Supernatural Band 2: Die Judasschlinge - Joe Schreiber - E-Book

Supernatural Band 2: Die Judasschlinge E-Book

Joe Schreiber

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Beschreibung

EIN NEUES ABENTEUER DER BEIDEN DÄMONEN-JAGENDEN WINCHESTER-BRÜDER. Vor 27 Jahren verloren Sam und Dean Winchester ihre Mutter an einen übermächtigen dämonischen Feind. In den darauffolgenden Jahren wurden die beiden Brüder von ihrem Vater, John Winchester, darin geschult, das übernatürliche Böse in Amerikas Straßen aufzuspüren und zu töten. Im Jahre 1862 leitet Jubal Beauchamp, ein Captain der Konföderierten, einen Angriff auf einem der Schlachtfelder von Georgia. In der Gegenwart kommt es bei der Nachstellung dieser Schlacht zu seltsamen Ereignissen. Als sich Sam und Dean auf den Weg in den Süden machen, um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen sie feststellen, dass die Vergangenheit noch sehr lebendig ist ...

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Die Judasschlinge

Joe Schreiber

Basierend auf der CW-Serie SUPERNATURALvon Eric Kripke

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

SUPERNATURALTM & © 2011 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

Englischsprachige Originalausgabe: „SUPERNATURAL: The unholy Cause“ by Joe Schreiber, published by Titan Books, A division of Titan Publishing Group Ltd., London, July 2010.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).

Übersetzung: Susanne Döpke

Lektorat: Jürgen Zahn, John Schmitt-Weigand

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8332-2358-7

www.paninicomics.de

Für meinen Bruder Dan.

ON FAME’S ETERNAL CAMPING GROUNDTHEIR SILENT TENTS ARE SPREAD ANDGLORY GUARDS WITH SOLEMN ROUNDTHE BIVOUACS OF THE DEAD.

Gedenktafel in Gettysburg

Eins

Beauchamp war bereit zu sterben. Er stand auf dem Hügel und starrte den weiten grünen Abhang zum Fluss hinab, der still in der mittäglichen Hitze ausgebreitet lag. Die Vögel in den Lebenseichen waren verstummt, selbst die Brise hatte sich gelegt und so ein tiefes, erwartungsvolles Schweigen geschaffen, das die gesamte Wiese unterhalb einhüllte. Die Welt schien den Atem anzuhalten.

Dann sah er sie – Soldaten in blauer Uniform, die hinter der steinernen Befestigung auf der anderen Seite des Flusses aufgereiht standen. Selbst aus dieser Entfernung konnte Beauchamp sehen, wie ihre Musketen und die Knöpfe an ihren Uniformen in der Sonne funkelten.

Einen Augenblick später griffen sie an.

Beauchamp dachte nicht nach. Er sprintete mit vollem Tempo den Hügel hinab und auf das hohe Gras am Flussufer zu. Sein Sichtfeld schwankte im Rhythmus der schnellen Schritte auf und ab und von rechts nach links. Er konnte schon das trübe Wasser des Flusses sehen, das wie zerbrochenes Glas durch das Schilf hindurchglitzerte. Grashüpfer und winzige Insekten flohen vor seinen Stiefeln. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie sich verselbstständigt hätten, um ihn immer weiter vorwärts zu zwingen und mit langen, gierigen Schritten eine Bahn über die holprige Wiese zu fressen.

Hinter Beauchamp erhob sich ein Aufschrei, als seine Männer sich über den Kamm des Hügels schwangen, um sich seiner blindwütigen Attacke anzuschließen.

Weiter unten erhoben sich die Gewehrschützen der Unionsarmee und eröffneten vom anderen Ufer aus das Feuer. Das Krachen ihrer Gewehre erinnerte an das Geräusch schwerer Folianten, die auf den Parkettfußboden einer Bibliothek knallten.

Dann war er mittendrin.

Beauchamps Soldaten erwiderten das Feuer. Sie schossen im Laufen und stoppten nur, um ihre Büchsen nachzuladen oder wenn eines der gegnerischen Minié-Geschosse ein Ziel gefunden hatte, das mit einem unterdrückten Aufschrei in seiner Kehle für immer zu Boden gerissen wurde. Alle Männer schrien– manche den Rebellenschrei, den Rebel Yell, andere einfach nur vor Schmerz, und es war nicht immer einfach, das eine von dem anderen zu unterscheiden.

Beauchamp sprintete die letzten Meter zum Fuß des Hügels hinunter. Schwer atmend und schon etwas schwankend verlangsamte er seine Schritte, bis er nur noch trabte und schließlich mitten auf freiem Feld zum Stehen kam. Überall um ihn herum stürzten sich seine Männer jetzt auf den Feind und verwickelten ihn in harte, erbitterte Gefechte. Die Randbereiche seines Sichtfelds waren von der flirrenden, grunzenden Schwerstarbeit des Nahkampfes erfüllt. Ein Soldat flog an ihm vorbei auf den Feind zu und stürzte wie vom Blitz gefällt zu Boden, die Hand an seiner Brust.

Beauchamp wischte sich den Schweiß aus den Augen und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf einen der Unions-Scharfschützen, der hinter dem Wall, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, stand. Er fühlte, wie er vollkommen ruhig wurde. Die Zeit schien stillzustehen. Er konnte den Staub riechen, das Schießpulver, die Zypressen und den schlammigen Gestank des Flusses, den Rauch, den Schweiß, die Pferde und sogar den kupfrigen Geruch frischen Blutes, und all das in einer beinahe qualvollen Intensität. Alles andere – die Befehle, die man ihm gegeben hatte, die Stadt, auf deren Verteidigung man sie eingeschworen hatte, die Leben der Männer um ihn herum –, das tat nichts mehr zur Sache.

Selbst der Schlachtenlärm um ihn herum verstummte. Beauchamp konnte nur noch das Pochen seines eigenen Herzens hören.

Der Scharfschütze war ein Bauernjunge, nicht viel älter als Beauchamp selbst. Er konnte die Muskete des Yankees sehen, eine Kaliber.58 Springfield wie seine eigene. Sie zielte direkt auf ihn. Er sah, wie sich der Schütze etwas entspannte. Selbstvertrauen legte sich auf die Gesichtszüge des Jungen, als der sein Ziel ins Fadenkreuz nahm. Aus dieser Entfernung war es fast unmöglich vorbeizuschießen.

Crack!

Das war die Muskete des Yankees, begleitet vom hellen Aufblitzen des Mündungsfeuers in der Mittagshitze. Beauchamp sah eine kleine Rauchwolke aufsteigen. Lächelnd wartete er.… Und spürte nichts.

Der Unionssoldat blinzelte, wartete darauf, dass sein Opfer fiel. Aber Beauchamp holte, immer noch lächelnd, sein Bajonett hervor. Es war so scharf, dass er den Schliff der Schneide deutlich erkennen konnte. Er bewunderte die Art, wie sich das Licht darin fing.

Tue es! Tue es jetzt!

Ganz vorsichtig führte er die Spitze über sein Handgelenk, schnitt durch die Haut, sodass das Blut direkt auf die Muskete tropfte und an ihrem Lauf herunterlief. Dann legte er auf den Unionssoldaten an, nahm einen Atemzug und drückte beim Ausatmen ab. Die Muskete schlug hart gegen seine Schulter, und der Schädel des Blaurocks explodierte in einer Wolke aus Blut und Schädelfragmenten, wobei die Wucht des Treffers den ganzen Körper nach hinten umriss.

Beauchamp atmete durch.

Die Zeit begann weiterzulaufen. Die Geräusche des Tages kehrten zurück. Überall um ihn herum schrien Männer– seine Männer, die Männer des Feindes, alle Männer in dieser wahnsinnigen, blutgeschwängerten Welt. Beauchamp fühlte Schwindel und Ekstase und Trunkenheit zugleich, als sein 32. Regiment an ihm vorbeistürmte, um das Yankee-Bollwerk zu überwinden. Beauchamp hob eine Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die blendende Sonne abzuschirmen. Weiter vorne, in Richtung Mission’s Ridge, wehte immer noch die Flagge der Konföderierten. Als er sie dort erblickte, wie sie weit ausgebreitet am blauen Himmel flatterte, wurde er von seinen Gefühlen überwältigt, sodass es ihm beinahe die Kehle zuschnürte. Beauchamp erhob seine Muskete wieder, lud aber nicht nach.

Stattdessen zielte er mit dem Lauf zur Seite. Irgendwo nach links, wo einer seiner Kameraden, ein Private namens Gamble, ihn mit offenem Mund anstarrte.

„Was …“ Gamble rang nach Atem. „Was ist passiert?“

Beauchamp grinste ihn an. Er konnte spüren, wie die Luft um sein Gesicht herum leicht zu zittern begann, beinahe so, als würde sie auf seiner Haut lebendig werden. Die geheimnisvolle Erhabenheit dieses Tages rauschte tosend durch seinen Körper. Es war ein Gefühl wie eine Adrenalinspritze direkt ins Nervenzentrum.

„Ich habe ihn erschossen.“

„Du hast ihn umgebracht?“

Beauchamps Grinsen schwand nicht.

„Ganz genau“, antwortete er.

„Aber wie?“

„War kinderleicht“, sagte Beauchamp und drehte die Muskete so, dass das Bajonett direkt auf das ungläubige Gesicht des Privates zielte. Mit einem präzisen Stoß stach er die Klinge direkt in Gambles rechtes Auge.

Der Private schrie, aber das war nicht mehr der Rebel Yell – es war ein panisches, jodelndes Kreischen voller Schmerz und Angst.

Ein Geräusch wie von einem Spanferkel unter dem Fleischermesser, sinnierte Beauchamp.

Gamble brach zusammen und rollte auf die Seite. Er hielt sich die Hände vor die Augen, während das Blut durch seine Finger strömte. Beauchamp rammte ihm das Bajonett zwischen die Rippen, drehte den Körper auf den Rücken und stach ihm dann ins Herz.

Stille.

Beauchamp sah auf.

Eisiges Schweigen hatte sich über das Feld gelegt. Nicht einmal das Flüstern einer sanften Brise war zu hören. Überall um ihn herum hatten die Männer auf beiden Seiten der Barrikade ihre Waffen gesenkt und starrten ihn vollkommen fassungslos an. Es war, als hätte Gott – oder irgendeine Gottheit – der ganzen Sache einfach den Saft abgedreht.

Von seinem Standpunkt, allein auf freiem Feld, warf Beauchamp einen Blick auf das Gelände jenseits des Walls, dorthin wo eine Reihe Sägeböcke stand, die das Schlachtfeld vom Parkplatz trennte, auf dem lange Reihen von Autos und Wohnmobilen in der Sonne funkelten. Die Zuschauer – Männer, Frauen und Kinder – starrten ihn alle an. Einige hatten sich abgewandt und hielten ihren Kindern die Augen zu.

Aus einem Radio dröhnte blecherne Musik. Er konnte die klare Stimme einer Frau hören. „Das ist echtes Blut, oder?“

„Dave …?“

Ein Mann in der Uniform und mit dem Schlapphut der Konföderierten trabte auf ihn zu, wobei ihm seine Provianttasche im Rhythmus der Schritte gegen die linke Hüfte schlug. Er hielt an, als er sah, wie Beauchamp mit Gambles blutiger Leiche zu seinen Füßen dastand. Das Gesicht des Neuankömmlings war kreidebleich, für einige Sekunden brachte er kein Wort heraus.

„Dave …Jesus … Alter …Was hast du da getan?“

Beauchamp drehte den Kopf. Er grinste noch einmal und platzierte die Spitze des Bajonetts unter seinem Kinn – so, dass er das spitze Metall an seinem weichen Fleisch spürte.

„Der Krieg ist die Hölle“, sagte er. Dann stieß er die Klinge nach oben.

Zwei

Sam Winchester träumte. Er träumte, wie er vor dem Panoramafenster einer VIP-Suite im Bellagio stand und die bunten Lichter von Vegas wie eine Handvoll billiger Modeschmuck unter ihm ausgebreitet lagen.

Hinter ihm drang eine sanfte Stimme aus dem Flachbildfernseher und informierte über die Spielregeln beim Blackjack. Es war ein hauseigener Kanal des Hotels, das Programm lief rund um die Uhr.

Sam hörte nicht zu.

Irgendwann im Verlaufe seines Traums hatte er begriffen, dass er zum Spielen hergekommen war und gewonnen hatte– viel gewonnen. Er drehte sich um und sah einen Haufen Chips und Bargeld auf einem zerwühlten Bett liegen. Direkt daneben ruhte eine leere Champagnerflasche in einem verchromten Kühler voll von halb geschmolzenem Eis.

Die Stimme aus dem Fernseher plätscherte im seichten, einschmeichelnden Tonfall eines Salonmagiers weiter.

„Wenn der Spieler sich entschließt, den Einsatz zu verdoppeln, ist es immer ratsam, dass er sich zuerst die Karte des Croupiers ansieht und erst danach seine eigenen.“

Die Tonlage der Stimme veränderte sich ein wenig.

„Wie ist es mit dir, Sam? Weißt du, was der Croupier auf der Hand hat?“ Sam starrte auf den Bildschirm. Das Gesicht war ihm wohlbekannt – aus den Träumen und Albträumen, die er jede Nacht durchlitt.

Luzifer.

„Sam?“

„Verschwinde!“, sagte Sam. Seine Stimme klang gepresst. Ein Gefühl der Anspannung legte sich um seine Kehle, drückte heiß reibend gegen seine Haut und presste seine Stimmbänder zusammen. „Lass mich in Ruhe!“

„Es tut mir leid, das kann ich nicht“, antwortete Luzifer. „Nicht jetzt. Niemals.“

Sam versuchte zu antworten, aber diesmal brachte er kein Wort heraus. Er konnte nicht einmal mehr atmen.

„Schau dich doch nur an“, sagte Luzifer, und dann stand er plötzlich neben Sam. „Wirf einen gründlichen Blick in den Spiegel und sag mir, was du siehst!“

Sich ansehen? Das war leicht. In dieser Suite herrschte kein Mangel an Spiegeln.

Er wandte sich dem nächstgelegenen zu, wobei seine Finger bereits nach dem Etwas griffen, das ihm die Kehle zuschnürte. Aber alles, was Sam im Spiegel erkennen konnte, war, dass die Haut um seinem Hals ein wenig eingedrückt aussah.

Hinter ihm begann Luzifer zu lachen.

„An das meiste hiervon wirst du dich nicht erinnern, wenn du wieder aufwachst“, sagte er beinahe mitfühlend. „Aber du wirst wissen, dass ich kommen werde, dich zu holen.“

Sam konnte immer noch nicht sprechen. Große Flecken in der Farbe von Blutergüssen bildeten ein Band um seinen Hals. Er sah, wie die Flecken dunkler wurden und sich zu den Abdrücken unsichtbarer Hände formten.

Angst – Panik – breitete sich wie eine plötzliche Kältewelle in seinem Bauch aus.

Sam wollte schreien.

Irgendwie glaubte er, dass das alles aufhören würde, wenn er nur irgendein Geräusch herausbrächte. Dann würden diese Flecken verschwinden, und er würde wieder atmen können.

Aber er konnte nicht.

Und er konnte nicht.

Und er …

„Hey! Hey, Sam. Sabberer!“Eine Hand schüttelte ihn, und das nicht gerade sanft. „Yo! Wach auf.“

Sam grunzte, schreckte hoch und öffnete die Augen, während er den Kopf vom Fenster wegzog. Vom Steuer des Impala aus sah Dean ihn mit brüderlicher Belustigung an.

„Wisch dir das Gesicht ab, Mann, du siehst aus wie ein verdammter glasierter Donut.“

Ohne ein Wort zu sagen, griff Sam nach dem Rückspiegel und drehte ihn nach unten, während er das Kinn anhob, um seinen Hals zu begutachten. Der war fleckenlos, die Haut sah normal aus. Sam seufzte und sank zurück in seinen Sitz, wobei er sich eher ausgewrungen als erleichtert fühlte.

Dean warf ihm erneut einen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck war vorsichtig-neutral.

„Schlecht geträumt?“

„Könnte man sagen.“ Sam merkte, dass Dean mehr erwartete, doch die Bilder verblassten bereits und ließen wenig mehr als ein verschwommenes Gefühl des Schreckens zurück. Wenn er versuchte, das in Worte zu fassen, würde das seinen Bruder nur noch misstrauischer machen. „Egal, mir geht es gut.“

„Echt?“ Dean klang nicht überzeugt.

„Echt.“

„Gut.“ So viel dazu.

Dean drehte das Radio lauter. Dort stimmte gerade Lynyrd Skynyrd die letzten Wiederholungen von Sweet Home Alabama an. Der Song lief bereits zum zweiten Mal in der letzten halben Stunde, aber Dean hatte ihn trotzdem lauter gestellt und füllte das Schweigen zwischen ihnen mit dem Klang von Gitarren und Schlagzeug.

Sam fand eine halbwegs saubere Serviette auf dem Boden und wischte sich den Mundwinkel ab. Dann knüllte er sie zusammen und starrte durch das Fenster auf die Landschaft. Sumpfkiefern und kalifornische Buscheichen rauschten vorbei– dichter Wald. Dahinter lag meilenweites Sumpfland, das nur ab und zu von einem herrschaftlichen Südstaatenhaus, Bächen oder Hügeln unterbrochen wurde. Das gleiche Terrain hatte sich schon vor fast einhundertfünfzig Jahren für die Soldaten aus Nord und Süd als Herausforderung erwiesen.

„Wie weit noch?“, fragte er.

„Pst! Ich steh auf diesen Teil.“ Dean drehte für das Gitarrensolo auf und versank für einen Moment vollkommen in sich selbst, bevor er wieder zu sich kam. „Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Dir ist schon klar, dass wir hier nicht in Alabama sind, oder?“

„Von den Skynyrd kam auch keiner von da.“ Dean zuckte die Schultern. „Aber du weißt, wo sie den Song aufgenommen haben?“

„Lass mich raten – Georgia?“

Zwanzig Minuten später erreichten sie den Friedhof.

* * *

DiePolizeihattebereitsdasvordereTorabgesperrt,umdieFernsehreporterfernzuhalten,diesichdortzusammenmitmindestenseinhundertSchaulustigeneingefundenhatten.EinigehieltenselbstgemachteSchilderhoch.„Friedhofsjunge,wirliebendich“oder„KommnachHause,Toby“standdarauf.DeanhielteineHandausdemFensterundzeigteseinenFBI-Ausweis.DerTrooperwinktesiemitdemmüdenGesichtsausdruckeinesBeamtendurch,derseinerPflichtenschonseitLängeremüberdrüssigwar.SamkonnteihmkeinenVorwurf machen. Da draußen herrschte das reinste Chaos.

Der Friedhof erstreckte sich auf einem alten Stück moosbewachsenen Sumpfgeländes, das unregelmäßig mit uralten grauen Grabsteinen bestanden war. Viele davon neigten sich bereits zur Seite oder waren umgefallen und senkten sich in den weichen Untergrund. Von den meisten Steinen waren die Namen bereits vollkommen verschwunden und hatten nur noch glatten amnesischen Marmor zurückgelassen.

Dean parkte den Impala unter einer hohen Eiche. Er und Sam kletterten aus dem Wagen, die Hitze ließ ihre schlecht sitzenden Anzüge regelrecht am Körper kleben. Die Brüder gingen auf die Ansammlung aus Streifenwagen und blauen Uniformen zu, die sich ein paar Hundert Meter vor ihnen zeigte.

„Also“, sagte Dean. „dieser Junge, der ‚Friedhofsjunge‘…“

„Toby Gamble“, ergänzte Sam.

„… ist vor vier Tagen von zu Hause verschwunden?“, beendete Dean seine Frage.

„Richtig.“

„Und keiner hat was gesehen?“

„Sieht ganz so aus.“

„Und dann, gestern Morgen …“

Sie blieben vor einem Mausoleum stehen, an dem sich ein paar Cops versammelt hatten und Kaffee tranken. Die meisten starrten auf die Worte, die in kindlichen, rotbraunen Buchstaben direkt auf den Stein gekritzelt waren.

HILFMIER

„Der Junge hat’s wohl nicht so mit der Rechtschreibung“, bemerkte Dean.

„Er ist erst fünf.“

„Wahrscheinlich ein Produkt des Hausunterrichts.“

„Das sind wir auch.“ Sam blickte auf die Seiten, die er zuvor ausgedruckt hatte. „Seine Mutter bestätigt, dass es seine Handschrift ist.“

„Und das Blut?“

„Die Probe ist noch im Labor.“

„Das ist also alles, was wir haben?“

„Das hier“, sagte Sam, „und das dort.“

Er zeigte auf den Hügel. Dean blickte zu den Grabsteinen, die am westlichen Ende des Friedhofs standen.

„Oh!“

DortstandenDutzendeGrabsteine,dieüberundübermitdergleichenschiefenkindlichenHandschriftbeschmiertwaren.

HILFMIERHILFMIERHILFMIERHILFMIERHILFMIER

Dean nickte. „Wenigstens ist er konsequent.“

„Seine Mutter sagt, dass sie in der Nacht, als er verschwand, Stimmen in seinem Zimmer gehört hat.“

„Was für Stimmen waren das genau?“

„Wir können sie fragen.“ Sam drehte sich um und sah eine blonde Frau, die neben den Polizisten stand. Sie mochte Anfang zwanzig sein, wirkte aber so dünn und erschöpft, dass sie mindestens zwei Jahrzehnte älter aussah. Man konnte sich gut vorstellen, dass sie an einem Samstagabend kellnerte, Tabletts mit leeren Flaschen wegräumte und von betrunkenen Gästen in den Po gekniffen wurde, während aus der Jukebox die Country-Hymne des Monats dudelte. Als Sam näher kam, konnte er erkennen, dass sie etwas umklammert hielt, das wie ein blassblauer Lumpen aussah. Sie drückte den Gegenstand mit beiden Händen fest an ihre Brust. Dann wurde Sam klar, dass das ein T-Shirt des Jungen sein musste.

„Ich will ihn nur wiederhaben“, sagte sie, und ihre Stimme verriet, dass sie ihre Emotionen nur mit Mühe beherrschen konnte. „Ich will doch nur meinen Jungen wiederhaben.“

„Ma’am?“, fragte Dean und ging auf sie zu.

Sie riss den Kopf hoch und sah ihn mit ihren rot verweinten Augen erschrocken an. Der Polizist, mit dem sie geredet hatte, blickte Dean und Sam misstrauisch an.

„Ja?“

„Ich bin Agent Townes, das ist Agent Van Zandt, FBI. Wir haben uns gefragt, ob wir Ihnen ein paar Fragen über Ihren Sohn stellen dürfen.“

„Ich habe schon mit der Polizei gesprochen.“

„Es dauert nur eine Minute.“

„Ich kann nicht – Es tut mir leid – Ich weiß einfach nicht, ob ich das kann …“

„Die Stimmen, die Sie in seinem Zimmer gehört haben“, fuhr Dean unbeirrt fort. „Haben Sie verstanden, was dort gesagt wurde?“

„Es waren … Worte, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Dann haben sie einfach nur immer wieder seinen Namen gesagt. Zuerst …“ Ihr kamen wieder die Tränen. „Zuerst dachte ich, das wäre nur der Fernseher, aber dann hörte ich ihn schreien. Ich bin ins Zimmer gerannt, aber er war schon weg.“

Sie schüttelte den Kopf, ihre blassblauen Augen schweiften über den Friedhof, und sie drückte das T-Shirt noch fester an sich.

„Als ich von dieser ganzen Sache erfahren habe, dachte ich…“

Plötzlich ertönte ein Schrei auf der anderen Seite des Friedhofs. Dean und Sam fuhren herum, um die Quelle des Lärms zu orten.

Ein Afroamerikaner kam hinter den Grabsteinen hervor und trug einen kleinen Jungen auf dem Arm. Der ganze Oberkörper des Kindes war über und über mit roten Spritzern besudelt, aber es war am Leben und wand sich heftig im festen Griff des Mannes.

„Du da!“, brüllte einer der Cops. „Stehen bleiben! Lass den Jungen los! Sofort!“ Er zog seine Waffe und richtete sie auf den Neuankömmling.

Sams Miene verfinsterte sich.

„Ist das …?“

„Rufus?“, rief Dean und blinzelte. „Was zur Hölle –?“

Sam und Dean gingen auf ihren Jägerkollegen zu. Der nervöse Polizist senkte die Waffe, offensichtlich irritiert, weil die beiden den blutbefleckten Fremden kannten.

Rufus Turner blieb stehen und ließ den Jungen gehen, der sofort zu seiner Mutter rannte.

„Mir geht es gut“, sagte Rufus und sah auf seine Jacke hinab. Sie war auch voller roter Flecken. „Außer diesem ganzen verdammten Karo-Sirup auf meinen Klamotten.“

„Karo-Sirup?“

„Der Bengel hatte eine ganze Flasche dort hinter den Bäumen versteckt.“

Der Junge sagte etwas. Obwohl er leise sprach, konnte man seine Worte klar und deutlich hören.

„Mami, ich habe keine Lust mehr, bei diesem Spiel mitzumachen“, sagte er und umarmte seine Mutter, die auf einmal den Eindruck machte, dass sie es ziemlich eilig hatte, von diesem Ort zu verschwinden. „Ich hab Hunger, mein Magen fühlt sich ganz komisch an.“

Dann, ganz plötzlich, übergab er sich.

„Klasse“, murrte Dean und warf Rufus einen Blick zu. „Wir wussten nicht, dass du schon an dem Fall dran bist.“

Rufus zuckte mit den Schultern.

„Ich war in der Gegend, war auf dem Weg in eine Stadt namens Mission’s Ridge. Dachte, ich halte mal kurz hier an, um zu sehen, was läuft. Jetzt sieht mein letztes sauberes Hemd so aus, als hätte darin jemand eine Herzoperation durchgeführt.“

„Sir, wir haben ein paar Fragen“, sagte einer der Detectives in Zivil. „Würde es Ihnen etwas ausmachen mitzukommen?“

„Werden Sie mir die Reinigung erstatten?“, fragte Rufus.

Sam blickte auf.

„Was ist das für eine Sache in Mission’s Ridge?“

„Schießerei bei der Nachstellung einer Bürgerkriegsschlacht“, sagte Rufus leise. „Ein paar Zivilisten sind gestorben.“

„Und?“

„Die verwendeten Gewehre waren Replica-Waffen.“ Rufus blickte sie an. „Und sie waren voller Blut.“

„Echtes Blut?“

„Das habe ich zumindest gehört.“

„Das ist alles?“, fragte Dean. „Wie hast du davon erfahren?“

„Anonymer Tipp via E-Mail. Ausgerechnet ’ne Quelle oben in Maryland.“

Deans Gesicht verfinsterte sich.

„Maryland?“

„Ein Ort namens Ilchester. Warum, kennst du das Kaff?“

Dean drehte sich zu Sam um, der ihn bereits anstarrte.

„Wer ist diese Quelle?“

„Habe ich doch gesagt. Anonym.“

„Dann übernehmen wir das“, sagte Dean. „Gib uns, was du hast, und wir kümmern uns darum.“

„Bist du sicher? Warum seid ihr so erpicht darauf?“, fragte Rufus.

„Vergiss es“, sagte Dean. „Geh du mal und lass deine Jacke reinigen!“

Drei

Eine Stunde später nahm Dean eine Hand vom Lenkrad und zeigte auf ein Schild, das rechts neben dem zweispurigen Highway stand.

WILLKOMMENIMHISTORISCHENMISSION’S RIDGE, GEORGIA,

DERFREUNDLICHSTENKLEINSTADTDESSÜDENS

„WIRFREUENUNSUNGLAUBLICH, DASSIHRHIERSEID!“

„Siehst du, ich habe doch gesagt, das wäre eine gute Idee“, sagte Dean. „Sie freuen sich unglaublich.“

Sam blickte von seinem Laptop auf, den er auf den Knien balancierte.

“Ich frage mich, ob die Opfer des Massakers die berühmte Gastfreundschaft der Südstaatler ebenso sehr genossen haben“, sagte er trocken.

„Also, wen kennst du in Ilchester?“, fragte Dean.

Sam schüttelte den Kopf.

„Jemand wollte, dass wir herkommen.“

„Oder auch nicht.“

„So oder so …“

„Nennen wir die Sache doch beim Namen, Sammy“, sagte Dean. „Das Kloster St. Mary’s in Ilchester – dort hast du Luzifer freigesetzt. Das ist kein Zufall.“

Dean griff nach vorne, öffnete das Handschuhfach, zog eine lederne Brieftasche heraus und warf sie auf den Sitz neben Sam.

„Werd mal locker, Alter. Ich liebe den Süden.“

„Klar.“ Sam klappte die Brieftasche auf, um zu sehen, unter welcher Identität er unterwegs war, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Vororten zu. Der Impala überquerte eine Reihe von Bahngleisen und erreichte das Stadtzentrum.

Mission’s Ridge bestand aus einer schmalen Hauptstraße mit Läden auf beiden Seiten. Fußgänger drängten sich auf den Gehsteigen, aber keiner hatte es eilig, irgendwohin zu kommen. Hoch über ihren Köpfen kündigte ein Banner die Nachstellung der Schlacht von Mission’s Ridge im Rahmen der Feierlichkeiten zum historischen Jahrestag der Schlacht an. Die Schatzjäger und Schnäppchensucher zogen gleich familienweise durch die Antiquitätengeschäfte und billig gemachten Museen, in denen „Geistertouren bei Mondlicht“ und „Familienporträts in echten antiken Kostümen“ angepriesen wurden. Niemand schien sich so recht daran zu stören, dass draußen vor der Stadt vor Kurzem eine blutige Schießerei stattgefunden hatte.

Sie fuhren jetzt durch die Innenstadt. Dean verlangsamte das Tempo und bremste den Impala bis zum Stillstand ab. Vor ihnen schlenderten ein paar sonnengebräunte junge Frauen in abgeschnittenen Jeans und schulterfreien Tops vorbei. Eine von ihnen hielt an und ließ ihre Sonnenbrille nach vorne rutschen, um Dean zu inspizieren.

„Hatte ich eigentlich erwähnt“ – er schüttelte lächelnd den Kopf –, „wie sehr ich den Süden liebe?“

Sam hörte ein anerkennendes Pfeifen, und eine der Frauen blickte sich um. Von der anderen Straßenseite her kamen zwei junge Bürgerkriegssoldaten in staubiger konföderierter Kluft über die Straße geschlendert. Sie blieben genau vor dem Impala stehen, um die Mädchen anzusprechen. Die vier standen schwatzend mitten auf der Kreuzung. Eines der Mädchen streckte die Hand aus, um eine der Musketen zu bewundern.

„Hey!“, rief Dean aus dem Seitenfenster. „Mason und Dixon! Der Krieg ist zu Ende!“

Die beiden Soldaten ignorierten ihn. Dean hupte, und einer der Männer erhob den Finger zu einer, wie Dean meinte, nicht gerade historisch korrekten Geste. Langsam bewegte sich das Quartett weiter.

„Komm schon!“ Sam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Das Schlachtfeld ist auf der anderen Seite der Stadt.“

„Richtig.“ Das Auto bewegte sich nicht von seinem Standort fort.

„Dean.“

„Was?“

„Konzentrier dich!“

„Das mache ich, mache ich wirklich.“ Er beobachtete immer noch die Mädchen und Soldaten im Seitenspiegel. „Mann, ein Job, in dem man viel reisen muss, sollte doch wenigstens den ein oder anderen Vorzug haben.“ Dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder Sam zu. „Hier. Richte mal deine Krawatte, die sitzt ganz schief.“ Dean streckte die Hand aus, um Sam zu helfen, doch der zuckte zusammen.

Dean runzelte die Stirn.

„Was ist los?“

Sam zögerte.

„Es geht um diesen Traum, den ich vorhin hatte. Ich erinnere mich nicht an viel, außer dass da irgendetwas um meinen Hals herum war und mir die Kehle zugedrückt hat. Ich hab keine Luft mehr bekommen.“

„Das war’s?“

„Ich glaube schon.“

Dean sah nicht überzeugt aus, und Sam konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Sams Problem war, dass er sich an keine Details erinnern konnte. Und einfach das vage Gefühl des Grauens zu beschreiben, das würde seinen Bruder nur noch nervöser machen. Wenn er sich an Details erinnerte – etwa an die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte, und daran, was sie gesagt hatte –, dann würde er es Dean erzählen. Bis dahin würde er schweigen. Zeit, das Thema zu wechseln.

„Um mal was Gutes zu vermelden, wir haben wenigstens ein starkes WLAN-Signal“, sagte Sam. Er wandte sich wieder dem Laptop zu und scrollte durch die vielen Treffer, die seine Suche nach „Mission’s Ridge“ ergeben hatte. Es gab reichlich Links zu Seiten, auf denen es um die Schlacht und die jährliche Feier mit der Nachstellung der Kampfhandlungen ging. Allerdings wurden die Schilderungen der historischen Ereignisse zurzeit in ihrer Anzahl von der aktuellen Berichterstattung über den blutigen Zwischenfall in den Schatten gestellt. Der Tenor der Berichte war, dass einer der Akteure es auf unerklärliche Weise geschafft hatte, sich und zwei Mitspieler mit einer nachgebauten Muskete und einem Bajonett, das ungefähr die Schärfe eines Buttermessers besaß, umzubringen. Die Details passten zu dem, was Rufus ihnen bereits am Friedhof erzählt hatte, allerdings mit einer entscheidenden Ausnahme: Das Blut auf den Tatwaffen wurde mit keiner Silbe erwähnt.

„Sieht so aus, als wäre der größte Teil der Kämpfe am Hang eines Hügels, der an einem Flüsschen südöstlich der Stadt liegt, ausgetragen worden“, sagte Sam und zeigte auf die Karte auf dem Bildschirm. „Dort haben die Rollenspieler auch ihr Lager aufgeschlagen.“

„Und dort sind auch die Schüsse gefallen?“, fragte Dean.

„Sieht so aus.“

Dean trat aufs Gaspedal, drehte das Radio auf und steuerte sie durch das Gewimmel.

Kurze Zeit später fand Dean einen Sender, der Midnight Rider von den Allman Brothers spielte – guter, solider Rock ’n’ Roll aus dem Süden. Die Fenster waren heruntergelassen, und eine Brise zog durch das Auto. Dean drehte die Lautstärke auf.

Schnell waren sie wieder auf dem Land, aber die Landschaft auf dieser Seite der Stadt war anders. Irgendetwas hatte die Felder hier vollkommen leer geräumt, vermutlich steckte entweder ein Feuer oder ein Immobilienentwickler dahinter. Das Gras war grün und wirkte beinahe wie mit der Nagelschere geschnitten. An der Spitze des nächsten Hügels konnte Sam Denkmäler und Kanonen ausmachen, außerdem einen Parkplatz mit Autos, der mindestens so viel Platz einzunehmen schien wie das Städtchen, das Sam und Dean gerade hinter sich gelassen hatten. Ein großes braunes Schild stand rechts neben der Fahrbahn.

Nationale historische Gedenkstätte –

Suchen nach Relikten verboten

„Ich würde sagen, hier sind wir richtig“, sagte Dean, bog auf das Grundstück ab und kämpfte sich so lange durch die Reihen, bis er einen leeren Parkplatz neben ein paar Harleys gefunden hatte. An jedem der Motorräder flatterte eine konföderierte Flagge von einer kleinen Fahnenstange am Heck. „Hast du Lust auf ein bisschen Action?“, fragte Dean.

Sam nickte und stieg aus.

„Den Medienberichten zufolge war der Name des Schützen Dave Wolverton. Er war Kellner in einem Restaurant am Flughafen von Atlanta. Das hier hat er nur am Wochenende gemacht.“

„Tja“, sagte Dean und wies mit einer Geste über den Parkplatz. „Wie es aussieht, war er da nicht alleine.“

Als sie auf der Spitze des Hügels angekommen waren, schaute Sam nach Westen, und Dean sah, wie ein Ausdruck von Unglauben über das Gesicht seines Bruders huschte. Jenseits des Zuschauerfeldes schien sich der Hang nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich in weite Ferne zu erstrecken. Ganze Armeen von Männern in blauen und grauen Uniformen biwakierten zu beiden Seiten des Flüsschens, das sich am Fuße des Hügels entlangzog. Soweit das Auge reichte, über ein Gelände von gut und gerne einigen Quadratkilometern, waren Zelte, Wagen, Pferde, Kanonen, Flaggen und landwirtschaftliche Geräte verstreut.

„Was hältst du davon?„, fragte Sam.

Dean schüttelte den Kopf.

„Diesen Bürgerkrieg brauche ich nicht.“

Sie bahnten sich einen Weg durch die Zuschauer, vorbei an ein paar Dixie-Klos. Davor warteten lange Schlangen von Menschen – eine Mischung aus Leuten in Shorts und Kid-Rock-T-Shirts und anderen in historischen Kostümen – darauf, die Einrichtungen benutzen zu können.

Dahinter begann das eigentliche Feldlager. Soldaten liefen von Zelt zu Zelt und bewunderten gegenseitig ihre Waffenund Uniformen. Auch Frauen und Kinder in ähnlicher Kluft bewegten sich durch die Menge. Die Menschen unterhielten sich hier in einer Sprache, die voller förmlicher Floskeln war. So etwas hatte Dean schon lange nicht mehr gehört, zuletzt, als Sam ihn einmal zu einem Abendessen in ein Themenrestaurant der Kette Medieval Times geschleppt hatte.

Signalhörner und Kanonendonner ertönten weiter oberhalb.

„Hörst du das?“

„Es kommt von dort“, sagte Sam und zeigte auf die Lautsprecher, die am oberen Rand des Felds entlang dem Abhang standen.

„Die Informationen von den Websites besagen, dass sie sogar authentischen Schlachtenlärm einspielen können.“

„Ja“, sagte Dean. „Aber wo gibt’s hier den Schmalzkuchen?“

„Das ist doch kein Jahrmarkt, Dean.“

„Komm schon, es zählt erst als Geschichte, wenn man’s auch essen kann.“

Sam schüttelte einfach nur den Kopf und ging weiter.

„Der Sheriff hat gesagt, dass Wolvertons Regiment das Zweiunddreißigste war.“

Sie schoben sich durch ganze Trauben von Akteuren am Fuße des Hügels und suchten nach irgendeinem Hinweis auf Wolvertons Gruppe. Essbar oder nicht, dieses Treffen bot wirklich das ganze Drumherum gelebter Geschichte, fand Sam. Hier, vom Boden aus, erschien dieses ganze Gewimmel sinnlos und ohne Ordnung. Wenn man es von oben betrachtete, mochten vielleicht bestimmte Muster hervortreten, aber …

Plötzlich wurde er zur Seite geschubst.

„Hey“, schnauzte ihn jemand an. „Pass auf, wo du hingehst, Arschgesicht!“

Die Beleidigung kam von einem stämmigen Unionssoldaten mit rot angelaufenem Gesicht, der aussah, als hätte er sich bereits viel zu viele Schmalzkuchen einverleibt – oder was auch immer sie hier an den Lagerfeuern servierten.

Dean wurde zornig.

„Wie bitte?“, antwortete er und stemmte die Füße breitbeinig in den Boden.

„Ganz ruhig“, sagte Sam und blickte den Soldaten an. „Wir suchen das Zweiunddreißigste. Gibt es ’ne Chance, dass Sie uns den richtigen Weg weisen?“

„Da rüber“, sagte der Mann, während er Dean weiterhin wütend anstarrte. „Fünf oder sechs Zelte weiter.“

„Danke!“, sagte Sam und schob Dean weiter.

„Arschgesicht“, murmelte Dean. „Glaubst du, dass das ein authentischer Ausdruck aus dem Bürgerkrieg ist?“

Sam lächelte. „Irgendwie habe ich da meine Zweifel.“

Sie drangen tiefer in die Welt der Soldaten ein, kamen an Zelten und Planwagen vorbei. Von irgendwoher drang ein metallisches Hämmern an Sams Ohr. Er drehte sich nach dem Geräusch um und sah, wie sich ein muskulöser Hufschmied über eine Esse voller glühender Kohlen beugte. Er bearbeitete Hufeisen mit dem Hammer auf einem Amboss, während eine Menge neugieriger Zuschauer zusah, wie die Funken flogen.

Am Waldrand stand ein Eisenbahnschuppen, und zu Deans und Sams Linken ein behelfsmäßiger Pferch mit Pferden, die ihre Nüstern durch den Weidezaun aus Holz steckten. Davor drängten sich gut gelaunte Kinder, die den Tieren Äpfel und Karotten zu fressen hinhielten.

Endlich, nachdem sie gut zehn Minuten weitergeschlendert waren, trafen sie auf eine Gruppe von zwölf Männern in konföderierten Uniformen, die unter einem zerfledderten Vorzelt standen. Das Zelt war auf der Seite mit dem Emblem der Einheit verziert.

Kämpfendes 32. Regiment – Komantschen

Als sie sich näherten, drehte der Wind, und Dean schnappte einen Hauch von säuerlichem Körpergeruch und ungewaschenen Haaren auf, in den sich eine stechende Ammoniaknote mischte, wie man sie gewöhnlich eher mit Ausnüchterungszellen oder Pflegeheimen in Verbindung brachte.

Diese Typen nehmen das mit der Authentizität wohl ein bisschen zu genau, dachte Dean insgeheim. Ein Blick zu seinem Bruder verriet ihm, dass der das Gleiche dachte.

Sie kamen bei einem der Pfähle an, die das Segeltuch des Zeltes stützten.

„Hallo, Leute“, sagte Dean.

Die Konföderierten des zweiunddreißigsten Regiments warfen ihm Blicke zu, die so leer und von einer so vollständigen Teilnahmslosigkeit waren, dass die Männer auch problemlos als Schaufensterpuppen durchgegangen wären. Zwei von ihnen säuberten gerade ihre Musketen, während ein dritter sich mitten in der Mittagshitze hingehockt hatte, um sich Wasser aus einer Feldflasche über Gesicht und Nacken zu gießen. Zwei andere versteckten sich geradezu vor Dean und Sam, indem sie ihre Gesichter hinter einer Landkarte aus Pergament verbargen.

„Ich bin Bundesagent Townes“, beharrte Dean. „Dieser alte Bursche hier ist Agent Van Zandt. Ihr Leute habt mit Dave Wolverton gedient, stimmt’s?“

„Richtig“, sagte der Mann, der am nächsten stand. Er war ein großer, schlaksiger Kerl, der ein dichtes, an Stahlwolle erinnerndes Geflecht aus ungekämmtem rotem Haar auf dem Kopf trug. Ein spärlicher Möchtegernbart, der an seinem Hals spross, betonte die Größe seines stark hervortretenden Adamsapfels zusätzlich.

„Wo waren Sie gestern?“, fragte Dean.

Der Mann nickte, und sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er sich eigentlich nicht erinnern wollte.

„Ja, ich war direkt hinter ihm … Vielleicht zehn Schritte während des Angriffs.“ Er starrte in die Ferne.

„Also haben Sie gesehen, was passiert ist?“

„Ja, ich habe es gesehen.“ Er wandte sich wieder an Dean und bewegte die Hand in Richtung der anderen Männer im Zelt. „Das haben wir alle.“

„Und wir haben bereits mit dem Sheriff gesprochen.“ Ein anderer Soldat, einer der beiden mit den Musketen, trat vor. „Wir haben nichts mehr dazu zu sagen.“

Dean betrachtete den zweiten Typen eingehend. Er war ein grüblerischer Bär von einem Mann mit Schultern wie Scheunenbalken. Seine Augenbrauen sahen aus, als ob man sie ihm mit einem dicken Filzschreiber aufgemalt hätte. Er schien seine Rolle ernster zu nehmen als sein Kamerad und reckte Dean herausfordernd sein Kinn entgegen.

Der schüttelte einfach nur den Kopf und weigerte sich, diesen Köder zu schlucken. „Rühren, Lieutenant“, sagte er ganz ruhig. „Ich habe nichts andeuten wollen. Es sind nur ein paar Fragen.“

„Ich bin Private“, grollte der bärige Kerl. „Norwalk Benjamin Pettigrew, CSA, meldet sich zum Dienst.“

„Ist das Ihr richtiger Name“, fragte Sam. „Oder ihr …?“

„Mein was?“

„Ihr Rollenname“, beendete Dean den Satz.

„Das hier ist kein Theater“, widersprach der Stahlwollekopf. „Wir sind alle Geschichtsrekonstrukteure. Ich bin Oren Henry Ashgrove. Wir interpretieren die Geschichte neu. Wir…“

„Mein richtiger Name ist Phil Oiler.“

Das kam von dem Bärenkerl. Dass der die Wahrheit sagte, schien ihm etwas von seiner Bedrohlichkeit zu nehmen und ließ ihn ein wenig in seiner Uniform zusammenschrumpfen. Dean verspürte tatsächlich so etwas wie Mitleid mit ihm. „Ich bin Versicherungsvertreter und komme aus Atlanta“, ergänzte Phil.

„Wie gut kannten Sie Dave?“

„Oh, wirklich gut“, sagte Ashgrove. „Er ist seit Jahren beim Zweiunddreißigsten. Was da passiert ist, das ist so verrückt. Ich meine, er war schon hart drauf …“

„Hart drauf – wie?“, fragte Sam.

„In jeder nur erdenklichen Weise“, mischte Oiler sich ein. „Fürs Erste hat er eine ganze Menge abgenommen. Während des Kriegs hat ein konföderierter Soldat durchschnittlich um die sechzig Kilogramm gewogen. Nachdem er zu uns gekommen ist, hat er zwei Jahre lang eisern nach der Atkins-Diät gegessen, damit er diesem Bild entspricht. Hat sich Steine in die Stiefel gesteckt und sich mit einem rostigen Stück Blech rasiert. Haben Sie das von seiner Uniform gehört?“

„Begeistern Sie mich“, sagte Dean.

„Er war total hart drauf. Hardcore. Die Knöpfe … Er hat sie in seinem eigenen Urin gebadet, damit das Metall auf die richtige Art oxidiert. Er ist derjenige, der das alles ins Rollen gebracht hat.“

„Warten Sie mal“, sagte Dean, dem klar wurde, was für einen Geruch er da vorhin aufgeschnappt hatte. „Sie sagen, Sie pissen auf Ihre eigenen Uniformen?“

„Nicht, wenn wir sie anhaben, aber sonst, ja, sicher.“ Der Gesichtsausdruck des dünnen Kerls grenzte an religiösen Eifer. „Nur so bekommt man es hin, dass sie authentisch aussehen. Ich meine …“ Der ehrfürchtige Tonfall wechselte jetzt in einen beinahe angewiderten. „Du läufst hier durch und siehst, wie ein paar von diesen Witzfiguren ihre Aktienportfolios auf dem Blackberry checken. Die entehren damit die Uniform, wissen Sie. Nicht Dave. Er war einfach so …“

„Hart drauf?“, beendete Sam den Satz.

„Total.“

„Hart genug, um eine scharfe Waffe zu einer historischen Nachstellung mitzubringen? Oder ein scharfes Messer?“

Die Männer schüttelten die Köpfe, aber das schien eher ein Ausdruck von Ungläubigkeit als eine Antwort zu sein. Es war, als ob das, was Sams Worte implizierten, ein derartiges Sakrileg war, dass allein der Gedanke daran ihnen die Sprache raubte.

„Aber Sie haben ihn definitiv schießen sehen?“, fragte Dean. „Und Sie haben gesehen, wie die anderen Soldaten getroffen wurden.“

Ashgrove sagte nichts, aber Oiler zwang sich ein steifes Nicken ab.

„Also muss er eine scharfe Waffe gehabt haben“, sagte Dean. „Wolverton muss die Muskete irgendwie modifiziert haben.“

Er wartete.

„Richtig?“

Keiner der Männer antwortete.

„Wo sind die Waffen jetzt?“

Ashgrove zuckte mit den Schultern.

„Wahrscheinlich im Büro des Sheriffs. Beweismittel.“

„War auf den Waffen irgendwo Blut?

„Da war überall Blut.“

„Ich meine, bevor Wolverton sie benutzt hat.“

Ashgrove starrte sie verwirrt an.

„Warum?“

Bevor Sam antworten konnte, mischte sich ein anderer Soldat ein. Der große, glatzköpfige Mann hatte offensichtlich bei dem Gespräch zugehört und schaute nun hinter der Karte hervor.

„Ich glaube, das ganze Blut kam erst später“, sagte er.

Dean machte einen Schritt auf ihn zu.

„Und Sie sind?“

Der Mann streckte die Hand aus.

„Private Travis Wapshot. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Sie gehören auch dieser Bande an?“

„Den Komantschen? Ja, wir sind eine ziemlich eingeschworene Truppe.“ Travis zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, das hier klingt verrückt. Und, zur Hölle, das ist es wahrscheinlich auch. Aber sind wir verrückter als Typen, die zehn Riesen bei einem wilden Wochenende mit ihrer Sekretärin in Las Vegas verprassen?“ Er blickte auf seine schmutzigen Handflächen. „Unser Dreck lässt sich wenigstens wieder abwaschen.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte Dean. „Der Teil mit der Sekretärin hört sich für mich ganz gut an.“

Travis’ Blick verdunkelte sich.