Suchtmedizin kompakt, 4. Auflage (griffbereit) -  - E-Book

Suchtmedizin kompakt, 4. Auflage (griffbereit) E-Book

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Beschreibung

Alkohol, Nicotin, Medikamente, illegale Drogen: Weshalb werden manche Menschen süchtig, andere nicht? Wie entstehen Suchtkrankheiten, wie sind sie nachweisbar? Wie werden sie optimal therapiert? Wie erkennt und behandelt man Entzugssymptome? Wie gestaltet man Ersatzstofftherapien? Wie soll man mit Suchtkranken und ihren Angehörigen umgehen? Wie funktioniert das Suchthilfesystem? Die Antworten von Felix Tretter, Oliver Pogarell und ihrem Autorenteam auf diese und viele andere Fragen finden Sie in dieser vollständig aktualisierten Neuauflage mit überarbeiteten Therapietabellen und erweitertem Drogenlexikon. Sie bietet allen in Klinik und Praxis tätigen Ärztinnen und Ärzten eine profunde Basis und praxiserprobtes Wissen für den professionellen Umgang mit suchtkranken PatientInnen. 

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Seitenzahl: 474

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Dies ist der Umschlag des Buches »Suchtmedizin kompakt, 4. Auflage« von Felix Tretter, Oliver Pogarell

Felix Tretter | Oliver Pogarell (Hrsg.)

Suchtmedizin kompakt

Suchtkrankheiten in Klinik und Praxis

4., aktualisierte und erweiterte Auflage

Mit Beiträgen von

Max Braun

Oliver Pogarell

Michael Rath

Christoph Schwejda

Felix Tretter

Schattauer

Impressum

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. pol. Felix Tretter

[email protected]

Prof. Dr. med. Oliver Pogarell

[email protected]

Besonderer Hinweis:

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Das Werk mit allen seinen Teilen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltungskonzept: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © adobe stock/Andy Dean

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Marion Drachsel, Berlin

ISBN 978-3-608-40145-5

E-Book ISBN 978-3-608-11962-6

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20582-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort zur 4. Auflage

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Anschriften der Autorinnen und Autoren

Teil I

Grundlagen

Felix Tretter

1 Allgemeines

1.1 Sucht-Definition

1.2 Stadien des süchtigen Verhaltens

1.3 Sucht bei Tieren

1.4 Sucht-Formen

1.5 Verbreitung

1.6 Therapiekonzepte

1.7 Prävention

1.8 Perspektiven

Literatur

Felix Tretter

2 Ursachen

2.1 Suchtdreieck

2.2 Drogenwirkungen

2.2.1 Wirkungsspektrum

2.2.2 Suchtpotenzial

2.3 Neurobiologie der Sucht

2.3.1 Neurochemie der Synapse

2.3.2 Intrazelluläre molekulare Prozesse bei Drogenkonsum

2.3.3 Akuteffekte auf die Nervenzelle als Funktionseinheit

2.3.4 Effekte auf lokale Neuronennetzwerke

2.3.5 Makroanatomie der Sucht

2.3.6 Neurochemisches Mobile

2.4 Psychologie

2.4.1 Sucht als gelerntes Verhalten (verhaltenstherapeutische Perspektive)

2.4.2 Kräftespiel der Sucht zwischen Über-Ich und Es (psychoanalytische Perspektive)

2.4.3 Stress-Konzept der Sucht

2.5 »Ökologie der süchtigen Person« (systemische Perspektive)

2.5.1 System Familie

2.5.2 Wohnbereich

2.5.3 Arbeitsbereich

2.5.4 Freizeitbereich

2.5.5 Soziokulturelle Umwelt

2.6 Individuelle Problemlagen

2.6.1 Jugend und Sucht

2.6.2 Alter und Sucht

2.6.3 Gender und Sucht

2.6.4 Psychische Komorbidität

Literatur

Teil II

Klinik allgemein

Michael Rath und Christoph Schwejda

3 Diagnostik

3.1 Gesprächsführung

3.2 Anamnese und Exploration

3.3 Symptomprofile der Entzugssyndrome

3.4 Erhebung und Dokumentation des Befundes

3.5 Körperliche Untersuchung

3.6 Diagnosekategorien

3.7 Hinweise auf Komorbiditäten

3.8 Labordiagnostik

3.9 Einschätzung der Therapiemotivation

3.10 Einschätzung co-abhängigen Verhaltens bei Angehörigen

Literatur

Michael Rath und Christoph Schwejda

4 Therapie

4.1 Versorgungssystem

4.2 Versorgungsepidemiologie

4.3 Entwöhnungstherapie

4.4 Therapieziele

4.5 Symptomatische Medikation

Literatur

Michael Rath und Christoph Schwejda

5 Sonstige Interventionen

5.1 Motivationales Interview

5.2 Suchtberatung im Internet

5.3 Angehörigen-Betreuung

5.4 Selbsthilfe

5.5 Nachsorge

Literatur

Teil III

Klinik speziell

Michael Rath, Christoph Schwejda, Felix Tretter und Oliver Pogarell

6 Legale Drogen

Michael Rath und Oliver Pogarell

6.1 Nicotin

6.1.1 Diagnostik

6.1.2 Therapie

Michael Rath, Oliver Pogarell, Christoph Schwejda und Felix Tretter

6.2 Alkohol

6.2.1 Diagnostik

6.2.2 Therapie

6.2.2 Folgekrankheiten bei chronischem Konsum

Michael Rath

6.3 Medikamente

6.3.1 Hypnotika und Sedativa

6.3.2 Analgetika

6.3.3 Stimulanzien

6.3.4 Diuretika

6.3.5 Laxanzien

6.3.6 Entwöhnungstherapie bei Abhängigkeit

Literatur

Max Braun, Christoph Schwejda, Felix Tretter und Oliver Pogarell

7 Illegale Drogen

7.1 Opiate und Opioide

7.1.1 Akute und chronische Effekte

7.1.2 Labordiagnostik

7.1.3 Syndromale Differenzialdiagnosen

7.1.4 Komorbidität bei Abhängigkeit

7.1.5 Substitutionstherapie

7.1.6 Entzug

7.1.5 Abstinenzsicherung nach Entzug

7.1.6 Substitution mit Diacetylmorphin (Heroin)

7.2 Ecstasy

7.3 Cannabis

7.4 Amphetamine

7.5 Crystal Meth (Methamphetamin)

7.6 Cocain

7.7 Neue psychoaktive Substanzen

7.7.1 Synthetische Cannabinoide

7.7.2 Synthetische Cathinone und andere Amphetamin-artige Substanzen (sog. Badesalze)

7.7.3 Piperazine

7.7.4 Tryptamine

7.7.5 Synthetische Cocain-Derivate

7.7.6 Synthetische Opioide

Literatur

Teil IV

Anhang

Max Braun und Felix Tretter

8 Drogennotfall

8.1 Allgemeine Maßnahmen

8.1.1 Ateminsuffizienz

8.1.2 Kardiale Insuffizienz

8.1.3 Detoxifikation (Magenspülung)

8.2 Spezielle Intoxikationen

8.2.1 Erregende Substanzen

8.2.2 Sedierende Substanzen

8.2.3 Psychoaktive Substanzen

8.2.4 Weitere psychotrope Substanzen

8.3 Spezielle Schwierigkeiten und Komplikationen

Literatur

Michael Rath

9 Medikamentenliste

Literatur

Michael Rath, Max Braun und Felix Tretter

10 Drogenlexikon

10.1 Grundaspekte

10.2 Alphabetische Darstellung

10.2.1 Alkohol

10.2.2 Amphetamine

10.2.3 Benzodiazepine

10.2.4 Cannabis

10.2.5 Cocain

10.2.6 Coffein

10.2.7 Crystal Meth

10.2.8 Desomorphin (»Krokodil«)

10.2.9 Ecstasy

10.2.10 GHB/GBL (»Liquid Ecstasy«)

10.2.11 Heroin

10.2.12 Krypton

10.2.13 Lysergsäurediethylamid (LSD)

10.2.14 Mescalin

10.2.15 Nicotin

10.2.16 Opiate (bzw. Opioide)

10.2.17 Phenylcyclohexylpiperidin

10.2.18 Psilocybin

10.2.19 Spice

10.3 Aktuelle synthetische Drogen

Literatur

Felix Tretter

11 Adressen

11.1 Deutschland

11.1.1 Informationszentralen, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen

11.1.2 Fachverbände

11.1.3 Forschungsinstitute

11.2 Österreich

11.2.1 Informationszentralen, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen

11.2.2 Fachverbände

11.2.3 Forschungsinstitut

11.3 Schweiz

11.3.1 Informationszentralen, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen

11.3.2 Fachverbände

11.3.3 Forschungsinstitut

Sachverzeichnis

Vorwort zur 4. Auflage

Die vorliegende völlig neu überarbeitete vierte Auflage baut auf dem bewährten Wissensbestand auf und ergänzt ihn um neue Erkenntnisse. Vor allem der neuen gesellschaftlichen Rolle von Cannabis ist mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden. Die technischen Hilfsmittel für die Bekämpfung der Tabakabhängigkeit sind ausführlich dargestellt worden, ebenso die neuen medikamentösen und organisatorischen Therapieverfahren bei Opiatabhängigkeit.

Die Herausgeberschaft hat sich erweitert, indem Oliver Pogarell von der psychiatrischen Universitätsklinik München auch die wissenschaftliche Fundierung und die qualifizierte Weiterführung dieses Büchleins gewährleistet.

Wien und München im Sommer 2023

Felix Tretter und Oliver Pogarell

Vorwort zur 3. Auflage

Eine weitere Auflage zeigt, dass dieses Buch die Bedürfnisse der klinisch Tätigen, die mit Suchtkranken zu tun haben, gut abdeckt.

Was hat sich nun wesentlich Neues in Suchtforschung und -therapie ergeben?

Aktuell hat sich unter den illegalen Drogen ein starker Trend zu Crystal Meth entwickelt, ein Phänomen, das sich nicht nur geografisch von Bayern und den Ostgebieten Deutschlands ausgehend flächendeckend, sondern auch zunehmend über mehrere soziale Schichten ausbreitet. Dennoch handelt es sich – entgegen den sensationalisierenden Medienberichten – derzeit »nur« um einige hunderttausend Konsumenten. Insgesamt sind neue und alte synthetische Drogen wie synthetisches THC (»Spice«) im Vormarsch. Ein neues Phänomen ist die rasante Verbreitung der E-Zigaretten, die eine Ausstiegshilfe sein können, aber auch ein – zumindest symbolisches – Einstiegspotenzial für Jugendliche aufweisen.

Von besonderer Bedeutung sind computerbezogene Verhaltensexzesse, deren klassifikatorische Einordnung gerade in einer sich entwickelnden Informationsgesellschaft Schwierigkeiten bereitet und nicht zu einer voreiligen Pathologisierung führen darf.

In der Diagnostik wurde durch die Veröffentlichung des DSM-5TM die kategoriale Differenzierung des Suchtbegriffs durch ein dimensionales Störungsmodell mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden abgelöst. Ähnliches ist bei der ICD-11 zu erwarten. Das macht einerseits die Einordnung – v. a. auch im Dialog mit den Patientinnen und Patienten – leichter, aber es bedeutet auch einen Verlust an klarer Sprache, denn man konnte mit dem älteren Klassifizierungssystem den Patientinnen und Patienten den Unterschied zwischen Missbrauch, schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit als gestuftes Störungsspektrum einfacher verdeutlichen als dies mit Punktwerten möglich ist.

Im Bereich Therapie des Alkoholmissbrauchs steht seit 2013 der Wirkstoff Nalmefen zur Verfügung, der als Opiatantagonist die Belohnungseffekte des Alkoholkonsums dämpft und gemäß Studien nach wenigen Monaten zur Halbierung der Alkoholdosis führen kann. Wie er sich seither in der Praxis bewährt hat, muss aber noch eingehend untersucht werden. Derzeit befindet sich in der Erprobung die tiefe Hirnstimulation bei Alkoholkrankheit, ein Thema, das tief greifender in neurophilosophischer Hinsicht diskutiert werden müsste.

Für die Prävention wird verstärkt mit dem Internet gearbeitet, um Jugendliche – z. B. bezüglich Crystal Meth – in ihrem Hauptkommunikationsmedium zu erreichen. Weiterhin ist aber der Alkohol ein besonders belastendes Problem, wenngleich das Binge-Drinking der Jugendlichen keinen Aufwärtstrend zeigt.

In der Politik zeichnet sich international ein Trend zur Entdämonisierung des Cannabis-Problems ab, wobei sich neue neurobiologische Schädigungsmuster fanden, aber dennoch das Problem exakter und emotionsärmer diskutiert werden müsste.

Wie man erkennen kann, entwickelt sich das Thema Sucht im Alltag weiterhin sehr dynamisch, es ist theoretisch interessant und in der Praxis herausfordernd. Diese Trends in der Neuauflage praxisnah abzubilden war unser großes Anliegen.

München, im August 2016

Felix Tretter

Vorwort zur 1. Auflage

Die Suchtmedizin hat sich seit Ende der 1990er Jahre in Deutschland als Querschnittsfach profiliert. Mehrere Lehrbücher zu diesem Gebiet sind verfasst worden. Im Jahr 2000 wurde auch von mir ein Buch mit dem Titel »Suchtmedizin« im Schattauer Verlag veröffentlicht. Es entstand gleichsam als Protokoll reflektierter klinischer Arbeit unter Einbindung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Laufe einer über 20-jährigen Arbeit mit Suchtkranken. Es sollte auch als Brücke zwischen Forschung und Praxis fungieren. Das nun vorliegende Kompendium ist die komprimierte und aktualisierte Version dieses Buches. Autoren sind überwiegend langjährige Mitarbeiter unserer Suchtabteilung. Sie garantieren die Praxistauglichkeit der hier dargestellten Konzepte: Das aktuelle Werk soll einen realistischen Einblick in die Arbeit mit Suchtkranken ermöglichen und das notwendige praktische Rüstzeug vermitteln. Es stellt die Grundlagen der Sucht, deren Definition, Ursachen und klinische Grundfragen dar. Gemäß dem Konzept, dass Sucht eine erworbene neurochemische Gehirnkrankheit ist, wird dabei die Neurobiologie als das Grundlagenfach, das bereits als Informationsbaustein in die Psychoedukation für Patienten einfließt, detailliert erläutert. In weiteren Abschnitten des Buches werden die wichtigsten legalen und illegalen Substanzen, gegliedert nach Diagnostik und Therapie, behandelt. Im Anhang runden die Kapitel über Notfallmanagement und zu wichtigen Medikamenten, die zur Behandlung verwendet werden, ein Drogenlexikon und die wichtigsten Adressen für Suchtkranke das Kompendium ab.

An dieser Stelle ist aber noch anzumerken, dass die erwähnte Kluft zwischen Forschung und Praxis gemäß dem Trend zur Exzellenz-Forschung noch größer wurde. Die klinische Erfahrung hat deshalb kaum mehr eine Bedeutung bei der Erstellung von Behandlungsleitlinien. Nicht »Transdisziplinarität« im Sinne einer Praxisrelevanz der Forschung, die auch die Praxis konstitutiv einbindet, sondern Elitenbildung ist das Ziel der aktuellen Forschungspolitik. Darüber hinaus ist die Definitionsmacht der Forschung größer geworden, da wegen des Ökonomisierungsdrucks in Kliniken aus dem Bereich der Versorgungskrankenhäuser kaum mehr Forschung betrieben werden kann, die den methodischen Standards »sicheren« Wissens genügen. Würde man allerdings nur Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin gelten lassen, die bei wenigen leicht erkrankten Patienten in randomisierten kontrollierten Studien gewonnen wurden, dann könnten wir Tausende der schwer erkrankten Patienten kaum mehr adäquat behandeln. Einen neuen Weg könnte die molekularbiologisch begründete individualisierte Therapie zeigen, doch steht hier die Forschung erst am Anfang. Bedauerlicherweise ist die institutionelle Förderung der Suchtforschung nach vielversprechenden Impulsen Ende der 1990er Jahre nun wieder in eine Phase der Stagnation gelangt.

So bleibt zu hoffen, dass dieses Buch einen Beitrag leistet, dass die klinische Suchtmedizin wieder den Stellenwert bekommt, der ihr gebührt, denn es zeigt, dass man mit einer engagierten und professionellen Therapie, wie sie in diesem Buch dargestellt wird, viel erreichen kann.

An dieser Stelle möchte ich mich noch bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, die ihr Wissen, ihre Zeit und auch Geduld bis zum Erscheinen des Buches eingebracht haben, für die kooperative und konstruktive Mitarbeit. Den Geschäftsführern des Schattauer Verlags, Herrn Dieter Bergemann und Herrn Dipl.-Psych. Dr. med. Wulf Bertram, danke ich dafür, dass sie dieses Buch in das Verlagsprogramm aufgenommen haben. Ein besonderer Dank gilt den Lektorinnen Frau Marion Lemnitz und Frau Dipl.-Chem. Claudia Ganter vom Schattauer Verlag für die gelungene Bearbeitung der Manuskripte sowie die umsichtige Koordination der verlagstechnischen Gestaltung des Werkes.

Haar, im August 2008

Felix Tretter

Anschriften der Autorinnen und Autoren

Dr. med. Max Braun, MPH

Fachklinik Alpenland

Rosenheimer Straße 61

83043 Bad Aibling

[email protected]

Prof. Dr. med. Oliver Pogarell

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

LMU Klinikum

Nussbaumstraße 7

80336 München

[email protected]

Dr. med. Michael Rath, MHBA

Fachbereich Suchtmedizin

Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg

Gabersee 7

83512 Wasserburg/Inn

[email protected]

Dr. med. Christoph Schwejda

Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie

Mitglied der Swiss Society of Addiction Medicine

Baslerstrasse 96

4123 Allschwil

SCHWEIZ

[email protected]

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. pol. Felix Tretter

Bayerische Akademie für Suchtfragen

in Forschung und Praxis BAS e. V.

Landwehrstraße 60–62

80336 München

[email protected]

Teil I

Grundlagen

Felix Tretter

1 Allgemeines

Dieses Kapitel soll den Leser1 kurz in die Thematik einführen. Es kann aber auch dazu verwendet werden, dem Suchtpatienten im Gespräch ein besseres Grundverständnis über seine Krankheit zu vermitteln. Es sollte grundlegend klargestellt werden, dass süchtiges Verhalten auf einer sehr menschlichen Neigung beruht, etwas Lustvolles und/oder Unlustminderndes besonders gerne zu tun bzw. eine besonders hohe Affinität gegenüber solchen Objekten der Umwelt zu entwickeln. Damit wird also eine anthropologische Dimension der Sucht angesprochen, die durch den Bezug zur Phänomenologie des Alltagsverhaltens und den Alltagssüchten als nichts »Wesensfremdes« nachvollziehbarer wird.

Bei klinisch relevanter Sucht ist dies allerdings noch um einiges intensiver und einseitiger, sodass andere grundlegende Lebensbereiche dadurch zerstört werden.

Weiterhin dient dieses Kapitel aber auch Therapeuten, die eigene häufig beobachtbare Abneigung gegenüber den Suchtkranken zu mindern, indem der Mensch, der sich hinter den Symptomen und seinem Verhalten verbirgt, hervorgehoben wird (Zwiebelschalen-Modell).

Grundlegend ist anzumerken, dass die Textgestaltung einfach gehalten ist, um an manchen Stellen auch direkt von der Sucht betroffenen Menschen Orientierungen zu geben. Es wurde aber auch darauf geachtet, zu den aktuellen wissenschaftlichen Hintergründen Bezüge herzustellen. Dazu dient die kapitelweise aufgelistete Literatur. Beispielsweise wird der Einfachheit halber meist der Ausdruck »Sucht« verwendet, obgleich im klinischen Kontext die Sprechweise gemäß den Diagnoseschemata erfolgt. So wird von »substanzbezogenen Störungen« gesprochen und dabei eine Graduierung der Schwere der Störung vorgenommen. Diese Sprachform würde jedoch zu einer meist sehr umständlichen Textgestaltung führen, weshalb hier, zumindest in einführenden Texten, Vereinfachungen vorgenommen wurden.

1.1 Sucht-Definition(1)

Süchtiges Verhalten ist ein Extrempol des Verhaltens, da es nicht mehr kontrolliert werden kann und automatisch, fast reflexhaft abläuft. Der andere Verhaltenspol ist die effektive Abstinenz (→ Abb. 1-1). Es tritt insbesondere im Gebrauch von psychoaktiven Substanzen auf, also bei Stoffen, die psychische Veränderungen erzeugen. Im suchtmedizinischen Bereich spricht man vereinfachend von »Drogen«, und zwar nicht nur dann, wenn »illegale« Drogen wie Cannabis, Cocain oder Heroin gemeint sind, sondern man ordnet auch »legale« Drogen wie Alkohol, Nicotin und psychoaktive Medikamente, z. B. Amphetamine, dieser Kategorie zu.

Süchtiges Verhalten kann sich auf den Konsum solcher Substanzen, aber auch auf Verhaltensweisen ohne Substanzkonsum beziehen. In diesem Fall spricht man – in Unterscheidung zu den »stoffgebundenen« Süchten – von »stoffungebundenen« Süchten bzw. von Verhaltenssüchten.

MERKE

Jedes menschliche Verhalten kann süchtig entgleisen.

1.2 Stadien des süchtigen Verhaltens(1)

Schon bei den Alltagssüchten zeigt sich ein fließender Übergang vom gelegentlichen über das gewohnheitsmäßige Verhalten als Vorstadium zur Sucht über einen, den bestimmungsgemäßen Gebrauch überschreitenden Missbrauch (z. B. Verwendung von Schlafmittel als Beruhigungsmittel) bzw. den schädlichen Gebrauch (Folgeschäden) bis zur Abhängigkeit, bei der man sich nicht mehr anders verhalten kann. Der Ausdruck Sucht umfasst in dieser Hinsicht i. d. R. neben der Abhängigkeit auch den schädlichen Gebrauch. Diese Formen werden auch als pathologisches Verhalten zusammengefasst. Im Kern bedeutet »Sucht« zunächst so viel wie (psychische) »Abhängigkeit«, also eine extrem starke Bindung an dieses Verhalten (bzw. Objekt des Verhaltens), gegen die der Verstand zunächst machtlos ist, ja sich sogar diesem Verlangen (Craving) unterordnet (Abb. 1-1).

Abb. 1-1: Formen und Stadien des süchtigen Verhaltens(1). a Spektrum von der Abstinenz bis zur Abhängigkeit. b Darstellung des Konsumverhaltens nach Menge und Häufigkeit. »Riskanter Konsum« von Alkohol liegt bei etwa 30 g/d vor.

Es lässt sich am Beispiel Alkohol folgende phänomenale Unterscheidung treffen, die sich auch an der bewährten Typologie von (1)Jellinek (1960) anlehnen kann, die zwar offiziell außer Gebrauch, aber praktisch ist und auch in Selbsthilfegruppen noch häufig gebraucht wird (→ Kap. 3, Tab. 3-4):

Gelegentlicher Konsum von Alkohol(1)(1) in niedrigen Dosen – z. B. 1–2 Flaschen Bier ab und zu abends beim Essen bei einem 70 kg schweren Mann (ca. 40 g) – ist nach heutiger Kenntnis risikoarm (täglich: < 24 g!). Für Frauen gilt der halbe Wert als Grenze. Es ist auch vom Beta-Typ nach Jellinek die Rede. Aufgrund der Erkenntnisse, dass Alkoholkonsum karzinogen und z. B. bei Frauen mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko verbunden sein kann, lässt sich kein risikofreier Grenzwert festlegen.

Gewohnheitskonsum(1)(1) von Alkohol, auch in niedrigen Dosen, birgt das Problem, dass durch biochemische Anpassungsprozesse eine körperliche Abhängigkeit entstehen kann. Nach Jellinek handelt es sich um den Delta-Typ.

Missbrauch(1)(1) beschreibt einen Alkoholkonsum in hohen Dosen. Bei konfliktbezogenem Konsum kann nach Jellinek vom Alpha-Typ gesprochen werden. Seltene exzessive Trinkepisoden lassen an den Epsilon-Typ denken. Anhaltender Missbrauch führt zu deutlichen Gesundheitsrisiken.

Schädlicher Gebrauch(1)(1)von Alkohol liegt vor, wenn es zu körperlichen, psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen kommt.

Abhängigkeit(1)(1)beschreibt einen Zustand, in dem die betreffende Person dem Impuls, Alkohol zu konsumieren, nicht entgegensteuern kann und nicht (bzw. nicht mehr) in der Lage ist, den Konsum zu kontrollieren oder Abstinenzperioden einzuhalten. Es besteht zumindest eine psychische Abhängigkeit. Nach Jellinek handelt es sich um den Gamma-Typ. Das Verhalten hat in diesem Stadium bereits einen krankheitswertigen Charakter bekommen, es zeigt eine zerstörerische Eigendynamik.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA 2021) empfiehlt allerdings eine geringere Menge: mindestens zwei alkoholfreie Tage pro Woche, damit es nicht zu einer Gewöhnung kommt. An den übrigen Tagen sollten die Grenzwerte für risikoarmen Alkoholkonsum eingehalten werden. Diese sind für Frauen nicht mehr als ein kleines Glas Bier (0,3 Liter = 12 g Alkohol) oder Wein (0,125 Liter) pro Tag und für Männer höchstens die doppelte Menge (= 24 g Alkohol).

Das Ausmaß der (gefühlsmäßigen) Bindung der Person an dieses Verhalten wird deutlich, wenn sie an deren Ausübung behindert wird, also abstinent(1) sein muss: Die Person wird unruhig, reizbar, aggressiv und verteidigt das Verhalten bei Kritik oder übt es im Verborgenen aus. Es handelt sich um Entzugssymptome(1), die aber je nach Substanz noch wesentlich mehr und dramatischere Symptome umfassen können.

Das Phänomen »Sucht« bzw. Abhängigkeit ist also durch fünf wichtige Merkmale menschlichen Verhaltens kennzeichnet:

Es ist mit der Erzeugung von Lustzuständen bzw. der Minderung von Unlustzuständen verbunden, die weitgehend bewusst erlebt werden.

Es handelt sich um ein übermäßiges Verhalten im Hinblick auf die Menge, Dauer und/oder die Häufigkeit des Verhaltens. Die mittelfristige Steigerung der Menge des auftretenden Verhaltens als »Dosissteigerung« geht mit einer »Toleranzsteigerung« einher, weil sich das Gehirn an diese Aktion gewöhnt hat.

Charakteristisches Kennzeichen ist die Unfähigkeit, sich dem Verhalten gegenüber distanzieren bzw. enthalten zu können (Minderung der Abstinenzfähigkeit) und/oder das Verhalten jederzeit zu bremsen oder zu stoppen (Minderung der spezifischen Verhaltenskontrolle). Man spricht vom »Kontrollverlust« gegenüber diesem Verhaltensantrieb (Craving).

Es treten Störungen psychischer, körperlicher und/oder sozialer Funktionen auf – und dennoch wird das Verhalten aufrechterhalten. Somit handelt es sich um ein krankheitswertiges Geschehen.

Es tritt eine Eigendynamik der süchtigen Entwicklung auf, denn das Erkennen dieser negativen Effekte ist für den Betroffenen schwer erträglich, es wird abgewehrt und verursacht bei Konfrontationen damit sogar oft erneuten Suchtmittelkonsum.

MERKE

Der Ausdruck »Sucht«(2) kennzeichnet

eine extrem intensive Bindung einer Person gegenüber einem Objekt oder einem Verhalten,

wobei bereits dadurch bedingte Störungen in anderen Bereichen des Verhaltens bzw. des Lebens der Person vorliegen und

wobei das betreffende Verhalten trotzdem weiter besteht.

DEFINITION

Der Suchtforscher Klaus Wanke formulierte folgende Sucht-Definition(3) (nach Tretter 2000):

Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem die Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Es verhindert die freie Entfaltung der Persönlichkeit und mindert die sozialen Chancen des Individuums.

PRAXISTIPP: Praxistest zur Sucht(1)

Im Selbsttest kann man versuchen, das betreffende Verhalten für etwa vier oder sechs Wochen abzustellen, und beobachten, wie es einem dabei geht – Unruhe, Ärger, Verlangen nach dem Verhalten usw. sind Zeichen dafür, dass man von diesem Bereich abhängig sein könnte.

1.3 Sucht bei Tieren(1)

Bei Tieren – v. a. bei Ratten – kann im Labor auch süchtiges Verhalten aufgebaut werden: Nach mehreren Wochen Gelegenheit, als Alternative zu reinem Wasser alkoholhaltiges Wasser zu trinken, steigert sich die Dosis der eingenommenen Menge. Dann wird eine ebenso lange Abstinenzphase eingelegt, in der die Tiere keinen Alkohol erhalten. Anschließend wird ihnen wieder Alkohol angeboten: Es zeigt sich ein sofortiger Hochdosiskonsum, der sogar weit über dem Konsumniveau vor der Abstinenzphase liegt und durch Vergällung des Alkohols durch Chinin nicht unter das Niveau der erlernten Trinkmenge gedrückt werden kann (Abb. 1-2). Diese Experimente zeigen eindeutig, dass das Suchtverhalten erlernt ist und lange persistiert, dass also ein »Suchtgedächtnis« aufgebaut wird, welches das Verhalten dann dominiert.

Durch derartige Tierexperimente können die Gehirnstrukturen, die an der Suchtentwicklung beteiligt sind, ihre neurochemischen Korrelate und auch Medikamente, die die Suchtsymptome dämpfen können, untersucht werden, und zwar auch im Hinblick auf situative (Stress, Gruppenaufzucht) und genetische Risikofaktoren.

Abb. 1-2: Suchtentwicklung(1) bei Ratten. Alkoholabhängig gewordene Tiere werden nach einer langen Abstinenzphase bei erneutem Alkoholangebot sofort und mit hohen Dosen Alkohol rückfällig (1 g/kg KG entspricht auf den erwachsenen Menschen umgerechnet etwa 70 g Alkohol, d. h. fast 4 Flaschen Bier/d; 2 g/kg KG Alkohol für die Ratte entsprechen daher etwa 8 Flaschen Bier für Menschen) (nach Wolffgramm 1996).

1.4 Sucht-Formen(1)

Grundlegend können stoffgebundene und stoffungebundene Süchte unterschieden werden (Tab. 1-1). Die Süchte des Alltagsverhaltens sind im Prinzip als Phänomen der geminderten Verhaltenskontrolle gut nachvollziehbar.

Nicht alle Formen süchtigen Verhaltens sind aber, zumindest aus versicherungsrechtlicher Sicht, Krankheiten und daher, was ihre Behandlung betrifft, kassentechnisch finanzierbar. Auch sind die Einordnungen in den Diagnosesystematiken und die psychopathologische Einordnung (z. B. pathologisches Glücksspiel als Impulskontrollstörung) uneinheitlich. Genauere Ausführungen dazu finden sich in den klinischen Kapiteln.

In diesem Buch werden die stoffgebundenen Süchte ausführlich behandelt. Die stoffungebundenen Süchte können im Folgenden nur kurz erwähnt werden (→ auch Batthyány und Pritz 2009; Grüsser und Thalemann 2006). Sie werden hauptsächlich von Suchtambulanzen und niedergelassenen Psychotherapeuten verhaltenstherapeutisch-programmatisch behandelt.

Sucht-Form

Folgeprobleme

Klinische Bedeutung

Stoffgebundene Sucht

Nicotinsucht

körperlich

ja

Alkoholsucht

körperlich und psychisch

ja

Drogensucht

körperlich und psychisch

ja

Medikamentensucht

körperlich und psychisch

ja

Stoffungebundene Sucht

Arbeitssucht

familiär

möglich

Esssucht

körperlich

ja

Sexsucht

familiär

möglich

Kaufsucht

finanziell

möglich

Glücksspielsucht

finanziell

ja

Internetsucht

familiär, finanziell

möglich

Tab. 1-1: Sucht-Formen(2) und ihre Folgeprobleme (nach Tretter 2000)

Arbeitssucht(1)

Bei der Arbeitssucht finden sich zahlreiche Merkmale der stoffgebundenen Süchte. Diese Sucht wird in Deutschland noch als randständig eingestuft, während sie in Japan schon stärker in das Bewusstsein gerückt zu sein scheint. Auch bei Klinikärzten, insbesondere im Universitätsbereich, kann dieser Check interessant sein. Die in Tabelle 1-2 angeführten Merkmale ähneln jenen des Alkoholismus; sie fallen aber kaum auf, da Arbeitssucht eine sozial hochgradig akzeptierte und integrierte Verhaltensweise ist. Dennoch kann es erhebliche individuelle Probleme geben, die sich im körperlichen, seelischen und sozialen Bereich (Familie) manifestieren (Schochow 1999). Eine mögliche Folgestörung des anhaltenden exzessiven Arbeitens ist das Burnout-Syndrom bzw. das arbeitsweltbezogene physische und psychische Ausgebranntsein (cave: Differenzialdiagnose depressives Syndrom!).

Merkmale

Auftreten von gelegentlichen Arbeitsexzessen (z. B. zunehmende Überstunden)

berufliche Erfolge als Ergebnis intensiven Arbeitens erfreuen nicht

Überschreiten des üblichen Rahmens der Arbeitszeit (nachts und am Wochenende)

geringe Fähigkeit, bei Aufforderung weitere Arbeit anzunehmen, abzulehnen

Arbeit mit nach Hause nehmen oder ständig dabeihaben

Minderung von Freizeitinteressen mit Gefühl der Langeweile ohne Arbeit

heimliches Arbeiten

Konflikte mit der Familie wegen geringer Zeit

Unruhe, wenn Arbeitsunterlagen außerhalb von Arbeitszeit und -ort nicht verfügbar sind

fehlender finanzieller Ausgleich wird trotz Mehrarbeit in Kauf genommen

Arbeiten bis zur Erschöpfung

psychische Funktionsminderung durch das Arbeiten

exzessives Weiterarbeiten trotz negativer Konsequenzen

Hilfemöglichkeiten*

feste Freizeit einplanen

arbeitsfreie Zeiten bewusst einplanen

dezentrierte statt konzentrierte Arbeit

Ziellosigkeit einplanen

Dialektik von Anspannung und Entspannung bewusst gestalten

Zeiten für Beziehungspflege planen

lernen, Aufgaben zu delegieren

»Arbeitsangebote« ablehnen lernen

Selbsthilfegruppen (z. B. »Anonyme Arbeitssüchtige« [AAS], www.arbeitssucht.de)

* Abstinenz als Veränderungsziel ist hier schwierig zu definieren.

Tab. 1-2: Merkmale und Hilfemöglichkeiten bei Arbeitssucht(2) (→ Schochow 1999; Tretter 2000)

Therapie Neben einer Psychotherapie (z. B. Selbstmanagement) ist die Teilnahme an Selbsthilfegruppen effektiv.

Esssucht(1)

Ein generelles Problem, v. a. bei Jugendlichen, ist die Übergewichtigkeit, die in vielen (aber nicht allen) Fällen auf einer Dysbalance von z. T. intensivem, z. T. anfallsartigem Essen (binge eating) und im Verhältnis dazu zu geringer Bewegungsaktivität beruht: Häufigkeit, Menge und Art der Einnahme der (z. T. hochkalorischen) Nahrungsmittel erfolgen, ohne an die Folgen zu denken. Die in den Nahrungsmitteln versteckten Zucker sollen auch süchtiges Essverhalten fördern (»Zuckersucht«). Das Essen ist in vielen Fällen ein lustvoller Akt, er ist bei manchen Menschen aber auch von anschließenden Schuldgefühlen gekennzeichnet, sodass dann versucht wird, zu erbrechen (Bulimie(1)). Auch dient das Essen als Gegenregulation unangenehmer Gefühlszustände (Frustessen).

Anzumerken ist hier, dass die Einordnung der Magersucht(2)(Anorexia nervosa) als Essstörung in der letzten Zeit nicht mehr in den Bereich Sucht erfolgt. Man ordnet sie unter dem Gesichtspunkt der Brechsucht nun eher den Zwangsstörungen zu. Die Magersucht hat wenig mit Lust zu tun und ist gewissermaßen ein Verhalten, das ein Nichtverhalten, also eine Art Verweigerung, darstellt – es wird vermieden, zu essen, und nach dem Essen wird erbrochen. Magersucht tritt häufig assoziiert mit Medikamentenmissbrauch bzw. -abhängigkeit auf.

Therapie Die vorwiegend psychologisch orientierte Therapie dieser Störung ist sehr langwierig (Gerlinghoff und Backmund 2004).

Sexsucht(1)

In letzter Zeit ist auch sexuelles Verhalten als Form von Sucht zur Diskussion gestellt worden (»Sexsucht«; Roth 2004). Sie ist jedoch noch keine offizielle Diagnose, die in den klinischen Diagnosesystematiken ausdrücklich Eingang gefunden hat (→ Mäulen und Irons 1998) (Tab. 1-3).

Merkmale

Die gedankliche Beschäftigung mit oder die Ausübung von Sexualität nimmt stetig zu (»Dosissteigerung«).

Das sexuelle Verhalten hat schwere negative Folgen gesundheitlicher, finanzieller oder beruflicher Art.

Der Betroffene zeigt bezüglich des sexuellen Verhaltens einen Kontrollverlust: Im Umgang mit Schwierigkeiten und negativen Gefühlen treten sexuelle Zwangsvorstellungen und Fantasien als primäre Bewältigungsversuche auf; es zeigt sich eine zunehmende emotionale Destabilisierung, bei der im Zusammenhang mit sexuellen Aktivitäten starke Stimmungsschwankungen auftreten.

Sexualität wird zum alles bestimmenden Lebensbereich: Die Betroffenen brauchen große Teile ihrer Zeit für die Ausübung sexuellen Verhaltens oder die Erholung davon; das Verhalten ist so eingeengt auf sexuelle Befriedigung ausgerichtet, dass wichtige soziale oder berufliche Pflichten vernachlässigt werden.

Hilfemöglichkeiten*

Selbsthilfegruppen (z. B. »Anonyme Sexaholiker«, www.anonyme-sexsuechtige.de)

Psychotherapie

* Abstinenz als Veränderungsziel ist hier schwierig zu fordern und zu realisieren.

Tab. 1-3: Merkmale und Hilfemöglichkeiten bei (2)Sexsucht

Unter bestimmten Voraussetzungen kann aber auch sexuelles Verhalten süchtig entgleisen. Sexsucht ist dann durch eine zunehmende sexuelle Betätigung gekennzeichnet, bei der jedoch die Befriedigung meist ausbleibt, sodass die Suche nach sexueller Erfüllung beständig fortgeführt wird. Dabei zeigen sich typische Kennzeichen der Sucht, wie Dosissteigerung und Toleranzentwicklung. Nach und nach wird Sexualität zum alles bestimmenden Lebensbereich. Es treten gravierende Folgen wie familiäre Probleme oder berufliche Schwierigkeiten auf.

Ursachen Als spezifische Ursachen werden sowohl genetische Veranlagung als auch Missbraucherlebnisse in der Kindheit diskutiert.

Therapie Ziel einer v. a. psychologisch orientierten Therapie ist es, Intimität auch ohne Sexualität wieder erleben zu können und negative Gefühle zuzulassen, ohne diese durch Sex überdecken zu wollen. Aufgrund der starken Auswirkungen, welche die Sucht auch auf das Umfeld des Süchtigen hat, nimmt die Einbeziehung der Angehörigen in die Behandlung der Sexsucht eine wichtige Rolle ein.

Kaufsucht(1)

Ein Problem, das im präklinischen Bereich häufig vorkommt, ist das exzessive unkontrollierte Einkaufen (Grüsser und Thalemann 2006). Es zeigt die Merkmale der Mengensteigerung und des Kontrollverlusts trotz negativer Konsequenzen.

Therapie Therapeutische Hilfen sind durch Verhaltenstherapie gut möglich.

Glücksspielsucht(1)

Diese süchtige Verhaltensstörung (genauer: pathologisches Glücksspiel; ICD-10-Diagnose »Pathologisches Spielen«; F63.0) besteht in häufigem und wiederholtem episodenhaftem Glücksspiel, das die Lebensführung des betroffenen Patienten beherrscht und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt. Es führt vor allem zu hohen Verschuldungen. Bemerkenswert ist, dass sich auch bei Glücksspielsüchtigen im Experiment bei Darbietung von Objekten der Glücksspielszene über das funktionelle Kernspintomogramm spezifische Gehirnaktivierungen im limbischen System (Gyrus cinguli anterior) nachweisen ließen. Auffällig ist meist eine Impulskontrollstörung.

Therapie Die psychologische Therapie erfolgt ambulant oder stationär bei spezialisierten Therapeuten (Petry 2003).

Internetsucht(1) (Onlineaholics(1), online addicts(1))

Das Internet ist bereits ein Suchtobjekt geworden (Petry 2010; Young 1999). Die Betroffenen (User) beanspruchen zunehmend mehr außerberufliche Zeit für das Internet (z. B. ca. > 30 h/Wo. außerberufliche/außerschulische Internetnutzung). Es wird auch von Versuchen berichtet, dieser Tendenz entgegenzuwirken, also das Verhalten zu kontrollieren. Längeres Verbleiben im Internet als geplant gilt ebenfalls als wichtiges Merkmal. Auffällig wird das Verhalten für den Betroffenen erst, wenn es mit dem sozialen Umfeld Probleme gibt. Dies wird von den Betroffenen meist heruntergespielt. Besonders problematisch ist die exzessive Internetnutzung, wenn dabei Lustzustände entstehen oder Unlustzustände gemindert werden, wenn also die Internetnutzung zur Befindenssteuerung verwendet wird. Einige User verspüren Unlust, wenn sie länger nicht im Internet waren, bei manchen tritt dieser Zustand bereits am Morgen auf, wo der Drang zur Internetnutzung stärker ist als der zur ersten Zigarette. Die ersten Auffälligkeiten, welche die User an sich merken, sind in diesem Zusammenhang, dass sie kaum mehr schlafen. Einige Betroffene schildern ihre Erfahrungen so, dass sie sich in der Internetkommunikation wichtiger als in der Alltagskommunikation fühlen, dass sie mehr Verständnis vorfinden usw. Andere fühlen sich »hungrig« nach Informationen.

Epidemiologisch schätzt man etwa 5 % exzessive User des Internets, andere Autoren vermuten sogar eine Suchtgefährdung bei 10–40 %. Dabei sind v. a. die Chatrooms die Bereiche, wo die User hängen bleiben. Besonders attraktiv am »chatten« ist die Möglichkeit zur intensiven, aber zugleich anonymen Kommunikation. Auch exzessives Kaufen und exzessive sexbezogene Aktivitäten im Internet werden beobachtet. Eine besondere psychopathologische Bedeutung, v. a. bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, haben Rollenspiele via Internet (z. B. World of Warcraft).

Therapie Über virtuelle Kliniken im Internet (z. B. https://netaddiction.com/) soll die Kontrolle durch strikte Regeln hergestellt werden, da eine Abstinenz in der Informationsgesellschaft nicht möglich ist. Spezielle Programme werden in Suchtfachkliniken und -ambulanzen aufgebaut.

1.5 Verbreitung(1)

Die Verbreitung der stoffgebundenen Abhängigkeit in der Bevölkerung ist gesundheitspolitisch von großer Bedeutung, sodass es wichtig ist, Zahlen zu nennen: Mindestens 8 % der erwachsenen Bevölkerung – also ca. 6 Mio. Menschen – sind von einem Suchtproblem betroffen (Tab. 1-4). Zählt man die Angehörigen hinzu (z. B. 2 Personen pro Abhängigen), dann sind etwa 18 Mio. Menschen direkt und indirekt von Abhängigkeit betroffen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass bei den repräsentativen Umfragen, auf denen diese Schätzungen beruhen, immer weniger Menschen reagieren, weil vermutlich das Interesse am Thema und das Vertrauen in den Datenschutz gesunken sind. Auch sind die Kriterien der Einstufung des Konsums bei der Nutzung der publizierten Zahlen ebenso wie die Art der Stichprobenerhebung zu beachten. Letztlich können nur Schätzzahlen zu Größenordnungen ermittelt werden, da auch Hochrechnungen aus den jeweiligen Stichproben erforderlich sind. Neuere Studien (Atzendorf et al. 2019) gehen von 71 % erwachsenen Alkoholkonsumenten aus (ca. 37 Mio.), von 28 % Tabakkonsumenten (ca. 14 Mio.), 7 % Cannabis-Konsumenten (ca. 4 Mio.) und 1 % Amphetamin-Konsumenten (ca. 6 Mio.), wobei eine Abhängigkeitsdiagnose bei mindestens 13 %, also bei über sieben Millionen Menschen, gestellt werden kann. Davon sind etwa 4,4 Millionen Menschen tabakabhängig und etwa 1,6 Millionen alkoholabhängig. Schätzungen legen nahe, dass mindestens 1,6 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig sind, was in Summe etwa 7,6 Millionen Personen ergibt, wobei die Mehrfachabhängigkeiten diese Zahl wieder reduzieren. Allerdings gibt es höhere Schätzungen für die Medikamentenabhängigkeit, nämlich 2,3 Millionen Personen (Bundesregierung 2022). Was Verhaltenssüchte betrifft, geht die Bundesregierung von 430 000 Menschen mit abhängigem Glücksspielverhalten aus (Bundesregierung 2022). Auch eine exzessive Internetnutzung kann zu abhängigem Verhalten führen; so ist davon auszugehen, dass in Deutschland etwa 560 000 Menschen onlineabhängig sind (Bundesgesundheitsministerium 2022).

Konsumierende Substanz/Verhaltenssucht

Größenordnung aufgrund verschiedener Studien

Nicotin

4,4 Mio. Abhängige

Medikamente

1,6–1,9 Mio. Abhängige

Alkohol

1,6 Mio. Abhängige, 1,7 Mio. gesundheitsgefährdender Konsum

Cannabis

4 Mio. Konsumenten

300 000 Abhängige?

Amphetamine

250 000 Konsumenten?

100 000 Abhängige?

Heroin

150 000 Konsumenten/Abhängige

Cocain

150 000 Konsumenten

Abhängiges Glücksspiel

430 000 Personen

Internet-/PC-Abhängigkeit

560 000 Personen

Tab. 1-4: Epidemiologie der Sucht(1) (Größenordnungen)

All diese Zahlen müssen aber wegen der Dunkelziffer als Unterschätzungen gewertet werden.

1.6 Therapiekonzepte(1)

Grundsätzlich ist die Gesamttherapie von Suchtkranken im Stufenprogramm auf die Abstinenz ausgerichtet und sieht schwerpunktmäßig jeweils die multidisziplinäre Aufklärung und Beratung über die Problemlage, die medizinische Schadensminderung, den medikamentösen Entzug und die psychosoziale Entwöhnung vor. Dazu gibt es ambulante und stationäre Einrichtungen, großteils programmatisch aufgeteilt nach Tabak-, Alkohol-, Opioid-, Cannabis- und Amphetaminabhängigkeit. Unterschiedliche Kostenträger kommen für diese Leistungen auf. Im internationalen Vergleich ist das deutsche Suchthilfesystem besonders differenziert. Gerade deshalb sind auch oft Therapiekonzepte, die v. a. in angloamerikanischen Ländern evaluiert wurden, nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragbar. Allerdings hat dieses System einige Schnittstellendefizite, und zwar besonders im somatisch-medizinischen Bereich. Dies betrifft hauptsächlich die Hausärzte, was im Kapitel 6 ausgeführt wird.

Neu in dieser Hinsicht ist nun bei der Behandlung der Alkoholproblematik eine medikamentöse Option v. a. für Hausärzte: Durch die Zulassung des Opioid-Antagonisten Nalmefen im März 2013 zur Reduktion des Alkoholkonsums von erwachsenen Patienten mit Alkoholabhängigkeit besteht jetzt die nachgewiesene Möglichkeit, innerhalb eines halben Jahres deren Alkoholdosis deutlich zu reduzieren. Die bevölkerungsweite Umsetzung dieses Therapiekonzepts ist genau zu beobachten, vielleicht tritt mittelfristig sogar ein sekundärpräventiver Effekt ein.

Eine enorme Herausforderung für das Suchthilfesystem ist die Akuttherapie (und die postakute Therapie) der Komplikationen, die bei Personen nach Konsum der neuen psychoaktiven Substanzen (und ihrer wirkungsähnlichen Stoffe) auftreten. Es besteht aktueller Bedarf, passende evidenzbasierte Therapieprogramme zu finden.

1.7 Prävention(1)

Die Arbeit im Bereich der Verhinderung einer Suchtentwicklung – die Prävention – wird zwar von der Suchthilfe getragen; sie muss aber in der Schule, bei der Arbeit, in der Familie und in der Gemeinde ebenfalls realisiert werden. Prävention ist somit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der die unterschiedlichen Zielgruppen mit den für sie passenden kommunikativen Methoden angesprochen werden müssen. Als Maßnahme der Konsumminderung und -verhinderung wird auch die gesetzliche Repression (z. B. Strafrecht, Verkehrsrecht) gesehen.

Inhaltliche Basis der Prävention ist das Ursachenmodell der Sucht, das im Kapitel 2 behandelt wird. Prävention zielt daher auf drogenbezogene Risiko-Information, auf unspezifische Prävention durch Stärkung der psychosozialen Kompetenz wie auch auf die Erhöhung der Zugriffsschwellen.

Die Kampagnen gegen das Exzess-Trinken(1) (binge drinking(1)) von Alkohol bei Jugendlichen haben vermutlich Wirkung gezeigt, da zumindest kein weiterer Anstieg der Krankenhausaufnahmen zu verzeichnen ist. Da auch über die Jahre die Promillezahl bei Aufnahmen rückläufig ist, kann davon ausgegangen werden, dass zumindest das Problembewusstsein größer geworden ist.

Gute Erfolge wurden bei der Tabak-Prävention, vor allem durch die Verhältnisprävention, erzielt, insofern die Preise und die Schwellen für die Verfügbarkeit erhöht und die Werbung verringert wurden, insbesondere für Jugendliche (BZgA 2022). Dies zeigt sich in der Minderung der Konsumstatistiken bei Jugendlichen: 6,1 % der Jugendlichen und 29,8 % der jungen Erwachsenen gaben im Jahr 2021 an, zu rauchen. Im Jahr 2001 waren es 27,5 % der 12- bis 17-Jährigen und 44,5 % der 18- bis 25-Jährigen. Was den Alkoholkonsum betifft, geben aktuell 8,7 % der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen an, regelmäßig, also mindestens einmal wöchentlich, Alkohol zu trinken. Im Vergleich zu 21,2 % im Jahr 2004 hat sich der Wert deutlich reduziert. Der Anteil der 18- bis 25-Jährigen, die schon einmal Cannabis konsumiert haben, ist von 34,8 % im Jahr 2012 auf 50,8 % im Jahr 2021 gestiegen.

Eine große Herausforderung stellt nach wie vor der Konsum illegaler Drogen dar, die weitgehend über das Internet besorgt werden. Hierfür werden medienspezifische Präventionsstrategien entwickelt.

1.8 Perspektiven

Die Dynamik in der Suchtepidemiologie stellt Experten vor weitere Herausforderungen, sodass es für sie absolut notwendig ist, sich ständig weiterzubilden.

Soziokulturelle Veränderungen, wie z. B. die aktuell beachtliche Freigabe des Cannabisgebrauchs in einigen Staaten der USA, stimulieren auch in Deutschland diese Debatte. Sie überträgt sich auch in die Praxis im Umgang mit Menschen, die Probleme durch den Cannabisgebrauch haben.

Solche vielschichtigen Problemlagen können aber nur durch Akteure der Suchthilfe versachlicht werden. Mit diesen Zielen wurde in Bayern die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen gegründet, die aktuelle Empfehlungen zur Orientierung für die Praxis entwickelt, welche allgemein unter www.bas-muenchen.de zu lesen sind (z. B. Cannabis: www.bas-muenchen.de/fileadmin/documents/pdf/Publikationen/Papiere/BAS_e.V._Med_Can_Hilfestellung_August_2022.pdf).

Literatur

Atzendorf J, Rauschert C et al. 2019.0577.

Batthyány D, Pritz A (2009). Rausch ohne Drogen. Substanzungebundene Süchte. Wien: Springer.

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) (2021). Bei Alkohol im Limit bleiben. www.bzga.de/presse/pressemitteilungen/2021-11-16-bei-alkohol-im-limit-bleiben/ (letzter Zugriff: 17. 04. 2023).

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) (2022). Suchtmittelkonsum junger Menschen: Alkoholkonsum rückläufig, Raucherquote unverändert niedrig, Cannabiskonsum nimmt zu. www.bzga.de/presse/pressemitteilungen/2022-06-23-suchtmittelkonsum-junger-menschen-alkoholkonsum-ruecklaeufig-raucherquote-unveraendert-nie/ (letzter Zugriff: 17. 04. 2023).

Bundesgesundheitsministerium (2022). Sucht und Drogen. www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/sucht-und-drogen.html (letzter Zugriff: 17. 04. 2023).

Bunderegierung (2022). Vom Glücksspiel zur Spielsucht. www.bundesregierung.de/breg-de/suche/aktionstag-gluecksspielsucht-1963120 (letzter Zugriff: 17. 04. 2023).

Gerlinghoff M, Backmund H (2004). Wege aus der Essstörung. 4. Aufl. Stuttgart: TRIAS.

Grüsser SM, Thalemann CN (2006). Verhaltenssucht. Diagnostik, Therapie, Forschung. Bern: Huber.

Jellinek EM (1960). The Disease Concept of Alcoholism. New Haven: Yale University Press (Nachdruck 2010 bei Martino Fine Books erschienen).

Mäulen B, Irons RR (1998). Süchtige Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität. In: Gölz J (Hrsg). Moderne Suchtmedizin. Diagnostik und Therapie der somatischen, psychischen und sozialen Syndrome. Stuttgart, New York: Thieme; B6.4–1–B6.4–15.

Petry J (Hrsg) (2003). Pathologisches Glücksspielverhalten. Ätiologische, psychopathologische und psychotherapeutische Aspekte. Geesthacht: Neuland.

Petry J (2010). Dysfunktionaler und pathologischer PC- und Internet-Gebrauch. Eine Therapieanleitung. Göttingen: Hogrefe.

Roth K (2004). Wenn Sex süchtig macht. Einem Phänomen auf der Spur. Berlin: Ch. Links.

Schochow R (1999). Wenn Arbeit zur Sucht wird. Rat und Hilfe für Workaholics. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch.

Tretter F (2000). Suchtmedizin. Der suchtkranke Patient in Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer.

Wolffgramm J (1996). Die Bedeutung der Grundlagenforschung für die Behandlung von Alkoholabhängigen. In: Mann K, Buchkremer G (Hrsg). Sucht. Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: G. Fischer; 3–18.

Young KS (1999). Caught in the net. Suchtgefahr Internet. München: Kösel.

Felix Tretter

2 Ursachen(1)

Für die Aufklärung des Patienten über seine Krankheit sind Hinweise zu den Ursachen der Sucht äußerst hilfreich (»Psychoedukation(1)«). Deshalb sollen hier die wichtigsten Aspekte der Suchttheorie(1) dargestellt werden, die auch im Umgang mit dem Patienten für die Einsicht in die Störung günstig genutzt werden können.

Besonders wichtig ist die Neurobiologie der Sucht, sie wird in diesem Kapitel detaillierter dargestellt. Die psychologischen Aspekte sind gut über die Selbsterfahrung der Patienten eruierbar. Zu berücksichtigen ist auch die soziokulturelle Einbettung der Sucht, v. a. im Hinblick auf Gespräche mit Abhängigen von illegalen Drogen.

2.1 Suchtdreieck(1)

Grundsätzlich bewirken Merkmale der Droge, der Person und der Umwelt in ihrem Zusammentreffen die Suchtentwicklung (Abb. 2-1a): Wo es keine Drogen gibt, wird man sie nicht konsumieren und daher auch nicht davon abhängig werden, sogar wenn die betreffende Person ein genetisches Risiko mit sich bringt. Eine drogenfreie Gesellschaft ist aber eine Utopie. Das bedeutet im Einzelnen:

Manche Drogen haben ein hohes Suchtpotenzial (Nicotin(1), Heroin(1)).

Manche Menschen haben ein persönliches hohes Suchtrisiko (depressive und ängstliche Menschen, impulsive Persönlichkeiten, genetische Vorbelastung, traumatische Erlebnisse).

Manche Lebensbereiche gehen mit einem hohen Suchtrisiko einher (Gastronomie, ungelernte und freie Berufe, Medienberufe, Künstler).

Für eine Suchtentwicklung ist das individuelle Zusammentreffen von Risiko- und Schutzfaktoren (z. B. stabiles soziales Umfeld) entscheidend (Abb. 2-1b). Vom Gewohnheitskonsum zur Abhängigkeit ist es dann, beispielsweise in sozialen Lebenskrisen, oft nur ein kleiner Schritt.

Abb. 2-1: Die Ursachen der Sucht(2) (Tretter 2000). a Das »Ursachendreieck«(1) der Sucht (nach Soyka und Küfner 2008). b Phasenkonzept der Sucht(1) mit die Entwicklung steuernden Risiko- und Schutzfaktoren.

2.2 Drogenwirkungen(1)

2.2.1 Wirkungsspektrum

Grundsätzlich ist die Drogenwirkung (»Rauschqualität(1)«) von den Merkmalen der Person (aktueller Zustand, Vorerfahrungen, psychische Labilität; »Set«), den Merkmalen der Situation (alleine, in der Gruppe; »Setting«) und den Merkmalen der Substanz bestimmt, sodass individuell unterschiedliche Effekte (z. B. Drogenpsychose) auftreten können. Aus praktischen Gründen können drei grundlegende Wirkungsarten einer Droge unterschieden werden, nämlich ob sie

überwiegend aktivierend wirkt (Stimulanzien(1)), wie z. B. Amphetamine(1),

überwiegend sedierend wirkt (Sedativa(1), Hypnotika(1)), wie letztlich auch Heroin(1), oder

überwiegend psychodysleptisch bzw. psychotogen wirkt (Halluzinogene(1)), wie z. B. LSD(1).

Manche Drogen, v. a. Alkohol und z. T. Nicotin, zeigen einen »biphasischen« Verhaltenseffekt(1), etwa indem bei niedrigen Dosen eine Aktivierung durch Entspannung erfolgt, bei hohen Dosen jedoch eine Dämpfung auftritt. Diese Effekte sind auf biochemischer Ebene noch nicht voll verstanden. Auch die Hoffnung, dass sich durch die Analyse der molekularen Struktur der Substanzen deren psychisches Wirkungsspektrum ableiten lässt, hat sich mit Blick auf die synthetischen Drogen nur in rudimentärer Weise aufrechthalten lassen.

Auch die Einordnung der Ecstasy-Wirkung(1) bereitet einige Probleme, und zwar wegen eines zusätzlich auftretenden, angeblich stärkeren Gefühls zu sich selbst, das als »entaktogen« klassifiziert wird. Das trifft auch für andere Substanzen aus dem Bereich der »Research Chemicals(1)« (v. a. Amphetamin-Derivate) und u. U. bei Alkohol zu. Daher müsste in Abbildung 2-2 eine vierte Achse zu den drei genannten Achsen als Wirkungsdimension von Drogen eingefügt werden. In der Forschung werden deshalb umfassende multiaxiale Ordnungsschemata der Drogenwirkung verwendet. Für die Praxis reicht jedoch das vorgeschlagene Schema aus, das quantitative intensive Bewusstseinsveränderungen (Stimulation, Sedierung) und qualitative Bewusstseinsveränderungen (Halluzination, Euphorie, Selbstwertsteigerung usw.) bis zur psychotischen Veränderung darstellt. Dabei sind Dissoziationserfahrungen, die unter LSD-Konsum häufig sind, zwar wiederum qualitativ unterschiedlich zu den Integrationserfahrungen, wie sie sich unter dem Konsum von Entaktogenen einstellen können, aber dennoch können beide Substanzgruppen zu derartigen Störungen des Realitätsbezugs führen, dass manchmal eine Klinikaufnahme unumgänglich ist. Außerdem fluktuieren die Zustandsbilder sehr stark, sodass auch bei LSD-Konsum ein Harmonieerleben und bei Ecstasykonsum eine Horrorerfahrung auftreten kann, wenngleich immer noch nicht bekannt ist, welche chemische Verbindung für das jeweilige Zustandsbild verantwortlich ist.

Abb. 2-2: Klinisch begründete Einordnung häufig konsumierter Drogen(1) nach drei Achsen ihrer hauptsächlichen Effekte(1)(1)(1)(1)(1)(1)(1)(1)(1)

Stimulanzien Zur Substanzgruppe der Stimulanzien(1) gehören v. a. die Amphetamine(1). Diese Stoffe haben erregende Wirkungen, sie beschleunigen die kognitiven Funktionen und hellen die Stimmung auf, darüber hinaus wirken sie aktivierend auf das vegetative Nervensystem (sympathikotone Effekte). Ecstasy(1) ist ein Methamphetamin-Derivat, das zusätzlich ein halluzinogenes Potenzial besitzt. Da es jedoch eher als Partydroge verwendet wird (mit dem Ziel, möglichst lange durchzuhalten), kann dieser Stoff bei den Stimulanzien eingeordnet werden, denn alle Stimulanzien können auch zu Halluzinationen führen.

Sedativa, Hypnotika Zur Stoffgruppe der Sedativa(1) bzw. Hypnotika(1) gehören insbesondere die Benzodiazepine(1), aber auch Barbiturate(1). Sie haben dämpfende bis schlafanstoßende Wirkungen.

Halluzinogene (Psychotomimetika, Psychodysleptika) Der Gruppenbegriff der Halluzinogene(1) betrifft Stoffe, die in besonderem Maße Halluzinationen bzw. psychotische Zustandsbilder erzeugen können. Im Wesentlichen zählen dazu LSD(2), Psilocin(1), Psilocybin(1) und Mescalin(1), Phencyclidin(1) (Phenylcyclohexylpiperidin(1) [PCP]) sowie in geringerem Maße Cannabis(1) (Δ9-Tetrahydrocannabinol [THC]) und Inhalanzien. Aber auch andere Substanzen wie Cocain, Amphetamine und Methamphetamine (z. B. Ecstasy [XTC]) sind Stoffe, bei deren Konsum gelegentlich Halluzinationen auftreten können. Man unterscheidet bisweilen Halluzinationen von »Pseudohalluzinationen(1)(1)«, wobei bei Letzteren das Ich(1) die ungewöhnlichen Wahrnehmungen distanziert und als wesensfremd bewertet erlebt, im anderen Fall jedoch diese gestörten Wahrnehmungen in das Erleben integriert werden. Diese allgemeinen Effekte kann man als psychotisch einstufen, weshalb Stoffe mit solchen Effekten als »psychotogen« bezeichnet und damit auch als Psychotomimetika(1) oder Psychodysleptika(1)klassifiziert werden.

Zu beachten ist auch das Phänomen, dass der Konsum von Stimulanzien bei Überstimulation zum Konsum von Sedativa veranlasst und umgekehrt. Auf diese Weise wird häufig eine Polytoxikomanie(1)angestoßen.

Anzumerken ist, dass nahezu alle Substanzen in der Pharmakageschichte zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wurden, was sich aktuell bei den illegalen Psychodysleptika zeigt, die wie Psilocybin oder LSD als mögliche Antidepressiva untersucht werden (Carhart-Harris et al. 2021).

2.2.2 Suchtpotenzial(1)

Drogen verfügen über ein unterschiedlich ausgeprägtes Suchtpotenzial: Beispielsweise haben Nicotin(2) und Heroin(2) ein besonders hohes Suchtpotenzial, Cocain(1), Alkohol(1) und Cannabis(1) dagegen ein niedrigeres (Abb. 2-3). Das Suchtpotenzial lässt sich bei Bevölkerungsumfragen aus der Quote derer, die aktuell die betreffende Droge konsumieren (Monatsprävalenz(1)), bezogen auf diejenigen, die jemals im Leben diese Droge konsumiert haben (Lebenszeitprävalenz(1)), bestimmen. Auch die Rückfallraten sechs Monate nach einer therapeutischen Maßnahme geben zum Suchtpotenzial Hinweise: Bei Nicotin(1) wie bei Heroin(1) beträgt die Abstinenzrate nur etwa 30 %.

Abb. 2-3: Abhängigkeitspotenzial verschiedener psychoaktiver Substanzen(1) als Quote, bestehend aus der Zahl der aktuellen Konsumenten bezogen auf die Zahl jener, die jemals im Leben die betreffende Droge konsumiert haben (O’Brien 1998; nach Tretter 2000)(1)(1)(1)(1)(1)

Messung des Suchtpotenzials von Drogen: Wie viele der Probierer konsumieren gegenwärtig?

2.3 Neurobiologie(1) der Sucht(1)

Ein integratives neurobiologisches Modell zu entwickeln, um das Sucht-Phänomen verstehen zu können, ist trotz besonderer Bemühungen aufgrund eines äußerst fragmentierten Aspektwissens gescheitert: Es wird i. d. R. nur ein methodisch-technisch bedingter neuer Befund der Hirnforschung als »Grundlage« der Sucht herangezogen, ohne tatsächlich zu versuchen, das Datenmosaik zu einem geordneten Bild zusammenzufügen. Dabei wird wenig daran gedacht, dass eine Struktur im Gehirn, ob auf makroanatomischer Ebene oder auf molekularer Ebene, im Allgemeinen mit einer Vielzahl von Funktionen vernetzt ist, sodass z. B. die Rolle des Nucleus accumbens, einer limbischen Hirnstruktur, nicht nur bei der Sucht, sondern ebenfalls bei der Depression eine Rolle spielt. Auch einfache Zuweisungen des »Craving« als süchtiges Verlangen an ein Gehirnzentrum gehen am Problem einer Gehirntheorie des Verhaltens vorbei. Letztlich sind auch die Versuche, aus der molekularen Struktur einer Droge ihr psychisches Wirkprofil abzuleiten, unbefriedigend. Diese Einschränkungen der Erklärungskraft der Neurobiologie müssen bei den nachfolgenden Ausführungen berücksichtigt werden.

Aus der Sicht der Biologie handelt es sich bei der stoffgebundenen Sucht um die neurochemische Anpassung des Gehirns an eine anhaltende Substanzzufuhr. Antrieb für süchtiges Verhalten ist der neurochemisch begründbare Belohnungseffekt des Stoffes. Sucht ist deshalb eine erworbene neurochemische Gehirnkrankheit.

Darüber hinaus besteht aufgrund der biochemischen Individualität jedes Menschen (z. B. depressive Disposition) eine unterschiedlich ausgeprägte und u. U. substanzspezifische Vulnerabilität(1) (z. B. Stimulanzien), die das Suchtrisiko prägt. Die einzelnen Ebenen des Gehirns – von der molekularen Ebene der Synapse als Kontaktstelle zwischen Nervenzellen ausgehend, über elektrochemische zelluläre Prozesse bis zu lokalen neuronalen Schaltkreisen und makroanatomischen Netzwerken – sind im Hinblick auf die Sucht noch unzulänglich erforscht, doch zeichnet sich bereits ein zusammenhängendes, komplexes Bild von adaptiven gekoppelten neurochemischen Schaltkreisen ab, das für das Verständnis der Wirkung der Drogen hilfreich sein kann (Heinz und Batra 2003; Koob und Le Moal 2005; Koob und Volkow 2016; Uhl et al. 2019; Volkow et al. 2019). Es wird im Rahmen dieses Mehrebenen-Konzepts auch verdeutlicht, dass der Konsum von Drogen ein Eingriff in äußerst komplexe Netzwerkprozesse ist.

Die Neurobiologie der Sucht verfügt mittlerweile über einen umfangreichen Datenpool, der das Verständnis der Wirkmechanismen von Drogen vertiefen lässt. Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass zwar die einzelne Zelle Reaktionen auf Drogen zeigen kann, dass aber nur durch veränderte Prozesse und Zustände von größeren Nervennetzen verhaltensrelevante Effekte auftreten. Daher ist die Kenntnis einzelner molekularer Mechanismen nicht so hilfreich, wie man zunächst glaubt: Glutamat-Rezeptoren einer Zelle A haben zwar i. d. R. aktivierende Effekte auf diese Zelle. Wenn es sich aber um eine GABA-haltige und damit in ihrer Aktion hemmende Zelle handelt, hat die Aktivierung des Glutamat-Rezeptors einen hemmenden Effekt auf die nachgeschaltete Zelle B. Drogeneffekte in klinischer Hinsicht müssen daher als Netzwerkeffekte betrachtet werden. Auch ist die Konstellation der Inputs für ein Neuron im Cortex noch komplizierter als im Striatum, zumal Nervenfasern eintreffen, die u. a. Glutamat, GABA, Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin als Transmitter beinhalten.

Für wissenschaftlich interessierte Leser folgt hier ein Exkurs in die Neurobiologie, die im Kapitel 2.3.6 im Bild des »neurochemischen Mobile« zusammengefasst wird.

Nachfolgend werden zunächst die vorherrschende molekularbiologisch-biochemische Perspektive der Rezeptoren und dann Ebene für Ebene – von der Zelle über Netzwerke bis zum Gesamtgehirn – die bekannten Effekte kurz dargestellt. Aber Vorsicht: Mit zunehmender Komplexität werden auch die Aussagen immer spekulativer! Ein schlüssiges, integriertes Mehrebenen-Modell der Neurobiologie der Sucht fehlt noch immer, v. a. da das Gehirn ein Netzwerk von 100 Mrd. Neuronen und 100 Bill. an nervalen Kontaktstellen hat. Es handelt sich also um ein System, das sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen offenbar entzieht.

2.3.1 Neurochemie der Synapse(1)(1)

Drogen greifen, auf molekularer Ebene betrachtet, an verschiedenen Mechanismen der Synapsen als Schaltstelle der Signalverarbeitung zwischen zwei Neuronen ein. Dort befinden sich Speichervesikel mit der Transmittersubstanz, Rezeptoren und das Transmitterrücktransportsystem.

Grundlegend lässt sich die Kopplung der Drogen an molekulare Bindungsstellen der Zellen (v. a. Rezeptoren, Rücktransporter) durch strukturelle Ähnlichkeiten der Drogen mit den Transmittersubstanzen des Nervensystems verstehen (Abb. 2-4). Je nach Droge sind deshalb unterschiedliche Transmissionssysteme betroffen, nämlich v. a. jene, die Dopamin, Noradrenalin, Acetylcholin, Serotonin, Glutamat oder γ-Aminobuttersäure (GABA) als Transmitter nutzen (Tab. 2-1).

Zahlreiche Drogen setzen an Rezeptoren, mit spezifischer Affinität zu deren Subtypen, einige an anderen synaptischen Mechanismen an.

Abb. 2-4: Die strukturelle Ähnlichkeit von Drogen(1) und Transmittern erklärt teilweise deren Wirkung, allerdings nur bezogen auf molekulare Teilstrukturen (Tretter 2000).

a Amphetamin(1) und die Transmitter Noradrenalin(1) und Dopamin(1).

b LSD(1), das strukturell dem Serotonin(1) ähnelt.

Droge

Molekulare Effekte

Alkohol(1)

hemmt funktionell Glutamat-Rezeptoren (N-Methyl-D-aspartat-Rezeptoren [NMDA-R]) und Calcium-Kanäle

verstärkt GABA-Mechanismen

Heroin(1)

aktiviert My-Rezeptoren des Endorphinsystems, dieses hemmt die Folgesysteme

Amphetamine(1)

fördern die Dopamin-Ausschüttung und blockieren v. a. den Dopamin- und auch den Serotonin-Rücktransporter, sodass mehr Transmitter im synaptischen Spalt vorhanden sind

Cocain(1)

hemmt Rücktransporter von Dopamin-Neuronen

Cannabis (THC)(1)

aktiviert den Cannabis-Rezeptor, der die betreffende Zelle hemmt, der Signalfluss der endogenen Cannabinoide verläuft jedoch von der postsynaptischen Membran zur präsynaptischen Zelle!

Ecstasy(1)

hemmt v. a. den Serotonin-Rücktransporter

LSD(1)

aktiviert den Serotonin-Rezeptor vom Typ 5-HT2A

Tab. 2-1: Neurobiologische Drogeneffekte(1)

Nicotin Das Nicotin(1) koppelt an Acetylcholin-Rezeptoren (ACh-R) an, die dann einen Ionenkanal öffnen, sodass Natrium- und Calcium-Ionen in das Zellinnere strömen können und die Membrandepolarisation bewirkt wird (Abb. 2-5, Abb. 2-6). Ergänzend ist hier anzumerken, dass als verzögerte »Gegenbewegung« die Kalium-Ionen aus dem Zellinneren hinausströmen, die die Repolarisation der Zellmembran (sozusagen die »Negativierung« der Zelle) bewirken. Auf diese Weise wird die elektrische Erregungsbereitschaft der Nervenzellen zunächst v. a. gesteigert, sodass unmittelbar eine lokale Membrandepolarisation bzw. als summarischer Effekt ein oder mehre Aktionspotenziale ausgelöst werden können. Die rasche Repolarisation erlaubt eine hohe Entladungsrate des Neurons. Je nach Zelltyp, auf dem diese Rezeptoren sitzen – erregende oder hemmende Zellen –, wird die jeweilige nachgeschaltete Zelle erregt oder gehemmt. Nicotin hat anregende und dämpfende Effekte, vermutlich weil gleichzeitig unterschiedlich organisierte Transmittersysteme (z. B. GABA versus Glutamat) angesteuert werden.

Abb. 2-5: Drogenwirkung(1) am Rezeptor: Die Kopplung von Nicotin(1)-Molekülen an dem nicotinergen Acetylcholin-Rezeptor verändert die Struktur des Rezeptor-Ionenkanal-Komplexes so, dass der (a) vorher geschlossene Ionenkanal – je nach Subtyp des Rezeptors – für Natrium- und Calcium-Ionen, die vom Außenraum der Zelle in das Zellinnere einströmen (Depolarisation), geöffnet wird (b). Je nach Niveau des Membranpotenzials (z. B. –60 mV) und je nach Anzahl der aktivierten Rezeptoren kann ein elektrisches Aktionspotenzial ausgelöst werden. Auch kann bei manchen Kanaltypen der Kalium-Ausstrom aus der Zelle elektiv aktiviert werden, der die Repolarisation des Membranpotenzials erzeugt (Koob und Le Moal 2006; Tretter 2000).

Abb. 2-6: Ionenströme(1) (oben) und ihre elektrischen Effekte auf die Zellmembran(1). Natrium-Einstrom bewirkt eine Depolarisation des Membranpotenzials (unten), u. U. bis zu einem Aktionspotenzial, der Kalium-Ausstrom führt zur Repolarisation. Calcium-Einstrom erzeugt eine Depolarisation bis zu Calcium-Spikes, während der Chlorid-Einstrom eine Hyperpolarisation bewirkt.

Alkohol Der Alkohol(1) hemmt die Funktion der erregend wirkenden Glutamat-Rezeptoren (N-Methyl-D-aspartat-Rezeptor [NMDA-R]), deren Aktivierung zu einem Calcium-Einstrom führt und das Membranpotenzial der Zelle lokal depolarisiert. Außerdem aktiviert Alkohol die Funktion der hemmend wirkenden GABA-Rezeptoren ([GABA-R]; genauer: GABAA-Rezeptor-Subtyp), deren Aktivierung zu einem Chlorid-Einstrom in die Zelle führt. Akuter Alkoholkonsum mindert also auf doppelte Weise die Reagibilität der betreffenden Zelle. Aber auch Alkohol hat, ähnlich wie Nicotin, stark netzwerkabhängige Effekte der Erregung und Dämpfung, wovon noch die Rede sein wird.

Cannabi Die Droge Cannabis(1) wirkt über Cannabinoid-Rezeptoren (CB-Rezeptoren) auf das körpereigene Endocannabinoid-System, zu dem mehrere Transmitter (z. B. Anandamid) gehören. Es gibt unterschiedliche Rezeptor-Subtypen wie den CB1-Rezeptor, der im Gehirn vorkommt, und den CB2-Rezeptor, der sich auf Lymphozyten, Thrombozyten und anderen Zellen befindet. Die topografische Verteilung der CB-Rezeptoren erstreckt sich u. a. über den Cortex, das Cerebellum, das Striatum, den Hippocampus (Gedächtnisfunktionen) und den Nucleus accumbens. Für das Rauschphänomen relevant ist die Minderung der Neurotransmission durch präsynaptisch wirkende CB1-Rezeptoren. Aktivierung der CB1-Rezeptoren bewirkt eine Hemmung von präsynaptischen Calcium-Kanälen und der daran gekoppelten Signalkaskade. Darüber hinaus wird eine Aktivierung von Kalium-Kanälen erzeugt, sodass Nervenzellen, besonders in der Amygdala (limbisches System; für Angst), in ihrer Transmissionsaktivität gehemmt sind. Aber auch hier ist bei der Netzwerkanalyse noch ungeklärt: Wird die Ausschüttung des erregenden Glutamats oder des hemmenden GABA stärker reduziert?

Andere Drogen Substanzen wie Cocain(1) und Amphetamine(1) blockieren den Dopamin-Rücktransporter, der das ausgeschüttete Dopamin normalerweise aus dem synaptischen Spalt in das präsynaptische Terminal zurücktransportiert. Dadurch steigt die intrasynaptische Dopamin-Konzentration.

Im Zentrum suchterzeugender Substanzen stehen v. a. jene Synapsen, die Dopamin(1) als Transmitter verwenden (Abb. 2-7): Die Transmission beginnt damit, dass die an den präsynaptischen Axonterminalen eintreffenden Aktionspotenziale einen Calcium-Einstrom auslösen, der zur Transmitterausschüttung aus den präsynaptischen Vesikeln in den synaptischen Spalt führt. Dieser Vorgang wird durch ebenfalls präsynaptisch lokalisierte Dopamin-Rezeptoren der D2-Familie gemindert. Auch die präsynaptischen Rücktransporter mindern die intrasynaptische Transmitterkonzentration, indem sie den Transmitter aus dem synaptischen Spalt eliminieren. Enzyme, die Dopamin abbauen (Catecholamin-O-Methyltransferase [COMT]), reduzieren ebenfalls die intrasynaptische Dopamin-Konzentration. Die letztlich im synaptischen Spalt vorhandenen Transmittermoleküle übertragen über erregende postsynaptische D1-Rezeptoren und über hemmende postsynaptische D2-Rezeptoren die Information an die nachgeschaltete Zelle.

Abb. 2-7: Synapse mit Rezeptoren(1) an der vorgeschalteten Nervenzelle A (präsynaptischer, hemmender D2-Autorezeptor), dem präsynaptischen Rücktransporter und mit Rezeptoren an der nachgeschalteten Nervenzelle B (postsynaptische Rezeptoren) in Form der aktivierenden D1- und der hemmenden D2-Rezeptoren. Erstes innerzelluläres Zielmolekül in der molekularen Signalkaskade ist die Adenylatcyclase, die cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) synthetisiert, das vielfältige Prozesse der Zelle aktiviert (nach Benkert und Hippius 1996; Tretter und Albus 2004).

Es gibt zelluläre Anpassungsprozesse, die bereits nach kurz- bis mittelfristiger Einwirkung (Minuten, Stunden, Tage) der Droge auftreten. Sie werden teilweise durch membranständige molekulare Prozesse ausgelöst, wobei die Rezeptorenaktivierung bzw. -blockade z. B. Second-Messenger-Kaskaden anstößt, bei denen cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) eine Schlüsselrolle spielt, wodurch dann über Proteinkinasen Transkriptionsfaktoren und damit Ableseprozesse aus dem Genom ein- oder ausgeschaltet werden:

Bei anhaltend starker Transmissionsaktivität in der Synapse werden die Rezeptoren in ihrer Anzahl reduziert (Down-Regulation) oder in ihrer Reagibilität, z. B. durch Dephosphorylierung, gedämpft (desensitiviert).

Bei anhaltend schwacher Transmissionsaktivität wird hingegen die Zahl der Rezeptoren erhöht (Up-Regulation) oder ihre Sensitivität gesteigert (sensitiviert).

Diese kompensatorisch wirksamen Adaptationsmechanismen zeigen sich bei Suchtstoffen klinisch z. B. in der Dosissteigerung und über die Zeit auch in Entzugssymptomen.

2.3.2 Intrazelluläre molekulare Prozesse bei Drogenkonsum(1)

Eine zusammenhängende und widerspruchslose molekularbiologische Theorie des Rausches und der Sucht ist noch nicht gegeben. Zu beachten ist auch, dass nur einzelne Wirkungspfade der innerzellulären molekularen Signalverarbeitung (Transduktion) und der Ableseprozesse genetischer Information (Transkription und Translation) bekannt sind und daher das gesamte innerzelluläre molekulare Wirkungsnetzwerk noch nicht verstanden ist. Die Signalpfade konvergieren, divergieren und interagieren, woraus sich ein komplexes Wirkungsnetzwerk ergibt. Diese Netzwerke sind auch heute noch nicht voll verstanden. Zu ihrer Darstellung sind Computersimulationen erforderlich. Deshalb können hier nur auf hypothetischer Basis einige wichtige akute und chronische Effekte der Drogeneinwirkung auf diese Signalnetzwerke dargestellt werden. Dies soll anhand des Alkohols und der Opiate erfolgen.

Alkohol(1)

Der Effekt der Aktivierung der GABA-Rezeptoren besteht in einem Chlorid-Einstrom. Die Folgen dieser erhöhten Chlorid-Konzentration, die das intrazelluläre ionale Milieu negativer macht, sind im Hinblick auf molekulare Prozesse der Signaltransduktion nicht genau bekannt. Diese Negativierung des Membranpotenzials könnte aber zumindest indirekt wirksam sein, indem Effekte von Calcium-Einströmen schwächer werden könnten. Die alkoholbedingte Hemmung der über die inotropen NMDA-Glutamat-Rezeptoren angestoßenen innerzellulären molekularen Signalkaskade ist im Gegensatz dazu genauer aufgeklärt und hat besondere Bedeutung (Koob und Le Moal 2005).

Im Normalfall bewirkt die Aktivierung der NMDA-Rezeptoren einen Calcium-Einstrom in die Zelle. Calcium kann über weitere molekulare Signalmoleküle (z. B. Protein-Phosphatase PP-2) die Wirkung des Proteins DARPP-32 (dopamine and cyclic AMP-regulated phosphoprotein of M 32 000) mindern, aber über andere Signalketten auch wieder steigern (→ unten). DARPP-32 wiederum, das über die Phosphokinase A (PKA) durch Phosphorylierung aktiviert wird, hemmt normalerweise die Protein-Phosphatase PP-1, die u. a. Ionenkanäle, wie Natrium- und Calcium-Kanäle, durch Dephosphorylierung deaktiviert (Abb. 2-8). Letzteres bezeichnen wir hier aus funktionsanalytischer Sicht ebenfalls einfach als Hemmung. In diesem Sinne kann daher diese Leitungsbahn die initial durch Calcium und über PP-2 vermittelte Hemmung von DARPP-32 die Hemmung von PP-1 mindern. Diese Enthemmung von PP-1 kann bewirken, dass die von PP-1 gehemmten Calcium-Kanäle besonders stark gehemmt werden. Eine derartige Serie von drei rückgekoppelten Hemmungen führt also letztlich funktionell betrachtet zu einer Hemmung. Daher wird der vom NMDA-Rezeptor aktivierte Calcium-Kanal im Normalfall über diese Rückkopplung gehemmt. Dies hat theoretisch zur Folge, dass wegen der nun im nächsten Zeitschritt geringeren Calcium-Konzentration