schon länger keinen wirklichen Zuwachs mehr, und die Investitionsbereitschaft ausländischer Kapitalgeber ließ inzwischen auch zu wünschen übrig. Hohe Gewinne gab es nur noch mit riskanten Geschäften. Aber seine Kunden waren durch die letzten Jahre verwöhnt. Sie erwarteten weiterhin die Rendite, die er ihnen in Aussicht gestellt hatte. Kunden nicht nur sympathischer Art. Ganz und gar nicht, aber er konnte sie sich nicht aussuchen. Und nun hatte er ein echtes Problem. Er konnte nicht liefern. Man rückte ihm inzwischen sogar auf die Pelle. Ein nervöser Investor hatte ihm bereits ein Ultimatum gestellt und mit Gewalt gedroht. Und das nur, weil die Minerva festsaß und seit zwei Monaten überfällig war. Der Dampfer hatte Valparaíso zwar inzwischen verlassen, aber eine verlässliche Ankunftszeit gab es immer noch nicht. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Wegen der Rendite. Er hatte ja sogar selber mitgezockt, so aussichtsreich war der zu erwartende Gewinn gewesen. Die bisherigen Zahlen sprachen für sich. War er zu weit gegangen?

Dabei war alles genau durchdacht. Er war sich so sicher gewesen, dass er sogar Zugriff auf fremde Einlagen genommen hatte, um möglichst viel vom Kuchen abzubekommen. Selbst für die Zwischenlagerung hatte er eine Lösung gefunden. Trotzdem waren seine Kunden alles andere als beruhigt. Die Nervosität war verständlich. Natürlich hatte er keine Rückversicherung bieten können. Wie auch? Und es ging um sieben Millionen Mark. Dazu kam das, was er den Einlagen entnommen hatte. Geld, das ihm nicht gehörte. Und gar nicht mal wegen der persönlichen Bereicherung. Nein, es ging ihm gut. Aber das Spiel war einfach zu verführerisch gewesen. Nur wenige waren eingeweiht. Er hatte auftrumpfen wollen zu Zeiten, in denen kaum mehr einer Gewinn machte. So weit hätte er nicht gehen dürfen. Wie viel Zeit blieb ihm, bis die Minerva ankam? Wenn irgendeiner der Bankkunden Einsicht in die Depots verlangte, war er erledigt. Da half es auch nichts, dass er demnächst den zwanzigfachen Wert in Aussicht stellen konnte.

Simon Bernstein fröstelte. Auch der mit Fuchsfell gefütterte Mantel konnte der Kälte nichts entgegensetzen. Sie kam von innen. Als er auf der Krugkoppelbrücke zum Heimweg umkehrte, bemerkte er die beiden Gestalten, die sich ihm langsam näherten. Freundlich tippte er sich an die Kopfbedeckung. Dann ging alles ganz schnell. Im Moment des Passierens riss ihn der eine herum und warf ihn gegen das Brückengeländer. Kaum hatte er sich hochgerappelt, verpasste ihm der andere einen Tritt. Bernstein stockte der Atem. Er merkte, wie sich Hände an seinem Paletot vergriffen, ihn aufrichteten und in Richtung Geländer zerrten. Überrascht schrie er auf, dann der Sturz, der Aufprall. Gelächter über ihm. Nach wenigen Sekunden sickerte die Kälte durch seine Kleidung. Das Wasser war eiskalt. Bernstein schnappte nach Luft, aber die Kleidung sog sich schnell voll Wasser und zog ihn hinab. Ein Gewirr von Luftblasen vor Augen, nahm er sein Versinken zur Kenntnis.

Kapitel 1

Später Oktober 1929

Als sie das Abteil betrat, war Ilka erleichtert. Um dem Gedränge auf den Bänken zu entgehen, hatte sie einen Fahrschein für die erste Klasse gelöst, und tatsächlich war das Abteil nicht voll. Es waren zwar nur drei Stunden Fahrt, aber bei laufender Heizung konnte sie auf stickige Luft und unfreiwilligen Körperkontakt mit fremden Personen gut verzichten. An der Tür saß ein fülliger Mittfünfziger, der gedöst hatte, als sie ins Abteil gekommen war. Er wachte auf, machte aber keine Anstalten, ihr behilflich zu sein. Schwer atmend öffnete er ein Buch und hatte kleine Schweißperlen auf Stirn und Glatze. Auf dem Einband konnte Ilka den Titel erkennen. Remarques Im Westen nichts Neues. Der Antikriegsroman, den ihre Zeitung letztes Jahr als Vorabdruck gebracht hatte. Er war so realistisch, dass in der Tschechoslowakei die Lektüre für die Soldaten des Landes vor kurzem verboten worden war. Bevor der Mann ihr Hilfe hätte anbieten können, hatte Ilka ihre kleine Reisetasche bereits selbst ins Gepäcknetz befördert.

Am Fenster auf ihrer Seite saß eine Ordensschwester, die Hände auf dem Schoß gefaltet und den Blick starr ins Nichts gerichtet. Beim ersten Halt stieg noch ein junger Mann ohne Gepäck zu, der sich auf den Platz ihr schräg gegenüber setzte und sofort eine Zeitung aufschlug. Ein Student, wie Ilka schätzte, der versucht hatte, mit viel Pomade sein lockiges Haar unter Kontrolle zu bringen. Ab und an zog er einen Kamm hervor und glättete den störrischen Wildwuchs, bevor er weiter durch die Seiten blätterte. In schöner Regelmäßigkeit ließ er seinen Blick über den Rand der Zeitung in ihre Richtung gleiten. Ilka lächelte in sich hinein. Wie es aussah, also eine Reise ohne Konversation, was ihr insgeheim recht war. Auf mitteilungssüchtige Mitreisende konnte sie gerne verzichten, selbst wenn ihr der gutaussehende Student durchaus gefiel.

Auch sie hatte sich Reiselektüre eingepackt. Ein druckfrisches Exemplar von Döblins Berlin Alexanderplatz. Die ersten Kapitel hatte sie bereits durch und war gespannt auf mehr. Ein faszinierender Streifzug durch Berlin. Es war ein unheimlicher Weg, an der Seite von Franz Biberkopf durch die Straßen der Metropole zu schlendern, die sich öffneten wie Chimären eines expressionistischen Films. Aber sosehr sie sich auch bemühte, heute konnte sie sich nicht so recht konzentrieren. Ilka ertappte sich nun schon zum dritten Mal dabei, dass sie eine Seite gelesen hatte, ohne hinterher zu wissen, was wirklich geschehen war. Eigentlich ein untrügliches Zeichen, die Sache ruhen zu lassen, das Buch beiseitezulegen.

Ihre Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Da wuchs etwas in ihr. Seit über einem Monat war sie überfällig. Egal womit sie sich abzulenken versuchte, sie wurde den Gedanken nicht los. Nur nicht das. Hatte sie nicht immer aufgepasst? Allein der Umstand ließ sie unwohl werden. Und jetzt auch noch die Hitze hier im Abteil. Ilka glühte förmlich. Schwanger. Dabei konnte sie noch nicht einmal sagen, von wem …

Normalerweise wäre sie selbst nach Hamburg geflogen, auch wenn es zu dieser Jahreszeit zugegebenermaßen recht ungemütlich war. Aber ihr Flieger stand in Limhamn bei Junkers in Schweden. Eine grundlegende Überholung des Triebwerks war nötig. Das war vor sieben Wochen gewesen, als man durchaus noch angenehme Wetterverhältnisse gehabt hatte. Natürlich hatte sie, nachdem sie das Flugzeug abgegeben hatte, im Anschluss ein paar Tage bei Ture verbracht. Und er? Er konnte nicht aufhören, ihr Komplimente zu machen, sie zu becircen. Keine Agneta mehr, mit der er sich die letzten Jahre vergnügt hatte. Wieder einmal war sie seinem Charme erlegen. Natürlich hatte sie mit ihm geschlafen. Sie taten es seit nunmehr fünfzehn Jahren, wenn auch nur sporadisch. Und wie es aussah, würde es auch kein Ende nehmen. Sie genoss es, wenn nur nicht immer diese Versuche seinerseits gewesen wären, sie zur Ehe zu überreden. Nein, sie wollte ihr selbstbestimmtes Leben nicht aufgeben. Kein: Ture für immer. Außerdem liebte sie eigentlich Laurens, der sie noch heute in die Arme schließen würde. Ihre Wochenendbeziehung. Oder liebte sie beide? Was nun?

Die Reichsbahn fuhr inzwischen mit fast hundert Kilometern pro Stunde. Durchs Fenster konnte Ilka die Landschaft vorüberziehen sehen. Als wirkliches Erlebnis empfand sie die Reise mit der Bahn dennoch nicht. Mehr als lästige, wenn auch bequeme Alternative. Dafür war das Fliegen viel zu unmittelbar. Ein schüchternes Lächeln von der Ordensschwester, als sich ihre Blicke kurz trafen. Natürlich wäre sie mit ihrem Laubfrosch, wie sie ihren knallgrün gestrichenen Flieger nannte, schneller in ihrer Heimatstadt gewesen, aber ehrlich gesagt ging diese Rechnung nur auf, wenn man die Tatsache unberücksichtigt ließ, dass die Start- und Landebahnen außerhalb der Stadtzentren lagen und der Weg mit Droschke oder öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens so viel Zeit kostete, wie man gegenüber der Bahn eingespart hatte. Diesmal also Reichsbahn.

Spätestens alle drei Wochen war sie bei Laurens in Hamburg. Eher jedes zweite Wochenende. Aber nun hatte sie der Herr Kommissar gebeten, unverzüglich zu kommen. Dringend. Es gab irgendwas, das mit einer ihrer vermieteten Immobilien im Zusammenhang stand. Sie besaß zwei Villen in Harvestehude und Rotherbaum. Beide hatte sie von Martin Hellwege geerbt, dem besten Freund ihres Vaters, der sich nach Ausbruch des Krieges in Norwegen das Leben genommen hatte. Ihr war bis heute schleierhaft, warum er gerade sie als Universalerbin eingesetzt hatte, auch wenn ihr Vater immer betont hatte, wie sehr er heimlich in sie verliebt gewesen sei. Da war sie aber noch Kind gewesen. Und nun war sie sechsunddreißig … und schwanger. Und auch ihr Vater war seit über einem Jahr tot.

Das große Haus in der Alten Rabenstraße hatte Onkel Martin selbst bewohnt. Es war eine riesige Villa aus gelbem Backstein, die wie ein verwunschenes Märchenschloss wirkte. So hatte sie es schon als Kind empfunden. Ein Hamburger Bankier hatte es gemietet. Die andere Villa lag in Harvestehude direkt an der Alster, war aber deutlich kleiner und, wie die meisten Villen in der Stadt, hell verputzt. Sie hatte das Haus an einen Kaufmann vermietet, der es mit seiner siebenköpfigen Familie bewohnte.

Vielleicht war in eins der Häuser eingebrochen worden? Um was es genau ging, hatte Laurens am Telephon nicht sagen wollen, und die Mieter hatte sie nicht erreichen können. Es war eh an der Zeit, mit Laurens zu sprechen. Bislang hatte sie ihn nicht eingeweiht. Ilka war sich ja auch bis letzte Woche nicht wirklich sicher gewesen. Aber nun. Das zweite Mal war ihre Periode ausgeblieben, das war eigentlich eindeutig. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Immerhin war sie inzwischen in einem Alter, in dem man nicht mal so eben noch ein Kind in die Welt setzte. So ohne weiteres … Ach, sie hatte keine Ahnung.

Und dann musste sie ihrer Mutter in Ohlstedt einen Besuch abstatten. Das war längst überfällig. Überfällig? Nein … sie selbst war überfällig. Aber sie war es Tilda schuldig. Und David wollte sie auch sehen. Ihren großen Bruder, den ihre Eltern adoptiert hatten, der aber irgendwie immer ihr richtiger Bruder gewesen war. Ilka musste kurz nachrechnen. Einundfünfzig war David inzwischen, nur zwölf Jahre jünger als ihre Mutter. Blieb noch Robert, ihr kleiner Bruder, der auch wieder in Hamburg war, nachdem er sein Jurastudium beendet hatte. Sie hatte nicht mal eine genaue Adresse von ihm. Tilda hatte bei ihrem letzten Telephonat erwähnt, er habe eine Wohnung in St. Georg. Das war dann in der Nähe von ihrer Freundin Toska. Die durfte auch nicht zu kurz kommen, auch wenn ihre gemeinsamen Unternehmungen mehr oder weniger eingeschlafen waren, seit Ilka mit Laurens liiert war. Was gab es noch? Richtig. Den Nachfolger von Dr. Hansen, ihrem bisherigen Finanzberater bei der Donnerbank, wollte sie unbedingt kennenlernen. Sie hatte so viel auf dem Zettel, dass sie sich ohne weiteres für eine Woche in der Stadt hätte einquartieren können. Georg Bernhard, ihr Chef bei der Vossischen, war jedenfalls informiert. Es konnte durchaus sein, dass sie ein paar Tage nicht in der Redaktion auftauchen würde. Das kam häufiger vor.

Robert hatte sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen und sie überlegte, wie er mit seinen siebenundzwanzig Jahren inzwischen aussah. Würde sie ihn überhaupt wiedererkennen? Ihr Blick fiel auf den Studenten gegenüber. Könnte es sich bei ihm um Robert handeln? Der hatte inzwischen die Zeitung beiseitegelegt und starrte sie nun unverhohlen an. Sein Blick bekundete eindeutiges Interesse an ihrer Person. Ilka nahm es als Kompliment. Dabei hatte sie sich nicht einmal in Schale geworfen. Dem ungemütlichen Wetter entsprechend trug sie ein schlichtes Wollkostüm. Blicke war sie gewohnt, vor allem wegen ihrer maskulinen Kurzhaarfrisur, die sie immer noch kürzer hielt, als es allgemein Mode war.

Seit sie bei Laurens zweites Quartier bezogen hatte, reiste sie leger und ohne großes Gepäck. Sogar einen eigenen Schlüssel hatte sie inzwischen. Alles, was sie brauchte, war bei Laurens am Leinpfad. Dort hatte sie sich auch eine improvisierte Schreibstube eingerichtet, aber wenn sie ehrlich war, kam sie dort kaum zum Arbeiten.

Ilka zog ihren Kalender aus der Handtasche. Vielleicht war Carl momentan auch in der Stadt. Nach den Unruhen im Blutmai hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Und im August hatte man Strafantrag gegen von Ossietzky gestellt. Für eine Sache, an der sie nicht ganz unschuldig war. Er hatte tatsächlich das getan, was sie sich verkniffen hatte. Aber sie hatte ihn ausdrücklich gewarnt. Der Artikel in der Weltbühne war zwar unter dem Pseudonym Heinz Jäger verfasst worden, aber es war schnell klar, wer dahintersteckte. Walter Kreiser hatte Windiges aus der deutschen Luftfahrtgeschrieben. Der Bericht war im März erschienen. Und in dem Artikel wurde dargelegt, was eigentlich sie bereits vor vier Jahren recherchiert hatte. Die verbotene Aufrüstung Deutschlands auf russischem Gebiet. Sie selbst hatte Carl die Materialien zur Verfügung gestellt. Aber Staatsanwaltschaft und Gerichte kannten nach dem Ponton-Prozess im letzten Jahr keine Gnade mehr. Jacobs und Küster hatte man eingebuchtet. Wenn man die Wahrheit aussprach und an die Öffentlichkeit ging, galt man inzwischen als Landesverräter. Georg sah es ebenfalls kritisch. Er war es, der sie ausdrücklich gewarnt, ja davon abgehalten hatte, einen Artikel in der Vossischen zu bringen. Ilka war ihm dankbar dafür. Und jetzt steckte Carl in der Patsche. Aber er stand zu der Sache, wollte es aussitzen, glaubte nach wie vor an die Sprachrohre der Republik und des Pazifismus. Dabei bot Deutschland den Pazifisten keinen sicheren Hafen mehr. Auch Kurt Tucholsky war inzwischen auf und davon. Nach Schweden – in die Nähe von Göteborg. Nach einem Urlaub in diesem Jahr. Auch daran hatte sie mitgewirkt. Das Haus in Hindäs, das Kurt mit seiner neuen Flamme Lisa nun bewohnte, hatte Ture vermittelt. Auf ihre Empfehlung hin.

Tucholsky hatte sie einst in Paris kennengelernt. Auf einer ihrer Reisen für Ullstein. Schnell hatte sie begriffen, was für ein Frauenheld er war. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich seinem Werben entziehen können. Die richtigen Ansichten vertrat er trotzdem, und seine Artikel brachten die Sache stets auf den Punkt. Bislang zumindest.

Der Zug rauschte mit nur fünf Minuten Verspätung in den Hauptbahnhof ein. Gedrängel auf dem Bahnsteig. Das kannte sie nicht anders. Großstadt eben. Gott sei Dank hatte sie nur die kleine Reisetasche und keine Koffer. Träger waren Mangelware. Nein, sie erwartete kein Empfangskomitee. Bis kurz nach sechs war Laurens im Stadthaus. Also noch genug Zeit, die Liebeshöhle auf Vordermann zu bringen. Ilka brauchte am Droschkenstand nicht zu warten. Die Ankunft des Berlin-Express hatte für genügend Taxen gesorgt, die sich fast am Stand stauten. Die Fahrt zum Leinpfad verging fast im Flug.

Als Ilka sah, dass das Haus genau in dem Zustand war, wie sie es vor zwei Wochen verlassen hatte, kam sie sich vor wie eine Hausfrau. Und das nur, weil Laurens sich konsequent weigerte, ein Mädchen einzustellen. Zuerst nahm sie sich des Schlafzimmers an, dann folgten Waschküche und Bad. Überall Zustände, die sogar die Situation in ihrer Berliner Wohngemeinschaft mit Myrna und Käthe in den Schatten stellten, und Myrna war nun wirklich schlampig. So ging es jedenfalls nicht auf Dauer.

Nachdem sie einigermaßen für Ordnung gesorgt hatte, klingelte es an der Tür. Laurens, der es sich nicht nehmen lassen konnte, den Ehemann zu spielen, obwohl er natürlich einen Schlüssel hatte. Frau zu Hause, alles aufgeräumt, Puschen lagen bereit, Abendbrot fertig? Nicht mit ihr. Ganz und gar nicht. Sie war auch nicht bereit, ihm Essen zu kochen. Nein, dafür war sie nicht gekommen. Egal wie gut er wieder aussah – und das tat er ohne Zweifel, sie würde hier nicht zur Hausfrau werden. Fürs Abendessen musste Egberts am Winterhuder Marktplatz herhalten, ihr Lieblingsrestaurant. Dort kosteten zehn Austern der Sorte Bluepoints Selected nur halb so viel wie am Ku’damm. Dazu ein Chablis Premier Cru. Was gab es Besseres, um das Wiedersehen zu feiern?

Laurens’ Augen hatten Ilka schon immer eine Gänsehaut bereitet. Das Blau war einfach überwältigend. Als sie zu Hause ankamen, waren alle Vorsätze verflogen. In dieser Situation schaffte Ilka es einfach nicht, ihn mit den möglichen Umständen, mit ihren Umständen, zu konfrontieren. Nicht in diesem Moment.

Kapitel 2

1. November 1929

«Was genau ist passiert?», fragte Ilka, nachdem Laurens Kaffee eingeschenkt hatte. Türkisch gebrüht. So, wie er ihn um diese Uhrzeit bevorzugte. Eigentlich trank er ihn flüchtig und im Stehen. Heute jedoch nicht. Sogar den Frühstückstisch hatte er gedeckt. Frische Brötchen, Ei und Orangensaft. So, wie Ilka es liebte. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er schon aus dem Haus gewesen war.

«Unweit der Krugkoppelbrücke trieb sein Leichnam im Wasser.» Laurens tunkte sein Brötchen in den Kaffee. «Auf den ersten Blick hätte man an einen Unfall glauben können. Er ist wohl auch ertrunken. Das sagt zumindest unser Pathologe. Er hat außerdem eine gebrochene Rippe festgestellt. Stumpfe Gewalt also. Da hat wohl jemand nachgeholfen. Oder er ist auf die Böschung geknallt. Am erstaunlichsten aber ist, was Bernstein in seiner Hand hielt. Besser gesagt, was sich in seine Handfläche gebohrt hatte.»

«Mach es nicht so spannend.» Ilka griff zum Glas mit dem Orangensaft. Gut gekühlt. Sie liebte es.

«Eine Anstecknadel. So, als wenn er sie jemandem abgerissen hätte. Vielleicht im Handgemenge. Schwarz-Weiß-Rot. Mit Lorbeeren und … Hakenkreuz.»

«Bernstein war Jude.»

«Eben.»

Ilka kostete vom Honig und köpfte dann das Ei. «Hat es ähnliche Fälle gegeben? Ich meine in letzter Zeit? Übergriffe auf Juden?»

«Man merkt schon, dass du mit einem Criminalen liiert bist.»

Sie schüttelte den Kopf. «Liiert hast du gesagt.»

«Ich korrigiere: unverbindlich verbandelt.» Laurens lächelte sie an. «Nein. Bislang nicht. Nur die üblichen Raufereien zwischen Hakenkreuzlern, SA-Leuten und Kommunisten. Aber kein Tötungsdelikt. Auch wenn man das bei den sichergestellten Waffen manchmal in Absicht stellen könnte. Keine Woche, in der nicht bei irgendwelchen Scharmützeln irgendwer zusammengeschlagen wird.»

Ilka konzentrierte sich auf ihr Ei und dachte an das «Unverbindlich».

«Es sieht aber nicht nach einem gezielten Vorgang aus. Vielleicht etwas im Affekt … Wir tappen noch völlig im Dunkeln. Seine Frau weiß von nichts, sagt sie zumindest. Natürlich steht sie unter Schock. In der Bank ist man auch ratlos. Einen abendlichen Spaziergang an der Alster scheint Bernstein häufig gemacht zu haben, bevor er zu Hause einkehrte. Das meinte seine Frau.»

«Ich werde sie die Tage aufsuchen müssen. Allein was das Haus betrifft. Begleitest du mich?»

Laurens nickte. «Ganz bestimmt. Ich habe ohnehin noch einige Fragen an sie. Und das ist eleganter als eine erneute Vorladung. Am besten gleich heute. Was hast du den Tag über vor?»

«Ich möchte zu meiner Mutter nach Ohlstedt fahren, weiß aber noch nicht, wie viel Zeit das in Anspruch nehmen wird. Wir haben uns lange nicht gesehen, immer nur telephoniert. Ich schätze, gegen vier kann ich zurück sein. Lässt sich das einrichten?»

«Ich werde unser Kommen ankündigen. Hol mich einfach im Stadthaus ab. Ich warte auf dich.» Ein kontrollierender Blick zur Standuhr. «So, ich muss los.» Laurens erhob sich und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab. «Noch irgendwo Reste vom Ei?»

Ilka schüttelte den Kopf und begleitete ihn zur Garderobe. Nachdem er seinen karierten Ulster zugeknüpft hatte, machte er einen Schritt auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann schob er seine Hand unter ihren Morgenmantel. Er wusste, dass sie nichts darunter trug. Noch war es nachts nicht so kalt, dass man einen Pyjama oder ein Nachthemd brauchte. Seine Finger tasteten sich zu ihrem Po vor.

Sie schob ihn energisch von sich. «So, jetzt aber raus mit dir! Sonst kommst du zu spät.» Was natürlich Quatsch war. Um diese Zeit fuhren die Straßenbahnen im Minutentakt. Aber wenn sie sich jetzt auf ihn einließ – und das konnte ganz schnell passieren –, dann würde er sich verspäten. Und zwar nicht zu knapp. Er kniff ihr spielerisch in die Hüfte und zog die Hand zurück. Noch ein Kuss, dann setzte Laurens seinen Borsalino auf, griff sich Schirm und Aktentasche und verließ das Haus.

Ilka überlegte kurz, sich noch einmal in die Federn zu kuscheln, nahm von der verführerischen Idee aber Abstand und schaltete den neuen Europaempfänger ein, den Laurens vor kurzer Zeit gekauft hatte, nachdem sie sich darüber mokiert hatte, dass es kein Radiogerät im Hause gab. Er hatte sich nicht lumpen lassen und gleich das Beste vom Besten gekauft, einen Telefunken 40 mit Stationswähler. Ilka steckte sich eine Kyriazi No 6 an und begann, den Frühstückstisch abzudecken. Eigentlich rauchte sie im Moment OVAs oder Abdulla Standard, aber Laurens hielt die Kyriazis in einer hölzernen Box bereit, aus der er sich bediente, wenn ihm nach Tabak war.

Im Wohnzimmer drohte inzwischen der Wetterbericht mit erbärmlichen vier bis sieben Grad, Bewölkung und Regen bei östlichen Winden. Ilka blickte aus dem Fenster. Hamburger Grieselwetter. Richtig eklig. Und die Temperaturen sollten weiter fallen. Sie hatte Entsprechendes im Gepäck. Selbst an einen Satz wollene Unterwäsche hatte sie gedacht. Aber noch keine Spur von Frost, keine Spur von echtem Winter. Der große Kachelofen, den Laurens’ Vater in der Villa hatte einbauen lassen, strahlte angenehme Wärme ab. Ilka legte noch ein paar Briketts und einen Armvoll Eichenscheite nach, dann zog sie sich um.

Ein Blick auf das Thermometer am Fenster ließ sie von Seidenstrümpfen Abstand nehmen. Die Bahnwaggons waren zwar geheizt, aber allein der Weg zur Station sprach für Wolle. Ilka wählte das braune Kleid mit den Glockenärmeln, dazu den schlanken Kerzenmantel mit den großen Aufschlägen an den Ärmeln und dem Opossum-Kragen, für den sie sich schon im frühen Herbst bei Hirschfeld eine farblich passende Knappe Glocke aus Filz gekauft hatte. Ein Hauch von Eleganz im Hamburger Schmuddelwetter. Immerhin. Der Regenschirm gehörte quasi zur hanseatischen Grundausstattung.

An der Station Sierichstraße kaufte Ilka einen Anzeiger für die Bahnfahrt. Kurz darauf saß sie im völlig überheizten Zug in Richtung Barmbeck und ließ den Stadtpark an sich vorbeiziehen. Die Viertelstunde im lausigen Wind auf dem Umsteigebahnsteig bestätigte sie in der Wahl ihrer Strümpfe. Erst in der Walddörferbahn legte sie Handschuhe und Kappe ab. Ab Wandsbek-Gartenstadt fand sie Gelegenheit, die Zeitung aufzuschlagen. Die Schlagzeilen betrafen die Politik am Bosporus, das Kraftmeiertum zwischen Hitler und Rupprecht sowie den Abbruch der Gleisanlagen im Rheinland auf Geheiß des französischen Generalstabs. Ilka fragte sich, wann da endlich Ruhe einkehren würde. So viele Jahre nach Kriegsende. Letztendlich noch ein Bericht über den Zusammenbruch der Bank für deutsche Beamte, einer Genossenschaftsbank mit immerhin mehr als 15000 Mitgliedern. Dann ein Hinweis auf die heute bevorstehende Sonnenfinsternis. Keine totale, sondern eine ringförmige. Ilka musste lächeln, da man angesichts des wolkenverhangenen Himmels nicht allzu viel davon mitbekommen würde.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Devisen- und Kursnotierungen der Hamburger Börse und die Kassakurse des Berliner Pendants. International wurden die Diskontsätze ermäßigt, so viel war ersichtlich. Die Frage war, ob die Reichsbank dem folgen würde. Alles Dinge, die sie mit ihrem neuen Berater in der Donnerbank besprechen musste. Ilka hatte das von Martin Hellwege geerbte Vermögen mit Bedacht angelegt, in Schweden, Frankreich, England und Amerika. Abgesehen von den Immobilien, war nur etwa ein Viertel des Kapitals auf Einlagen in Deutschland verteilt. Und das wurde von der Donnerbank verwaltet. Wirklich Sorgen machen musste sie sich nicht. Aber eins nach dem anderen.

Die Fahrt ging über Berne bis nach Volksdorf, wo sie auf den Zug in Richtung Hoisbüttel warten musste. Inzwischen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Hoffentlich hatte ihre Mutter gut eingeheizt. Das letzte Mal, als Ilka zu Besuch gewesen war, hatte Mathilda die unbewohnten und ungenutzten Zimmer abgesperrt und nur noch den kleinen Kamin im Salon befeuert, weshalb die ganze Villa völlig ausgekühlt gewesen war. Seit dem Tod ihres Mannes kam Tilda manchmal auf merkwürdige Ideen. Dabei hatte sie es eigentlich nicht nötig zu knausern.

Ilka versuchte, an etwas anderes zu denken. Seitenweise Werbung im Anzeiger. Da war sie von ihrer Vossischen anderes gewohnt. Man merkte eben, dass Hamburg eine reine Kaufmannsstadt war. Das schlug sich auch in den Zeitungen nieder. Die politischen Geschehnisse wurden auf zwei Seiten abgehandelt, meist fast unkommentiert. Aber auch die Baisse an den Börsen wurde nicht wirklich weiter diskutiert. Dafür ganzseitige Anzeigen für Kleidung. C&A, Karstadt, Peek&Cloppenburg und Brenninkmeyer. Alles auf Teilzahlung oder Kredit. Wintermäntel bei Ladage&Oelke zwischen Alsterarkaden und Neuem Wall, Waschmittelwerbung, seitenweise Stellenausschreibungen und Gesuche. Die Warenhäuser kündigten ihre Rekord-Tage an. Man merkte, es ging auf Weihnachten zu und jeder witterte sein Geschäft. Und dann die Theaterwerbung. Der Menge nach musste quasi an jeder Ecke der Stadt ein Tonfilmkino stehen. Im Emelka-Palast gab es Der Frosch mit der Maske von Edgar Wallace, das Waterloo-Theater in der Dammtorstraße warb fürs Tagebuch einer Verlorenen mit Louise Brooks, am Millerntor konnte man Abenteuer mit Charlie Chaplin sehen, und das Lessing-Theater am Gänsemarkt zeigte Fritz Langs Frau im Mond. So ging es über mehrere Seiten. Man konnte den Eindruck bekommen, in Hamburg gäbe es mehr Filmkinos als in Berlin. Nur wenige Live-Veranstaltungen warben um Aufmerksamkeit, und wenn, dann hatten sie zweifelhaften Charakter.

Ilka dachte an Toska und was sie unternehmen konnten. Im Trocadero gastierten die Bon John Jazz Girls. Das klang allemal interessanter als das Programm des Alkazar auf der Reeperbahn, wo eine Sportrevue schöner Frauen angekündigt wurde, ein Pariser Revue Gastspiel sowie Amüsement im Planschetarium. Nein, der hiesige Kiez würde nie mit Berlin oder Paris gleichziehen können. Der fade Beigeschmack des Nepps blieb ihm auf immer angehaftet. Endlich Hoisbüttel. Ilka legte die Zeitung beiseite. Der Droschkenstand war übersichtlich besetzt.

Nach zehn Minuten setzte der Fahrer sie vor der nach Entwürfen von David gebauten prächtigen Villa ab, die mehr als Ersatz für das ehemalige Stadthaus in der Feldbrunnenstraße geboten hatte. Ein Viertelrund in Backstein. Das hohe Walmdach mit der Galerie von Gauben. Zehn Zimmer über die Etagen verteilt. Inzwischen viel zu groß, zumindest für eine Person. In Gedanken sah Ilka ihren Vater, der sie am Portal in den Arm nehmen würde. Sie kannte das Haus eigentlich nicht ohne ihn. Er hatte damals eingewilligt, das städtische Domizil aufzugeben und ins Umland zu ziehen. Wie viele Erinnerungen blieben ihr?

Ihre Mutter am Eingang wirkte einsam. «Welch schöne Überraschung.» Sie hatte immer noch diese mädchenhafte Erscheinung, diese Statur eines zarten Mädchens, auch wenn sie inzwischen graue Haare hatte und etwas gebückt wirkte. Aber im Kern war sie eine Kämpferin. Ilka nahm ihre Mutter in den Arm. «Schön, dass du da bist.»

Wider Erwarten war es warm im ganzen Haus. In den Kaminen loderten die Flammen. Tilda hatte sich Mühe gegeben.

«Was ist mit Agnes?», fragte Ilka. Ihr ehemaliges Kindermädchen, das sie ins Herz geschlossen hatte.

«Agnes hat mich vor einem halben Jahr verlassen», erklärte Tilda. «Es gab ja auch wirklich nichts mehr zu tun für sie. Sie hat eine nette Partie gefunden, einen ganz herzlichen Mann aus Duvenstedt. Vor zwei Monaten haben sie geheiratet. Ich freue mich für sie. Und sie schaut hin und wieder vorbei. Alles wird gut. – So, was kann ich dir anbieten?»

«Wonach dir ist.»

«Tee oder Kaffee? Für Wein ist es doch zu früh.»

«Gerne einen Kaffee.» Ilka nahm gegenüber dem Kamin Platz. «Und du kommst alleine zurecht? Was machst du denn den ganzen Tag über?»

«Was soll ich tun? Das Leben geht weiter. Hauptsächlich bin ich mit der Organisation des Hauses beschäftigt. Das zehrt …»

«Vereinsamst du hier nicht langsam?»

«Ach was. Du glaubst ja nicht, wer mich alles besucht, wer sich alles meldet, wer an unserem Leben teilgehabt hat.»

Ilka fiel der Plural auf, in dem ihre Mutter sprach, auch wenn Sören seit langer Zeit nicht mehr an ihrer Seite war. Klar, sie hatte ihre Frauenrechtlerinnen, die hatte es immer gegeben. Aber Ilka bezweifelte, dass die wirklich hier ein und aus gingen wie früher. Das Haus wirkte wie eine Hülle, wie die abgestreifte Haut einer Schlange. «Du könntest dir etwas in der Stadt suchen. Wozu brauchst du zehn Zimmer?»

Mathilda zögerte. «Vielleicht hast du recht, aber ich mag mich nicht von den Erinnerungen trennen. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst …»

«Vermisst du ihn?»

«Wie könnte ich nicht?»

«Was soll ich sagen?»

«Ich denke, zwischen Vater und Partner bestehen noch gewisse Unterschiede.»

«Ja, entschuldige. Daran habe ich nicht gedacht. Ich kenne euch nur als Einheit.»

«Das waren wir, auch wenn dein Vater 44 und ich 26 war, als wir uns kennengelernt haben.»

Ilka versuchte sich vorzustellen, wie ihre Mutter auf ihren Vater gewirkt hatte, mit ihrer mädchenhaften Statur, der Stupsnase und den Sommersprossen, den goldgelben Augen, dabei fast einen ganzen Kopf kleiner als er selbst. «Du hast nie mit mir darüber gesprochen.»

«Muss man so etwas?»

«Jetzt vielleicht?»

Mathilda zögerte einen Augenblick. «Ich war damals eine unbedarfte junge Frau, die im Hamburger Stadtorchester Violine spielte. Ein Jahr war ich in der Stadt. Aus Berlin kommend. Parallel dazu gab ich Unterricht am Conservatorium. Deinem Vater bin ich zufällig nach einem Konzert von Gustav Mahler begegnet. Es hat sofort gefunkt, wie man heute sagt. Und bei ihm war es wohl ähnlich. Ich war eine überzeugte Sozialdemokratin, und er hatte sein Herz am rechten Fleck, auch wenn er nie Mitglied in der Partei werden wollte. Es war das Jahr der schlimmen Choleraepidemie.» Auf ihren Wangen zeichneten sich die kleinen Grübchen ab, die Ilka lange nicht bei ihrer Mutter gesehen hatte.

«David haben wir aufgenommen, lange bevor wir wirklich ein Paar wurden. Und dann hast du dich irgendwann angekündigt.»

Irgendwann? Ilka schluckte. Der Zeitrechnung nach musste es doch schneller gegangen sein, wenn sie an ihren Geburtstag dachte. Aber es war der falsche Augenblick, ihrer Mutter zu beichten, dass sie schwanger war. Nicht bevor sie mit Laurens gesprochen hatte. Nicht bevor sie sich darüber klar war, ob sie es wirklich wollte. Sie hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion über Moral und Verantwortung. Und ihre Mutter hatte, was das betraf, andere Wertvorstellungen. Auch wenn sie ihr nie einen Vorwurf ob ihres Lebensstils gemacht hatte, ahnte Ilka, dass sie ihr flatterhaftes und unstetes Leben in Wirklichkeit nicht guthieß. Sie hatte nicht nachgebohrt, was Ture betraf. Warum Ilka ihn nicht geheiratet hatte. Auch bei Laurens hielt sie sich diskret zurück. Wünschte sie sich Enkelkinder? Sie hatte nie darüber gesprochen. Auf der einen Seite die couragierte Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin, auf der anderen Seite doch Mutter genug, solche Wünsche zu hegen.

Dass David und Liane keinen Nachwuchs in die Welt gesetzt hatten, damit schien sie sich abgefunden zu haben, denn inzwischen waren sie zu alt. David hatte ihr gegenüber mal erwähnt, dass sie es durchaus versucht hatten, zumindest nichts dagegen unternommen hätten. Vielleicht war einer von ihnen auch nicht zeugungsfähig. So genau hatte er es nicht gesagt und sie hatte nicht weiter nachgefragt, aber ein wirklicher Kinderwunsch hätte in Ilkas Augen auch anders ausgesehen. Vielleicht hatte ihre Mutter es auch deshalb akzeptiert, da David nicht ihr eigenes Kind war. Ob Blutverwandtschaft ihr wichtig war? Eigentlich passte das nicht zu Tilda.

«David war schon fünfzehn, als er zu euch kam, oder?», fragte sie.

Mathilda lächelte. «Fast. Er kam aus ganz ärmlichen Verhältnissen. Eine Waise, ein Straßenkind. Dein Vater hatte ja beruflich bedingt immer Kontakt zu ärmeren Bevölkerungskreisen. Er vertrat hauptsächlich eine Klientel aus der Arbeiterschaft, häufig auch aus dem Milieu von Kleinkriminellen. Und David lebte damals in einer Art Jugendbande unter der Obhut eines alten Ganoven, dem das Leben übel mitgespielt hatte, Hannes Zinken war sein Name. Kein wirklicher Verbrechertyp, eher so ein schrulliger Gelegenheitsgauner, der inzwischen zu alt war, selbst auf Beutezug zu gehen. David hatte für Sören etwas ausbaldowert und wäre dabei fast von wirklichen Verbrechern totgeschlagen worden. Sören hatte so ein schlechtes Gewissen, dass er Hannes Zinken versprach, David aufzunehmen und für seine Ausbildung zu sorgen …» Mathilda seufzte. «So war er immer.»

«Na, das hat ja auch geklappt, wenn man bedenkt, was er heute für eine Stellung hat.»

«Ja, aber … Nun, manchmal merkt man immer noch, dass er aus einem anderen Holz geschnitzt ist.»

«Das habe ich nie so empfunden. Oder meinst du seine körperliche Präsenz? Er hat nie einen Hehl aus der Tatsache gemacht, dass er notfalls auch bereit ist, sich auf anderem Wege für eine Sache einzusetzen, von der er überzeugt ist.»

«Ja, so in etwa …» Mathilda machte einen tiefen Atemzug. «Was ist denn mit deinem Laurens? Werdet ihr irgendwann zusammenziehen? Es geht mich ja nichts an, aber wie lange kennt ihr euch inzwischen?» Sie tat, als rechne sie zurück, aber das war schlecht gespielt. «Über vier Jahre schon.»