»Such dir einen schönen Stern am Himmel« - Karl-Heinz Zacher - E-Book
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»Such dir einen schönen Stern am Himmel« E-Book

Karl-Heinz Zacher

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Beschreibung

***Ein großes Liebesversprechen*** Das Schicksal trifft Nina Zacher aus heiterem Himmel. Mit Anfang 40 wird bei der vierfachen Mutter ALS diagnostiziert, eine Erkrankung, bei der der Körper langsam zerfällt, der Geist aber hellwach bleibt. Doch statt sich zurückzuziehen und auf den Tod zu warten, geht Nina Zacher an die Öffentlichkeit. Zehntausende folgen der jungen Frau und Mutter von vier kleinen Kindern auf Facebook. Ehrlich und direkt schreibt sie über ihr Leben, ihr Leiden und ihr Sterben und beweist dabei ungeheure Stärke und Lebensmut. Bis kurz vor ihrem Tod teilt sie ihre Gedanken, und als sie sich fast nicht mehr bewegen kann, schreibt sie ihre Texte mit einem augengesteuerten Spezial-Computer. Ihren größten Traum, ein Buch zu schreiben, kann sie nicht mehr verwirklichen. Doch ihr Mann erfüllt ihr diesen letzten Wunsch und löst damit sein Versprechen ein, den entschlossenen Kampf seiner Frau gegen die heimtückische Krankheit weiterzuführen. So ist ein tiefberührendes Vermächtnis entstanden, das über den Tod hinausgeht. Für Karl-Heinz Zacher ist es ein Zeugnis ihrer unerschütterlichen Liebe, das ihm nun ermöglicht, die Familie in ein Leben ohne seine Frau zu führen. Und es ist eine tiefgründige Antwort auf die Frage, was am Ende wirklich zählt.

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Seitenzahl: 275

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Nina Zacher | Karl-Heinz Zacher | Dorothea Seitz

»Such dir einen schönen Stern am Himmel«

Krankheit ALS – Die Geschichte eines Abschieds

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungDas VersprechenEin dumpfes GefühlIn guten wie in schlechten ZeitenAuf der Suche nach AntwortenMama stirbtEin schweres GesprächDas letzte Mal. Zwei Jahre langGlaube, Liebe, SarkasmusVon anderen behindertEwiger FrostVorbildlich»Wie geht’s?«Kleine AbschiedeWas ich dir noch sagen wollteLoslassenBis dass der Tod euch scheidetEin neues Leben. Ohne und zugleich mit Nina.

Für Nina, mit all unserer Liebe und

tiefer Dankbarkeit

 

Wir tragen dich auf ewig im Herzen eingeschlossen,

so, wie die Seiten in diesem, deinem Buch es sind.

 

Lola, Luke, Lenny, Helena & Karl-Heinz

Das Versprechen

Ein Samstagnachmittag. Die Sonne strahlt. Die Kleinen spielen im Garten. Lenny und Helena haben sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Ich setze mich an meinen Computer, um in die glücklichen Zeiten unserer Familie zurückzukehren. Vieles in letzter Zeit geschieht einfach. Ich kann es mir nicht erklären, so auch diesmal, als etwas in mir mich Ninas Aufzeichnungen öffnen lässt. Nina, unentwegt drehen sich meine Gedanken um dich.

Drei Wochen ist es her, dass meine Frau in meinen Armen eingeschlafen ist. Jetzt, zwei Wochen nach ihrer Beisetzung ist es immer noch unfassbar, ihren Tod, den Abschied, die Endgültigkeit begreifen zu müssen. Wir hatten sehr lange Zeit, uns darauf vorzubereiten, auch gemeinsam mit den Kindern, doch als das Unvermeidliche eintrat, war es trotzdem unfassbar. Es sprengt alle Vorstellungen, wirklich alles, ob bewusst oder unbewusst zurechtgelegt, ist nicht mehr da, mir nicht mehr möglich, darauf zurückzugreifen.

In der Küche stapeln sich körbeweise Kondolenzkarten und Briefe, die meisten sind von Menschen, die wir niemals persönlich kennengelernt haben. Sie haben über Nina gelesen, sie im Fernsehen gesehen oder sind ihrer Facebookseite gefolgt. Nun möchten sie uns ihre Anteilnahme, ihr Mitgefühl aussprechen, denn Ninas Schicksal hat die Menschen nicht nur emotional berührt – nein, Nina hatte auch eine Botschaft.

Ab Mitte 2013, mit dem Auftreten erster elementarer Einschränkungen durch ihre ALS-Erkrankung, fing meine Frau an, ihre Gedanken und Gefühle aufzuschreiben. Zunächst nur für sich selbst, um zu verarbeiten, was ihr bei Diagnosestellung eröffnet worden war: dass ihr nur noch wenig Lebenszeit bleiben würde, und dass ihr Weg begleitet sein würde vom schmerzvollen Verlust ihrer gesamten motorischen Fähigkeiten. Sie langsam und unaufhaltsam vergehen würde. Die Brutalität dieser Nachricht, die Hoffnungslosigkeit, die Ausweglosigkeit und das Unabwendbare setzten bei Nina einen Prozess in Gang. Schonungslos stellte sie sich zahlreiche Fragen: »Was löst eine schnell verlaufende, tödliche Erkrankung in der Familie, in einer Partnerschaft aus, was passiert im persönlichen Umfeld? Was macht es mit einem selbst, wie fühlt man sich, was denkt man?«

Als sie anfing, ihre Gedanken mit der Öffentlichkeit zu teilen, wurde ihr nach und nach bewusst, wie sehr sie andere mit ihren eigenen Erfahrungen und Gedanken berührte und gleichzeitig zum Nachdenken über das eigene Leben anregte.

Einige der Texte, an denen sie zum Teil Monate feilte, veröffentlichte sie später auf ihrem Blog. Andere waren rein privat, sehr intim, wie Tagebucheinträge. Alles, was Nina schrieb, mailte sie auch an mich. Diese Aufzeichnungen waren als Basis für ein Buch gedacht.

Eigentlich wollte Nina ihr Buch selbst verfassen, doch aufgrund der dramatischen körperlichen Verschlechterungen stellte sich das als praktisch unmöglich heraus. Mit diesem Gedanken suchte Nina im Sommer 2015 den ersten Kontakt zu Dorothea Seitz, deren Bücher sie immer sehr geschätzt hat. Nina schrieb Dorothea per WhatsApp: »Es soll ein Buch für alle sein, die glauben, sie sind in einer ausweglosen Situation. Ich möchte zeigen, wie wertvoll das Leben ist, wie schnell sich alles ändern kann. Wie man trotzdem weitermachen und das Beste daraus machen kann.«

Zunächst konnte Nina ihre ganzen Ansichten noch als Sprachaufzeichnung diktieren, bald aber kämpfte sie mit stetig zunehmender Atemnot und einer immer schlechter werdenden Sprachfähigkeit. Schließlich fing sie an, mit einem augengesteuerten Computer zu trainieren, doch damit etwas so Gehaltvolles zu schreiben, kostete zu viel Kraft und Zeit. Als Nina dann gänzlich die Fähigkeit verlor zu sprechen, war sie komplett auf das augengesteuerte Kommunikationssystem angewiesen. Es dauerte Stunden, bis einige wenige Sätze fertig waren. Trotzdem schrieb sie bis kurz vor ihrem Tod.

Als klarwurde, dass sie selbst ihr Buch nicht zu Ende schreiben können wird, versprach ich Nina, ihre Texte nach ihren Wünschen zu ordnen und ihr Projekt für sie beizeiten zu Ende zu führen. Die unzähligen Texte für das Buch, das sie geplant hatte, die ich in einem dafür angelegten Ordner auf meinem Computer gespeichert habe, habe ich mir noch nie angesehen. Es ist mir noch nicht in den Sinn gekommen, sie zu lesen. Nie habe ich einen Gedanken daran verschwendet, die von uns, in unserer Ehe gelebte gegenseitige Wahrung unserer Privatsphäre, die auch nach Ninas Tod weiter tief in mir verankert ist, zu übergehen. Bis mir eben jetzt ein unerklärliches Gefühl, ein Gedanke es gestattet hat, es zu lesen.

Nach zwei Stunden habe ich nun das Gefühl, dass dies ein großer Fehler war. Nina war ja immer schon sehr offen und hat viele ihrer Gedanken nach außen kommuniziert, aber diese Texte sind noch mal ganz anders. Gehaltvoller. Drängender. Dieser unglaublich tiefe Blick in den letzten Winkel der Seele meiner Frau lässt mich erst jetzt vollständig begreifen, welchen Kampf Nina in Wahrheit geführt hat. Den Kampf einer Sterbenden. Das Ausmaß wird mir, obwohl ich ihr so nah war, und wir über alles gesprochen haben, erst jetzt bewusst, genau Ninas Art entsprechend, direkt und schonungslos. Seit ich angefangen habe, es zu lesen, empfinde ich eine Art von Trauer, die ich noch nicht kannte. Manche Zeilen verursachen neben dem psychischen gar einen körperlichen Schmerz. Aber es geht auch eine unglaubliche Kraft von ihren Worten aus, ein ungebrochener Lebenswille. Ich verstehe einmal mehr die Faszination, die diese Texte auch bei ganz fremden Menschen auslösen.

 

Ich kann nicht mehr weiterlesen, jetzt, da ich an dem Brief von Nina an mich angelangt bin, schmerzt es zu sehr, ist unerträglich. Ich werde die nächsten Tage brauchen, um die gelesenen Passagen zu verdauen, dennoch muss und will ich das Nina gegebene Versprechen halten, auch wenn ich es mir jetzt nicht im Geringsten vorstellen kann. Wie soll ich das schaffen, das bewusste, oft gnadenlos brutale Zulassen des Verlustes, jetzt undenkbar?

Vielleicht bin ich in einiger Zeit dazu fähig, Dorothea anzurufen, um Ninas Buch irgendwann zu Ende zu schreiben.

Ein dumpfes Gefühl

Als ich am Gründonnerstag vor vierundvierzig Jahren zur Welt kam, hat mich leider niemand gefragt, ob ich bereit bin für diese Welt. Und für dieses Leben, das ich mir – laut mancher Glaubensrichtungen – gegebenenfalls selbst gewählt haben könnte. Hätte ich gewusst, was ich heute weiß, hätte ich sicherlich »nein« gesagt. Aber wer von uns wurde schon gefragt, ob er bereit ist für das Leben, das für jeden bestimmt ist, ohne vorher zu wissen, was einen erwartet? Schon gar nicht zu ertragen, in der Blüte seines Lebens all seine mühevoll erworbenen Fähigkeiten wieder zu verlieren und das unfassbare Los zu ziehen, die einzige unheilbare schnell tödliche Krankheit zu bekommen, die es im 21. Jahrhundert noch gibt. Überraschungen mochte ich noch nie. Wahrscheinlich, weil sie nie wirklich positiv waren und immer eine Art russisches Roulette darstellten. Ich schaue mir die Dinge gerne vorher an, genauso wie ich Käufe im Internet nicht mag, eben weil ich nicht besonders auf Überraschungen stehe und vorher gerne weiß, was ich bekomme.

Als Nina Zacher diese Zeilen im November 2014 schreibt, ist ihre Erkrankung, die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS genannt, bereits fortgeschritten. Seit gut einem Jahr lebt sie mit der Gewissheit, dass sie sterben wird. Das, was einen Menschen erwartet, wenn er mit der erschütternden Diagnose »ALS« konfrontiert wird, lässt sich nur ansatzweise erahnen: ein quälender, harter und schmerzvoller Weg, der unaufhörlich und nicht revidierbar auf den »Tag X« zuläuft und einem schrittweise alle körperlichen Fähigkeiten raubt. Oder wie Ninas Mann Karl-Heinz es sagt: »Eine Krankheit, die einen packt wie ein mitreißender Fluss und bei der man verzweifelt versucht, an den ins Wasser ragenden Wurzeln Halt zu finden.«

Die Diagnose »unheilbar« trifft Nina nicht aus heiterem Himmel. Vor dem Satz: »Sie haben ALS« liegt die lange Suche nach Erklärungen. Fast zwei Jahre in Ninas Leben sind bestimmt von Ungewissheiten, Ahnungen und Ängsten. Ihre Odyssee führt sie durch Arztpraxen und Kliniken, und jede der Untersuchungen ist begleitet von großer Sorge und zugleich von großer Hoffnung. Über allem schwebt die bange Frage: »Was habe ich bloß für eine Krankheit?«

Die ersten Anzeichen treten in den Weihnachtsferien 2011/2012 auf. Die Familie verbringt ihren Skiurlaub in Sölden, das erste Mal zu sechst: die Eltern Nina und Karl-Heinz und ihre vier Kinder Lola, Luke, Lenny und Helena. Töchterchen Lola ist gerade ein halbes Jahr alt. »Erst mit Lola sind wir komplett«, sagt Nina oft, »Lola ist das i-Tüpfelchen, das uns bis dato gefehlt hat«. Die Fotos von damals zeigen eine glückliche Familie. Alles erscheint perfekt: blauer Himmel vor einer Traumkulisse, strahlende Gesichter, entspannte Atmosphäre. Nina mit schulterlangem, blondem Haar, sie wirkt gelöst.

Die Familie ist angekommen – privat und beruflich. Das Restaurant St. Emmeramsmühle in München Oberföhring, das Nina und Karl-Heinz vor dreizehn Jahren übernommen haben, und in das sie ihr ganzes Herzblut gesteckt haben, ist zu einem beliebten Lokal im Münchner Norden geworden. Nach stürmischen Zeiten scheinen sie jetzt an einem Punkt zu stehen, an dem sie glauben, endlich einmal durchschnaufen zu können.

Eines Abends in diesem Skiurlaub spürt Nina eine Art Druck in ihrem rechten Daumenballen, eine Mischung aus Schmerz und Taubheitsgefühl. Wahrscheinlich, so tippt sie als Erstes, ist es eine Prellung, eine Zerrung, verursacht durch ein unglückliches Abbremsen mit dem Skistock auf der Piste am Nachmittag. Nina beschließt, dem keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken und vertraut darauf, dass es einfach von alleine vorbeigehen wird. Doch es bleibt. Selbst Wochen nach der Rückkehr nach München will das komische Gefühl im Daumen einfach nicht weichen. Im Gegenteil, das, was sich zuerst anfühlt, wie ein heftiger Muskelkater, wird zunehmend intensiver und beginnt sich weiter auszubreiten: erst auf den Daumenballen, dann auf die Hand und schließlich auf den ganzen Unterarm.

Was Nina zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: In ihrem zentralen Nervensystem hat sich ein hochkomplexer Prozess in Gang gesetzt, der ihre motorischen Nervenzellen schädigt und zu einem unaufhaltsamen Muskelabbau führt. In den kommenden Monaten ergreift die Erkrankung langsam, aber stetig Besitz über Ninas gesamten Körper. Als Erstes verliert sie die Kraft in ihrer Hand, so dass ihr Gegenstände einfach aus den Fingern gleiten.

Im Sommer muss Nina sich schließlich eingestehen, dass es so nicht weitergehen kann:

Am 24. Juli, an dem das Wetter einmal wieder nicht so gut war, um den elften Geburtstag unserer Tochter wie ursprünglich geplant draußen zu feiern, mussten wir, wie schon so oft bei unseren bescheidenen Sommern, »Plan B« aus der Tasche zaubern. Der sah vor, mit einigen eingeladenen Freundinnen meines Kindes zum Bowling zu gehen. Praktischerweise buchte ich mit meinem Mann eine Bahn neben den Mädels, um ebenfalls eine Runde zu bowlen. An diesem Abend merkte ich zum ersten Mal, dass etwas nicht stimmte. Egal, welche Bowlingkugel ich in die Hand nahm, keine wollte mir so recht passen. Alle waren unglaublich schwer und glitten mir teilweise unkontrolliert aus der Hand. Ich wunderte mich ein wenig, schenkte dem Ganzen aber nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Als Mutter von vier Kindern und einem noch nicht mal einjährigen Mädchen darf man schon mal ein bisschen erschöpft und kraftlos sein. Wer konnte schon ahnen, was danach geschah? Einige Tage später fiel mir auf, dass ich beim Schreiben einer Entschuldigung für meinen Sohn dem Stift in meiner Hand nicht mehr den nötigen Druck verleihen konnte, um ein sauberes Schriftbild zu erzeugen. Nun war ich doch etwas überrascht und rief meinen Freund Robert, einen befreundeten Orthopäden an, um zu klären, ob es vielleicht an einer Verspannung meiner Schultern durch das ständige Tragen meiner Kinder liegen könnte? Währenddessen ging das Leben ungehindert weiter: Die Kinder gingen zur Schule, mein Kleinster in den Kindergarten und Lola hing wie immer an der Mama.

Nina hatte bis dahin die kontinuierlich zunehmenden Beschwerden immer wieder mit einem »Das wird schon wieder!« beiseitegeschoben und die Bewegungen, die ihr schwerfielen, durch andere ersetzt. Doch jetzt wird ihr bewusst, wie viele vermeintlich banale Handgriffe sie inzwischen damit kompensiert. Statt mit dem Daumen übers Smartphone zu wischen, tippt sie zur Bedienung mit dem Zeigefinger. Verrutscht ihr die Brille, richtet sie sie nicht wie üblich mit Daumen und Zeigefinger, sondern schiebt sie mit dem Handrücken zurück. Hat sie Schwierigkeiten beim Öffnen der Kaffeedose, bittet sie ihren Mann um Hilfe. Erst später, als ihr Leiden bereits weit fortgeschritten ist, versucht sie zu rekonstruieren, wann und wie alles begonnen hat, und setzt all diese kleinen Augenblicke zu einem Gesamtbild zusammen. Dennoch erscheint es ihr immer noch unvorstellbar, dass aus diesen vergleichsweise harmlosen Einschränkungen eine derart monströse Erkrankung erwachsen konnte.

Lange sucht sie nach möglichen harmloseren Ursachen. Hat sie sich etwa einen Nerv eingeklemmt? Der erste Weg führt sie zu einem Orthopäden, der als Verdachtsdiagnose das Karpaltunnelsyndrom in den Raum stellt. Hierbei kann es zu einer Empfindungsschwäche und zu Beweglichkeitsstörungen in den Händen kommen – etwa wenn dauerhaft ein zu großer Druck auf den Nerv im Handgelenk ausgeübt wird. Diagnostisch wird dies allerdings schnell ausgeschlossen, und weitere Untersuchungen deuten stattdessen auf eine massive Schädigung der Halswirbelsäule hin. Als Nächstes folgen eingehende Untersuchungen in einer Klinik bei einem Neurologen. Der, so erinnert sich Karl-Heinz Zacher, habe damals, als seine Frau ihm die Symptome schilderte, gleich ziemlich komisch geschaut. Im Nachhinein sagt er sich, dass dessen Reaktion sie bereits hätte stutzig machen müssen. Besonders, weil der Mediziner sich im Anschluss an den Termin regelmäßig telefonisch bei Nina meldet, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ob die Einschränkungen in der Hand sich verschlechtert hätten, will er wissen, ob sie etwas in den Beinen spüre, ob sie noch Treppen steigen könne oder ob sie öfters stolpere? Er scheint zu ahnen, was wirklich hinter Ninas Beschwerden stecken könnte. Allerdings teilt er ihr seine Vermutungen nicht mit. Seine drängenden Nachfragen bleiben dennoch nicht ohne Nachhall.

Eines Morgens setzt sich Nina an den Rechner und startet eine Internetsuche. Inzwischen befürchtet sie selbst, dass etwas Schwerwiegendes hinter all dem stecken müsse. »Ich habe dann eingegeben: ›Muskelschwäche rechte Hand‹«, erzählte Nina von diesem Tag, »und dann kam die ALS. Somit sah ich meine Symptome und wohin der Weg gehen würde. Ich schob die Maus weg, bin in den ersten Stock, ins Schlafzimmer gegangen, legte mich aufs Bett und dachte: Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Mein Mann folgte mir und fragte: Was ist denn los?, und ich sagte: Bitte, lies das mal. Was da steht, ist exakt das, was mir fehlt. Ich habe Angst.«

Karl-Heinz versucht, seine Frau zu beruhigen: Es gebe bislang keine Aussage eines Arztes dazu, niemand habe das bisher erwähnt. Sie solle sich das jetzt nicht einreden. Nina aber zieht sich zurück. Sie verlässt für ein paar Tage kaum das Schlafzimmer, wird still, will nichts mehr essen. Von diesem Tag an hängt die Krankheit »ALS« wie ein Damoklesschwert über den beiden.

ALS (Amyotrophe Lateralsklerose bzw. Amyotrophische Lateralsklerose)

 

ALS ist eine Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems. Sie wurde erstmalig im Jahr 1874 durch den französischen Neurologen Jean-Martin Charcot beschrieben und als »Amyotrophe Lateralsklerose« bezeichnet. Bei ALS kommt es zu einer fortschreitenden und irreversiblen Schädigung der sogenannten motorischen Neuronen, auch Motoneuronen genannt, also derjenigen Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Betroffen sind dabei sowohl das erste Motoneuron, das sich in der Hirnrinde befindet, als auch das zweite Motoneuron im Rückenmark, dessen Fortsätze zur Skelettmuskulatur führen. Sind diese Nervenzellen beschädigt, werden die Muskeln nicht mehr ausreichend innerviert.

Das erste Motoneuron wird auch oberes motorisches Neuron genannt, weil es dem zweiten, unteren motorischen Neuron übergeordnet ist. Fällt dieses aus, kommt es zu einer sogenannten spastischen Parese (unwillkürliche Muskelzuckungen, Verkrampfen, Lähmungen). Ist das untere zweite Motoneuron geschädigt, erschlaffen die Muskeln. Die Folgen: Muskelschwund, Muskelschwäche an Armen, Beinen und auch der Atemmuskulatur.

 

Die ersten Symptome der Krankheit treten je nach Patient an unterschiedlichen Stellen auf. Manchmal zeigen sich Muskelschwund und -schwäche zunächst in der Hand- und Unterarmmuskulatur der einen Körperseite, bevor sie sich auf die andere Seite und auf die Beine ausdehnen. Bei einem kleinen Teil der Erkrankten treten die Symptome zuerst beim Sprechen, Kauen und Schlucken auf, dieser Verlauf wird als bulbär bezeichnet. Weltweit erkranken pro Jahr etwa 100000 Menschen an ALS. Die meisten Patienten überleben nur wenige Jahre.

Es gibt eine seltene erbliche und eine nicht-erbliche, sogenannte sporadische Form der ALS. Als sicher gilt inzwischen, dass neben Genen Proteine für die Fehlfunktionen der Motoneuronen verantwortlich sind.

 

Quelle: SZ Artikel »Forum Spitzenmedizin«, Juli 2017

Natürlich konfrontiert das Ehepaar ab diesem Zeitpunkt die behandelnden Mediziner immer wieder mit der Frage, ob es sich um ALS handeln könnte? Als Antwort hören sie dann, dass eine sogenannte »Motoneuronen-Erkrankung« zwar nicht ausgeschlossen werden könne, da man durchaus die hierfür typischen ALS-Auffälligkeiten feststellen könne. Allerdings läge die Wahrscheinlichkeit, dass Nina tatsächlich an der Krankheit leide, bei nur fünf Prozent.

Karl-Heinz, der sich aufgrund der Erkrankung seiner Frau sehr intensiv mit ALS auseinandergesetzt hat, weiß heute, dass die Kombination von fünf Faktoren auf eine Amyotrophe Lateralsklerose hinweisen kann:

»Zum einen findet sich da Muskelschwund, die sogenannte Parese, sowie eine Muskelschwäche. Dazu kommen die andauernden Muskelzuckungen, genannt Faszikulationen, sowie die Lähmungen und die Spastik. Diese spezielle Kombination sieht man eigentlich nur bei der ALS. Eine weitere maßgebliche Auffälligkeit ist, dass die Beschwerden auf beiden Seiten symmetrisch auftreten und im Verlauf auf die Beine (oder die jeweils anderen Extremitäten) übergreifen. Natürlich sind diese Symptome den Medizinern als Merkmale der ALS ebenfalls bekannt, allerdings steht den Ärzten bis dato noch kein diagnostisches Tool zur Verfügung, wie das bei anderen Erkrankungen der Fall ist. Man kann die ALS derzeit nicht mit dem einen Röntgenbild, der einen CT-Auswertung oder einer speziellen Laboruntersuchung feststellen. Werden im Rahmen einer Ursachenforschung solche Untersuchungen durchgeführt, dienen sie bei ALS-Patientinnen und -Patienten in erster Linie dazu, andere Erkrankungen auszuschließen. Dies macht den ganzen Prozess so langwierig und mühsam. Ich möchte die Ärzte, die eine ALS-Diagnose erst dann aussprechen, wenn sie sich wirklich zu hundert Prozent sicher sind, da durchaus in Schutz nehmen. Würden sie fälschlicherweise bei jemandem eine ALS-Erkrankung diagnostizieren, wäre das für den Betreffenden eine furchtbare Katastrophe.«

So kommt es, dass Nina auf ihre sehr konkrete Frage ausschließlich ausweichende Antworten erhält. Obwohl sie selbst bereits in diesem ersten schrecklichen Verdachtsmoment im Internet eine mögliche Ursache für ihre Beschwerden gefunden hat, muss sie viele weitere Monate in Unklarheit leben. Ein ganzes Jahr, in dem sie immer wieder schwankt zwischen purer Panik, ungebrochenem Optimismus und der verzweifelten Hoffnung, dass ihr die ultimative Grausamkeit einer ALS-Erkrankung erspart bleibt.

Tatsächlich vermitteln die Ärzte auch weiterhin, dass sie zuversichtlich sein kann. Als möglichen Grund für Ninas fortschreitende Beschwerden fokussieren sie sich nun auf eine mögliche Schädigung des Rückenmarks. Nina klagt zunehmend über Nackenschmerzen, die bis zu ihrem rechten Daumen ausstrahlten. Es komme ständig zu Verkrampfungen der rechten Hand bzw. des ganzen Unterarms. Zudem, so berichtet Nina in den zahlreichen Arztgesprächen, könne sie viele Dinge wie Schreiben oder festes Zugreifen mit der rechten Hand nicht mehr erledigen. Und, was ihr besonders beängstigend erscheint: Inzwischen hat sich die dauerhafte Missempfindung in der Handmuskulatur sowie das Auftreten erster Lähmungserscheinungen ebenfalls auf die linke Hand ausgebreitet. Als Ursache dafür vermutet ein im März neu hinzugezogener Spezialist gravierende Schädigungen der Halswirbelsäule. Er rät Nina zu einer sofortigen Operation und warnt sie eindringlich davor, noch mit dem Auto zu fahren; sollte sie bei einem Auffahrunfall verletzt werden, drohe ihr sogar eine Querschnittslähmung. Umgehend wird ein Operationstermin vereinbart. Gerade mal zwei Tage nach der Erstuntersuchung liegt Nina auf dem OP-Tisch.

Die Ärzte haben eine schwere Spinalkanalstenose der Halswirbelsäule entdeckt, d.h. eine knöcherne Enge von drei ganzen Wirbelkörpern, die auf das Rückenmark drücken und so zu den Ausfällen an ihren Extremitäten führen können. Zusätzlich befindet sich an einem Segment ein Bandscheibenvorfall, der die Ausfälle möglicherweise weiter verstärkt. Die Aussicht darauf, all dies könnte der wahre Grund für Ninas Beschwerdebild sein, macht ihr Mut. Ihr ist bewusst, dass eine derartige Operation aufwendig ist, und dass ihr durch die anschließende Rehamaßnahme ein entsprechend hoher Zeitaufwand abverlangt würde. Am Ende aber, so hofft sie, könnte bei gutem Verlauf endlich die so sehr ersehnte Rückkehr in ihren gewohnten Alltag stehen. Im Nachhinein erscheint Karl-Heinz die OP als eine zwiespältige Sache:

»Der behandelnde Arzt dort hat uns einerseits richtig Angst gemacht und andererseits sehr große Hoffnung. In der Dramatik, mit der er die Notwendigkeit eines Eingriffs darstellte, lag natürlich die Annahme, dass Ninas Beschwerdebild keine neurodegenerative, sondern eine mechanische Ursache zugrunde lag. Damit rückte eine Motoneuronenerkrankung wieder weiter weg, und das stimmte uns entsprechend zuversichtlich. Dieser enorme Druck zu einer schnellen Entscheidung führte ebenfalls dazu, dass für uns im Vorfeld gar nicht recht erkennbar wurde, was für eine OP das werden würde. Man hatte zwar gesagt, dass sich der notwendige Umfang erst während der Operation herausstellen würde, aber als wir danach die Bildgebung gesehen haben, waren wir beide doch ziemlich geschockt, was da alles gemacht worden war.«

Während des sechsstündigen Eingriffs wird ein Wirbelkörper sowie die vorgefallene Bandscheibe entfernt und jeweils durch Implantate ersetzt. Um die Stabilität sicherzustellen, verschraubt man zusätzlich vier Wirbel mit einer Titanplatte, was mit einer Versteifung der Halswirbelsäule einhergeht und von da an mit erheblichen Bewegungseinschränkungen verbunden ist. Ist der medizinische Eingriff an sich schon aufwendig, so fordert er danach einen noch höheren Zoll. Nach dem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt wird Nina ein dreiwöchiges striktes Liegen verordnet, wofür sie vorübergehend in das sogenannte Wasserschlössl an der St. Emmeramsmühle zieht. In diesem idyllischen Backsteingebäude an der Isar kann sie sich in Ruhe von den Strapazen des Eingriffs erholen. Zudem ist gewährleistet, dass sie im Trubel des Familienlebens mit den quirligen Kleinkindern keine unbedachten Bewegungen riskiert, die den gewünschten Operationserfolg gefährden würden. Natürlich kommen Karl-Heinz und die Kinder täglich zu Besuch, ebenso wie anschließend regelmäßig nach Bad Wiessee, wo Nina weitere fünf Wochen in einer Rehaklinik verbringt. Trotzdem leidet Nina unter der zweieinhalbmonatigen Trennung von ihrer Familie und ihrem Zuhause. Eine Zeitspanne, die sie im Nachhinein immer wieder als eine verlorene Phase bezeichnet und über die sie selbst schrieb:

Diese OP kostete mich wertvolle Monate meines Lebens. Nur vergeudete Zeit. Zwar konnte bei meinem Ärztemarathon schon sehr früh eine Motoneuronenerkrankung nicht mehr ausgeschlossen werden. Jedoch hatte scheinbar niemand den Mut, dies auch zu äußern. Nach einem MRT, das drei Bandscheibenvorfälle und eine starke arthrotische Veränderung der Halswirbelsäule zeigte, waren sich die Ärzte sicher, die Ursache der Schwäche und der Lähmung zu kennen. Wohl aber, ohne mich persönlich und die damals schon vorhandenen Muskelzuckungen und Krämpfe, die so gar nicht dazu passten, miteinzubeziehen. Schließlich wurde ich also nach längeren Besprechungen, weiterer hunderter Nadeln in meinem Körper und diverser schmerzhafter Untersuchungen umfangreich an der HWS operiert, verplattet und versteift. Heilige Mutter Gottes! Dieser medizinische Unfug und das Totalversagen der lang studierten Fachärzte hat mich drei kostbare Monate meines schon damals nur noch kurzen Lebens gekostet.

Dass Nina diesen Eingriff rückblickend als Belastung und als erfolgloses Unterfangen betrachtet, liegt nicht nur daran, dass es sich im Nachhinein tatsächlich als medizinisch bedeutungslos und somit völlig überflüssig herausstellte. Das wesentlich Tiefgreifendere und Schmerzlichere vollzieht sich in Ninas Innerem. Langsam setzt sich in ihrer Gedankenwelt die Möglichkeit fest, dass dies nicht der wahre Grund für ihre Beschwerden sein kann. In den vielen Stunden, in denen sie, getrennt von ihrer Familie, Zeit zum Nachdenken findet, entsteht viel Raum für Reflexion: über ihr Leben, ihre Vergangenheit, die mögliche Zukunft. Über die Menschen an ihrer Seite, ihre Kinder und natürlich ihren Mann. Wie stark ist die Liebe zu Karl-Heinz? Und seine zu ihr? Würde ihre Liebe eine schreckliche, grausame Erkrankung wie die ALS aushalten?

Karl-Heinz, der seine Frau nicht nur sehr lange, sondern auch sehr gut kennt, bleibt all das nicht verborgen:

»Ich hatte schon seit März gespürt, dass Nina überflutet war von vielen Gedanken. Als sich dann in diesen fünf Wochen Reha überhaupt nichts verbesserte, erkannte sie ganz klar, dass die OP völlig sinnlos gewesen ist und dass der Ausgangspunkt ihrer Symptome nicht die Bandscheibe war. Somit kehrte das nie gänzlich verschwundene Schreckgespenst ALS zurück. Sie grübelte darüber, was das bedeuten würde: unheilbar? Für sie selbst, für ihre Wünsche, Träume, Zukunftsplanungen, die auf einmal komplett in Frage standen. Was würde das für uns alle heißen, für unsere Kinder, die ohne Mutter aufwachsen würden? Wie sollte es mit uns weitergehen? Sie hat wohl in dieser Zeit bereits erfasst, dass ihre Träume zerplatzen werden. Dass ihr gesamtes Konstrukt für die Zukunft zusammenfallen wird. Ich denke, das alles zu sortieren, hat sie durchaus überfordert.«

Für kurze Zeit in diesem Frühsommer fürchtet Karl-Heinz, seine Frau könne sich von ihm entfernen. Zu gerne würde er ihr helfen, ihr zeigen, dass er an ihrer Seite steht. Die räumliche Entfernung scheint das zu erschweren. Das Paar kann nicht, wie gewohnt, direkt alles besprechen. Die Besuchszeiten sind begrenzt, es bleibt nur das Telefonieren oder kleine Kurznachrichten, und auch das nur, wenn es der Mobilfunkempfang im Tegernseer Tal erlaubt. Doch wirklich herauszufinden, was der andere empfindet, gestaltet sich schwierig. Es fehlen die Mimik, die Gesten, die kleinen Reaktionen, die normalerweise weit mehr preisgeben als nur Worte. Also beschließt Karl-Heinz, seiner Frau einen ausführlichen Brief zu schreiben. Es soll keine schnelle Nachricht sein, die man eben mal so ins Handy tippt. Er will ihr seine Gefühle darlegen, seine Haltung und seine Zuversicht. Dafür nimmt er sich Zeit, zwischen dem pulsierenden Alltag mit vier Kindern, den er gerade alleine organisiert, und der Arbeit im Restaurant. Nachdem er seine Zeilen im Kopf formuliert und dann im Computer geschrieben hat, verschickt er sie als Nachricht an seine Frau nach Bad Wiessee in die Rehaklinik:

Hallo meine Liebe,

mir ist es schon seit geraumer Zeit ein Bedürfnis, dir ein paar Zeilen zu schreiben. In meinem unglaublich ausgefüllten Alltag habe ich mir einfach jetzt die Zeit genommen, um diesem Bedürfnis nachzukommen. Ob der Zeitpunkt der richtige ist, weiß ich nicht, da sich seit deinem Besuch am Dienstag in Murnau deine Gemütslage wieder sehr verschlechtert hat. Wir haben die letzten Wochen natürlich viel über die momentane Situation geredet, doch will ich einfach auch den einen oder anderen Gedanken niederschreiben. Nicht nur, um die Gefühle, die mich tagtäglich überwältigen, auf diesem Weg einfach selbst zulassen zu können, sondern auch, um diese ein Stück weit zu konservieren.

Wir haben in unserer Beziehung und Ehe schon so viel gemeistert, natürlich jedoch nichts im Vergleich zu der/deiner jetzigen Situation. Diese ist natürlich für dich extrem belastend und existentiell, das verstehe ich selbstverständlich, aber nicht nur für dich, auch für mich und für unsere Familie.

Du bist für uns unbeschreiblich wichtig, nicht nur als Ehefrau und Mutter, sondern im Besondern als der Mensch, der du bist. Deswegen ist es natürlich unser sehnlichster Wunsch, dich wieder glücklich zu sehen. Doch wenn man versucht, die Situation, wenn auch unglaublich schwierig, nüchtern zu betrachten, steuern wir auf eine Weggabelung in unserem Leben zu. Der eine Weg bringt uns auseinander, weil wir es nicht schaffen, das gemeinsam zu bewältigen – diesen Gedanken versuche ich, tagtäglich zu unterdrücken. Aber selbst wenn es so sein sollte, werde ich dies akzeptieren müssen, selbst wenn es mir das Herz brechen würde. Der andere Weg, den ich mir mehr als alles andere auf der Welt wünsche, ist, dass wir aus dieser Situation gestärkt hervorgehen, im Besonderen, dass du natürlich wieder ganz gesund wirst, dass wir unsere Gefühle füreinander, die zweifellos unter unserem unglaublichen Alltag leiden, weiter aufrechterhalten oder sogar noch vertiefen können.

Ich verspreche dir, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich – in welcher Form auch immer – zu unterstützen, egal was, bitte lass es mich wissen. Du bist nicht nur der wichtigste Mensch in meinem Leben, du bist das Wichtigste überhaupt, und nicht nur für mich, sondern für uns.

Ich liebe dich.

Nina antwortet darauf:

Ach Hasi … wie lieb von dir … da schlägt mein Herz gleich wieder ganz fest. Leider kann ich mit meinen doofen Händen nicht so viel zurückschreiben. Muss ich aber auch glaub ich nicht, da du ja eh wie kein anderer Mensch auf dieser Welt siehst, wie es in mir aussieht. Es tut mir so leid, dass ich Euch allen solche Sorgen mache und Euch belaste. Ich will das auch gerne schnell wieder unter Kontrolle bringen. AMORE.

Karl-Heinz schreibt zurück:

Hallo Liebe,

ich wollte das nur mal schreiben, es wird so viel gesagt und gerät später doch wieder in Vergessenheit. Aber trotzdem will ich noch mal was klarstellen: Du bist absolut keine Belastung, du sollst dich keinesfalls unter Druck setzen. Das wollte ich damit nicht erreichen, ganz im Gegenteil, ich wollte dir einfach mal auf einem etwas anderen Weg zeigen, was ich für dich fühle.

In guten wie in schlechten Zeiten

Liebe ist für mich ein anderes Wort für Glück.

Das wunderbare Gefühl ehrlicher Liebe ist doch nur mit unendlichem Glück zu beschreiben. All meine Sinne genießen diesen atemberaubenden Moment, in dem ich bedingungslose Liebe erfahren darf. Ist es nicht wunderbar, den Wunsch zu haben, jemandem, den man aufrichtig liebt, Gutes zu tun, ohne den Gedanken an eine Gegenleistung zu haben? Liebe ist wie ein tiefer Atemzug, sie ist mein Lebenselixier und voller Energie. Ich fühle mich mit ihr wie eine Blume, die sich mit den Nährstoffen der Liebe versorgt und immer mehr öffnet. Leider ist die Liebe eine seltene Pflanze, die in unserer Zeit oft zu wenig Aufmerksamkeit bekommt – oder, aus unserer Angst vor ihr, oft gar nicht richtig zur Entfaltung kommt. Ich liebe die Liebe. Für mich ist sie Quell meines Lebens und das größte Geschenk überhaupt. Man löst sich förmlich auf in ihr, um in ihr neu zu entstehen. Sie ist ein Wagnis, und es erfordert immer Mut, sich auf sie einzulassen. Sie kann großartig sein, aber auch unendlich schmerzhaft. Und wenn ich sie nicht spüren kann, fühle ich mich unglaublich alleine.

Ich weiß, wenn ich nicht mehr da sein werde, wird ein Teil meiner Liebe dennoch bleiben.

Denn wahre Liebe stirbt nie, sie verändert allenfalls ihre Form, aber bleibt für immer tief im Herzen.

Wer denkt am Tag seiner Hochzeit an das Schwere, das vor einem liegen könnte? Wer ist sich des gesamten Ausmaßes dessen, was er mit dem Eheversprechen gelobt, bewusst? Mag man sich beim Anstecken des Ringes etwas anderes vorstellen, als endlich das große Glück gefunden zu haben? Dass neben einem der Mensch steht, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen möchte und mit dem man alt werden wird? Natürlich ist man sich theoretisch im Klaren darüber, dass es neben den harmonischen ebenso zerstrittene Tage geben kann. Dass nicht nur aufregende, sondern auch weniger leidenschaftliche Zeiten auf einen warten, spannungsgeladene wie alltägliche, sorgenfreie wie angstbesetzte. Wer aber möchte sich ausmalen, diesen geliebten Menschen zu verlieren, ihn gar beim Sterben zu begleiten? Zusehen zu müssen, wie er nach und nach all seine Fähigkeiten verliert, sogar die selbstverständlichsten? Ihm dann Hilfestellung zu leisten im Alltag, in der Körperpflege, beim Toilettengang?

Keine Gedanken, die zu den Bildern einer Vermählung passen. Zu den Fotos eines vergnügten, ausgelassenen Paares am Tag ihrer Hochzeit, wie denen von Nina und Karl-Heinz, sie in einem schlichten, eleganten, weißen Kleid mit kurzem Schleier, er im schwarzen Anzug mit einer weißen Blüte am Revers. Fast ganz normale Fotos, könnte man meinen – stünden die beiden nicht barfuß am Strand, nur einen Schritt entfernt von den Wellen eines türkisfarbenen Meeres. Nina und Karl-Heinz geben sich ihr Ja-Wort in der Karibik, mit einer Zeremonie unter Palmen, und – bis auf das obligatorische Traupersonal – ganz allein. Es soll ein Tag nur für sie beide sein. Sie wollen keine Hochzeit, bei der sie für andere im Mittelpunkt stehen würden. Alles in diesen Stunden soll ausschließlich auf sie beide ausgerichtet sein, auf ihre Gefühle, Hoffnungen, Wünsche und das, was sie einander zu geben haben. Schließlich ist es ihre Vermählung, ihr Versprechen füreinander. Ein Leben lang. Natürlich wird die Feier zu Hause mit Familie und Freunden mit einer Gartenparty bei den Eltern nachgeholt. Das heilige Gelöbnis aber, sich zu lieben, zu achten und zu ehren alle Tage ihres Lebens, in guten und in schlechten Zeiten, geben sie sich ganz allein in diesem innigen Moment auf einer Insel im Karibischen Meer. Als Karl-Heinz am 10. Juli 1997 diese Worte ausspricht, mag er vielleicht nicht das gesamte Ausmaß seines Eheversprechens erfasst haben, gehalten hat er es trotzdem. Neunzehn Jahre ist das Paar verheiratet und, so Karl-Heinz, ihre Beziehung war immer von großer Zuneigung und Liebe geprägt: »Das gipfelte natürlich mit dem bis in den Tod. Inzwischen höre ich immer wieder, dass sich Paare in solchen Situationen trennen. Nicht nur, wenn jemand an ALS erkrankt, sondern auch in anderen schwierigen Lebenssituationen, in großen Krisen oder bei schweren Erkrankungen. Plötzlich ist der Partner weg. Da stelle ich mir natürlich die Frage: Was war das denn vorher für eine Beziehung, dass, wenn es holprig wird, schwierig und brutal, sogar richtiggehend grausam, ich dann den anderen alleine lasse? Ganz plakativ gesagt war das der finale Beweis unserer Liebe, dass wir so aneinander festgehalten haben; sowohl ich an Nina, aber sie auch an mir.«