Suizid - Manfred Otzelberger - E-Book

Suizid E-Book

Manfred Otzelberger

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Beschreibung

Jedes Jahr bringen sich in Deutschland mehr Menschen um, als es Verkehrsopfer gibt. Alle halbe Stunde geschieht ein Suizid, alle zweieinhalb Minuten wird einer versucht. Für selbstmordgefährdete Menschen gibt es inzwischen viele vorbeugende Hilfen, doch bestehen nahezu keine Angebote für zurückgebliebene Freunde und Angehörige.
Manfred Otzelberger beschreibt anhand zahlreicher Beispiele, mit welchen Problemen die Hinterbliebenen zwangsweise konfrontiert sind und auf welch unterschiedliche Weise sie sich bewältigen lassen.
Ein Service-Teil bietet dazu Hinweise für den Umgang mit Behörden und Medien sowie aktuelle Adressen von Beratungs- und Informationsstellen.

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Seitenzahl: 381

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Manfred Otzelberger Suizid

Manfred Otzelberger

Suizid

Das Trauma der Hinterbliebenen

Erfahrungen und Auswege

Dieses Buch entstand durch Anregung und mit Hilfe von Emmy Meixner-Wülker, Gründerin der Selbsthilfegruppe Agus (Angehörige um Suizid).

Die Berichte in diesem Buch basieren auf Interviews, die mit den betreffenden Personen geführt wurden. Namen und Einzelheiten wurden insoweit geändert, als es dem Wunsch oder Schutz der Interviewpartner diente. Diese sind bei der ersten Nennung mit einem * gekennzeichnet. Basieren die Aussagen nicht auf Interviews, sind die Quellen angegeben.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 2. Druck-Auflage von September 2000) © Christoph Links Verlag GmbH, 1999 Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (0 30) 4 40 23 20www.christoph-links-verlag.de Lektorat: Jörg Schmidt, Berlin Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von © lassedesignen - Fotolia.com Satz: LVD GmbH, Berlin ISBN 978-3-86284-218-6

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Selbstmord oder Freitod: Führen die Begriffe in die Irre?

Mythen über den Suizid

Historische und kulturelle Aspekte des Suizids

Sünde – Scham – Schuld

Diskriminierung und Heroisierung

Exkurs: Selbsttötung als Staatsgeheimnis in der DDR

Wer nimmt sich das Leben?

Suizid im Spiegel der Statistik

Gibt es eine Typologie der Opfer?

Die Risikogruppen

Analyse der Suizidarten

Die hilflosen Helfer: Sind Ärzte besonders gefährdet?

Der Suizid eines Kindes: »Wenn Du Deine Kinder verlierst, verlierst Du Deine Zukunft! «

In der Familie trauern alle anders

Schuld und Zorn

Hilfe durch Selbsthilfe

Zwei Familien – zwei Arten der Trauer

Wenn man sich nicht verabschieden kann

Lernen, die Entscheidung zu akzeptieren

Der Suizid eines Partners: »Warum hast Du mir das angetan?«

Aus Schock wurde Engagement

Den Suizid niemals leugnen

Das eigene Tempo in der Trauer

Spurensuche als Trauerarbeit

Wenn man sich völlig wertlos vorkommt

Schuldgefühle wie Bleiklumpen

Wut überwiegt die Trauer

Der Suizid des Vaters: »Wir haben ihn immer für so stark gehalten.«

Selbstvorwürfe

Neid auf Angehörige von Todkranken

Brief an den toten Vater nach 50 Jahren

Versöhnung nach dem Suizid

Der Suizid der Mutter: »Sie hat immer nur für uns gelebt!«

Traumatische Bilder

Verkriechen und Vergraben

Wie kann ein Kleinkind den Suizid seiner Mutter verarbeiten?

Der Suizid eines Bruders oder einer Schwester: »Ich wollte stark sein, auch für meine Eltern.«

Der Zorn über den Suizid machte sie mutig: die Geschichte der Freya Klier

Gefühlschaos nach der Versteinerung

Trauern Schwestern anders als Brüder?

Der Mehrfach-Suizid in der Familie: »Liegt auf uns ein Fluch?«

Ein Lichterfest mit den Toten

Akzeptanz der Familiengeschichte

Der Mitnahme-Suizid: »Wir werden im Jenseits eine intakte Familie sein.«

Der Suizid im Krankheitsfall und Alter: »Ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr.«

Der »rationale Suizid«

Aids und Suizid

Suizid im Freundeskreis

Schmerzpatienten und Suizid

Angehörige und Sterbehilfe

Der Senioren-Suizid

HILFEN FÜR ANGEHÖRIGE

Mut zur Trauer

Warum trauerst Du so lange?

Wie andere Kulturen trauern

Hilfreiche Rituale

Was sich Trauernde wünschen

Die Trauerphasen nach einem Suizid

Erste Hilfe für die Seele: Die ersten drei Stunden nach dem Suizid

Wut und Zorn nach dem großen Vertrauensbruch

Wenn Trauer unmöglich wird: Der Rache-Suizid

Der letzte Blick: Wenn Angehörige nicht Abschied nehmen können

Nicht tot und doch nicht mehr unter den Lebenden: Vom Trauern auf der Intensivstation

Am eigenen Schicksal lernen: Wenn Trauerbegleiter selbst betroffen sind

Schreiben als Therapie: Die Poesie des Suizids

Weinen erwünscht: Die TrauDichReisen

Vom Umgang mit der eigenen Suizidgefahr

Wenn die Depression nach einem Suizidversuch verschwindet

Sie wollte ihrem Sohn folgen

Veränderungen im Lebensumfeld

Wenn die Kraft zur Arbeit fehlt

Wenn sich der Körper entfremdet

Die Flucht vor der Erinnerung

Das Museum der Toten

Schule und Suizid

Schuldenfalle und Versicherungsprobleme

Vom Erben von Schulden

Vom Umgang mit Lebensversicherungen

Vom Umgang mit anderen Versicherungen

Verständnis für Menschen, die beruflich mit Suizid zu tun haben

Die schwere Aufgabe der Polizisten: »Wie sage ich es den Angehörigen?«

Der Kampf auf den Intensivstationen: »Manchmal sind wir auf verlorenem Posten.«

Das Trauma der Lokführer: »Ich habe nur einen dunklen Schatten gesehen.«

Die Bestatter und der Suizid: »Viele sind noch sehr gut anzuschauen.«

Wie komme ich wieder auf die Beine?

Wo kann ich hingehen?

Was bieten psychosomatische Kliniken?

Survivor Groups in den USA

Die Selbsthilfegruppe Angehörige um Suizid (Agus)

Der Arbeitskreis Leben

Freiburger Trauerseminare

Die Verwaisten Eltern

Hilfen durch die Münchener Arche

Schlußwort

Praxishinweise

Vom Umgang mit Polizei, Kirche, Presse ...

Beratungs- und Informationsstellen

Ausgewählte Literatur

Anhang

Anmerkungen

Sachregister

Für Karin

Vorwort zur 2. Auflage

»Endlich fragt mal einer«, schrieb mir eine Frau, deren Mann sich das Leben genommen hatte. »Endlich kommen wir einmal zu Wort.« Die Hinterbliebenen nach einem Suizid nimmt kaum einer wahr. Und das, obwohl viele Angehörige nach dem Suizid eines nahen Menschen unter enormen seelischen Belastungen leiden und stark suizidgefährdet sind.

Suizide sind nicht selten, und sie sind immer mehr als eine private Tragödie. Viele Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Kinder und Freunde der Toten sterben langsam nach, weil sie den Suizid nicht verkraften. »An gebrochenem Herzen«, hieß es früher.

Als Journalist bin ich auf dieses Tabuthema gestoßen. Es hat mich nicht mehr losgelassen. Dürfen Reporter darüber schreiben, fragte ich mich anfangs. Ich denke, sie dürfen nicht nur, sie müssen! Denn Wegschauen ist genauso fatal wie Sensationshascherei, Verdrängung nicht besser als das voyeuristische Ausschlachten der Schicksale.

Seitdem ich in der Bayreuther Selbsthilfegruppe Agus (Angehörige um Suizid) viele mit sich kämpfende Menschen getroffen habe, wollte ich in über 100 Interviews Antworten auf die Fragen finden: Wie unterschiedlich reagieren Hinterbliebene in dieser Situation? Warum ist das Suizidtabu noch immer so mächtig? Wie kann man das Loslassen lernen?

Der Blick des Buches richtet sich auf die, die übrig bleiben und zum Weiterleben verurteilt sind. So empfinden sie es zumindest. Die Angehörigen brauchen nach einem Suizid Lebenshilfe. Leider ist die Versorgung der Hinterbliebenen von Suizidopfern in Deutschland miserabel. Fast könnte man von unterlassener Hilfeleistung sprechen.

Im Grundgesetz heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Die Erzählungen der Angehörigen zeigen, daß die Würde des »Selbstmörders« und seiner Angehörigen in der Praxis sehr wohl antastbar ist. Das muß nicht so bleiben. Wenn dieses Buch Auswege aus dem Trauerlabyrinth weisen kann, freue ich mich. Über Suizid zu sprechen ist die beste Vorbeugung. Die Angehörigen wollen Klartext reden.

Seit sich die Hinterbliebenen in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben (leider nur ein geringer Prozentsatz der Betroffenen), gelingt es ihnen eher, sich zu artikulieren. Besondere Verdienste hat sich dabei Agus erworben: Der ehrenamtliche und bundesweit operierende Verein für Suizid-Angehörige, an den sich in zwölf Jahren über 1300 Trauernde wandten, war ein Auffangbecken für traumatisierte Menschen. Hier erlebten sie vorbehaltlose Anerkennung und begriffen, daß anderen Menschen Ähnliches und teilweise noch Schlimmeres passiert ist. Die Agus-Arbeit geschah nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern auch in aller Öffentlichkeit: Fernsehen, Radio und Presse nahmen sich des »Negativ-Themas« an, weil die Betroffenen den Mut hatten, ihr Gesicht zu zeigen. Emmy Meixner-Wülker, die mutige Gründerin des Vereins, ist vom Sinn einer offensiven Öffentlichkeitsarbeit überzeugt: »Wir müssen für unsere gute Sache kämpfen und brauchen dafür die Öffentlichkeit, auch weil wir bis heute keine regelmäßigen staatlichen Gelder bekommen. Die Politiker haben eines noch nicht kapiert: Suizid ist ein gesellschaftliches Problem, nicht nur ein individuelles.«

Bayreuth, August 2000

Manfred Otzelberger

Einleitung

Freitag, 13. Februar 1998: »3 000 Pendler nach Selbstmord im Stau« lautet die Überschrift einer Meldung der Süddeutschen Zeitung. Es folgen nüchterne Zeilen über eine Tragödie, von der nur die Folgen für die Reisenden im Zug der Erwähnung wert zu sein scheinen. »Gestern vormittag mußte die Bahnstrecke München-Augsburg erneut komplett gesperrt werden. Wie die Bundesbahn in München mitteilte, wurde ein Mann, der sich vermutlich das Leben nehmen wollte, im Morgenverkehr von einem Zug mit hoher Geschwindigkeit überrollt. Er war auf der Stelle tot. Etwa 3 000 Pendler kamen wegen der Sperrung zu spät zur Arbeit.«1

»Erneut komplett gesperrt« – der Tod auf Bahngleisen ist leider nichts Ungewöhnliches. Rund 1 000mal im Jahr beendet in Deutschland ein Mensch auf diese Weise sein Leben. Auf große Anteilnahme bei den Reisenden im Zug kann er kaum zählen, mit einem anonymen »Selbstmörder« ist schwer mitzufühlen. Andere Gedanken liegen näher: Hätte sich dieser Unglückliche nicht anders umbringen können? Warum ausgerechnet heute? Kann man das überleben?

Sommer 1997: Die Mädchen-Band TicTacToe, die mit frechen Texten die Hitparade erobert hatte, ist auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn. In ihren Texten sorgten die drei Sängerinnen durch Tabubrüche für Aufsehen und begeisterten ihre zumeist jugendlichen Fans. Als sie in der Ballade »Warum?« das langsame Sterben einer drogensüchtigen Freundin beklagten, ahnten die Rapperinnen noch nicht, daß die Frage nach dem Warum sie selbst bald auf dramatische Weise beschäftigen wird. Kurze Zeit später wird die Sängerin Lee in Boulevardzeitungen in unverantwortlicher Weise angeklagt, schuld am Suizid ihres Ehemannes zu sein. Was war der Hintergrund? Lees Mann hatte sich nach der Trennung des Ehepaars umgebracht und wurde erst nach einem halben Jahr auf dem Speicher eines leerstehenden Hauses gefunden. Er war kaum mehr zu identifizieren. Seine Familie verstieg sich danach zu dem Vorwurf, die Sängerin, die unter schwerem Schock stand, habe ihren Mann auf dem Gewissen. Sie habe ihn in den Tod getrieben. Solche Schuldzuweisungen sind leider keine Seltenheit.2

Januar 1999: Die beiden 15jährigen Mädchen Petra* und Martina* tranken Sekt, aber sie waren nicht betrunken. Sie wußten, was sie taten. Früh um vier Uhr standen sie in der kalten Januarnacht an der 20 Meter tiefen Schlucht im Westerwald. Sekunden später lagen ihre Körper unten. Sie hatten sich hinuntergestürzt. Der erste Doppelsuizid im Jahr 1999 ließ alle ratlos zurück: die Eltern, die Geschwister, die Mitschüler, die Polizei, die Presse. Ein erkennbares Motiv gab es nicht. Sichtbar war nur das Leid der verstörten Angehörigen.

Der Suizid hat viele Gesichter. Keine Selbsttötung ist mit einer anderen wirklich gleichzusetzen. So lange Menschen nicht selbst betroffen sind, lesen sie die Suizid-Statistiken in der Zeitung ziemlich teilnahmslos. Suizid, Selbsttötung, Selbstmord, das ist etwas, das immer nur anderen passiert. Bis sie plötzlich selbst betroffen sind als Trauernde, Hinterbliebene, als die, die übrig bleiben.

Fast jeder kennt jemanden, der sich umgebracht hat, in der Familie, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft ... Wie aber wird mit der Trauer, mit dem Schmerz und der Verwirrung, die ein Suizid auslöst, umgegangen? Selbsttötungen provozieren die unterschiedlichsten Reaktionen bei den betroffenen Angehörigen. Von unsäglichem Schmerz über apathisches Abschotten, Schuldbezichtigungen und Anklagen bis hin zum Leugnen des Vorgefallenen reichen die Reaktionen. Die Konfrontation mit einem Suizid bedeutet für die Angehörigen, daß sie sich plötzlich persönlichen Sinnfragen stellen müssen. Vor ihnen tut sich ein Abgrund auf: Das Abschiednehmen von einem Suizidopfer ist einer der schmerzhaftesten Verluste, den ein Mensch erleiden kann. Auch, weil kaum jemand gelernt hat, offen über Suizid zu sprechen, über eine Tat, die immer noch mit offener oder heimlicher Verachtung registriert wird. Das Thema Tod ist weitgehend tabuisiert, besonders der aus eigener Hand.

Es ist eine unangenehme Wahrheit: Suizide geschehen täglich jederzeit mitten unter uns. Jedes Jahr bringen sich in Deutschland mehr Menschen um, als zusammengerechnet im Straßenverkehr und an Aids sterben. Das ist so, wie wenn Jahr für Jahr eine Kleinstadt durch Suizid sterben würde. Die statistischen Zahlen schwankten in den alten Bundesländern der Bundesrepublik nach 1945 zwischen 9 159 (1951) und 13 926 (1977) Opfern. Die hohe Suizidrate in der DDR, die wegen ihrer Brisanz zum Staatsgeheimnis erklärt wurde, mußte noch hinzu gerechnet werden. In den letzten Jahren ist die Zahl der Fälle in etwa gleich geblieben. So haben sich 1995 in Deutschland (alte und neue Bundesländer) 12 888 Menschen das Leben genommen. Zusätzlich darf aber auch die Dunkelziffer der nicht als Suizid erkannten oder vertuschten Suizide nicht ignoriert werden.3

Alle 45 Minuten tötet sich in Deutschland ein Mensch. Und alle fünf Minuten (!) versucht einer, sein Leben zu beenden. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, daß auf einen Suizid mindestens zehn Suizidversuche kommen.4 Für die Gruppe junger Menschen bis 25 Jahre geht man sogar von 20–30 Versuchen auf einen Suizid aus. Täglich nehmen sich in der Bundesrepublik zwei Kinder bzw. Jugendliche bis 25 Jahre das Leben. Auch wenn der Suizid von Kindern die Öffentlichkeit am meisten aufwühlt, die zahlenmäßig größere Gruppe ist die der älteren Menschen. So beträgt in Deutschland der Anteil der über 60jährigen Männer an den Suiziden der letzten Jahre rund 30 Prozent, obwohl die über 60jährigen nur etwa 15 Prozent der männlichen Bevölkerung stellen. Bei Frauen ist sogar jeder zweite Suizid der einer Frau über 60 Jahre, obwohl deren durchschnittlicher Bevölkerungsanteil nur 25 Prozent ausmacht.

Was uns diese Zahlen angehen? Suizid ist keine Perversion, sondern eine von vielen Normalitäten unserer Gesellschaft, vor denen wir zumeist die Augen verschließen. Die Menschen, die sich das Leben nehmen, kommen aus ganz »normalen Familien«. Jeder kann von einem Tag auf den anderen von einem Suizid in seiner Verwandtschaft oder bei seinen Freunden betroffen werden. Dann beginnt das Problem für die Trauernden. Zwar existieren viele vorbeugende Hilfen und Kriseninterventionen für suizidgefährdete Menschen, aber für Angehörige nach einem Suizid gibt es kaum Angebote und Hilfen! Selbst die Suizidologie, die Wissenschaft, die sich speziell mit Selbsttötung beschäftigt, hat sich lange Zeit kaum um die Hinterbliebenen gekümmert, gibt der Psychiater Manfred Wolfersdorf, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, selbstkritisch zu. Mit dem vollendeten Suizid schien sich das Problem für Mediziner, Psychologen und viele Theologen weitgehend erledigt zu haben. Ganz anders beim gescheiterten Suizidversuch, wo ein Mensch noch zu retten und stabilisieren war.

Hat sich jemand das Leben genommen, klafft eine Betreuungslücke für eine große Gruppe von Menschen. Unterstellt man, daß jeder Mensch in der Regel rund fünf Bezugspersonen (Familie, Freunde) hat, gibt es Jahr für Jahr allein in Deutschland rund 75 000 Trauernde nach einem Suizid. Das summiert sich in den letzten 20 Jahren auf rund 1,5 Millionen Hinterbliebene, die sich immer wieder die quälenden Fragen stellen: Warum hast Du mir das angetan? Habe ich versagt? Hätte ich es verhindern können? War ich es nicht wert, daß er/sie für mich am Leben blieb?

»Bedenkt den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muß man leben«, schrieb die Dichterin Mascha Kaléko.5 Wie wahr. Den Toten treffen das Unverständnis der Umwelt, das Kopfschütteln, die Beklommenheit und Ablehnung, die Schuldzuweisungen nicht mehr, wohl aber die Zurückbleibenden. Hilflos bleiben viele Angehörigen mit ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrem Schmerz zurück. Einsam wegen der Hilflosigkeit der Familie und Freunde, einsam aber auch durch einen Wust unterschiedlicher Vorurteile. Sie kreisen alle um Sünde, Scham und Schuld.

»Selbstmord« ist kein Thema, über das sich »locker plaudern« läßt. Wer sich mit einem Suizid näher beschäftigt, begegnet stets auch der eigenen Möglichkeit, sich umzubringen, begegnet seinem Tod und der eigenen Sterblichkeit. Das macht Angst. Der Psychiater Thomas Bronisch hat es einmal auf den Punkt gebracht: »Wenn ich bei Leuten bin und ich sage, ich bin Psychiater, dann erschrecken sie. Wenn ich dann noch sage, ich bin Suizidologe, sind sie total erschrocken.« Die Beklemmung geht so weit, daß eine Frau, die dringend auf eine Organspende wartete, im ZDF bekundete: »Ich denke, wenn ich von einem Selbstmörder ein Organ eingepflanzt bekomme, kann ich das nicht richtig annehmen. Wenn er sich das Leben genommen hat, wird er es auch nicht wollen, daß ein Organ von ihm weiterlebt.«6 Welche Ängste – und sie sind äußerst vielfältig – auch immer die Ursache dafür sind: Viele Hinterbliebene fühlen sich gerade in ihrem persönlichen Umfeld wie »Aussätzige« behandelt.

So müssen sich viele Angehörige mit diffamierenden Bemerkungen – der Suizid sei doch zu verhindern gewesen, wenn man es nur gewollt, wenn man sich nur eifriger um den Menschen gekümmert hätte – und oft hilflosem Trost plagen, wenn sie sich nicht schon längst in ihrem Schneckenhaus verkrochen haben. Häufig vereinsamen die Angehörigen: Weil sie sich argwöhnisch beobachtet fühlen und weil der Verlust eine nicht schließbare Lücke in ihr Leben gerissen hat.

»Die Schuldzuweisungen müssen aufhören, es geht darum, den Suizid besser zu verstehen und ihn nach einer intensiven Trauer, deren Länge einem niemand vorschreiben darf, irgendwann akzeptieren zu lernen.« Dies ist das Credo von Emmy Meixner-Wülker, der Gründerin der Selbsthilfegruppe Agus (Angehörige um Suizid), vergleichbar der amerikanischen Organisation der Survivors. Die 71jährige kämpft vehement gegen das Verschweigen des Themas. Lange hatte auch sie über den Suizid ihres Mannes geschwiegen, fand keine Sprache und keine Gesprächspartner. 25 Jahre vergingen, dann gründete sie 1988 gemeinsam mit anderen Hinterbliebenen die rasch wachsende Selbsthilfegruppe Agus. Die Erfahrungen von über 900 Hinterbliebenen und Angehörigen, mit denen sie im Laufe der Jahre gesprochen hat, sind in dieses Buch eingeflossen.

Der Weg zu einem toleranten und offenen Umgang mit dem Thema ist noch mühsam. Daher will das Buch Angehörige, Zurückbleibende und Interessierte ein paar Meter begleiten, Mut machen und aufrütteln, sowie durch Beispiele und Tips konkrete Hilfen an die Hand geben.

Selbstmord oder Freitod: Führen die Begriffe in die Irre?

Schon die Begriffe, die umgangssprachlich für die Selbsttötung verwendet werden – »Selbstmord« und »Freitod« – sind problematisch. »Selbstmord«, das klingt dämonisch, gefährlich und tückisch. Jeder denkt sofort an Mord, den Straftatbestand, der Heimtücke und niedere Beweggründe voraussetzt. Allein das Wort »Selbstmord« ist stigmatisierend für jeden, der mit ihm in Verbindung gebracht wird. Suizid sei eine kriminelle Tat, das suggeriert »Selbstmord« zumindest unterschwellig. Und dies hat historische Wurzeln. So waren in Großbritannien Suizidversuche noch bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts unter Strafe gestellt, in Deutschland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Der Makel haftet bis heute an Angehörigen.

Ein »Selbstmörder«, das klingt irgendwie verächtlich. Im Bewußtsein vieler Menschen ist »ein Selbstmörder« ein krankhafter Schwächling oder einer, der Gott spielt, weil er selbst Hand an sich legt. Damit, so verkündete es die christliche Lehre lange, begeht er eine Todsünde. Er bricht das fünfte Gebot der Bibel: »Du sollst nicht töten!«

Auch engagierte Experten (Psychiater, Psychologen, Pädagogen etc.), die sich 1972 in der Deutschen Gesellschaft für Selbstmordverhütung zusammengeschlossen haben (heute: Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention), nehmen längst von dem Begriff »Selbstmord« Abstand. Der Baseler Psychiater Asmus Finzen begründet es: »Die Namensänderung war überfällig, denn das Wort ›Selbstmord‹ ist anrüchig und von seinem Wortsinn her mehr als problematisch. Das Wort ›Mord‹ ist so negativ besetzt, daß seine Verwendung im Zusammenhang damit, daß ein Mensch sich das Leben nimmt, nicht zur Klärung beiträgt, sondern gewollt oder nicht gewollt eine Abwertung enthält.«7

»Freitod« dagegen klingt edel, elitär und nobel. Vielleicht zu nobel? Er wird leider nur selten »so frei«, bei klarem Bewußtsein und nach reiflicher Überlegung gesucht, wie es der Begriff unterstellt. Jean Amérys berühmtes Essay Hand an sich legen,in dem er den Freitod als »Privileg des Humanen« rühmt, beschreibt wahrscheinlich nur seltene Ausnahmeerscheinungen. Und ob Améry einen »wirklichen Freitod« starb, ist bis heute umstritten.

Und selbst wenn: Amérys Freitod wäre die Ausnahme, und nicht die Regel. »Die Realität auf den Kriseninterventionsstationen der Psychiatrie, wo Menschen nach einem Suizidversuch liegen, schaut anders aus«, betont der Notfallseelsorger Andreas Müller-Cyran. Kann ein Mensch wirklich frei sein, wenn er nicht mehr aus seiner Qual oder seinen Zwangsvorstellungen herauskommt? Müller-Cyran meint: »Freitod ist eine geschönte Vokabel, die mehr verbirgt als offenbart.«

Der einzige wertfreie Begriff für das »Hand-an-sich-legen« ist das leider noch zu wenig in die Umgangssprache eingedrungene Fremdwort »Suizid« (= Selbsttötung). Daß im vorliegenden Buch dennoch immer wieder ab und an von »Selbstmord« und »Selbstmörder« die Rede sein wird, hat gute Gründe. Sprache und Bewußtsein verändern sich nur langsam. Vorwürfe wie »Du und Dein Selbstmörder!« stehen auf der Tagesordnung bei den Angehörigen von Suizidopfern. Allein schon die Wortwahl »Selbstmörder« beschämt viele Trauernde. Sie hören daraus Vorwürfe: Wieso trauerst Du überhaupt um jemanden, der sein Leben weggeworfen hat? Hört denn Deine Trauer nie auf? Warum tust Du Dich so schwer? Reiß’ Dich doch endlich zusammen! Werde endlich wieder normal!

Mythen über den Suizid

Ein wesentliches Ergebnis meiner Interviews mit Angehörigen von Suizidopfern ist, daß sie vorher nur sehr wenig über Suizid und Suizidprävention wußten. Auch viele Hinterbliebene haben an die verbreiteten Irrtümer rund um den Suizid geglaubt. Nun wissen sie aus leidvoller Erfahrung, daß folgende »Regeln« nicht stimmen.8

•  Wer den Suizid ankündigt oder von ihm spricht, tut es nicht.

Dieser populäre Mythos ist grundlegend falsch. Die große Mehrheit (zirka 80 Prozent) aller Suizide wurde vorher angekündigt. Auf unterschiedliche Weise wurde verbal und nonverbal signalisiert: »Ich kann nicht mehr, ich brauche Hilfe!« Man sollte daher jedes Signal, auch bei mehrfach angekündigten Suizidversuchen, ernst nehmen. Freunde und Angehörigen sollten auf die Hilferufe einfühlsam und mit Zuwendung reagieren. Auf Reaktionen wie »Wir glauben Dir nicht mehr«, kann häufig eine tödliche Suizidhandlung folgen, weil der Hilfeschrei allein als Signal offenbar nicht mehr reicht, um die Freunde oder Familienangehörigen emotional zu erreichen.

•  Suizid geschieht ohne Vorzeichen.

Auch diese Behauptung ist falsch! Die Erfahrung zeigt, daß Suizide meist durch Zeichen und Signale angekündigt werden.

•  Wer Suizid begehen will, dem ist nicht mehr zu helfen.

Auch dieser Mythos ist falsch. Viele suizidgefährdete Menschen hoffen auf Hilfe und Rettung. Sie wünschen sich ein anderes Leben, und haben kurzzeitige Wünsche nach Ruhe, die in einen Suizid münden können.

•  Wer über Suizid nachdenkt, ist verrückt.

Nein! Das Studium letzter Aufzeichnungen zeigt, daß viele Opfer zwar äußerst unglücklich waren, aber keinesfalls »geistesgestört«. Besonders im Jugendalter gehören Gedanken über den Tod und den Sinn des Lebens zum ganz normalen Entwicklungsprozeß. Nichts davon ist pathologisch. »Wenn die gesellschaftliche Akzeptanz größer wäre, ließe sich angstfrei darüber sprechen, und wir würden erfahren, daß solche Gedanken nicht selten sind.«9

•  Wer einmal an Suizid denkt, wird es immer wieder tun.

Nein! Der konkrete Todeswunsch besteht oft nur in einer ganz bestimmten Lebensphase.

•  Wer einen Suizidversuch macht, meint es nicht ernst.

Leider stimmt auch dies nicht! Suizidversuche werden zu etwa 73 Prozent zufällig entdeckt und nicht durch einen Hilferuf der betreffenden Person.

•  Die Besserung nach einer Krise bedeutet das Ende der Suizidgefährdung.

Nein! Viele Suizide geschehen in den ersten drei Monaten nach einer beginnenden Besserung. Manche Patienten entwickeln gerade dann die entscheidende Energie, ihre selbstzerstörerischen Entschlüsse auszuführen.

•  Suizid ist erblich, ein Familienübel.

Nein! Ein »Suizid-Gen« ist bis heute von der Forschung nicht nachgewiesen worden. Wissenschaftler führen die Häufung von Suiziden in manchen Familien vielmehr auf ständige Verdrängung, problematische Familienkonstellationen, ungelöste Konflikte und das Unvermögen, offen über Suizid und die Folgen in der Familie zu sprechen, zurück.

•  Suizid gibt es öfter bei Reichen oder fast ausschließlich bei Armen.

Suizid ist weder das Problem der Reichen noch die Plage der Armen. Die statistische Verteilung ist »demokratisch«, alle sozialen Schichten sind gleichermaßen betroffen.

•  Suizide geschehen meistens im November oder an Weihnachten.

Auch dies stimmt nicht! Die meisten Suizide finden im Frühjahr statt, vor allem im Mai. Der Meteorologe und Arzt Dietmar Buchberger, der Einsätze der Berliner Rettungswagen ausgewertet hat, glaubt, daß Sonnenschein die Suizidneigungen verstärkt. »Immer wenn die Sonne scheint, steigt auch die Zahl der Menschen, die freiwillig in den Tod gehen wollen. Durch Sonne wird die Energie gesteigert, lähmende Depressionen gehen dann zurück. Doch die neu erwachte Aktivität führt nicht zu neuer Lebensfreude, sondern zum Selbstmordversuch.«10

Historische und kulturelle Aspekte des Suizids

Wenn Klaus-Günter Stahlschmidt das Wort »Selbstmörder« hört, zuckt er zusammen. »Es tut mir körperlich weh, diese Menschen sind doch keine Mörder. Ich sage immer, ein Kind ist an Suizid gestorben. Man muß es wie eine Krankheit ohne einen schuldhaften Hintergrund betrachten.« Klaus-Günther Stahlschmidt ist katholischer Pfarrer der Münchener Gemeinde Leiden Christi und steht seit Jahren Suizidangehörigen aktiv zur Seite. Seit 1988 existiert in seiner Gemeinde eine Selbsthilfegruppe der Verwaisten Eltern, wo sich Eltern treffen, die ein Kind durch Suizid verloren haben.

Das aktive Engagement des Pfarrers um Hinterbliebene ist ungewöhnlich. »Ich kam auf die Idee, weil sich ein junger Mann aus der Nachbargemeinde umgebracht hatte und die Eltern einen Austausch mit anderen Betroffenen suchten.« Zweimal im Monat treffen sich nun Hinterbliebene, zumeist die Eltern oder Geschwister, zum intensiven Gespräch. Trotz des kirchlichen Rahmens wird in der Gruppe nicht gebetet, es wird freimütig diskutiert. Die geschützte Gruppenatmosphäre ermöglicht den Angehörigen einen offenen Austausch. Barrieren und Hemmungen, Scham und Schuldgefühle verlieren ihre Macht, so daß es aus vielen Teilnehmern nur so »heraussprudelt«. Bei vielen bricht etwas auf, manchmal erst nach Jahrzehnten.

Stahlschmidt, der die Gruppe mit zwei Frauen leitet, geht es nicht um die Verkündigung von katholischen Lehrmeinungen: »Daß sich die Kirche vorbehaltlos um die Angehörigen kümmern muß, ist doch heute unbestritten. Nur ein paar Pfarrer gibt es noch, die sich da zieren und herumspinnen. Sie können nicht mit dem plötzlichen Tod umgehen. Aber wenigstens formal sollten sie korrekt bleiben.« Stahlschmidt beerdigt jeden Menschen, der sich das Leben genommen hat, mit Würde, was leider immer noch keine Selbstverständlichkeit in der katholischen Kirche ist. Zudem bietet er ein oder zwei Jahre nach der Beerdigung eine Feier am Grab an, damit sich die Angehörigen endgültig von dem Toten verabschieden können. »Ich mache das schon aus dem Grund, weil viele Menschen in ihrem Schmerz und ihrem Schock die Beerdigung gar nicht bewußt mitbekommen haben.«

Sünde – Scham – Schuld

Die problematische Position der Kirchen im Umgang mit Suizid mag Pfarrer Stahlschmidt gar nicht erst verteidigen. »Dazu muß man stehen«, meint er. Er weiß nur zu gut, daß die Geschichte des Suizids im Christentum eine Geschichte der Verdammung und Verurteilung war. Seit Ende des 4. Jahrhunderts wurde der Suizid als Sünde und schwerwiegender Verstoß gegen die christliche Gemeinschaft angesehen. Während noch zur Zeit der Christenverfolgung mancher christliche Märtyrer geehrt wurde, der lieber von eigener Hand starb, als seinem Glauben abzuschwören, wurde der Suizid nun plötzlich zum Frevel.

Der Grund, warum die Selbsttötung auf einmal als Todsünde angesehen wurde, klingt absurd: Da der Selbstmörder seine Sünde nicht mehr bereuen konnte, war seine Seele verloren. Anders dagegen bei einem Mörder: Er konnte ja immer noch Buße tun. Augustinus wendete schließlich als erster Theologe das fünfte Gebot auf den Suizid an.

Im Mittelalter bekräftigte ihn der Scholastiker Thomas von Aquin. »Wer sich des Lebens beraubt, sündigt gegen Gott, so wie der, der einen Sklaven tötet, gegen den Besitzer des Sklaven sündigt.«11 Er maße sich eine Entscheidung an über eine Sache, die ihm nicht übertragen sei. Gott allein steht nach Thomas von Aquin die Entscheidung über Leben und Tod zu.

Die theologische Verdammung fand ihre Entsprechung in der weltlichen Rechtsprechung. Besitz und Vermögen derjenigen, die sich offenbar nicht im Zustand einer erwiesenen geistigen Umnachtung umgebracht hatten, erbten nicht die Hinterbliebenen, sondern die Herrschenden. Es wurde konfisziert. Überlebenden von Suizidversuchen drohte die Todesstrafe. Für die Angehörigen nahmen die Probleme kein Ende. Den Suizidopfern durfte keine Totenmesse gelesen werden, und die Bestattung in geweihter Erde war strikt verboten. Die Toten wurden auf dem Schindanger vergraben.12 Auch der große Reformator Martin Luther sah beim Suizid »dämonische Kräfte« am Werk, die den Menschen überfallen »wie der Räuber den Reisenden«!13

Die Leichen durften bis weit ins 19. Jahrhundert geschändet werden. Es war ein übliches Ritual, ihnen die »mörderische Hand« abzuschlagen. Man hängte die Toten am Galgen auf, durchbohrte ihren Kopf oder die Brust mit einem Pfahl oder ließ sie vom Pferd schleifen. Der Hintergrund dieser Rituale bestand darin, den »Ungeist«, der von den Toten ausging, auszumerzen.

Doch die Kirchen haben aus ihrer verhängnisvollen Geschichte teilweise gelernt. Nach dem neuen kirchlichen Gesetzbuch der katholischen Kirche darf seit 1983 das kirchliche Begräbnis für ein Suizidopfer nicht mehr verweigert werden. Die Begründung der Deutschen Bischofskonferenz 1983 hört sich allerdings ein wenig wie ein Gnadenerweis an. Da es sich nicht nachweisen lasse, ob jemand in der Selbsttötung wirklich ein letztes Nein zu sich selbst und Gott gesprochen habe, verurteile die Kirche zwar die Sünde des Selbstmords, aber nicht den Menschen, von dem nicht sicher sei, ob er wirklich ein Selbstmörder bei klarem Bewußtsein gewesen sei.

Die Öffnung der beiden großen christlichen Kirchen erfolgte erst in den letzten 25 Jahren. Unter theologischen Mühen nahmen die Kirchen den Dialog mit Psychologen, Medizinern und Pädagogen auf und öffneten sich Ansätzen, die jeglichen Schuldbegriff zurückweisen und vor moralisierender Abwertung warnen. Herausgekommen ist allerdings ein »begrifflicher Eiertanz«. So wird ein Suizidopfer unter bestimmten pathologischen Krankheitsumständen nicht mehr automatisch zum »Bösewicht«, der Suizid an sich aber bleibt dem Menschen grundsätzlich verboten.

So heißt es im evangelischen Erwachsenenkatechismus Kursbuch des Glaubens: »Sowenig es also dem Christen ansteht, einen Selbstmörder zu verdammen, so sehr muß er sich ins Bewußtsein rufen und darauf aufmerksam machen, daß es eine Anmaßung ist, sich selbst zum Herr über das eigene Leben zu ernennen. Nach christlicher Auffassung hat der Mensch kein Recht zu einem solch zerstörerischen Eingriff, da er sich das Leben auch nicht selbst gab, sondern mit einem Lebensauftrag von Gott geschenkt bekam. Auch die Beendigung des Lebens darf nicht seine eigene persönliche Angelegenheit sein. Der Mensch, der glaubt, diese Vorstellung haben zu dürfen, trennt sich eigenmächtig von seinem Lebensauftrag ab.«14

Auch im katholischen Erwachsenenkatechismus Leben aus dem Glauben sind ähnliche Argumentationen nachzulesen: »Das Argument der Geschöpflichkeit besagt, daß derjenige, der sich selbst tötet, sich gegenüber Gott, dem wir unser Leben verdanken, verweigert und selbstmächtig die Zeit abbricht, die Gott ihm als Heilschance zugedacht hat. So ist die Verweigerung gelebter Freiheit zugleich eine Verweigerung Gott gegenüber. Bewußte und freiwillige Selbsttötung, auch wenn sie aus hohen Motiven geschieht, ist sittlich nicht gerechtfertigt. Frei gewollte Selbsttötung, durch die jemand bewußt seine Autonomie dokumentieren will, ist ihrer ganzen Natur nach eine Absage an das Ja Gottes zum Menschen. Sie ist auch eine Verneinung der Liebe zu sich selbst, zum natürlichen Streben nach Leben und zur Verpflichtung der Gerechtigkeit und Liebe gegen den Nächsten und gegen die Gemeinschaft.«15

Von diesem Sinneswandel der katholischen Kirche ist jedoch nicht immer etwas zu spüren. Bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention im November 1998 in Würzburg eröffnete der Würzburger Bischof Paul-Werner Scheele das Treffen der Forscher ohne eine selbstkritische Bemerkung zur unrühmlichen Kirchengeschichte, ohne ein klärendes Wort über die angebliche Sündhaftigkeit des Suizids.

Daß es auch schon früher Ansätze zu einer humanen, diesseitigen und »gnädigen Theologie« gab, einer Theologie, die die Suizidopfer und damit auch deren Angehörige nicht verdammte, soll aber an dieser Stelle, bei aller Kritik an den Kirchen, nicht unterschlagen werden. So reflektierte beispielsweise Dietrich Bonhoeffer, einer der mutigsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts, schon in den 30er Jahren über den Suizid: »Das unwillkürliche Gefühl des Schauders, das uns angesichts der Tatsache eines Selbstmordes ergreift, ist nicht auf die Verwerflichkeit, sondern auf die schaurige Einsamkeit und Freiheit solcher Tat zurückzuführen, in der Bejahung des Lebens nur noch in seiner Vernichtung besteht. Nicht die Niedrigkeit der Motive macht den Selbstmord verwerflich. Man kann aus niedrigen Gründen am Leben bleiben und aus edlen Motiven aus dem Leben gehen. (...) Wer nicht mehr leben kann, dem hilft auch der Befehl, daß er leben soll, nicht weiter. Der Selbstmord ist der Versuch des Menschen, einem menschlich sinnlos gewordenen Leben einen letzten menschlichen Sinn zu verleihen.«16 Klare Worte von Dietrich Bonhoeffer, der am 5. März 1943 von den Nationalsozialisten ins KZ Flossenbürg gebracht und dort wenige Tage vor Kriegsende umgebracht wurde.

Auch der katholische Publizist Walter Dirks, 1945 Mitbegründer der Frankfurter Hefte, plädierte für eine Vorstellung, daß Gott, der dem Menschen das Leben anvertraute, ihm auch die Möglichkeit anvertraut hat, dieses Leben selbst zu beenden. Und nicht zuletzt sei auf die Position des bedeutenden protestantischen Theologen Karl Barth verwiesen, der vor vorschnellen Urteilen und überkommenen Überzeugungen warnte: »Wer will nun eigentlich wissen, daß Gott ein Leben, das ja ihm gehört, nicht auch einmal in dieser Form aus den Händen des Menschen zurückverlangen könnte? Diejenigen jedenfalls sollten sich über diese Fragen nicht entrüsten, die, wenn es etwa um das Problem des Krieges oder der Todesstrafe geht, ohne viel Zögern zu der Feststellung bereit sind, daß es zum Töten anderer Menschen einen göttlichen Auftrag geben könne.«17

Suizid gehört zu den tabuisierten Themen, mit denen sich die Kirchen immer noch schwer tun. »Die Kirchen haben früher viel Unheil angerichtet, den Selbstmörder zu diskriminieren. Das hatte wenig mit christlich verstandenem Glauben zu tun, sondern mit heidnischen und magischen Vorstellungen«, meint der Bayreuther Professor Wolfgang Schoberth vom Institut für religiöse Gegenwartskultur der Universität Bayreuth. Auch heute noch bestehe bei Angehörigen nach einem Suizid die berechtigte Sorge, ob der Verstorbene ein würdiges oder nur ein liebloses Begräbnis zweiter Klasse erhält. Es gebe keine theologische Begründung für die Stigmatisierung der durch eigene Hand in den Tod gegangenen Menschen und deren Angehörigen. Schoberth untersuchte alle Bibelstellen, die sich mit Suizid beschäftigen. Er fand heraus, daß abwertende Vorurteile keine Legitimation im »Buch der Bücher« finden. »In der Bibel wird der Selbstmord sachlich referiert: Er wird weder verdammt noch gelobt, sondern ganz nüchtern geschildert.«18

An dieser vorurteilsfreien Haltung sollten sich einige Pfarrer ein Beispiel nehmen. Tatsächlich gibt es immer noch unverbesserliche Theologen – so lauten viele ähnliche Erzählungen von Suizidangehörigen –, die im Zusammenhang mit Suizid von »Verdammnis, Fegefeuer, Teufel und ewiger Verlorenheit« sprechen. Aber es gibt auch positive Beispiele. Eine Mutter lobte den tröstlichen Ausspruch einer Pfarrerin am Grab ihres Sohnes, der sich vor eine Lokomotive geworfen hatte. »Er hat sich Gott entgegengestürzt.« Oder der evangelische Pfarrer Gottfried Lindner, der engagiert im Vorstand der Bayreuther Selbsthilfegruppe Agus mitarbeitet, weil er die Not der Suizidangehörigen sieht. Für ihn ist die Arbeit in der Selbsthilfegruppe aber auch explizit ein Stück Wiedergutmachung. Lindner meint: »Früher ging es bei einigen Kollegen darum, die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Lebens zu unterstreichen und Menschen zum dankbaren Leben vor Gott einzuladen. Leider fiel unseren Vorgängern wie auch anderen Autoritäten in dieser Zeit kein anderes Mittel ein als das der Abschreckung. Besonders tragisch finde ich, daß das ausgerechnet auf dem Rücken der Trauernden und Suizidtoten ausgetragen wurde und man sich anmaßte, über Menschen geistliche Urteile zu sprechen. Wir müssen aus den Fehlern lernen und eine helfende und verstehende Seelsorge praktizieren, die von medizinischen und psychologischen Erkenntnissen getragen wird.«

Der evangelische Theologe Klaus-Peter Jörns aus Berlin, der sich ganz offen darüber wundert, daß nicht auch Petrus nach der dreifachen Verleugnung von Jesus Suizid beging, ruft die Kirchen zu mehr Engagement auf. Er rät erst einmal zum Zuhören. »Es ist als eine wichtige Aufgabe der Seelsorge erkannt worden, das erniedrigende Vorurteil über den Suizid mit abbauen zu helfen. Wir müssen lernen, Menschen wahrzunehmen, wie sie sind und hören, was sie glauben. (...) Eine große Aufgabe für eine Gemeinde stellt die Betreuung der Hinterbliebenen von Selbstmördern dar, weil sie besonders hart mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben und des Schutzes der Gemeinschaft bedürfen, damit keine Teufelskreise von Verzweiflungstaten entstehen.«19

Die Realität in Deutschland schaut leider nach wie vor häufig anders aus. Selbst in kirchlichen Einrichtungen kann nicht immer von einem Verständnis im Umgang mit Angehörigen nach einem Suizid ausgegangen werden. Dies zeigt zum Beispiel der Fall von Dieter Kurz*, Mitarbeiter einer diakonischen Einrichtung. Er machte nach dem Suizid seiner Tochter leidvolle Erfahrungen: »An seelsorgerlicher Begleitung haben wir nichts erfahren. Viele Mitarbeiter der Kirche haben sich weitgehend von uns zurückgezogen oder mit Schweigen reagiert. Wir hätten uns gewünscht, daß jemand auf uns zugekommen wäre und uns fragte, wie es uns wohl ginge. Niemand kam auf die Idee. Weitgehend sahen die Gemeindemitglieder den Suizid als Makel an, mit Schuldzuweisungen gegenüber uns waren sie nicht zurückhaltend. Wie es in uns dabei aussah, was wir in dieser Zeit litten, das ahnte wohl kaum einer. Wir fühlten uns als Fremde, mitten in einem sich nach außen hin als fromm darstellenden Betrieb.« Dabei kann der christliche Glaube selbstverständlich auch für die Hinterbliebenen etwas Tröstliches und Aufrechterhaltendes haben. Wo einige nach dem Suizid eines nahen Menschen mit ihrer Religion oder der Kirche aus Enttäuschung abschließen, entdecken andere sie als tröstliche Instanz.

Dort, wo Seelsorger unvoreingenommen und ohne zu moralisieren auf die Trauernden zugehen, kann das eine positive Erfahrung für die Trauernden sein. Liane Schott*, deren Freund Rainer* sich erhängt hatte, erzählt von der vorbildlichen Arbeit eines Kapuzinerpaters: »Er lud Rainers Eltern und mich gleich zu sich ein und erklärte uns, daß wir nicht schuld an Rainers Tod seien. Er sprach auch die alten Mythen an. Wie die Suizidenten früher einfach am Rande des Friedhofs verscharrt wurden mit dem Gesicht nach unten, weil sie das Licht des Herrn nicht schauen sollten, wie sie als Abschaum der Menschheit dämonisiert wurden. Alles Unsinn, sagte der Pfarrer, der sich von solchen unseligen Traditionen total distanzierte. Rainer wird wie alle Toten begraben und hat seinen Frieden gefunden. Dies war vor allem für seine gläubige Mutter wichtig. Dieser Geistliche bot mir auch weiteren Beistand bei der Bewältigung meiner Trauer an. Hilfreich war auch, daß wir Angehörigen bei der Trauerfeier einbezogen wurden, in einem Gottesdienst wurde ganz bewußt für uns Hinterbliebene gebetet.«

Diskriminierung und Heroisierung

Freiwillig in den Tod gehen – das war im Laufe der Geschichte unter bestimmten Umständen nicht unehrenhaft. Die Geschichte des Suizids ist eine Geschichte der Abwertung, aber auch der Heroisierung. So hielten die heidnischen Germanen den Suizid für ehrenhafter als den natürlichen Tod. Auch im antiken Griechenland war der Suizid offiziell erlaubt: Man konnte ihn offiziell anmelden und sich genehmigen lassen, die Stadt reichte den Schierlingsbecher auf Kosten des Gemeinwesens. Im antiken Rom war der Suizid nur den drei unterprivilegierten Gesellschaftsklassen verboten: Kriminellen, Soldaten und Sklaven. Die Stoiker verherrlichten sogar den Suizid als edle Tat.

Auch bei den Inuit (Eskimos) galt Suizid als ehrenvoll, um Alter und Krankheit zuvorzukommen. Pflegefälle gab es in ihrer traditionellen Gesellschaft nicht. Wenn alte Inuit die Zeit für gekommen hielten, gingen sie allein in Eis und Schnee. Auch die gesellschaftliche Beurteilung des Suizids kann sich im Verlauf der Geschichte innerhalb von Kulturen verändern. Die japanischen Kamikaze-Flieger wären heute nicht mehr vorstellbar, arabische Selbstmordattentäter dagegen, die fest daran glauben, durch ihre Taten ins Paradies zu kommen, gibt es auch heute noch.

In Preußen ist Suizid seit dem Allgemeinen Landrecht von 1794 kein Straftatbestand mehr, in England hat es bis 1962 gedauert, bis die unsinnige Kriminalisierung aufgehoben wurde. Im nationalsozialistischen Deutschland, wo der gesunde, vitale Herrenmensch als Ideal propagiert wurde, galt Selbstmord als Zumutung für einen Staat, in dem es offiziell nur glückliche Untertanen geben durfte. In Parolen wie »Du bist nichts, Dein Volk ist alles« wurde klar ausgedrückt, daß das Leben des Bürgers in der Hand des Staates lag, und nicht etwa zur eigenen Verfügung stand. Der Suizid galt als Verbrechen am Staat und am Volk. Derjenige, der sich das Leben nehmen wollte, wurde entweder als verrückt oder verbrecherisch dargestellt. Der Dichter und zeitweilige Militärarzt Gottfried Benn verstieg sich 1940 in einem Heeresgutachten zu der These, die eines strammen Nationalsozialisten würdig gewesen wäre, und auch heute leider noch in vielen Köpfen herumspukt: »Die Selbstmörder werden ... in den meisten Fällen zu der Bilanz des Bionegativen gehören, also in der Richtung der Entartung und der Substanzauflösung liegen. (...) Man könnte im Selbstmord sehr wohl einen rassischen Eliminationsprozeß erblicken.«20

Rückständiges und vorurteilsbeladenes Denken gegenüber dem »Selbstmörder« wirkte noch bis in die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland hinein. So urteilte der Bundesgerichtshof 1954: »Jeder Selbstmord, von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen, ist vom Sittengesetz streng mißbilligt, da niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfügen und sich den Tod geben darf.«21 1972 entschied ein Richter gar, daß ein Arbeitgeber nach einem Suizidversuch eines depressiven Angestellten nicht zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist, weil Suizid »eine sittlich verwerfliche Willensentscheidung« sei.22

»Sittlich verwerflich« war aber sicher nicht, was der Theologe und Schriftsteller Jochen Klepper in seiner Verzweiflung im Dritten Reich tat. Er schied zusammen mit seiner jüdischen Frau und seiner Stieftochter im Dezember 1942 aus dem Leben, nachdem alle Bemühungen um eine Emigration der beiden Frauen gescheitert waren und der Transport ins KZ bevorstand. Dem Feind nicht in die Hände fallen, Suizid der Folter und dem gewaltsamen Tod durch fremde Hand vorziehen – dieses Motiv findet sich immer wieder in der Geschichte.

Beim wohl berühmtesten Massensuizid der Geschichte in Massada am Roten Meer, als sich im Jahr 73 n. Chr. 960 Israeliten das Leben nahmen, ist die respektable Ursache der Selbsttötung klar erkennbar: Angst vor den Römern, die die Festung zwei Jahre lang belagert hatten und nun nicht mehr abgewehrt werden konnten. Überhaupt war der Gedanke, sich nicht lebend in Knechtschaft zu begeben, in der Antike weit verbreitet. Da den Siegern fast alles erlaubt war, sahen es oft die Besiegten als ein unentbehrliches Recht an, sich selbst zu töten.

Die Entkriminalisierung des Suizids und seiner Akteure ist zwar mittlerweile erreicht, bilanziert 1997 Georges Minois, der Autor der Geschichte des Selbstmords, jedoch um den Preis eines kollektiven mißbilligenden Schweigens. Derjenige, der sich das Leben nimmt, wird als radikaler Aussteiger nun eine Art Spielverderber, der seine Gemeinschaft mit schlechtem Gewissen zurückläßt.23

Exkurs: Selbsttötung als Staatsgeheimnis in der DDR

Eine antike Legende beschreibt die qualvolle Strafe des Sisyphos, der einen schweren Felsblock einen steilen Berg hinaufwälzen muß. Doch kurz vor dem Gipfel rollt der Fels immer wieder hinab, und Sisyphos muß seine Arbeit stets von neuem beginnen. Der französische Philosoph Albert Camus hat diese Geschichte zum zentralen Thema seines Buches Der Mythos von Sisyphos gemacht. Es beginnt mit dem Satz: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohnt oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.«24 In einem Philosophenlexikon des Ost-Berliner Dietz Verlages fand sich bis 1989 keine Eintragung unter Camus. Werner Felber konnte darauf nur mit Sarkasmus reagieren. »So einfach läßt sich eine philosophische Grundfrage lösen, vor allem wenn sie sich gar auf das Suizidproblem gründet.«

Felber ist nicht irgendein Seelenarzt. Der Chefpsychiater der psychiatrischen Klinik in Dresden ist 1998 zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention gewählt worden. Das liegt auch an seiner untadeligen Vergangenheit als Psychiater in der DDR. Felber will heute über den Unrechtsstaat aufklären. Beim Thema Suizid sieht er großen Bedarf. Anfangs stieß er gegen eine Mauer aus Schweigen, als er die wahren Suizidzahlen der DDR auf den Tisch legen wollte. Doch 1993 bekam Felber anonym statistisches Material zugeschickt: 12 unveröffentlichte Jahrgänge der Suizidstatistik. Felber, der jahrelang diesen Daten hinterhergejagt war, berichtet: »Es mußte davon ausgegangen werden, daß zwar entsprechende Zahlen erhoben worden sind, daß diese aber weiter unter Verschluß gehalten wurden oder nachträglich vernichtet worden sind. Die Postsendung ließ erkennen, daß sie aus dem ehemaligen Institut für medizinische Statistik und Datenverarbeitung in Berlin stammte, daß die Tabellen echt waren.«

Die Zahlen auf Felbers Tisch bestätigten, was Insider immer schon geahnt hatten: Die DDR hatte eine der höchsten Suizidraten der Welt. Rund 5 000 Menschen töteten sich jedes Jahr. Was die Funktionäre nicht daran hinderte, Falschmeldungen in die Welt zu setzen. So wurde behauptet, daß sich in der BRD im Vergleich zur DDR mehr als zweimal so viele Menschen während eines Jahres umbringen. Daß es sich hier um eine statistische Spielerei handelte, da sich die BRD-Zahlen auf dreieinhalbmal so viele Einwohner bezogen, fiel nur dem aufmerksamen Leser auf.

In der DDR gab es offiziell den Suizid gar nicht, weder den des Pfarrers Oskar Brüsewitz noch den anderer Bürger. Im Sozialismus hatte man notorisch froh zu sein, Suizid galt als Staatsverbrechen, die Zahlen unterlagen höchster Geheimhaltung der Organe. Das Selbstmord-Tabu, das Matthias Matussek 1992 in seinem gleichnamigen Buch eindrucksvoll belegt hatte, machte das Reden über den Suizid unmöglich.25

Dabei hätte die DDR allen Grund gehabt, sich mit dem Thema zu beschäftigen, meint Felber, weil in dem eingemauerten Land ein »suizidales Klima« geherrscht habe. Und gab es nicht auch in den Biographien berühmter Sozialisten Suizide? Begingen nicht zwei der drei Töchter von Karl Marx eindeutig Suizid, eine davon gemeinsam mit ihrem Ehemann? Versuchte nicht Josef Stalins alkoholkranker Sohn sich zu erschießen, erschoß sich nicht Stalins zweite Frau? Bekannt wurde auch der Suizidversuch des späteren Kulturministers Johannes R. Becher. Ruth von Mayenburg kommentierte ihn treffend: »So aber konnte der Selbstmordversuch des Dichters vertuscht werden – ein Kommunist hat nicht das Recht, sein Leben, ›das der Partei gehört‹, freiwillig fortzuwerfen; er darf genausowenig mit geheiligter Erde für seine Gebeine rechnen wie ein Katholik.«26

Ärzte und Psychologen, die sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzten, wurden systematisch behindert. Werner Felber wunderte sich sehr: »Anfang 1990 erhielt die Dresdner Klinik für Psychiatrie einen Brief von einem renommierten Ost-Berliner Zeitschriftenverlag, aus dem hervorging, daß das Manuskript Suizidale Handlungen bei Mitarbeitern des Gesundheitswesensin der Redaktion eingetroffen sei. Nach kritischer Einschätzung durch die Gutachter werde über die weitere Entscheidung hinsichtlich der Annahme informiert.« Das Manuskript war vor 14 Jahren zur Veröffentlichung im Verlag eingereicht worden. Es handelte sich um die Habilitationsschrift seines Vor-Vorgängers in der Betreuungsstelle für Suizidgefährdete an der Dresdner Nervenklinik, die Felber selbst bis zur Wende nie gelesen hatte. »Weil einige unveröffentlichte Suizidziffern eingearbeitet worden waren, war die Arbeit zur Vertraulichen Dienstsache (VD) erklärt worden und damit nicht mehr zugänglich.«

Die seltsame Geheimnistuerei mußte Felber seinen West-Kollegen auf Kongressen immer wieder erklären. »Hätte ich mir durch ein Sondergenehmigungsverfahren Zugang verschafft – es ist zweifelhaft, ob ich überhaupt für VD-würdig gegolten hätte – wäre automatisch meine Habilitationsschrift wiederum eine VD-Angelegenheit geworden, womit sie ein Schubladenprodukt gewesen wäre. Ähnliche Probleme hatten auch andere Kollegen zu berichten, die sich zaghaft mit der Suizidforschung beschäftigten. Brisantes Material darüber lagerte in den Giftschränken neben pornographischer Literatur, faschistischer Propaganda und sogenannter Hetzliteratur aus den Ländern des Klassenfeinds.«

Es kann nicht sein, was nicht sein darf: Auf diesen Nenner kann man den Umgang der DDR mit dem Suizidthema bringen. Der Suizid war als radikalste Republikflucht, als konsequentestes Nein zu den Segnungen des Sozialismus, ein Supertabu. Das generelle Phänomen einer hohen Suizidrate wurde einfach durch öffentliche Nichterwähnung ignoriert. Nach dem Mauerbau, als sich überdurchschnittlich viele Menschen umbrachten, war der Suizid eines der größten Tabuthemen.27 Weil es das Problem offiziell nicht gab, war natürlich auch keine Prävention nötig: keine Telefonseelsorge, keine Öffentlichkeitsarbeit, keine Krisenintervention.

Nur in Dresden gab es seit 1968 eine mehr schlecht als recht arbeitende Betreuungsstelle für Suizidgefährdete – ein Tropfen auf den heißen Stein, meint Felber. Seine Analyse über diese unhaltbaren Zustände läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Man stelle sich vor, daß die Veröffentlichung der Sterblichkeit von Kreislauferkrankungen sowohl als Gesamtaussage verboten, als auch als Therapiekontrolle jedweder Art massiv behindert würde. Das gravierendste Ergebnis der Tabuisierung des Suizidproblems war die Entfremdung der DDR-Bürger von einer Tatsache menschlichen Seins, die zu den Schattenseiten der Existenz gehört. Nichts darüber war ihnen bekannt, keine Nachricht von dessen Ausmaß drang in ihr Bewußtsein, das Problem war ausgeblendet, nicht existent oder verdrängt. Es reihte sich ein in eine Kette von Behütungen. So entstand eine Andorra-Mentalität mit einem Syndrom der kleinen Welt, in der es keine Kriminalität, keinen Suizid, keine Bettler, keine Drogen, keinen Egoismus, keine Arbeitslosigkeit, keine Ausländer, kaum Alkohol gab. Der Staat bewahrte vor Reisen und damit auch vor Aids, so einfach war das.«