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Ein Buch über Diabetes mellitus Typ I, muss man das denn lesen? Damian ist gerade einmal zweieinhalb Jahre alt, als Diabetes mellitus Typ I bei ihm ausbricht. Eine Autoimmunkrankheit, die das Leben der Familie erstmal auf den Kopf stellt. Sabrina B. Blut ist keine Medizinerin, keine Ernährungsberaterin oder Ähnliches. Sie ist „nur“ eine liebende Mama. Auf charmante und ehrliche Art und Weise klärt sie uns ein Stück weit über das Leben mit Diabetes mellitus Typ I auf. In kurzweiligen Episoden ermöglicht sie uns einen Einblick in ein Leben mit Typ I Diabetes. Untermalt wird ihre Erzählung durch Statements und Geschichten anderer Betroffener, die alle auf wahren Begebenheiten beruhen. Erleben Sie eine Achterbahn der Gefühle, unterhaltend und aufklärend. Egal, ob Sie selber betroffen sind, einen Diabetiker kennen, oder bisher noch keine Berührungspunkte mit dieser Krankheit hatten, sie werden mit diesem Buch sicher auf ihre Kosten kommen. „Jeder muss seinen Weg finden, um im Leben mit den verschiedensten Herausforderungen fertig zu werden. Unsere ist die Zecke Diabetes Mellitus Typ I.“
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Erfahrungen und Geschichten aus dem wirklichen
Leben eines Typ 1 Diabetikers, seiner Familie und seines nahen Umfeldes
Für Damian, der sich durch nichts unterkriegen lässt, und immer wieder auf seine Füße fällt.
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Wie alles begann...
Von neu und ungewohnt zu verworren bis hin zum Alptraum
Kapitel 2
Wer ist hier der Boss?
Ab in unsere neue Welt…
Kapitel 3
Ostern und andere Abenteuer
Mama allein zu Haus…
Probleme, Probleme, Probleme?
Oma vs. Pen
Kapitel 4
Umfeld des Grauens
Pflicht und Kür
Ein Unglück kommt selten alleine…
Kapitel 5
Wenn einer eine Reise tut…
Durchatmen
Happy Birthday
Neueinstellung
Kapitel 6
Kinder, Kinder, Kindergarten
Jeder hat sein Päckchen zu tragen…
Kindermund tut Wahrheit kund…
Die Sache mit dem Tagebuch…
Kapitel 7
Zucker und andere Schwierigkeiten
Kinderparadies
Ungeschickt…
Kapitel 8
Öfter mal was Neues
Körperpflege
Wenn der Kopf ein Sieb ist…
Eine neue Welt
Erziehung einer Naschkatze…
Kapitel 9
Leiden einer Mutter
Freude
Achtung, wir kommen…!
Arbeiten, oder nicht…?
Kalt, kälter, anstrengender…
Armer Weihnachtsmann…
Kapitel 10
Diabetes neu erleben
Bye, bye Pen; hello Omnipod
Bei Dir piept‘s wohl…
Pures Glück
Autsch
Entscheidungswege
Kapitel 11
Einmal Hölle und zurück, bitte!
Ärzte
Hypo, Hypo
Der orangene Engel
Unglaublich, aber wahr…
Der kleine, aber feine Unterschied…
Ausnahmen
Der etwas andere Realismus und diverse Vorteile
Ansichten…
.
Nachtrag
Danksagung
"Ein Buch über Diabetes mellitus Typ 1 muss man das denn lesen?"
Tja, diese Frage kann ich nicht beantworten, aber jetzt, da Sie das Buch eh schon in der Hand haben ...
Mir bleibt also nur eine Gegenfrage: "Warum nicht lesen? Was können Sie schon verlieren, außer ein paar Stunden ihrer Zeit? Versuchen Sie es doch einfach. Weglegen können Sie es immer noch."
Auf den folgenden Seiten möchte ich keine Fakten durch Zahlen schaffen, die unverständlich sind und vermutlich auf Dauer eher langweilen. Ich möchte, auf charmante und ehrliche Art und Weise ein Stück weit aufklären. Dabei versuche ich die Möglichkeit zu schaffen, die Welt, für einen kurzen Moment durch unsere Augen und vielleicht auch die eines Diabetikers selbst zu sehen.
Und, um zwei Erkenntnisse, um die Sie beim Lesen nicht umhin kommen festzustellen, vorwegzunehmen:
Erstens, Diabetes mellitus Typ 1, von vielen auch nur kurz DM genannt und Diabetes mellitus Typ 2 haben zwar einen ähnlichen Namen, sind aber zwei vollkommen unterschiedliche Krankheitsbilder.
Zweitens, Sie können beruhigt weiter naschen und ihren Tee oder Kaffee mit Zucker süßen. Denn Fakt ist: Eine erhöhte Aufnahme dieser Leckereien schafft vieles, beispielsweise eine Fettleber, den berühmten und allseits ungeliebten Rettungsring, oder auch Karies – um nur einen Bruchteil zu nennen -, aber Diabetes Typ 1 verursacht es in keinem Fall. So viel Macht haben Schokolade, Eiscreme, Gummibärchen und Co. zum Glück nicht.
Auf den folgenden Seiten finden Sie diverse Geschichten und Erlebnisse aus unserem Leben, untermalt durch Statements und Geschichten anderer Betroffener, die alle auf wahren Begebenheiten beruhen.
Unter Umständen werden Sie über das ein oder andere schmunzeln können, während Sie anderes aufregt. Vielleicht aber können Sie sich in der einen oder anderen Situation auch selbst ein Stück wiedererkennen.
Mir bleibt an dieser Stelle nichts weiter als die Hoffnung, dass Sie jetzt, nachdem Sie schon mein Vorwort geschafft haben Lust verspüren, auch den Rest zu lesen ...
Diabetes Typ 1 kann jeden treffen, zu jeder Zeit. Es ist eine Autoimmunkrankheit, die auch gerne als Laune der Natur bezeichnet wird. Wieso, und was genau die Ursache für einen Ausbruch dieser Krankheit ist, ist leider auch nach all den Jahren der Forschung noch unerkannt. Es gibt diverse Vermutungen, jedoch ist die einzige Gewissheit, die man bisher hat, die, dass keiner etwas für seine Erkrankung an Typ 1 Diabetes kann.
Hallo, ich möchte mich zu aller erst einmal vorstellen. Mein Name ist Sabrina B. Blut, und - welch` Überraschung - ich bin die Autorin dieses Buches. Mein Mann Sebastian und ich stellen uns seit mittlerweile acht Jahren der Herausforderung Eltern zu sein und ich möchte behaupten, bisher machen wir unseren Job ganz gut. Leider blieb es nicht alleine dabei, dass wir Eltern geworden sind. Unser Sohn ist ein "süßer Süßer". Im zarten Alter von zweieinhalb Jahren brach die Krankheit Diabetes mellitus Typ 1 bei ihm aus und stellte schon in mancher Situation unser Leben noch ein bisschen mehr auf den Kopf.
Dazu aber an anderer Stelle mehr.
Nach nun über sechs, um nicht zu sagen fast sieben Jahren Leben mit der lästigen Zecke DM, haben mich diverse Ereignisse dazu veranlasst, dieses Buch in Angriff zu nehmen. Sicher, es gibt schon viele Ratgeber zum Thema Diabetes. Kochbücher, Kinderbücher und, und, und. Jedoch beziehen sich diese meist auf den Typ 2 Diabetes.
Dieses Buch allerdings ist anders. Hier geht es nicht nur um Typ 1 Diabetes. Ich möchte versuchen Ihnen einmal eine ganz andere Sichtweise zu ermöglichen. Ich erzähle Geschichten aus unserem Alltag und so ganz nebenbei versuche ich, die eine oder andere Frage zu beantworten.
Ich bin kein Mediziner, kein Ernährungsberater oder Ähnliches. Ich bin nur eine liebende Mama, die hier viel aus ihrer persönlichen Erfahrung spricht, mit dem Wissen, das sie nicht immer alles richtig macht. Die aber jeden Tag aufs Neue versucht, ihr Bestes zu geben.
Jeder muss seinen Weg finden, um im Leben mit den verschiedensten Herausforderungen fertig zu werden.
Hier gelingt es mir, hoffentlich, auf eine unterhaltende Art und Weise, - mit diversen Geschichten aus unserem Leben, untermalt durch Kommentare anderer Betroffener sowie ihrem und unserem Umfeld -, einen möglichst plastischen Einblick in unser Leben zu schildern.
Es sollte ein entspanntes Wochenende im März 2009 werden. Damian, unser Sohn, war noch etwas schlapp und blass um die Nase. Gewundert hat uns das nicht. Schließlich hatte er sich am Freitag im Kindergarten nach Tagen, in denen er flach gelegen hatte mit Fieber, Husten, Schnupfen, etc. endlich mal wieder richtig austoben können. Was sollten wir tun? Er war zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre alt. Anbinden kann man so eine kleine Maus ja eher schlecht. Na ja, jetzt erfuhr er den Preis des übereilten, extremen Tobens ... Vielleicht würde er das nächste Mal besser hören, wenn wir sagten „Übertreib es nicht gleich.“ Warum hatten wir auch seinem Betteln nachgegeben und ihm erlaubt am Freitag in den Kindergarten zu gehen? Sicher, er hat den Kindergarten geliebt, aber eine Glanzleistung war das von uns, der Erzeugerfraktion, sicher nicht. Aber aus Fehlern lernt man ja bekanntlich.
An diesem Wochenende sollte es also möglichst tiefen entspannt zugehen. Vielleicht Waffeln backen und diese genüsslich mümmeln, während wir abwechselnd unserer Maus ihr Lieblingsbuch vorlasen. Dann vielleicht noch ein bisschen Fingerfarben malen und mit Duplo Steinen spannende Sachen bauen. Eben all das, was kleine Zwerge in diesem Alter gerne machen.
Doch irgendwie war Damian dazu nicht zu bewegen. Er kuschelte sich lieber wechselweise mit Mama oder Papa auf die Couch und das war es dann auch schon. Unterbrochen wurden diese Kuscheleinheiten durch regelmäßige und im Nachhinein betrachtet, recht häufige Trink- und Toilettenpausen.
Was waren wir froh, dass er wieder trank. Als er flach gelegen hatte, hatte er definitiv viel zu wenig getrunken. Nur mit Ach und Krach, sowie diversen Tricks, konnten wir ihn die letzten Tage überreden, wenigstens zwischendrin ein bisschen Saft zu trinken. Jetzt würde der Körper sich sicher einfach nur zurückholen, was er brauchte.
Nachts weckten uns dann tapsige Schritte, die ins Schlafzimmer dribbelten und eine zaghafte, deprimierte Stimme mit: "Mama, mein Bett ist nass." Ok, was soll`s, kann ja mal passieren. Also standen wir auf, und während mein Mann das Bett abzog, zog ich unserer Maus den Schlafanzug über die Ohren. Ich erschrak, denn selbst im schwachen Licht, das aus dem Flur in Damians Zimmer fiel, war es nicht zu übersehen. Unsere Maus war extrem dünn. Man hätte meinen können, dass der kleine Mann Werbung für die Welthungerhilfe machen wollte. Schlafanzug an, ab ins frisch bezogene Bett und morgen früh sollte es erst einmal auf die Waage gehen. Die halbe Nacht überlegte ich, warum mir das nicht schon eher aufgefallen war. Eine Antwort fand ich jedoch nicht.
Gesagt, getan. Durch Zufall war der kleine Mann am Freitag erst auf der Waage gewesen, da er die Zahlen, die sie anzeigte, so spannend fand. Sonntagmorgen waren es dann, sage und schreibe zwei Kilo weniger. Während viele Erwachsene sich darüber freuen würden, an einem Wochenende zwei Kilo abzunehmen, ist das für ein Kind nicht ganz so prickelnd. Vor allem, wenn es eh schon ein eher schmales Kind ist. Er war an sich jedoch wieder um einiges besser drauf. Brauchte zwar regelmäßige Pausen, trank dafür aber wieder ordentlich, aß gescheit und machte - bis auf die Sache mit dem Gewicht - einen recht normalen Eindruck. Dennoch wollten wir lieber am Montag früh zum Arzt, und die Sache mit dem Gewicht abklären lassen. Ein Bandwurm aus dem Kindergarten wäre ja eine Erklärung gewesen. Zumindest hört man das ja immer Mal wieder, so was, oder Ähnliches ...
Montagmorgen ging es dann zuerst noch mal auf die Waage. Schon wieder war ein Kilo weg. Jetzt wog unsere Maus noch knapp über acht Kilogramm. Das da etwas nicht stimmen konnte, war klar.
Zum Glück waren die Sprechstundenhilfen sehr nett und schoben uns schnell zwischen, so dass wir nicht allzu lange warten mussten.
Von nun an ging alles sehr schnell. Blutabnahme, Urintest, bis zur körperlichen Untersuchung sollte es nicht mehr kommen. Nachdem der Arzt einen Blick auf die Ergebnisse der Schnelltests geworfen hatte, griff er zum Telefon und rief in der Kinderklinik an. "Ich schicke ihnen die Frau Blut mit ihrem Sohn Damian, in spätestens 25 Minuten sind sie da. Ich schicke sie direkt auf Station, alle Unterlagen und Weiteres faxe ich durch."
Ich saß da, Damian auf dem Schoss und wusste ehrlich gesagt nicht recht, wie mir geschieht. Krankenhaus? Mit Voranmeldung? Hä? Was sollte das? Ich verstand nur Bahnhof. Die Erklärung kam nicht wirklich, und im Nachhinein betrachtet war es auch gut so. Unser Arzt legte auf und fragte mich nur, ob ich in der Lage bin sofort mit dem Kind ins Krankenhaus zu fahren, es ginge um Leben und Tod. Falls nicht riefe er jetzt sofort die Rettung.
Schock!!! Ein Satz, den man nie ernst gemeint im Zusammenhang mit seinem Kind hören will. Die Antwort war klar. Selbstverständlich würde ich sofort losfahren und mein Kind selber in die von ihm genannte Klinik bringen. Ohne Zögern wollte ich alles so machen, wie er es sagte.
Vor der Abfahrt noch ein schneller Anruf bei Sebastian, dem Papa auf der Arbeit. Auch er ließ alles stehen und liegen, und machte sich umgehend auf den Weg in die Klinik.
Da waren wir, auf einem riesigen Klinikgelände im unscheinbarsten und gefühlten ältesten Gebäude des Geländes - dem Trakt der Kinderklinik. Ich werde nie begreifen, warum gerade der Bereich für die Kleinsten irgendwie immer heruntergekommen und gruselig aussieht, man kann und sollte leider eher die Formulierung unfreundlich und leicht verkommen wählen. Zudem noch ein extrem mieser Geruch, der mich an desinfizierte, verstaubte, leicht säuerliche Milch erinnerte. Auch die paar Window Color Bilder am Fenster im Spielraum, in dem wir saßen und warteten, konnten mich nicht von diesem Eindruck abbringen. Zugegeben, das waren sekundäre Gedanken. Primär beschäftigte sich mein Hirn mit der Frage, warum wir jetzt warten mussten. Ich wusste noch immer nicht, was mit unserem Sohn ist, zudem erschien mir jede Sekunde wie unzählige Minuten. Sebastian war in der Zwischenzeit ebenfalls eingetroffen und wir waren uns schnell einig, dass diese Ungewissheit unsere Nerven strapazierte, wie nichts zuvor. Nach weiteren wahren fünf Minuten und gefühlten sechs Stunden wurden wir von einer Schwester in ein Untersuchungszimmer gebeten. Dort wurde unserer Maus dann ein Zugang gelegt und direkt Blut abgenommen. Die ersten Ergebnisse sollten kurz darauf schon feststehen und so brachte man uns in das Zimmer, das wir - laut Schwester - zumindest die nächsten Tage bewohnen würden.
Und da war sie schon wieder, die Warterei, ohne etwas zu wissen. Die Ärzte und Schwestern gaben vermutlich Vollgas, doch wir waren gefangen in der unendlich langsam rinnenden Zeit des Wartens. Damian fragte immer wieder, wann wir den nach Hause könnten und erklärte uns, dass ihm langweilig sei. Tja, auch an ihm ging die Warterei nicht spurlos vorbei und so versuchten wir ihn mit Eigenkreationen unterschiedlichster Spiele zu unterhalten. Der Erfolg war mäßig, und zudem wurde der kleine Mann wieder immer schlapper.
Dann – endlich - kam eine Ärztin ins Zimmer und erklärte uns, dass unser Sohn in jedem Fall zuckerkrank sei, sprich „Diabetes mellitus Typ 1“ hätte. Sein Zuckerwert läge momentan bei 794 mg/dl, er wäre latent übersäuert, sprich hätte eine lebensgefährliche Ketoazidose und es wäre ein Wunder, dass er noch wach sei. Nach ersten Untersuchungen kam heraus, dass sein Immunsystem angefangen hatte, seine inneren Organe zu bekämpfen. Genaueres könnte man uns aber erst in ein paar Stunden nach weiteren Tests sagen.
Da war sie, die Diagnose - Damian war jetzt also ein Diabetiker Typ 1 mit einer lebensgefährlichen Ketoazidose. Es dauerte noch einige Zeit, bis wir Entwarnung bekamen bezüglich der anderen Organe. Gott sei Dank, das Opfer war "nur" die Bauchspeicheldrüse.
Doch was das bedeutete, konnten wir in den ersten Stunden noch nicht recht erfassen. Während Damian über seinen Zugang Insulin, Kochsalz und weitere Mittelchen, erhielt, um seinen Zuckerwert zu senken und die Ketoazidose in den Griff zu bekommen, überlegten wir uns, was es alles noch zu erfragen galt.
Der Zuckerwert eines Gesunden liegt im Schnitt zwischen 80 mg/dl und 120 mg/dl. Man muss kein Arzt sein um zu erkennen, dass 794 mg/dl demnach nicht nur schlecht, sondern extrem übel ist. Auch wussten wir, dass es einen Unterschied zwischen Typ 1 Diabetes und Typ 2 gibt. Vereinfacht ausgedrückt hat der Typ 2 Diabetiker einfach nur vergessen, wie er den von der Bauchspeicheldrüse hergestellten Schlüssel Insulin nutzen muss, um den Zucker zu verwerten. Typ 2 Diabetes wird in Anspielung auf die Vergesslichkeit gerne auch „Alterszucker“ genannt.
Beim Typ 1 Diabetiker hat die Bauchspeicheldrüse die Produktion des lebensnotwendigen Hormons Insulin eingestellt. Ohne das Injizieren von Insulin in das Unterhautfettgewebe kann der Typ 1 Diabetiker nicht überleben, während Typ 2 Diabetes teilweise sogar als heilbar gilt.
Soweit so gut. Aber was bedeutete die Sache mit der Ketoazidose? Und wie würde es jetzt weitergehen?
Ketoazidose ist - so erklärte man uns - der Ausdruck für die Übersäuerung im Körper. Erkennbar ist dies an diversen Anzeichen, wie zum Beispiel Hyperventilation, Müdigkeit, Azetongeruch im Atem, Übelkeit ..., aber auch durch einen hohen Blutzucker und eine große Anzahl an Ketonkörper im Urin.
Insulin dient dazu, den Blutzuckerspiegel zu senken und reduziert zudem die Fettverbrennung. Fehlt das Hormon Insulin, steigt nicht nur der Blutzuckerspiegel immer weiter an, es kommt zusätzlich zu einem extremen Gewichtsverlust innerhalb kürzester Zeit. Ein Nebenprodukt, oder besser gesagt ein Abfallprodukt der Fettverbrennung sind die sogenannten Ketone. Diese Ketonkörper führen im Blut zu einer lebensbedrohlichen Übersäuerung, während der Insulinmangel dafür sorgt, dass ganz einfach ausgedrückt, der Diabetiker isst und isst und dennoch schlichtweg verhungert.
Für Damian stand also somit fest, dass er von nun an in irgendeiner Form Insulin in sein Unterhautfettgewebe bekommen musste. Wir mussten jetzt sehr schnell entscheiden, welche Form das sein sollte. Zur Wahl standen: der Pen, eine moderne und vereinfachte Art einer Spritze oder eine Insulinpumpe. Wir entschieden uns nach Anraten der Ärztin für den Pen, oder besser die Pens. Man erklärte uns, dass ein gesunder Körper zum einen kontinuierlich eine kleine Menge Insulin abgab, auch Basal genannt und zusätzlich noch Mahlzeiteninsulin, sobald wir etwas essen. Bei Diabetikern werden diese zwei Arten in der Regel übrigens Langzeitinsulin, sprich Basalinsulin und Kurzzeitinsulin oder auch Bolus, Mahlzeiteninsulin genannt.
Es hilft einem Diabetiker also nicht - wie viele glauben - einfach auf die Einnahme von Kohlenhydraten zu verzichten, um sich nicht spritzen zu müssen. Der Körper braucht immer Insulin, selbst dann, wenn man es schaffen würde, sich kohlenhydratfrei zu ernähren.
Ein grüner und ein orangener Pen sollten also von nun an Damians beste Freunde sein, oder besser werden. Dazu ein Blutzuckermessgerät, um den Zuckerwert stets kontrollieren zu können, dazu passende Messstreifen, sowie ein Tagebuch, das akribisch mit Blutzuckerwerten, Mahlzeiteninformationen und den berechneten und abgegebenen Insulineinheiten geführt werden sollte. Nicht zu vergessen die sogenannten "Notfall BE`s", wie Traubenzucker, Lutscher oder Gummibärchen, für den Fall einer Unterzuckerung. Das alles, wurde ab diesem Zeitpunkt zu Damians ständigem Begleiter.
Soweit der einfache Teil. Schon am nächsten Tag wollten wir beginnen alles zu lernen, was wir lernen mussten. Zugegeben auch, um möglichst schnell aus diesem tristen Krankenhaus fliehen zu können. Damian war durch den Tropf ans Bett gefesselt und so beschränkten sich unsere Aktivitäten wechselweise auf das Lernen, wie wir mit der Krankheit umzugehen haben und Vorlesen, um die kleine Maus so gut es ging, bei Laune zu halten. Ein Pluspunkt, den nicht jeder Betroffene hat, war, dass wir ein Familienbetrieb sind und mit meinen Schwiegereltern zusammenarbeiten, welche Sebastian sofort freigestellt hatten. Ich war noch im Erziehungsurlaub, wenn auch am Ende, und so konnten wir alles dransetzen, gemeinsam diese schon jetzt hinterlistige Zecke DM, zu verstehen und ein Leben mit ihr zu gestalten. Während also der Eine von uns dem Kind ein Buch vorlas, ging der andere, um zu lernen, wie man das Essen berechnete, et cetera. Bei der nächsten Mahlzeit war es dann andersherum. Kohlenhydrate, Gewichte, Broteinheiten, Nährwerttabellen, schnelle Kohlenhydrate, langsame Kohlenhydrate, Fettgehalte verästelten sich zu einem Dickicht, welches von uns bezwungen werden wollte und musste. Wenn man sich vorher noch nie groß damit beschäftigt hat, glaubt man nicht, dass man sich irgendwann nahezu alles hierzu merken kann und entsprechende Werte ad hoc parat hat. Es ist ein Gewusel aus Zahlen und Fakten, das schon nach wenigen Stunden dafür sorgt, dass der Kopf gefühlt zu einem Ballon angewachsen ist. Wir wurden Bewohner einer neuen Welt, der Welt der Lebensmittel. Und so standen wir da und mussten herausfinden, welche für uns Freund und welche Feind waren.
Jeder Mensch reagiert anders auf bestimmte Lebensmittel, und so verhält es sich bei Diabetikern natürlich auch.
Es gibt für jeden Zuckerkranken bei der Ersteinstellung eine Faustregel, welche zur Umsetzung des Gelernten dient. Nach und nach kristallisieren sich dann noch individuelle Feinheiten heraus, unter dessen Beachtung man irgendwann zu seiner - momentan geltenden – persönlich besten Einstellung gelangt.
Vor dem Essen stand also ab jetzt die Sache mit dem Messen. Das war unsere leichteste Hürde. Damian hatte am zweiten Tag im Krankenhaus genau zugeguckt, wie die Schwester es uns zeigte, und wie wir das dann nach ihren Anweisungen machten, um es dann abends an uns auszuprobieren. Am nächsten Tag hat er mit leichter Unterstützung von uns seinen Zucker das erste Mal selbst gemessen. Das Messen war für ihn irgendwie wie ein Spiel, und so gab es - zumindest im Krankenhaus - damit und deswegen kaum Probleme.
Die Sache mit den Pens sah da allerdings schon um einiges anders aus. Die innere Blockade des Spritzens zu überwinden ist schwerer als man denkt. Während es bei einer Stechhilfe zum Zuckermessen so ist, dass die kleine Nadel versteckt ist und nur im Moment des Auslösens raus schnellt und so schnell sticht, dass man sie nicht sieht, sieht man die Nadel des Pens sehr wohl, und zudem weiß man genau, was man gleich macht. Das sorgt für eine extrem hohe Schwelle, die es zu überwinden gilt.
Selbstverständlich haben wir alles mehrfach genau erklärt bekommen, und dann unseren ersten Patienten gespritzt - eine Banane. An der Banane war es wirklich leicht. Die Schwester stand dabei und erklärte uns, was wir richtig gemacht hatten und was anders vermutlich händelbarer wäre.
Dann sollten wir es einfach mal - ohne Insulin - bei uns versuchen. Eine Bauchfalte halten und uns dann einmal mit der Nadel in die Bauchfalte stechen, um festzustellen, wie es sich anfühlte. Schon das war ein Alptraum und ich muss zugeben, ich habe es de facto nicht geschafft. Ich habe es wirklich versucht, ich wollte wissen, wie das zukünftig für meine Maus sein wird, aber ich habe es nicht geschafft. Ich konnte mich einfach nicht selbst überwinden. Sich diesem inneren Kampf hinzugeben, um dann festzustellen, dass man verliert, ist frustrierend und erschreckend gleichermaßen. Es war eigentlich eine Kleinigkeit, und unser Kind würde diese zukünftig leisten müssen, doch ich versagte dabei kläglich. Ein Moment in dem ich, während ich die Spritze zurückgab, an meinen Qualitäten als Mutter zweifelte.
Sebastian ging es ähnlich, er saß eine ganze Weile da, starrte auf die Nadel am Pen und dann auf seine Bauchfalte, dann wieder auf die Nadel. Letztendlich schaffte er es jedoch sich zu überwinden und - wenn auch nicht wirklich selbstsicher - die Nadel in die von ihm gehaltene Bauchfalte zu stechen. Sein Resümee war, dass es sich zwar nicht so schlimm anfühlen würde, er aber dennoch auf eine Wiederholung gerne verzichten wollten würde.
Zur nächsten Mahlzeit war dann der Moment gekommen, den wir durchaus gefürchtet haben. Wir, genauer gesagt ich, sollte Damian das erste Mal selber spritzen. Unter Aufsicht der Schwester richtete und wog ich das Essen. Es galt die Anzahl der Kohlenhydrate, kurz KH, zu ermitteln, um dann daraus die Broteinheiten, kurz BE, zu errechnen. Zwölf Gramm KH entsprechen einer BE, sechs Gramm KH demzufolge einer halben BE. Jetzt galt es also abzuschätzen, wie groß Damians Hunger war und ob er dementsprechend isst, da ja jeder weiß, wie spannend Krankenhausessen sein kann. Kartoffeln, Nudeln, Soße, etc. mussten dann nach ihrem individuellen Anteil an KHs gewogen und so portioniert werden, dass eine für einen Zweieinhalbjährigen schaffbare Portion entsteht, die zudem noch in BE`s umgerechnet werden kann, welche wiederum in Insulin umgerechnet eine mit einem Pen spritzbare Menge ergab. Unser Pen gestattete zum Beispiel eine Einstellung nur in 0,5er Schritten der Insulineinheiten.
Zum Glück gab es ein schlaues Buch, in dem ich alles nachschlagen konnte und welches ich schnellstmöglich anschaffen wollte.
Ich verstehe durchaus, wenn sie diese letzten Zeilen jetzt noch einmal lesen müssen, und kann ihnen sagen, das erste Essen, das ich zurechtmachen musste, war kalt, bis es bei meinem Sohn auf dem Nachttisch stand.
Nachdem dieser Schritt bewältigt war, musste ich die berechneten BE`s mit einem vom Arzt vorgegebenem Mahlzeitenschlüssel in die Menge Insulin umrechnen, die er nach Ansicht des Doktors momentan für dieses Essen braucht. Bei wem jetzt der Eindruck entstanden ist, dass das auch ein Stück weit einem Ratespiel gleicht, dem sei gesagt, dass er damit Recht hat. Bei der Ersteinstellung, wie man diesen ersten Klinikaufenthalt bei Diabetes mellitus Typ 1 nennt, ist es nichts weiter wie ein fröhliches Faktorraten unter ärztlicher Aufsicht. Man nähert sich Tag für Tag einer Insulineinstellung an, die bis zum nächsten Wachstums- oder Entwicklungsschub bestehen bleibt. Jede hormonelle Änderung des Körpers kann auch eine neue Insulineinstellung unabdingbar machen. Nicht umsonst haben beispielsweise so viele Diabetiker und deren Eltern einen solchen Respekt vor der Pubertät.
Nachdem ich nun unter dem kontrollierenden Blick der Schwester das Essen gerichtet und die abzugebenden Insulineinheiten berechnet hatte, galt es Damians Zuckerwert zu messen und gegebenenfalls eine Korrektur mit in die Insulinmenge einfließen zu lassen. Auch hierzu gab es einen Schlüssel, der uns anleitete.
Dann saß ich da, Damian neben mir und man konnte die Angst in seinen Augen nicht nur sehen, sondern förmlich greifen. Wir hatten zwar versucht ihm im Vorfeld zu erklären, was jetzt kommen würde, doch lagen zwischen der Erklärung und dem tatsächlichen Tun einfach schlichtweg Meilen. Während ich die Luft aus der Spritze drückte, versuchte ich ihn noch einmal behutsam darauf vorzubereiten was kommen würde und ihm klar zu machen, dass ich das tue, weil ich ihn so liebe und nicht weil er irgendetwas angestellt hatte. Ich hielt eine Bauchfalte und stach ihm nach einigem Zögern mit zitternder Hand den Pen in die Falte. Damian weinte und schrie. Und obwohl mir klar war, dass er mehr aus Angst als aus Schmerz weinte, konnte auch ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich sollte das Insulin langsam aus dem Pen drücken und kämpfte innerlich richtig mit mir, mich an diese Anweisung zu halten. Zu gern hätte ich Damian, so schnell es geht erlöst, doch geholfen hätte ich ihm damit nicht. Als es geschafft war, zog ich die Nadel aus dem Bauch und wollte Damian trösten, doch für ihn war ich jetzt erst einmal die Böse. Die Mama, die so was Gemeines und Schlimmes mit ihm gemacht hatte. Sebastian stand am Fußende des Bettes, und auch ihm war sichtlich anzumerken, wie nah ihm dieser Vorgang ging, und das, obwohl er dieses Mal nur der Zuschauer war. Dass zwischen Banane und Mensch ein Unterschied besteht, ist klar. Aber der zum eigenen Kind, ist mit Worten nicht wirklich zu beschreiben. Auch wenn uns klar war, dass es mit der Zeit einfacher werden würde, so werden wir dieses erste Mal sicher nie vergessen. Dieser Moment, der nicht nur an sich für uns alle wirklich hart war, sondern der uns gleichwohl klarmachte, dass es noch viele Hürden und Barrieren zu überwinden geben würde.
Die Erste bestand - neben dem Spritzen selbst - darin, Damian zu erklären, warum wir, die sonst immer versuchen ihn vor Gefahren und Schmerzen zu bewahren, seinen Körper ab jetzt mehrfach täglich mit Nadeln drangsalieren würden.
„Ich bin jetzt seit etwas über einem Jahr 1er Diabetiker. Als die Diagnose gestellt wurde, war mir ehrlicherweise nicht mal klar, was das gerade war. Meine Mutter saß damals mit mir zusammen im Labor der Arztpraxis und fing an zu weinen. Erst da bekam ich das schlechte Gefühl, dass sich mein Leben ändern würde. Als ich dann noch die Spritze sah, wurde mir erst recht schlecht ...“
„Die Krankheit brach kurz nach seinem ersten Geburtstag aus. Die sofortige Behandlung in der Klinik folgte, da er schon kurz vor einem Koma stand. Hier kam es neben vielen Tränen zu einer wochenlangen Einstellung auf die Insulintherapie, Schulungen und zum Erleben der ersten Schritte unseres Kindes ...“
Wir waren jetzt schon knapp zweieinhalb Wochen im Krankenhaus und langsam aber sicher mit unseren Kräften am Ende. Abwechselnd schliefen wir die Nächte mit in der Klinik, wobei man hier von Schlaf nicht wirklich sprechen kann. Jede Stunde wurde der Blutzucker gemessen, um auch für die Nacht eine, oder besser gesagt seine richtige Einstellung zu finden. Erst dann sollten wir an eine Entlassung denken dürfen. Ein wichtiger Punkt, denn gerade am Anfang, wenn man noch unsicher ist, braucht man alle Sicherheit, die man bekommen kann. Die Aussicht auf Schlaf und Erholung wird zur Nebensache, wenn es darum geht zu begreifen, was alles in einem Körper passiert, während er einfach nur da liegt und friedlich schlummert. Sowohl ein Überzucker - Hyperglykämie - als auch eine Unterzuckerung - Hypoglykämie - können fatale Folgen haben, sofern sie unbemerkt bleiben. Und um die Sache mal zu benennen, mit fatal meine ich Folgen bis hin zum Tod. Während der eine also die nächtlichen Messungen vollzog, wartete der andere zu Hause auf den Wert per SMS. Es war wie eine Art Hausaufgabe für denjenigen von uns, der die Nacht zu Hause war. Eine Art Test, den übermittelten Wert richtig zu interpretieren.
Doch gab es auch die ersten schönen Momente, die uns als Eltern immer wieder Kraft gaben. Damian ging es von Tag zu Tag besser. Er verwandelte sich wieder in das fröhliche und lebhafte Kind, dass er vor der Erkrankung war. Blutzuckermessen war weiterhin ein Spiel für ihn, und wenn er nicht wollte, haben wir eines daraus gemacht. Das Spritzen war leider noch immer sehr schwer, für ihn und für uns. Der Tropf verschwand und wir arbeiteten nur noch mit den Pens. Der eine war für das basale Langzeitinsulin, welches wir ihm morgens und abends in das Fettgewebe des Oberschenkels spritzten. Der andere war ausschließlich für das Mahlzeiteninsulin bestimmt, welches in die Bauchfalte gegeben wurde. In diversen Schulungen, die wir besuchen mussten, um mit unserem Kind irgendwann wieder nach Hause zu können, lernten wir unter anderem, dass ein Diabetiker über den Tag verteilt fünf Mahlzeiten zu sich nehmen sollte. Drei Hauptmahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten. Wer jetzt also mitgerechnet hat, dem ist bewusst geworden, dass wir neben dem momentanen stündlichen Zuckermessen noch bis zu sieben Insulinspritzen setzen mussten.
Man erklärte uns in einer, von vielen Schulungen, dass zwischen dem Spritzen des Mahlzeiteninsulins vier Stunden liegen sollten. Was jetzt noch harmlos klang, sollte sich schon bald als echte Herausforderung erweisen. Während des Trubels im Krankenhaus, bei dem wir primär nur auf Anweisungen gehandelt haben, wurde uns die Schwierigkeit dessen nicht bewusst.
Während wir also versuchten, jedes Fitzelchen an Information aufzusaugen wie ein Schwamm, kam unser kleiner Satansbraten auch schon wieder auf spannende Ideen.
Weil ein Kind gerade einmal zweieinhalb Jahre alt ist, heißt das noch lange nicht, dass es nicht mitbekommt, wie der Hase jetzt läuft. Damian hatte sehr schnell spitz bekommen, dass nach dem Messen und Spritzen - bei welchem er zwar noch immer bitter weinte, aber nicht mehr ganz so laut schrie - das Essen kam. Wir hätten stutzig werden sollen, als er relativ ruhig die Spritzerei über sich ergehen ließ. Er wartete ab, was es zu essen gab, rümpfte dann die Nase und sagte: "Das ess` ich nicht. Das ist eklig! Und schmeckt nicht!" Zugegeben, es war der X-te Tag, an dem es Nudeln mit Tomatensoße gab und auch wir fanden das Essen eher fade, aber damit hatten wir nicht gerechnet. Er hatte uns eiskalt erwischt und der schelmische Blick verriet uns, dass er das genau wusste. "Komm Damian, so schlecht, ist es doch gar nicht. Probiere doch erst einmal" versuchte Sebastian ihn zu überzeugen. Keinen Erfolg. Ich versuchte es - typisch Mama - mit sehr geräuschlastigem Füttern a la „Brumm brumm, das Auto will in die Garage“. Das Ergebnis: Damian und das andere Kind im Nebenbett lachten sich schlapp, ich blamierte mich vor der natürlich in diesem Moment eintretenden Schwester und gegessen hatte er noch immer nix. Was sollten wir diskutieren? Das Insulin war abgegeben und würde bald seine Wirkung zeigen. Er musste also langsam etwas essen, um einen Unterzucker zu vermeiden. Also taten wir, was wir tun mussten und fragten ihn, was er denn essen wollen würde. Die Antwort kam prompt und mit einem Grinsen im Gesicht. Zudem war sie eigentlich nicht wirklich überraschend: "Schokopudding!" Da es in einem Krankenhaus nicht nur schwer ist mal eben schnell eine vernünftige Alternative zu zaubern und wir wegen der ganzen Spritzerei ein schlechtes Gewissen hatten, gaben wir nach und er bekam seinen Wunsch erfüllt. Dieser Punkt ging an Damian, im vollen Bewusstsein, dass er diese neu entdeckte Karte vermutlich nicht nur so lange wir hier in der Klinik wären, öfter versuchen würde auszuspielen.
„Ich dachte, ich höre nicht richtig, als meine Tochter das Essen verweigerte. Sie war 12, als die Krankheit bei ihr ausbrach und nachdem ich schweißgebadet mit ihr das Abendessen berechnet hatte und sie sich auch alles brav abgegeben hatte, erklärte sie, dass ich das essen könne. Sie wolle lieber Pizza von der Pizzeria nebenan. Zum Glück kannten die Schwestern diese Problematik schon und waren sehr hilfsbereit.“
Es war so weit, wir hatten es geschafft. Eine Grundeinstellung war gefunden und Damians Übersäuerung Schnee von gestern. Etwas über drei Wochen hatte es gedauert, bis es hieß, dass man uns entlassen würde. So kam der Tag an dem wir vollgepumpt mit Informationen aus zig Schulungen und Gesprächen, sehr vielen gut gemeinten Ratschlägen, einer riesigen Liste von Dingen, die wir uns verschreiben lassen sollten, einem exorbitanten Stoffhasen, den Damian von Spendern des Fördervereins der Klinik geschenkt bekommen hatte, einem frisch auskuriertem Magen-Darm-Virus, den sich unser Kind während seines Klinikaufenthaltes in dem er fast nur ans Bett gefesselt war, eingefangen hat und der Zecke Diabetes, den Weg nach Hause antraten. Ein klasse Moment und ein schrecklicher zugleich. Wir waren unglaublich glücklich endlich nach Hause zu dürfen, und dieses unschöne Ambiente verlassen zu können. Auf der einen Seite fühlten wir uns relativ sicher bei dem was wir gelernt hatten. Aber auf der anderen Seite hatten wir auch Angst Fehler zu machen. Fehler, dessen Konsequenzen vielleicht doch noch nicht in ihrer Gänze von uns erfasst wurden. Aber irgendwann kommt der Tag, da muss man einfach in das kalte Wasser springen und sich der neuen Herausforderung stellen. Als genau das, wollten wir es nämlich sehen. Nicht als Krankheit, sondern als Herausforderung. Wir wollten zusehen, dass die Krankheit, die momentan noch unser Leben bestimmte, nach und nach so weit in den Hintergrund tritt, dass wir wieder die Führung übernehmen konnten. Ob uns das gelingen würde war uns nicht klar, aber einen Versuch war es wert.
Es war ein Freitag und wir wurden gegen Mittag entlassen. Spontan entschieden wir, zur Feier des Tages Mittagessen zu gehen. Ein gewagtes Vorhaben, so frisch entlassen und noch grün hinter den Ohren im Bereich des Wissens um den Diabetes. Aber sollten wir dem Diabetes erlauben, uns in unserer Wahl "wo" wir essen wollten einzuschränken, da er doch schon die Macht über das "wann" zugesprochen bekam? Nein! Das sollte doch bitte unsere Entscheidung sein. Es war so, als würden wir trotzig mit dem Fuß aufstampfen und versuchen den Diabetes zu erziehen. Der erste imaginäre Machtkampf sollte beginnen. Wir wollten den Großeltern eine Freude machen, denn schließlich haben auch sie Tage voller Sorge verbracht, haben versucht uns so gut es geht zu unterstützen und mit Damian gelitten. So entschlossen wir uns, nach der Entlassung aus der Klinik an unserem Laden zu halten, mit den Schwiegereltern Mittag zu essen und dann auf dem Heimweg bei meinen Eltern zu halten und sie so ebenfalls zu überraschen.
Gesagt, getan. Damian durfte sich aussuchen, wo oder besser was er zum Mittag essen wollte. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. In einem nahe gelegenen Lokal war Schnitzeltag. Und genau das sollte es sein. Ein Schnitzel mit Pommes und Ketchup. Was für die einen einfach wie ein leckeres Essen klingt, brachte uns fast zur Verzweiflung. Aber - wir erinnern uns an die Sache mit dem aufstampfenden Fuß - wir würden es hinbekommen. Um uns gegenseitig etwas mehr Sicherheit zu geben, sprachen wir uns ab. "Das Schnitzel ist paniert, was meinst Du, wie müssen wir das berechnen?" "Ich schätze, auf dem Teller sind Pommes im Wert von fünf BE, was meinst Du?" "Und der Ketchup, wir dürfen den Ketchup nicht vergessen." "Was glaubst Du, wie viel schafft er?" "Welchen Zuckerwert hat er?" Für uns war das ein durchaus spannendes Tischgespräch, und ob wir alles richtig gemacht hätten, würde sich beim nächsten Messen zeigen.
Damian schien sich gänzlich seinem Hunger der letzten Tage hinzugeben. Man hätte meinen können, dass er während des Krankenhausaufenthaltes, keinerlei Nahrung bekommen hätte, und verdrückte alles, was wir für ihn vorgesehen hatten. Es war eine wahre Freude ihm dabei zuzusehen. Gesättigt und mit einem Grinsen auf dem Gesicht verabschiedeten wir uns von den Schwiegereltern. Ich vermute, auch sie haben den Rest des Tages ein freudiges Lächeln im Gesicht gehabt und die abfallende Anspannung genossen. Wir haben uns währenddessen auf den Weg zu meinen Eltern gemacht. Damian war auf dem Rücksitz eingenickt und unsere Welt schien in diesem Moment zum ersten Mal wieder in eine richtige Bahn geraten zu wollen.
Angekommen bei meinen Eltern war natürlich auch hier die Freude groß. Damian war extrem gut drauf und flitzte durch die Wohnung. Da in der Zwischenzeit eine Stunde seit dem Mittagessen vergangen war, war es an der Zeit mal wieder den Zuckerwert zu bestimmen. Der Moment der Wahrheit war gekommen und das Messgerät würde gnadenlos sein. Also, Damian ab zum Händewaschen, Streifen in das Gerät, Damian um einen Tropfen Blut seines Fingers erleichtert und fünf Sekunden gewartet, bis die Zahlen Weiß auf Schwarz auf dem Display erschienen. Es kam, was kommen musste. Der Wert lag über 250 mg/dl. Instinktiv schienen Sebastian und ich dasselbe zu denken: Ruhe bewahren und vor dem Kind keine Unsicherheit zeigen.
Wir hatten de facto irgendetwas falsch berechnet, und mussten hier in jedem Fall nochmal später und in Ruhe, das Mittagessen mit unserem besten Freund, dem akribisch geführten Tagebuch, Revue passieren lassen. Doch jetzt galt es erst einmal, zu handeln. Eine Korrektur durften wir nicht abgeben, da die vier