Syrien zwischen Schatten und Licht - Karin Leukefeld - E-Book

Syrien zwischen Schatten und Licht E-Book

Karin Leukefeld

3,9

Beschreibung

Der heutige Nahe Osten ist das Ergebnis eines britisch-französischen Macht-kampfes, der mit dem Geheimabkommen der Diplomaten François Georges-Picot (Frankreich) und Mark Sykes (Groß-britannien) während des Ersten Weltkrieges 1916 begann. Sykes und Georges-Picot zogen "Linien im Sand" von der Hafenstadt Acre bis zur Ölstadt Kirkuk, um ihre Interessen gegeneinander abzustecken. Die so entstandenen neuen Nationalstaaten – Irak, Jordanien, Syrien – sollten im Auftrag des Völkerbundes von den beiden Kolonialmächten der damaligen Zeit unter einem Mandat zur Unabhängigkeit geführt werden. Vom Scheitern dieses Auftrags berichtet das Buch. Es beschreibt wiederholte Aufstände und Versuche der Syrer, ihre Unabhängigkeit zu erreichen, und die immer neuen Bestrebungen regionaler und internationaler Akteure, die Entwicklung Syriens nach eigenen Interessen zu formen. Neben einer umfangreichen Chronologie und Darstellung historischer Ereignisse der letzten hundert Jahre kommen vor allem Syrerinnen und Syrer selber zu Wort. Die von der Autorin in jahrelangen Recherchen zusammen-getragenen Zeitzeugenberichte über Leben, Hoffnungen und Scheitern in Syrien zwischen 1916 und 2016 ermög-lichen den Leserinnen und Lesern über-raschende und berührende Einblicke in ein Land, das erneut zu zerbrechen droht.

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Karin Leukefeld

Syrien zwischen Schatten und Licht

Karin Leukefeld

Syrien zwischen Schatten und Licht

Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land

Rotpunktverlag.

© 2016 Rotpunktverlag, Zürichwww.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Altstadt von Homs, Mai 2014. Foto: Karin Leukefeld Fotos: Karin Leukefeld Bildbearbeitung: Widmer & Fluri GmbH, Zürich

epub ISBN 978-3-85869-700-41. Auflage 2016

Inhalt

Einleitung

1916–1925: Vom Ersten Weltkrieg bis zum französischen Mandat

Das große Sterben

Yusif Sayigh: Kindheit zwischen Mittelmeer und Berg der Drusen

1926–1946: Das französische Mandat in Syrien

Teilen und herrschen

Antoun Saadeh: Der Traum von Bilad ash-Sham

1947–1963: Von der Unabhängigkeit zur Vereinigten Arabischen Republik

»Einheit, Freiheit und Sozialismus«

George Jabbour: Das Zeitalter 2254

1963–1973: Vom Ende der VAR zum zweiten Krieg mit Israel 1973

Kriege und Niederlagen

Ali Boray: Die verlorene Heimat auf dem Golan

1974–2000: Die Ära Hafiz al-Assad

Von den Alawitenbergen an die Macht

Händler auf der Geraden Straße von Damaskus: Vom Bab Scharqi zum Bab al-Jabiya

Damaszener Kunsthandwerker aus aller Welt: Jeder Mensch hat zwei Zuhause

ANAT – Ein Frauenprojekt: »Alle arabischen Länder sind meine Heimat«

2001–2010: Bashar al-Assads Präsidentschaft und der »Islamische Staat«

Aufbruch mit Hindernissen

Gabriele und Schafik Hamzé aus Sweida: Friede sei mit diesem Haus

2011–2016: Vom »Arabischen Frühling« zur Katastrophe

Die große Zerstörung

Jugend heute in Syrien: Auf dem Weg in eine unsichere Zukunft

Hundert Jahre Syrien 1916–2016

Literaturverzeichnis

Begriffserklärungen

»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.«

(Marx/Engels 1885)

Einleitung

Frühsommer 2011. Auf dem Dach eines Hotels in Beirut wird gefeiert. Michael Jansen, langjährige Korrespondentin der Irish Times im Mittleren Osten, hat Freundinnen und Freunde eingeladen, die sie persönlich und beruflich ein halbes Jahrhundert begleitet haben. So lange lebt und arbeitet sie schon in der arabischen Welt. Die Diskussionen drehen sich um den »Arabischen Frühling« und besonders um die Ereignisse in Syrien, wo seit März eine Protestbewegung das Land und die ganze Region in Atem hält. Alle Gäste haben familiäre und/oder berufliche Verbindungen mit Syrien. Bald gehen die Erinnerungen zurück in eine Zeit, als noch keine Grenzen den Libanon und Syrien trennten, als es den Staat Israel noch nicht gab. Als man noch von Damaskus auf einen Besuch nach Jerusalem fahren konnte und Eltern in Bagdad, Damaskus oder Bethlehem ihre Kinder, auch ihre Töchter, zum Studium an die Amerikanische Universität (AUB) nach Beirut schickten, wenn sie es sich leisten konnten.

Michael Jansen – ihr Vater hatte sie »Michael« genannt, weil er eigentlich einen Jungen haben wollte – war 1961 als junge Politikstudentin aus den USA nach Beirut gekommen, um beim UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) ein Praktikum zu machen. Die Organisation war am 8. Dezember 1949 vom UN-Sicherheitsrat gegründet worden, um palästinensische Flüchtlinge zu unterstützen. 700 000 Palästinenser waren heimatlos geworden, als der Staat Israel 1948 gegründet wurde.

Michael schloss ihr Grundstudium in den USA ab und kehrte nach Beirut zurück, an die AUB. Sie lernte ihren Ehemann kennen, der Korrespondent des Economist war, eine Tochter wurde geboren. Den Beginn des libanesischen Bürgerkrieges 1975 erlebte die Familie in einem kleinen Dorf in den Bergen östlich von Beirut. Mörsergranaten flogen aus allen Richtungen mal über das Dorf hinweg, mal in das Dorf hinein. Die Fahrt nach Beirut, von wo ihr Mann und sie ihre Berichte verschicken mussten, wurde lebensgefährlich. 1976 floh die Familie nach Zypern. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie dort und bereist bis heute unermüdlich den »Muddle East«, wie sie manchmal scherzhaft sagt: den verworrenen Osten.

Anfang der 1960er-Jahre war die Zeit der Ost-West-Konfrontation, aber auch der politischen Aufbrüche. In Berlin wurde die Mauer gebaut, Europa wurde geteilt. USA und UdSSR, die NATO und der Warschauer Block rüsteten auf. Auch in der arabischen Welt waren die Auswirkungen dieser Konfrontationen zu spüren. Der arabische Nationalismus begeisterte die Massen, die den Verrat von Briten, Franzosen und den USA nicht vergessen hatten: Die Teilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg, die französische und die britische Mandatsherrschaft, die Verweigerung der selbstständigen Entwicklung einer arabischen Nation und die westliche Hilfe bei der Gründung des Staates Israel, die Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser heimatlos gemacht hatte. Doch es gab auch politische und wirtschaftliche Eliten, die nicht ihre Rechte durch Israel, sondern ihren Besitzstand durch den Aufbruch der arabischen Massen gefährdet sahen. Die christliche Gemeinschaft der Maroniten hatte seit Langem einen eigenen Staat gewollt und nicht nur in Frankreich ihre Schutzmacht gefunden. Für sie schien der arabische Nationalismus eine Bedrohung.

Die junge Generation in den arabischen Ländern aber war begeistert, es herrschte Aufbruchstimmung. Die AUB in Beirut brodelte. Ständig wurde gelesen und diskutiert, kaum ein Ort in der Levante, wo die unterschiedlichen Interessen von Ost und West so sehr aufeinanderprallten. Doch jenseits des politischen Blockdenkens entstand ein dichtes, buntes Gewebe von Menschen, die von den großen Ideen der damaligen Zeit überzeugt waren: dem nationalen Unabhängigkeitskampf kolonisierter Völker, Gleichberechtigung der Frauen und von der Überwindung der Grenzen zwischen dem reichen Norden und dem abhängig gehaltenen Süden, vom gerechten Frieden.

Die meisten Gäste an diesem Frühsommerabend 2011 haben sich in dieser Zeit an der AUB in Beirut kennengelernt.

Sofia Saadeh, die Tochter von Antoun Saadeh, der in den 1930er-Jahren gegen das französische Mandat, für ein Großsyrien und die Gleichberechtigung aller dort lebenden Menschen eingetreten war, ungeachtet ihrer Herkunft und Religion.

Sawsan Jabri, deren Vater Rashad Jabri Anfang der 1950er-Jahre Gouverneur von Damaskus war. Ihr Elternhaus, ein geräumiges altes Damaszener Haus mit einem großen Innenhof, Orangenbäumen und einem Brunnen, steht im Herzen der Altstadt und ist heute ein viel besuchtes Restaurant.

Rosemary Sayigh, die mit ihrem Ehemann, dem Wirtschaftswissenschaftler Yusif Sayigh, zu den genauesten Chronisten palästinensischer Politik und palästinensischen Lebens gehört.

Anni Kanafani, die mit einer Stiftung für Kinder an den palästinensischen Schriftsteller Ghassan Kanafani erinnert. Das Paar hatte 1961 geheiratet, Ghassan Kanafani wurde 1972 durch eine Autobombe in Beirut ermordet.

Nora Shawwa, Palästinenserin aus Gaza, vertrieben 1967. Sie lebte in Kuwait mit ihrer Familie und wurde 1991 infolge des Irakkrieges aus dem Emirat vertrieben. Auf Zypern konnte sie mit einem Verlag eine neue Existenz gründen. Mit Romanen und Büchern zum Zeitgeschehen, mit Kinder- und Kunstbüchern hält sie die Erinnerung an ihre palästinensische Heimat, Geschichte, Kultur des Mittleren Ostens und des östlichen Mittelmeerraumes lebendig.

Da ist Ma Radi aus Bagdad, die nach Beirut gekommen war, als ihr Mann in den 1950er-Jahren irakischer Botschafter im Libanon war. Sie hat einen Korb voller süß duftender Gardenien mitgebracht, die sie an alle verteilt, während sie sich selbst einige ins Haar gesteckt hat.

Nicht gekommen sind andere Freundinnen aus Bagdad, aus der Familie Gailani, Nachfahren des Islamgelehrten, Sufi und Gründers des Qadiriya-Ordens im 12. Jahrhundert. Amal Gailani, die Tochter von Rashid Ali, der in den 1940er-Jahren eine Revolte gegen die britische Mandatsmacht im Irak führte. Und Lamia Gailani, Archäologin, die nach der Plünderung des irakischen Nationalmuseums in Bagdad 2003 geholfen hatte, die Schäden zu dokumentieren.

Und auch George Jabbour und seine Frau Mariya aus Damaskus haben sich entschuldigt. Sie wollten in der Zeit der Unruhe ihre Heimat nicht verlassen.

Syrien, Irak, Libanon, Palästina – für die Festgesellschaft an diesem Abend sind diese Länder ihre Heimatländer, auch für die Zugereisten, die nach ihrer Ankunft in der Levante blieben. »Jeder Mensch hat zwei Zuhause«, so ein syrisches Sprichwort, »das erste ist das Geburtsland, das zweite ist Syrien.« Gemeint ist damit vielleicht am ehesten ein Gespür, eine Offenheit, Distanz und Freundlichkeit zugleich, die dem Fremden in Syrien begegnet, wenn er dafür offen ist.

Jeden willkommen zu heißen, ist Tradition in dieser Region, die man einst den »Fruchtbaren Halbmond« genannt hat. Dieses Gebiet erstreckt sich vom Nildelta entlang der östlichen Mittelmeerküste über Palästina und Syrien nach Norden, zieht sich über die beiden großen Wasserläufe Euphrat und Tigris nach Osten und Süden durch Mesopotamien, das »Land zwischen den zwei Strömen«, den heutigen Irak, bis dorthin, wo beide Flüsse vereint als Schatt al-Arab (Küste der Araber) in den Golf fließen. Das Gebiet hat die Form eines Halbmondes und war wegen seines Wasserreichtums Ursprung menschlicher Zivilisation und Hochkulturen. Handelsstraßen verbanden das Mittelmeer mit dem fernen Osten (Seidenstraße) und den Süden der Arabischen Halbinsel mit dem Mittelmeer (Gewürzstraße). Altertümer, die in Jahrzehnten in mühsamen Ausgrabungen zutage gefördert wurden, legen Zeugnis über die Entstehung und den Untergang großer Reiche ab. Das über Jahrtausende entstandene Wissen in Medizin, Astronomie, Architektur, Schrift, Kunsthandwerk, Wasserwirtschaft und Rechtswesen eigneten sich Römer, Griechen und schließlich auch die Europäer an. In der Kultur des »Fruchtbaren Halbmondes« sind die Erfahrungen tief verankert.

Jeder neue Griff nach der Region – ob durch Krieg, Plünderung, Besiedlung oder Besatzung, durch Grenzen, die gezogen oder wieder aufgehoben werden – droht, diese Erfahrungen, diese Kultur zu zerstören. Die Gäste an diesem Abend 2011 haben es an sich selbst oder in ihrer Familie erlebt. Keiner lebt mehr in seiner ursprünglichen oder – als Zugereiste – in der gewählten »zweiten« Heimat, durch Gewalt haben sie Angehörige und Freunde verloren. Fast alle wurden durch neue und willkürliche Grenzen, Krieg und Verfolgung vertrieben. Sie haben Aufbrüche, Umbrüche und viel Ungerechtigkeit erlebt, das Gegenteil von dem, wofür sie als junge Studierende angetreten waren. Doch alle sind geblieben. Ob im Herzen, in Gedanken, durch die Arbeit oder weil sie hier wohnen: Hier ist ihr Zuhause, solange sie leben. Und – wenn ihre Geschichte erzählt wird – auch darüber hinaus. Wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.

Die Sommernacht entfaltet ihr unendliches Sternenzelt über der Festgesellschaft und ihren Geschichten, die mit dem leichten Nachtwind hin- und herwehen. Freude und Traurigkeit sitzen zwischen den Freunden am langen Tisch. Als die Zeit zum Abschiednehmen gekommen ist, steht der Mond hoch über der Stadt. Niemand weiß, ob und wann man sich Wiedersehen wird. Manche sind alt und krank, viele leben weit von ihrer Heimat entfernt auf anderen Kontinenten. Angst vor einem neuen Krieg in und um Syrien begleitet sie alle.

1916-1925: Vom Ersten Weltkrieg bis zum französischen Mandat

Das große Sterben

Eine Frau trägt ein Bündel auf den Armen. Ihr Kopf ist mit einem Tuch bedeckt, ihrem Gesicht ist die Anstrengung anzusehen, die ihr der Weg bereitet. Sie geht auf einer unbefestigten Straße, es ist staubig. Ihr folgen eine weitere Frau mit einem weißen Kopftuch, ein Kind, ein Mann und dahinter noch eine dritte Frau. Im Hintergrund sind weitere Menschen zu sehen, es sind Kinder. Ein Reiter scheint den Zug der erschöpften Menschen zu bewachen. »Armenische Vertriebene, Frauen, Kinder, ältere Menschen«, lautet die Unterschrift dieses Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Jahre 1915. »Die Frau im Vordergrund trägt ihr Kind in den Armen, sie schützt es vor der Sonne mit einem Schal. Der Mann zur Linken trägt Bettzeug, keine anderen Habseligkeiten oder Nahrungsmittel sind zu sehen. Alle gehen in der Sonne, auf einer unbefestigten Straße, sie haben nichts, um sich vor den Elementen zu schützen.« Als Ort der Aufnahme wird angegeben: »Osmanisches Reich, Region Syrien«. Ein weiteres Schwarz-Weiß-Foto zeigt zwei am Boden liegende Kinder. Barfuß liegen sie da, als schliefen sie. Die Füße sind bandagiert. Der Fotograf, der die Aufnahme vor einhundert Jahren machte, weiß mehr als der Betrachter dieser Tage. »1915–1916« datiert die Bildunterschrift die Aufnahme. »Zwei Jungen mit bloßen und bandagierten Füßen sind in der offenen Wüste verhungert.« Als Ort der Aufnahme wird auch hier »Osmanisches Reich, Region Syrien« angegeben.

Fotograf dieser Bilder war der deutsche Schriftsteller Armin T. Wegner, der während des Ersten Weltkrieges als Unteroffizier einer Deutsch-Ottomanischen Sanitätsmission in Ostanatolien am Euphrat und in der mesopotamischen (syrisch-arabischen) Wüste stationiert war. Er dokumentierte die Ströme armenischer Flüchtlinge, die zwischen 1915 und 1917 aus dem Südosten der Türkei in die syrische Wüste verjagt wurden. Bis zu 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier fanden auf diesen Märschen den Tod.

Ein armenisches Reich wird in den Geschichtsbüchern erstmals im Jahre 70 vor unserer Zeitrechnung westlich des Urmiasees im heutigen Iran bekannt. Die armenischen Siedlungsgebiete dehnten sich nach Westen über den Vansee hinaus. Seit dem 8. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung erstreckt sich das Siedlungsgebiet der Armenier zwischen dem Kaspischen Meer im Osten, dem Schwarzen Meer im Norden und dem Mittelmeer im Westen. Zwischen 1080 und 1375 festigten sie ihre Macht im Königreich Kilikien, das geografisch im Südosten der heutigen Türkei und in der Levante, dem heutigen Syrien, Libanon und Israel/Palästina, lag.

Als Augenzeuge des osmanischen Vernichtungsfeldzuges gegen die Armenier war Wegner entsetzt. Weil die osmanischen Behörden es verboten hatten, von den Gräueln Fotos zu machen, fotografierte Wegner heimlich. »Unter der Leibbinde versteckt« habe er die Bilder später »über die Grenze geschmuggelt.« Nach seiner Rückkehr (1919) hielt Wegner Vorträge in Deutschland, Österreich und in der Schweiz über das, was er gesehen hatte. Dabei zeigte er hundert Schwarz-Weiß-Bilder, die das Geschehen dokumentierten. In einem offenen Brief mit dem Titel: »Über die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste« wandte er sich an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. »Verschließen Sie Ihre Ohren nicht, weil ein Unbekannter zu Ihnen redet«, beginnt der Brief, der mit »Berlin, Januar 1919« datiert ist und am 23. Februar 1919 im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurde. Wegner bezog sich auf eine Rede Wilsons, die dieser bereits ein Jahr zuvor, am 8. Januar 1918, vor dem US-Kongress gehalten hatte. Darin hatte der US-Präsident in 14 Punkten eine »Friedensordnung für das vom Krieg zerstörte Europa« formuliert. Vorschläge, die die USA dann auch auf der Pariser Friedenskonferenz (1919/20) einbrachten.

In diesen 14 Punkten plädierte Wilson unter anderem für Offenheit und Transparenz internationaler Abmachungen und Diplomatie, Freiheit der Schifffahrt, internationale Kontrolle der Dardanellen, Aufhebung wirtschaftlicher Schranken und gleichberechtigte Handelsbedingungen aller Staaten, die den Friedensvertrag unterzeichnen würden, Beschränkung der Rüstung. Es ging um die Bildung eines »allgemeinen Verbandes der Nationen«, um das Verhältnis zu Russland, die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Belgiens und Frankreichs, Grenzfestlegungen für Italien und die nationale Autonomie der »Völker Österreichs und Ungarns«. Auch Rumänien, Serbien und Montenegro müssten von Besatzungstruppen geräumt werden, und ein »unabhängiger polnischer Staat« solle geschaffen werden.

Bezugnehmend auf die ehemaligen Provinzen des zerbrochenen Osmanischen Reiches und die dort lebenden nichttürkischen Völker, schlug Wilson (Punkt 12) vor: »Den türkischen Teilen des jetzigen Osmanischen Reiches sollte eine unbedingte Selbstständigkeit gewährleistet werden. Den übrigen Nationalitäten dagegen, die zurzeit unter türkischer Herrschaft stehen, sollte eine zuverlässige Sicherheit des Lebens und eine völlig ungestörte Gelegenheit zur selbstständigen Entwicklung gegeben werden.«

Wegner bezog sich in seinem offenen Brief an Woodrow Wilson auf diesen Punkt und schrieb: »Zu diesen Völkern gehört ohne Zweifel auch das armenische. Diese Nation ist es, für die ich rede.« Mit drastischen Worten beschreibt Wegner dann das Versagen der europäischen Staaten angesichts des »unfassbaren Planes« der türkischen Regierung, »zwei Millionen Armenier vom Erdboden auszurotten«. Ein ganzes Volk, »Männer, Frauen, Greise, Kinder, schwangere Mütter, unmündige Säuglinge«, sei in die arabische Wüste getrieben worden, »mit keiner anderen Absicht als der, sie verhungern zu lassen«. Das alles sei aber »nur ein Bruchteil von dem, was ich selbst gesehen habe«. Wilson solle die »erhabene Idee, den unterworfenen Völkern Hilfe zu bringen, in der Tat zur Richtschnur« seiner Politik machen und sich für die Armenier einsetzen. Den Armeniern müsse ein eigener Staat zugestanden werden, der in den traditionellen Siedlungsgebieten der Armenier liegen solle.

In dem Brief verweist Wegner auch auf die Interventionen des deutschen Theologen Johannes Lepsius, der bereits im Juli 1916 den »Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei« an die deutsche Regierung und das Parlament verfasst hatte; dieser Bericht war kurz darauf, im August 1916, von der deutschen Militärverwaltung verboten und beschlagnahmt worden. Lepsius hatte schon die Massaker an Armeniern (1894–1896) im Osmanischen Reich erlebt und damals das Armenische Hilfswerk gegründet. Mit Anlaufstellen in der Türkei, Persien und Bulgarien ermöglichte das Hilfswerk den Verfolgten Unterstützung und Transit nach Westeuropa. 1914 gründete Lepsius in Berlin die Deutsch-Armenische Gesellschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg unterstützte das Hilfswerk Flüchtlingsheime und Waisenhäuser in Syrien und im Libanon. Als im Norden Syriens erste Siedlungen für die vor der Vernichtung geflohenen Armenier entstanden, half Lepisus ebenfalls.

Eine Reaktion von US-Präsident Woodrow Wilson auf den Brief Wegners ist nicht bekannt. Doch mit seiner unermüdlichen Öffentlichkeitsarbeit für die Sache der Armenier weckte Wegner das Interesse vor allem von Intellektuellen und Schriftstellern in Deutschland. Der Schriftsteller Franz Werfel, der mit Wegner befreundet war, reiste 1930 mit seiner Frau Alma Mahler-Gropius nach Syrien, wo er Armenier in Flüchtlingslagern und Waisenhäusern traf und ihre Geschichten notierte. Unter Verwendung von Protokollen und Augenzeugenberichten aus der damaligen Zeit, die ihm sowohl Wegner als auch Lepsius zur Verfügung gestellt hatten, verfasste Werfel den Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, der im November 1933 erschien. In Österreich und in der Schweiz wurde der Roman gefeiert, in Deutschland hingegen wenige Monate nach Erscheinen verboten. Die Bücher Werfels ebenso wie die von Armin T. Wegner wurden von den Nationalsozialisten verbrannt.

Heiliger Krieg für den Deutschen Kaiser

Während Wegner, Lepsius und andere vergeblich versucht hatten, auf den Völkermord an den Armeniern aufmerksam zu machen, und Hunderttausende Menschen aus dem Südosten der Türkei nach Syrien und bis in den südlichen Irak flohen, führte das Deutsche Reich zusammen mit dem verbündeten Osmanischen Reich Krieg gegen Frankreich und Großbritannien. An der deutschen Botschaft in Konstantinopel war zu dieser Zeit der Sohn einer bekannten Kölner Bankiersfamilie beschäftigt. Max von Oppenheim hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts in Syrien als Archäologe gearbeitet und im Norden Syriens die historische Siedlung Tell Halaf gefunden. Bei seinen Grabungen hatte von Oppenheim enge Kontakte zu Beduinenstämmen geknüpft und sprach teilweise auch deren Sprachen. Schon mit dem Bau der Berlin-Bagdad-Bahn (ab 1898) hatte der deutsche Kaiser Wilhelm II. seine kolonialen Ambitionen im Mittleren Osten und darüber hinaus deutlich gemacht. Die Region, die auch von Frankreich und Großbritannien beansprucht wurde, hatte für Berlin eine strategische Bedeutung. Um Briten und Franzosen zu destabilisieren, sollten die Muslime in den britisch-französischen Einflussgebieten zu Aufständen angestachelt werden. Wegen seiner engen Kontakte zu den Beduinenstämmen erschien Max von Oppenheim dem Auswärtigen Amt dafür der richtige Mann zu sein. 1914 wurde er an die Botschaft in Konstantinopel geschickt, wo er die »Nachrichtenstelle für den Orient« aufbaute und leitete, einen deutschen Geheimdienst für den Mittleren Osten.

Von Oppenheim wollte die tiefe Gottesgläubigkeit der Muslime militärisch nutzen und schlug vor, den »Heiligen Krieg«, den Jihad der Muslime, gegen Großbritannien und Frankreich anzufachen. In seinem Strategiepapier »Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde«, das er im Oktober 1914 vorlegte, führt von Oppenheim aus, dass den Muslimen im Gegenzug für ihren Kampf gegen Frankreich und Großbritannien die Unabhängigkeit der arabischen, islamischen Gebiete angeboten werden sollte. Das Konzept von Oppenheims war, den Krieg mit Truppen an der Front und durch völkisches Aufbegehren »in der Tiefe« des gegnerischen Terrains zu führen. Die neu gegründete »Nachrichtenstelle für den Orient« erhielt die Aufgabe, entsprechendes Propagandamaterial zu erstellen und zu verbreiten. Das Projekt scheiterte aus verschiedenen Gründen. Es fehlte an Personal, es mangelte an der Bereitschaft zum Aufstand bei den möglichen Bündnispartnern, den Stämmen, und schließlich verhandelten auch die Briten mit den Anführern der arabischen Nationalbewegung, die sie in ihre Kriegspläne gegen die Osmanen und die Deutschen einspannen wollten.

Das Sykes-Picot-Abkommen

Die Aufteilung des Osmanischen Reiches in französische und britische Interessensgebiete.

Während Wegner die Gewalttaten an den Armeniern dokumentierte und von Oppenheim Pläne für einen islamistischen Aufstand entwarf, trafen sich im Dezember 1915 in London heimlich zwei Männer, um über die Interessen ihrer Nationen in der Region zu verhandeln. Der Brite Sir Mark Sykes war Diplomat der britischen Krone, der Diplomat François Georges-Picot vertrat die Interessen Frankreichs. Beide Staaten sahen sich bereits als Sieger des Ersten Weltkrieges, der mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches enden würde. Sykes und Georges-Picot verhandelten über den künftigen Grenzverlauf, der die jeweils britische und französische Interessenzone markieren sollte.

Mark Sykes war bereits als Kind mit seinen Eltern Ende des 19. Jahrhunderts durch Ägypten und Palästina gereist. Die Reisen setzte er zeit seines Lebens fort, und er verfasste verschiedene Bücher. Es folgte eine Karriere als Offizier und Honorarattaché an der britischen Botschaft in Konstantinopel. Als Konservativer wurde er ins Unterhaus gewählt und übernahm Aufgaben im »Kriegsamt« (heute Verteidigungsministerium) der britischen Regierung und später im »Arabischen Büro« in Kairo. Während des Ersten Weltkrieges war Sykes für »Aufklärung und Propaganda« zuständig. Der Zerfall des Osmanischen Reiches zeichnete sich rasch ab, und Mitte Dezember 1915 forderte die britische Regierung Sykes auf, Vorschläge zu unterbreiten, wie ein Konflikt mit Frankreich bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Krieg vermieden werden könne.

Sykes war um eine Antwort nicht verlegen. »Ich würde eine Linie vom e in Acre bis zum letzten k in Kirkuk ziehen«, so sein Plädoyer. Nördlich der Linie könne Frankreich seine Interessen definieren, südlich davon Großbritannien. Die Briten – die bereits in Ägypten saßen – waren aus strategischen Gründen als Kolonialmacht an der Kontrolle von Palästina, Transjordanien, dem Jordantal und den arabischen Anrainerstaaten des Persisch-Arabischen Golfs und Bagdad interessiert. Dabei ging es vor allem um die Kontrolle wichtiger Häfen und Meerengen: Haifa, Basra, Suezkanal, Persisch-Arabischer Golf. Die Straße von Hormus kontrollierten die Briten bereits indirekt durch ihre Stützpunkte im Sultanat Oman, zu dem sie über Jahrzehnte gute Beziehungen aufgebaut hatten. Die Stadt Jerusalem sollte unter internationale Kontrolle gestellt werden. Die britische Regierung stimmte dem Vorschlag von Mark Sykes zu und beauftragte ihn, mit den Franzosen zu verhandeln.

Sykes’ französischer Verhandlungspartner war François Georges-Picot. Er stammte aus einer Familie, die dem französischen Kolonialismus zutiefst verbunden war. Der Vater hatte das Comité de l’Afrique Française gegründet, das sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts für französische Einflussgebiete in Afrika eingesetzt hatte, die »noch herrenlos waren«. François Georges-Picot und sein Bruder Charles waren Mitglieder des Comité de l’Asie Française, das sich vor allem dafür einsetzte, dass Syrien, Libanon und Kilikien (Sanjak Alexandrette) unter französische Kontrolle kommen sollten. Palästina und Jerusalem sollten unter internationale Kontrolle gestellt werden.

Und so kam es. Schon im Januar 1916 hatten die beiden Diplomaten sich geeinigt, im Mai wurde das Geheimabkommen in London und Paris ratifiziert. Acre oder Akko ist eine kleine palästinensische Hafenstadt, die am nördlichen Ufer der Bucht von Haifa im heutigen Israel liegt. Schon die Kreuzfahrer hatten den Hafen von Acre wegen seiner strategischen Lage zur Levante geschätzt. Kirkuk war damals eine unscheinbare Handelsstadt, unweit der Grenze zu Persien. In der Stadt lebten Muslime und Christen, Kurden, Araber und Turkmenen. 1902 hatten erste Ölbohrungen begonnen, die allerdings erst 1927 zum Fund des zweitgrößten Ölfeldes im Irak führten. Heute ist Kirkuk eine umkämpfte Ölmetropole im Nordirak und liegt unweit der Grenze zum heutigen Iran.

Großbritannien spielte ein doppeltes Spiel im Mittleren Osten. Einerseits wurde das geheime Sykes-Picot-Abkommen mit Frankreich unterzeichnet, andererseits verhandelte London mit dem arabischen Haschemitenstamm aus dem Hejaz, den es als Bündnispartner im Kampf gegen die deutschen und osmanischen Truppen gewinnen wollte. In einem als »Hussein-McMahon-Korrespondenz« bekannt gewordenen Briefwechsel (1915/16), stellte der damalige Hochkommissar Großbritanniens in Kairo, Henry McMahon, dem Führer der Araber im Hejaz und Hüter der Heiligen Stätten (Sherif) von Mekka, Hussein ibn Ali, die Gründung eines unabhängigen arabischen Staates in Aussicht, sollten sie an der Seite Großbritanniens kämpfen. Abdullah, der Sohn von Hussein ibn Ali, stimmte im Namen seines Vaters zu. Kontaktperson der Briten zu den arabischen Stämmen wurde T. E. Lawrence, der im Laufe seiner Mission als »Lawrence von Arabien« ein engagierter Verfechter der arabischen Unabhängigkeit wurde.

Britische Waffen, Munition und Geld begannen in den Hejaz zu fließen. Wenige Wochen nach der Unterzeichnung des geheimen Sykes-Picot-Abkommens begann im Juni 1916 die arabische Revolte, die – mit Unterstützung von Kämpfern des Drusenführers Atrash – schließlich die osmanische Armee und ihre deutschen Verbündeten aus Palästina und Syrien vertrieb. Die Briten nutzten bei ihren Vereinbarungen mit den arabischen Stämmen eine Tendenz aus, die in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches verschiedene Gesichter erhalten hatte. Nationales Bewusstsein und nationale Bewegungen in der Region waren im Aufschwung. In der Türkei waren die Jungtürken entstanden, in Paris hatten arabische Nationalisten sich zu al-Fatat zusammengeschlossen. Auch unter den Kurden regte sich nationales Bewusstsein, was in den 1920er-Jahren zu Aufständen führen sollte.

Besonders stark trat die zionistische Nationalbewegung auf, die in Palästina einen jüdischen Staat gründen wollte. Der Zionismus war als Reaktion auf einen in Europa weitverbreiteten Antisemitismus entstanden. Die Einwanderung jüdischer Siedler nach Palästina hatte bereits 1882 begonnen. Auf dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel wurde beschlossen, die jüdische Einwanderung nach Palästina institutionell zu organisieren, die Zionistische Weltorganisation wurde gegründet. Diese betrieb intensive Lobbyarbeit für einen jüdischen Staat in Palästina und konnte bei den Briten 1917 einen wichtigen Erfolg verzeichnen. Am 2. November 1917 erhielt der Repräsentant der Zionistischen Weltorganisation in London, Lord Lionel Walter Rothschild, einen Brief des britischen Außenministers Sir Arthur James Balfour. Darin hieß es: »Lieber Lord Rothschild, ich freue mich, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Sympathieerklärung für die jüdisch-zionistischen Bestrebungen mitteilen zu können, die dem Kabinett vorgelegt und von diesem gebilligt wurde. Die Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk wird von der Regierung Seiner Majestät mit Wohlwollen betrachtet. Sie wird ihr Bestes tun, um das Erreichen dieses Zieles zu erleichtern, wobei unmissverständlich zu betonen ist, dass nichts getan werden darf, was die Bürgerrechte und religiösen Rechte der in Palästina lebenden nicht jüdischen Bevölkerung oder die Rechte und den politischen Status der Juden irgendeines anderen Landes nachteilig betrifft.«

Die britische Regierung hatte Land, das ihr nicht gehörte, gleich mehrfach an verschiedene Akteure des Ersten Weltkrieges verteilt. Mit dem Sykes-Picot-Abkommen bedienten sie sich und die Franzosen. Die Balfour-Erklärung machte der Zionistischen Weltorganisation ein Versprechen. Den Arabern, die ihnen geholfen hatten, den Krieg gegen die Osmanen zu gewinnen, versprachen sie einen unabhängigen arabischen Staat.

Ende September 1918 standen englische (australische) und französische Truppen vor den Toren von Damaskus. Um den Schein zu wahren, ließ man den Arabern den Vortritt und erlaubte am 1. Oktober 1918 zunächst T. E. Lawrence und Emir Faisal, in Damaskus einzuziehen. Emir Faisal, ein weiterer Sohn des Haschemitenführers Hussein ibn Ali, hatte die Revolte militärisch angeführt. Nun wurde er in Damaskus zum »König der Araber« ausgerufen. Eine provisorische Regierung wurde gegründet, und eine Verwaltung entstand, in der Muslime, Christen und Juden vertreten waren.

Faisal hatte sich unmittelbar nach seiner Ankunft in Damaskus mit den Vertretern der drei großen Buchreligionen – Muslime, Christen und Juden – getroffen und ihnen versichert, dass alle die gleichen Rechte und Pflichten hätten. Im November wandte er sich in Aleppo an die religiösen und politischen Führer und an die Händlerklasse und erläuterte, dass Säkularismus Kern des arabischen Nationalismus sei, für den er eintrete. Die Araber seien Araber vor Moses, vor Jesus und vor Mohammad gewesen, so Faisal. Alle diese Religionen seien in Brüderlichkeit verbunden, und »wer Streit zwischen Muslimen, Christen und Juden sät, ist kein Araber.«

Zuallererst sei er Araber, wird Faisal zitiert. Das brachte ihm die Unterstützung aller arabischen Nationalisten ein, die in den großen Städten Aleppo, Homs, Damaskus, Beirut und Jerusalem vertreten waren und die vor allem eines wollten: einen unabhängigen arabischen Staat in Syrien und Palästina. Faisal verfügte über rund 10 000 bewaffnete Männer, die gezeigt hatten, dass sie kämpfen konnten, aber keine klassische Armee darstellten. Die Abhängigkeit von den Briten wurde ihm zum Verhängnis.

Nicht nur, dass die Briten Palästina und Jerusalem eingenommen und unter ihre Kontrolle gestellt hatten, sie sorgten – in Absprache mit den Franzosen – auch dafür, dass Faisal und seine politischen Pläne für arabische Unabhängigkeit bei der Pariser Friedenskonferenz ausgegrenzt wurden. Obwohl er bereits in Damaskus residierte und dort als König und politischer Führer anerkannt worden war, wurde er in Paris nicht als Leiter der arabischen Delegation akzeptiert, sondern als Vertreter des Hejaz. Seine Rede an die Versammlung hielt er in arabischer Sprache. Er schlug vor, dass ein arabischer Staat südlich einer Linie entstehen sollte, die von der Hafenstadt Alexandrette bis zur persischen Grenze gezogen werden sollte. (Das entspricht etwa dem 36. Breitengrad und der heutigen Grenze der Türkei zu Syrien und dem Irak). In diesem Gebiet sollten die Araber ihre politische Zukunft selbst bestimmen, forderte Faisal. Das sei der Wunsch der dort lebenden Menschen, und die Briten hätten die arabische Unabhängigkeit seinem Vater, König Hussein ibn Ali, versprochen, als sie um Unterstützung für den Kampf gegen die Osmanen gebeten hatten. Technische und politische Beratung anderer Staaten für den Aufbau des arabischen Staates werde dankend angenommen, man könne auch dafür bezahlen, so Faisal. Aber »wir können kein Stück unserer Freiheit aufgeben, die wir uns gerade erst erkämpft haben.« Jüdische Präsenz in Palästina werde akzeptiert, sofern die Juden mit den Palästinensern zusammenarbeiteten. Auf keinen Fall dürfe das Gebiet der Araber als Kriegsbeute unter den Siegermächten aufgeteilt werden.

Faisal fand kein Gehör in Paris. Frankreich und Großbritannien hatten ihre Pläne bereits gemacht, und Italien war eher an den ehemaligen osmanischen Provinzen in Nordafrika (Libyen) interessiert als an Syrien und Palästina. Der Druck der Zionistischen Weltorganisation war enorm. Ihre Delegierten bei der Konferenz legten eine Karte vor, die die Ausdehnung der angestrebten »jüdischen Heimstätte in Palästina« zeigte. Das beanspruchte Gebiet reichte im Norden bis zur Hafenstadt Sidon, im Nordosten umfasste es die Golanhöhen und die Stadt Kuneitra. Das gesamte Westufer des Jordan, die Hafenstadt Akaba, Gaza und ein großer Teil der Sinaihalbinsel sollten einbezogen werden.

Frankreich und Großbritannien unterstützten die Zionisten mit ihren Plänen. Die Balfour-Erklärung war auch von US-Präsident Woodrow Wilson befürwortet worden. Mit dem Sykes-Picot-Abkommen zeigte sich der US-Präsident allerdings nicht einverstanden.

King-Crane-Kommission

Wilson hatte erst nach dem Ende des Krieges von dem britisch-französischen Geheimabkommen erfahren. Das dürfte wohl auch der Grund für den ersten Punkt seiner 14-Punkte-Erklärung gewesen sein, in dem er Transparenz von Verträgen und Diplomatie eingefordert hatte. Als Vertreter der nationalen Selbstbestimmung von Völkern kritisierte Wilson, dass die von der osmanischen Besatzung befreite Bevölkerung in Syrien und Palästina von den Franzosen und Briten nicht zu ihrer eigenen Vorstellung über ihre politische Zukunft befragt worden waren. Er schlug vor, eine Kommission zu entsenden, die in den betroffenen Gebieten die Meinungen der Bevölkerung erfragen und der Pariser Friedenskonferenz einen Bericht darüber vorlegen sollte. Gefragt werden sollte, ob Unabhängigkeit oder eine Verwaltung unter einem Mandat des Völkerbundes gewünscht war, wie es für Frankreich und Großbritannien vorgesehen war, oder ob sie eine ganz andere Vorstellung hatten. Wilson wollte, dass die Kommission aus Vertretern aller Siegermächte bestehen sollte, und ernannte einen US-Wissenschaftler und einen US-Geschäftsmann für die amerikanische Delegation. Henry Churchill King war Präsident des Oberlin College, und Charles R. Crane war ein Geschäftsmann aus Chicago und ein Treuhänder des Robert College in Konstantinopel.

Frankreich und Großbritannien lehnten das Vorhaben ab, ernannten ihrerseits keine Delegierten und unternahmen alles, um die Kommission, wenn nicht zu torpedieren, so doch zu bremsen. Schließlich machten die beiden Amerikaner sich mit technischen Beratern, einem Sekretär, einem Schatzmeister, einem Arzt und zwei Übersetzern auf die Reise. Als »Augen und Ohren« offizieller US-Unterhändler der Pariser Konferenz fuhren William Yale als technischer Berater für die Südregion (Palästina) und George R. Montgomery als technischer Berater für die Nordregion (Türkei) mit. Yale hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Konstantinopel für die Standard Oil Company gearbeitet. Während des Krieges trat er in den Dienst des US-Außenministeriums und wurde »Sonderagent«. Bis zu seinem Tod 1972 sei er »ein Mann mit vielen Hüten« gewesen, heißt es in einem Artikel des Saudi Aramco World Magazine.

Die Reise durch die Levante dauerte vom 10. Juni bis zum 21. Juli 1919. Die Kommission reiste von Jaffa über Jerusalem, Jenin, Nazareth, Amman nach Damaskus, von wo es über Beirut, Tripoli, Homs und Aleppo nach Alexandrette und Lattakia ging. Man sprach mit den Briten und den Franzosen, um deren Einschätzung vor Ort zu hören. Doch die Hauptgespräche wurden mit politischen und religiösen Führern geführt, mit Vertretern verschiedener Volksgruppen, mit Ärzten, Lehrern, Professoren, Bauern und Stammesführern.

Während die Briten sich in den von ihnen kontrollierten Gebieten Palästinas zurückhielten, versuchten die Franzosen in Syrien und im Libanon, die Befragung zu beeinflussen. Manche Delegationen, die mit der Kommission sprechen wollten, wurden von den Franzosen gestoppt. Wiederholt wurden Demonstrationen gegen die Franzosen organisiert. 1875 Petitionen wurden der Kommission überreicht, und nach Auswertung der dort geäußerten Meinungen war klar, dass eine überwältigende Mehrheit sich für ein unabhängiges Syrien und gegen ein französisches Mandat aussprach. 72 Prozent waren gegen den Plan, in Palästina eine »jüdische Heimstätte« zu errichten. Am 14. Juli 1919 war die King-Crane-Kommission mit ihrer Jacht »Maid of Honour« in Lattakia vor Anker gegangen und wertete die Recherchen aus. Am 19. Juli wurden die ersten Eindrücke knapp zusammengefasst:

1. Die Syrer werden kein französisches Mandat akzeptieren.

2. Das zionistische Programm kann nur mit Gewalt durchgesetzt werden.

3. Die arabische nationale Bewegung unter angelsächsischer Schirmherrschaft ist es wert, unterstützt zu werden.

4. Der allgemeine Wille der Bevölkerung ist ein Vereinigtes Syrien.

Die Reise der Kommission ging weiter durch die Türkei, im August wurde die Mission in Konstantinopel beendet. Die US-Medien lobten den Bericht und bedauerten, dass er politisch ignoriert wurde. Die europäischen Medien ignorierten Bericht und Mission weitgehend, in Frankreich und in zionistischen Kreisen wurde er als »voreingenommen« verurteilt. Ägyptische Medien hingegen begrüßten den Bericht, wie Charles R. Crane im Januar 1923 an Woodrow Wilson schrieb, als »ernsthaft, umsichtig und ein Versuch, die Prinzipien, wegen deren Amerika in den Krieg eingetreten war, umzusetzen«.

Bei den Pariser Friedensverhandlungen wurde der Bericht der King-Crane-Kommission nicht berücksichtigt. Entgegen ihrer Empfehlung wurde die Aufteilung der Levante in einen französischen und einen britischen Interessenbereich bestätigt. In San Remo (April 1920) einigten sich Großbritannien, Frankreich und Italien offiziell auf die Umsetzung des Sykes-Picot-Abkommens, was im Vertrag von Sèvres (August 1920) bewilligt wurde. Frankreich wurde die Kontrolle über Syrien und Kilikien zugesprochen. Großbritannien übernahm die Kontrolle über Zypern, Ägypten, Palästina und den Irak. Kurdistan erhielt einen Autonomiestatus, Armenien wurde für unabhängig erklärt. Der Völkerbund bekräftigte das Sykes-Picot-Abkommen 1922 und beauftragte Frankreich mit dem Mandat über Syrien, Libanon und Kilikien (heute türkische Provinz Hatay). Großbritannien erhielt das Mandat über Palästina und den Irak. Im Vertrag von Lausanne (Juli 1923) wurden die Autonomierechte für die Kurden und für die Armenier in der Türkei aberkannt.

Die Pariser Friedenskonferenz hatte die Forderung nach einem arabischen Staat und das Recht auf Selbstbestimmung ignoriert. Neue Grenzen wurden gezogen, jahrhundertealte familiäre, kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen wurden getrennt. Der britische Feldmarschall Archibald Wavell, der als Offizier im Ersten Weltkrieg in Palästina und auf dem Sinai eingesetzt war, kommentierte die Ergebnisse der Konferenz mit den Worten: »Nach dem ›Krieg, um den Krieg zu beenden‹, waren sie jetzt wohl ziemlich erfolgreich in Paris, einen ›Frieden zu schaffen, der den Frieden beendete‹.«

»Kreuz gegen Halbmond«

Französische Truppen waren bereits 1919 unter Führung von General Henri Gouraud in der Levante gelandet und sahen sich einem bewaffneten Aufstand von Alawiten gegenüber. Emir Faisal, der sich mit seinem Plädoyer für ein unabhängiges Syrien auf der Pariser Friedenskonferenz nicht hatte durchsetzen können, war nach Damaskus zurückgekehrt, wo er im März 1920 vom neu gebildeten syrischen Nationalkongress zum König gekrönt wurde. Der Kongress bekräftigte die Empfehlungen der King-Crane-Kommission und rief die Unabhängigkeit Syriens in seinen »natürlichen Grenzen« aus. Gemeint waren die Grenzen Großsyriens, Syrien, Libanon und Palästina. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich forderten die Rücknahme der Entscheidungen, im ganzen Land kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen.

Eine provisorisch aufgestellte Armee von Freiwilligen des syrischen Königreichs stellte sich im Juli 1923 bei Maysalun in den Libanonbergen den französischen Truppen entgegen und wurde in nur einem Tag vernichtend geschlagen. Gouraud zog mit seinen Soldaten nach Damaskus weiter, wo er – so ist es überliefert – zum Grab des syrischen Sultans Saladin gegangen sein soll, der im 11. Jahrhundert Jerusalem von der Besatzung der Kreuzritter befreit hatte. Er habe gegen das Grab getreten und gerufen »Wach auf, Saladin. Wir sind wieder da. Meine Anwesenheit hier heiligt den Sieg des Kreuzes über den Halbmond.«

Gouraud löste die syrische Armee auf und zwang König Faisal, das Land zu verlassen. Er wurde zum Hochkommissar für Syrien ernannt und begann umgehend mit der Aufteilung des Landes. Als Erstes wurde ein Staat »Großlibanon« gegründet, es folgte die Aufteilung in einen Staat von Aleppo, einen Alawiten- und einen Drusenstaat und einen Rumpfstaat Damaskus. Ziel der Aufteilung war, die verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten mit ihren eigenen Interessen zu beschäftigen und von den arabischen Nationalisten, die in Beirut, Aleppo und Damaskus stark waren, zu trennen. Ein Mordanschlag auf Gouraud im Juni 1921 im Südlibanon schlug fehl.

In den folgenden Jahren versuchten die Syrer – mal mit, meist gegen die französische Mandatsmacht –, ihre Unabhängigkeit zu erstreiten. Eine Universität wurde gegründet, Parteien entstanden, die für staatliche Unabhängigkeit eintraten. 1925 kam es zu einem großen Aufstand gegen die Franzosen, der vom Süden des Landes ausging und von dem Drusenführer Sultan Atrash angeführt wurde. Die syrischen Parteienführer und große Teile der Bevölkerung auf ihre Weise unterstützten den Aufstand, der sich rasch ausweitete.

Yusif Sayigh

Kindheit zwischen Mittelmeer und Berg der Drusen

Ein Leben für die Freiheit Palästinas. Yusif Sayigh wurde 1916 in al-Bassa (Palästina) geboren. Der Ort liegt bei Akko (Acre), dem westlichsten Punkt der Sykes-Picot-Linie. Der Ökonom erlebte die Zerteilung der Region.

Als der Erste Weltkrieg 1914 begann, kannten die Menschen in Syrien und Palästina keine Grenzen. Händler zogen von Bagdad über Damaskus nach Beirut oder Haifa, um ihre Waren in den Häfen der Levante nach Europa zu verschiffen. Eltern sandten ihre Kinder von Damaskus nach Beirut, wo die 1866 gegründete Amerikanische Universität (AUB) ein hervorragendes Studium garantierte. Es herrschte reger Austausch zwischen den muslimischen Gelehrten von Bagdad, Damaskus und Kairo, christliche Schulen wurden von Missionaren aus Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika gegründet und boten sowohl christlichen als auch muslimischen Kindern aus umliegenden Dörfern Unterricht und Wohnung an. Internatsschulen waren häufig, weil der tägliche Schulweg für die Kinder aus den abgelegenen Dörfern zu weit gewesen wäre.

Yusif Sayigh wurde am 26. März 1916 im Dorf al-Bassa in Palästina geboren, an der Küste der Levante. Das Dorf liegt etwa zwanzig Kilometer nördlich von Acre, dem Ort, von dem der britische Diplomat Sir Mark Sykes eine Linie durch Täler und über Hügel, über Flüsse und Seen, durch die schwarze Basaltwüste und über die fruchtbaren Felder des Hauran und durch die endlosen, sandigen Weiten der syrischen Wüste bis nach Kirkuk gezogen hatte (siehe Karte, Seite 17). In al-Bassa lebten damals etwa tausend Menschen, Muslime und Christen verschiedener Strömungen. Es gab zwei Kirchen, Schulen und Ärzte.

Der Ort war wie der »Garten Eden«, erzählte Yusif Sayigh Jahrzehnte später seiner Frau Rosemarie, die ein Buch über ihn schrieb. Die Menschen seien offen und aufgeschlossen gewesen, in den Abendstunden hätten sie auf den Dächern gesessen, musiziert und gesungen. Im Herbst wurden die Dächer zum Treffpunkt der Frauen, die dort Früchte zum Trocknen aufhängten. Sie nutzten die Gelegenheit dazu, ihre fast erwachsenen Kinder, Jungen und Mädchen, mitzubringen, es wurde gegessen und getrunken, viel erzählt, und so manch eine Ehe wurde angebahnt.

Einer von Yusifs Lieblingsplätzen war unter einem großen Johannisbrotbaum, der auf dem Grundstück der Familie stand und zu jeder Tageszeit Schatten spendete. Die aus Steinen gebauten Häuser waren von Feigen- und Apfelsinenbäumen, Blumen aller Art, üppig grünen Sträuchern und Bäumen umgeben. Wasser sprudelte aus einer eigenen Quelle, Olivenhaine umgaben das Dorf und sorgten für Wohlstand. Al-Bassa war das Zentrum des Tabakanbaus in Galiläa, sowohl die christlichen als auch die muslimischen Bewohner waren gute Händler. An den Wochenenden zogen die Familien an den nahe gelegenen Strand, wo sie ihr Picknick ausbreiteten und die Weite des Meeres genossen.

Auch Yusifs Mutter war in al-Bassa geboren und aufgewachsen. Afifeh Barouni Sayigh, die – wie es in arabischen Ländern üblich ist – von allen nur Umm Yusif (Mutter von Yusif) genannt wurde, kam aus einem wohlhabenden Haus. Ihr Vater handelte zwischen Beirut und Jerusalem mit Antiquitäten, ihr Großvater war ein katholischer Priester gewesen. Als Kind hatte sie in einem Internat bei Sidon – ungewöhnlich für die Jahrhundertwende – eine gute Schulbildung erhalten. Unter den Fittichen einer amerikanischen Missionarin arbeitete sie bis zu ihrer Heirat als Lehrerin.

Diese Missionarin, die Presbyterianerin Mary Ford, war es auch, die Afifeh mit ihrem späteren Mann, Abdallah Sayigh, zusammenführte. Erstmals begegneten die beiden sich 1914 in dem Dorf Kharaba in Syrien. Abdallah Sayigh, oder Abu Yusif (Vater von Yusif), war selber in der Nähe von Damaskus geboren worden, in Khirbet al-Sha’ar. Die ursprünglich aus Homs stammende Familie hieß eigentlich Zakhour Kabbash. Weil aber Abdallahs Vater ein Goldschmied war, machte er die Bezeichnung für seinen Beruf »Sayegh« zu seinem Familiennamen. Das war damals in der arabischen Welt üblich. Abdallah verlor früh seine Eltern und wuchs bei einer seiner drei Schwestern in Kharaba auf. Alle drei hatten Männer aus dem christlichen Dorf Kharaba geheiratet, eine vierte Schwester heiratete einen Drusen in Salkhad. Der kleine Ort Kharaba liegt an der Grenze zwischen dem drusischen Siedlungsgebiet von Sweida, dem Jabal al-Druze (Berg der Drusen) und dem Hauran mit der Provinzhauptstadt Deraa.

Als Abdallah Sayigh oder Abu Yusif zu Beginn des Ersten Weltkrieges von der osmanischen Armee für den Kriegsdienst verpflichtet werden sollte, kaufte er sich frei – was damals für Christen möglich war – und ging nach al-Bassa, wo er 1915 Afifeh heiratete und ein Jahr später Yusif geboren wurde. Weitere sechs Kinder folgten. Nach dem Ende des Krieges, 1918, zog die Familie Sayigh wieder nach Kharaba, wo Yusifs Vater – in Absprache mit der Mission in al-Bassa - die protestantische Kirche aufbauen sollte. Westlich von ihrem Dorf lag Deraa, das schon im Alten Testament erwähnt wird und als Handelsplatz den Nabatäern, Hellenen und Römern diente. Südlich lag al-Qurayya, der Sitz des mächtigen Drusenstammes Atrash, und östlich lag die Hauptstadt der Drusen, Sweida, am Fuße des Jabal al-Druze, dem Berg der Drusen. Kharaba war ein christliches Dorf, in dem es Orthodoxe, Katholiken und Protestanten gab; zu Letzteren gehörten die Eltern von Yusif. Zwischen 1921 und 1923 holte der Vater seine theologischen Studien in Jerusalem nach, wo die Familie ihn auch einmal besuchte, obwohl das Reisen beschwerlich war. Yusif war noch klein, wusste aber noch genau, dass er auf dem Weg nach Jerusalem zum ersten Mal ein Auto gesehen habe. Auf dem Rückweg begleitete sie der Vater, der seine Studien abgeschlossen hatte. Sie fuhren zunächst nach al-Bassa, wo die Familie von Umm Yusif lebte. Von dort ging es der Küste entlang nach Sidon und Beirut und schließlich über Damaskus zurück nach Kharaba.

Während die Familie unterwegs war, gerieten sie 1923 im Südlibanon in eine Volkszählung. Die Bekannten, bei denen sie damals wohnten, gaben sie einfach als Libanesen an, obwohl sie Syrer waren. Viele Jahre später, 1958, half ihnen dieser Zufall, die libanesische Staatsangehörigkeit zu bekommen.

Der Vater hatte den Umweg gemacht, um finanzielle Unterstützung für den Bau einer Kirche zu erhalten, die er in Kharaba plante. Bisher hatte er in einem Zimmer ihres Hauses gepredigt, während die Orthodoxen und Katholiken schon Kirchen hatten. Der Vater war erfolgreich mit seinen Bittgesuchen. Deutlich erinnerte sich Yusif daran, dass die protestantische Kirche in Beirut die Kommunionsbecher an die Kirche in Kharaba spendete. »Die Kirche in Beirut bekam einen neuen Satz Becher, also spendeten sie uns zwanzig oder dreißig ihrer alten Becher, und sie schickten uns noch Gesangsbücher dazu.« Der Vater baute die Kirche fast allein auf. Er war ein gelernter Zimmermann und ließ sich von Bauarbeitern in Deraa im Mischen von Zement unterrichten. Alle Kirchenbänke baute der Vater selber, erzählte Yusif. Weil die protestantische Gemeinde kein Geld hatte, konnte Yusifs Vater kein weiteres Grundstück kaufen und baute daher die Kirche auf seinem eigenen Grund und Boden. Im unteren Bereich der neuen Kirche wurde neben den Wohnräumen der Familie auch eine Schule eingerichtet, die Yusif besuchte. Die Kirche wurde vermutlich 1925 eingeweiht.

Leben in Kharaba

Einer seiner Onkel war Arzt und hatte sich auf »arabische Medizin« spezialisiert, was Patienten von weit entfernt liegenden Dörfern anzog. Diese »arabische Medizin« wurde aus Kräutern der Region hergestellt, die nach traditionellen islamischen Rezepten getrocknet, gemixt und gemischt, zu Pulvern oder Flüssigkeiten verarbeitet wurden. Alle paar Monate schickte der Arzt seinen Sohn nach Sweida oder Damaskus, um Pulver und Tropfen zu kaufen, die er für das Mischen seiner Medikamente brauchte. Manche Medikamente, die der Onkel nach Rezepten aus alten Büchern selber herstellte, wickelte er in dünnes Zigarettenpapier ein, um sie zu portionieren. Das Wissen über diese Medizin war von Generation zu Generation innerhalb der Arztfamilien überliefert worden. Daher war das Vertrauen der Landbevölkerung größer als der Glaube an moderne Medikamente, die aus Europa geliefert oder von fahrendem Volk angeboten wurde.

Eine Bank habe es nicht gegeben, so Yusif Sayigh. Die Menschen hätten Goldmünzen benutzt, um Einkäufe auf den Märkten der Städte zu bezahlen. Sie hätten sich die Münzen auch gegenseitig geborgt. Zurückgezahlt wurde, wenn die Männer in Bosra, Deraa oder Sweida ihre Waren verkauft und etwas eingenommen hatten.

Das Leben der Familie war karg. Der Vater erhielt ein kleines Gehalt für seinen Einsatz als Pfarrer, ansonsten bearbeitete er eigenes Land, wie die anderen Bauern auch. Yusif erinnerte sich, dass es öde und langweilig im Dorf gewesen sei. Ihr Haus und die Kirche hätten auf einem Hügel gelegen, und von dort aus habe er in alle Richtungen in die endlose Weite blicken können, ohne einen Baum zu sehen. Nur zwei Mal hätten er und seine Brüder mit den Eltern einen Ausflug nach Deraa gemacht. Dabei ritten sie auf zwei Eseln und der Vater auf einem Pferd. Transportmittel gab es in Kharaba nicht. Keinen Bus, keine Eisenbahn, keine befestigten Straßen. Der Vater habe ein Fahrrad gehabt, auf dem zu fahren er erst habe lernen müssen. »Vater wollte zu einem unserer Felder, das etwas entfernt lag«, schmunzelte Yusif. »Er fuhr und fiel hin, stieg wieder auf, fuhr und fiel hin, bis er es konnte.« Das Fahrrad brauchte der Vater auch, um zum etwa zwanzig Minuten entfernt liegenden Dorf Jubayb zu fahren, wo er jede Woche die Predigt hielt. Manchmal begleitete ihn Yusif, der hinten auf dem Gepäckträger saß.

Die Schule an der protestantischen Kirche war die erste im Ort. Die Kinder lernten Lesen und Schreiben, Mathematik und Englisch. Eine orthodoxe Schule wurde später gebaut. Von der Regierung gab es keine Schule. Er habe mit den Kindern im Dorf gespielt, obwohl er merkte, dass er anders war, erinnerte sich Yusif. Sie trugen keine Schuhe und hatten lange Gewänder. Er kam sich in seinen kurzen Hosen und den Schuhen ziemlich albern vor. Die Schuhe ließ er oft vor dem Tor des Hauses stehen und lief barfuß, wie die anderen. Seine Mutter nähte ihm auf sein Drängen hin auch ein langes Hemd, eine Ghalabiya.

Einmal wurde die Sprache zum Problem gemacht. Gemäss Yusif wollte der Sohn des orthodoxen Priesters immer, dass die Kinder Englisch sprächen, was für ihr Spiel sehr hinderlich gewesen sei. Also habe er sich eines Tages auf eine Mauer gestellt und in Arabisch zu dem Jungen herüber gerufen: »Verflucht sei dein Vater«. Das war für Yusifs Vater inakzeptabel; als er davon erfuhr, folgte die Strafe auf dem Fuß, so Yusif. »Er verpasste mir eine kräftige Abreibung.«

Schlimmer sei die Strafe aber gewesen, als er mit seiner Ghalabiya, entgegen der Anordnung seines Vaters, versucht habe, auf einen Trecker zu steigen. Es war das erste Mal, dass eine solche Maschine im Dorf aufgetaucht war, um den Bauern bei der Ernte zu helfen. Bei dem Versuch, aufzusteigen, habe sein langes Hemd sich in den Rädern verheddert und habe ihn heruntergezogen. Der Fahrer habe gerade noch rechtzeitig gebremst, sodass er mit Schürfwunden an den Beinen davonkam. Der Vorfall hatte sich schnell herumgesprochen, und als er nach Hause kam, ließ die Strafe nicht lange auf sich warten. Mit Peitschenhieben auf die nackten Fußsohlen fiel sie schlimmer aus, als er befürchtet hatte. Die Eltern seien sehr unterschiedlich gewesen, so Yusif. Der Vater immer distanziert, diszipliniert und streng, die Mutter immer verständnisvoll und nachgiebig. Oft setzte sie sich beim Vater für die Kinder ein, doch die Peitschenhiebe hatte sie nicht verhindern können. Es blieben die einzigen.

Mit Wasser wurde das Dorf vom benachbarten Era versorgt, einem drusischen Dorf, das eine eigene Quelle hatte. In Era residierte Hussein al-Atrash, ein weiterer Führer des weitverzweigten Drusenstammes der Atrash. Zweimal die Woche wurde der Staudamm geöffnet, und das Wasser schoss durch einen natürlichen Kanal in die zwei großen Reservoirs in Kharaba. Das erste Reservoir war ein Teich, aus dem die Tiere tranken und das Wasser zum Wäschewaschen geholt wurde. Aus dem zweiten Reservoir, das sie Ain, die Quelle nannten, schöpften die Frauen das Wasser in große Steingutkrüge, die sie auf dem Kopf in ihre Häuser trugen. Die Herstellung von Steingut war in der Gegend Tradition, nicht aber im Elternhaus. Die Mutter verbot den Kindern, direkt aus der Quelle zu trinken. Yusif hätte es aber ohnehin nicht getan: »Manchmal schwammen kleine Schildkröten darin herum.«

In dem Teich, aus dem die Tiere trinken konnten, sollte Yusif das Schwimmen lernen. Ein Bauer, der auf dem Feld des Vaters arbeitete, wofür er einen Teil der Ernte als Lohn behalten konnte, hob Yusif eines Tages auf seinen Rücken und wies ihn an, sich an seinen Schultern gut festzuhalten. Dann schwamm er mit ihm durch den Teich hin und her, bis der Vater kam und rief: »Es reicht.«

Je älter er wurde, desto mehr fühlte Yusif sich eingesperrt in dem Dorf. Er war mit den Eltern in Jerusalem und Damaskus gewesen, hatte Straßenbahnen und Geschäfte gesehen. Er wollte lesen, er wollte lernen, doch in Kharaba gab es keinen Buchladen, keine Bibliothek, nichts, nur zwei kleine Geschäfte für Süßigkeiten. Die Mutter habe dem Vater immer wieder vorgeschlagen, in eine Stadt zu ziehen, um den Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Der habe aber abgelehnt, weil er die kleine protestantische Gemeinde, die er gegründet hatte, nicht aufgeben wollte.

Die Dorfbewohner schienen nichts zu vermissen. Sie ernährten sich von ihrer Hände Arbeit und waren mit dem Getreideanbau und dem Versorgen des Viehs immer beschäftigt. Weizen wurde gesät und geerntet, Gemüse angebaut, Ziegen und Schafe gehütet, die die Menschen mit Fleisch, Käse, Butter, Milch und mit Leder versorgte.

Etwa dreimal im Jahr fuhr der Vater nach Deraa, Sweida oder Damaskus, von wo er viele Dinge mitbrachte. Schuhe und warme Jacken für den Winter, Schmuck oder Bücher und seltene Süßigkeiten, die es in Kharaba nicht gab. Händler kamen ins Dorf, um Kleidung zu verkaufen. Sie brachten auch Früchte aus Sweida mit: Feigen, Aprikosen, Granatäpfel und die guten Wein trauben, aus denen auch Rosinen gewonnen wurden – eine bekannte Spezialität, die auch in Geschäften in Damaskus und Deraa angeboten wurde. Kharaba hatte nicht genug Wasser für eigenen Obstanbau. Um die Häuser herum aber wuchsen Trauben und Wassermelonen für den eigenen Bedarf.

Das Familienleben war intensiv. Die Kinder verbrachten viel Zeit zu Hause. Sie lernten und spielten, die Eltern waren sehr kreativ und für die Kinder immer da. Die Mutter bastelte aus Stoffresten Bälle, der Vater zimmerte aus Holzresten Autos, die sie stolz an einer Leine hinter sich herzogen. Es wurde gelesen und erzählt und natürlich auch gestritten. Dreimal am Tag – vor jeder Mahlzeit – wurde das Vaterunser gebetet. Als er älter wurde, begleitete Yusif den Vater oder die Eltern bei Besuchen im Dorf. Dort wurde das Essen mit den Händen vom selben Teller oder Topf geschöpft, alle tranken aus derselben Tasse, was für ihn sehr fremd war. Bei Yusif zu Hause gab es Besteck, und jeder hatte eine eigene Tasse.

Die Leute von Kharaba ernährten sich von dem, was das Land hergab: Weizen und Gemüse, vor allem aber das fette Fleisch der Schafe kam auf ihren Tisch. Bei Yusif zu Hause gab es auch Huhn, Reis und viel Gemüse. Am liebsten aber aß er das frisch gebackene dünne Brot, das die Mutter selber buk.

Die Häuser von Kharaba hatten keine Bäder, anders als die Häuser in den Städten. Yusifs Familie hatte eine Toilette im ersten Stock, von wo alles hinunter in den Hof fiel und von der Sonne entsorgt wurde. Hände und Gesicht wurden im Hof mit Wasser aus Blechkanistern gewaschen, die der Vater mit einem Kran versehen hatte, um das Wasser zu portionieren. Einmal die Woche wurde Badewasser in einem großen Boiler erhitzt und in einen Bottich geschüttet, der in einem Raum neben der Küche stand.

Sie aßen im Wohnzimmer, saßen auf Matratzen auf dem Boden rund um einen niedrigen Holztisch, den der Vater gezimmert hatte. Betten gab es nicht, sie schliefen auf Matratzen, die tagsüber in einer Zimmernische gestapelt wurden. Strohmatten in allen Größen gehörten zum täglichen Leben. Sie wurden als Teppiche oder Tabletts benutzt und waren mit Mustern verziert. Die Weberinnen färbten das getrocknete Stroh mit Naturfarben. Diese Matten waren und sind bis heute eine handwerkliche Spezialität in den Drusengebieten und im Hauran.

Die Frauen trugen meist schwarze Kleidung und unterschieden sich dabei nicht nach ihrem Glauben. Christliche und muslimische Frauen trugen Kopftücher, aber keine Gesichtsschleier. An Feiertagen, auch bei Hochzeiten, wurde Schwarz oder vielleicht auch einmal Dunkelrot getragen, dann aber war der Stoff mit Stickereien verziert. Der Schmuck wurde unter dem Mantel getragen. Die Mutter von Yusif nähte den Kindern und sich selbst die Kleidung. Sie alle waren westlich gekleidet.

Yussif erzählte von der Hochzeit des Hausmädchens Huda, das bei ihnen gewohnt und der Mutter geholfen hatte. Als es heiratete, wurde es auf ein Pferd gesetzt und zum Haus des Bräutigams gebracht. Ihr Gesicht war verhüllt mit einem Schleier. Yusif, weil er der älteste Sohn war, durfte das Pferd führen, auf dem die Braut davonritt. Bevor sie losgingen, hob er ihren Schleier, weil er neugierig war und das Mädchen noch einmal sehen wollte, bevor es das Haus verließ. Sie weinte. Später fragte er die Mutter, warum Huda geweint habe, die Hochzeit sei doch etwas Schönes. Die Freude wird sich schon noch einstellen, erhielt er zur Antwort.

Die Flucht aus Kharaba

Als im Juli 1925 der Aufstand der Drusen ausbrach, war der Vater nicht in Kharaba, sondern in Damaskus. Vielleicht besuchte er dort den Bischof und versuchte, Schutz für die christlichen Dörfer zu organisieren. Doch Yusif erinnerte sich nicht genau daran. Auslöser des Aufstandes sei gewesen, dass eine Delegation der Drusen bei ihrer Vorsprache in Damaskus vom französischen Gouverneur verhaftet worden war. Es gibt auch andere Versionen. Fest steht, dass es zum Aufstand kam. Daraufhin schickten die Franzosen Kampfflugzeuge, die mit Maschinengewehren die drusischen Dörfer im Jabal al-Druze angriffen. Die Drusen wiederum griffen vor allem nachts Militärposten der Franzosen an und fügten den verhassten Mandatsherren schweren Schaden zu.

In der angespannten Lage sahen manche Drusen die christlichen Dörfer als Verbündete der Franzosen an, was zumindest für Kharaba nicht zutraf. Dennoch wurde das Dorf angegriffen. Einer der christlichen Würdenträger in Kharaba, der an der Seite der Drusen kämpfte, informierte die Mutter von Yusif, dass es möglicherweise zu einem Angriff auf Kharaba kommen könnte. Sie war allein mit den vier Kindern zu Hause und fasste schnell einen Entschluss. In kürzester Zeit hatte sie das Nötigste gepackt, die Kinder auf einen Esel gesetzt und das Haus Richtung Busra verlassen. Ihre Schwägerinnen, die auch in Kharaba lebten, kritisierten die Mutter und lachten sie aus, weil sie davonlaufe und noch »ohne ihren Ehemann«! Und erstmals hätten sie die Mutter auch als »Shmaliyeh« bezeichnet, als »Frau aus dem Norden« Palästinas, die nicht aus Kharaba sei und einfach davonlaufe. Doch Yusifs Mutter ließ sich nicht beirren.

Immer wieder habe er sich umgesehen, rief sich Yusif später ins Gedächtnis. Plötzlich sahen sie, wie auf dem Hügel, auf dem ihr Haus und die vom Vater gebaute Kirche stand, ein riesiges Feuer in den Himmel loderte. Er und die jüngeren Brüder hätten geweint. Doch die Mutter habe sie in die Arme geschlossen und gesagt: »Allah bi-awwid, Gott wird es wiedergutmachen.«

Nach mehreren Tagen traf die Familie den Vater in Deraa wieder. Vermutlich per Telegraf hatte er erfahren, dass seine Frau und die Kinder sicher über Bosra dorthin gelangt waren. Dann begann eine lange Reise. Zunächst ging es per Eisenbahn nach Damaskus, wo sie bei Verwandten wohnten. Dann ging es mit der Eisenbahn vom Damaszener Hejaz-Bahnhof nach Beirut und von dort weiter nach Sidon und Tyrus. Schließlich fuhren sie mit einem Auto hoch in die Berge über Alma al-Chaab, von wo es wieder hinunter nach al-Bassa ging. So umgingen sie den neuen Grenzposten, der von der französischen und britischen Mandatsmacht bei Naqoura errichtet worden war und nur mit einem Pass hätte überquert werden können. Pässe hatten sie nicht vorzuweisen, doch in al-Bassa hatte die Mutter das von den Eltern geerbte Haus, und sie hatten Olivenhaine. Die Geschwister der Mutter und deren Familien lebten dort. Yusif Sayigh, seine Brüder und Eltern konnten ein neues Leben beginnen.

Al-Bassa, Tiberias und falsche Versprechen

In al-Bassa lebte die Familie von Yusif Sayigh bis 1930. Dann zogen sie nach Tiberias am Westufer des Tiberiassees, wo der Vater eine neue Stellung als Pastor aufnahm. Alle Kinder der Familie wurden in christlichen Internatsschulen erzogen, studierten und fanden gute Anstellungen. Doch 1948 änderte sich wieder alles.

In Tiberias hatten Muslime, Christen und Juden seit Jahrhunderten zusammengelebt. Doch weder die arabischen Revolten (1938/39) gegen das französische Mandat und gegen die zunehmende Besiedlung durch zugewanderte jüdische Siedler noch der jüdische Unabhängigkeitskampf gegen die Briten und gegen die Araber machten vor Tiberias’ Toren halt. Die jüdischen Kampfverbände wurden unter anderem von Frankreich unterstützt, eine späte Abrechnung mit dem alten Erzrivalen Großbritannien. Geschwächt vom Zweiten Weltkrieg, versuchten die Briten derweil selber, sich aus Palästina zu retten.

Am 29. November 1947 beschloss die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit der Resolution 181 (II) gegen den erklärten Willen der arabischen Bevölkerung, Palästina zu teilen. Das »britische Mandatsgebiet Palästina sollte in einen ›jüdischen Staat‹, einen ›arabischen Staat‹ und die Stadt Jerusalem als corpus separatum, gestellt unter UN-Verwaltung« aufgeteilt werden. Von 56 UN-Mitgliedsstaaten stimmten 33 dafür, 13 Staaten – darunter alle arabischen Länder – stimmten dagegen, 10 Staaten enthielten sich. Unmittelbar darauf begann ein ungleicher Bürgerkrieg um Palästina. Den rund 10 000 arabischen und palästinensischen Soldaten der Arabischen Befreiungsarmee standen 50 000 zionistische Kämpfer der Haganah oder Irgun gegenüber, die teilweise als Soldaten in der britischen Armee während des Zweiten Weltkrieges Erfahrung gesammelt hatten. Ziel der jüdischen Angriffe war, die von der UNO genannten Teilungsgrenzen möglichst weit auszudehnen. Es begann »die Zerstörung der städtischen Gemeinden, die die organisiertesten und politisch bewusstesten Teile des palästinensischen Volkes waren«, schrieb David Ben Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, in sein Kriegstagebuch (15.1.1948). Die ländlichen Siedlungen und Gebiete wurden erobert und zerstört, um die Städte von den Transportwegen, Lebensmitteln und Rohstoffen abzuschneiden.

Im April 1948 wurde von den Zionisten der Plan D (Dalet) umgesetzt, der »die Vertreibung der lokalen palästinensischen Bevölkerung« vorsah. Wegen seines Wasserreichtums und seiner Fruchtbarkeit war das Gebiet von Acre bis nach Tiberias besonders begehrt und sollte – die UNO-Resolution missachtend – dem geplanten Staat Israel eingegliedert werden. Die Dörfer wurden niedergebrannt, Häuser gesprengt und vermint, um eine Rückkehr der Bevölkerung zu verhindern. Bei einem Massaker in Deir Yassin, westlich von Jerusalem, wurden am 9. April 254 Männer, Frauen und Kinder von zionistischen Milizen ermordet. Es war wie ein Startsignal, das die Vertreibung der gesamten arabisch-palästinensischen Bevölkerung – Christen und Muslime – aus dem westlichen Galiläa in Gang setzte. Zwischen dem 28. April und 14. Mai verbreiteten die zionistischen Milizen in den Dörfern und Städten Westgaliläas, auch in Tiberias, Angst und Schrecken. Danach war die ursprüngliche, die arabische Bevölkerung verschwunden.

Die Eltern von Yusif Sayigh und seine Schwester Mary verließen Tiberias am 17. April und flohen nach Nazareth. Noch auf dem Weg hörten sie, dass Tiberias von den Zionisten eingenommen worden war. Wieder waren sie Flüchtlinge geworden. Der Vater zog sich nun häufig zurück und betete für Palästina, wie er sagte. Sein Sohn Yusif war zu dem Zeitpunkt in Jerusalem, wo er in den Reihen der SSNP (Syrische Sozial-Nationalistische Partei) für Palästina kämpfte und in zionistische Gefangenschaft geriet. Erst im Mai 1949 wurde er entlassen. Im Oktober 1950 starb seine Mutter Afifeh im Alter von 57 Jahren in Beirut. Der Vater Abdallah wurde 89 Jahre alt und starb 1974.

Der SSNP, die von dem charismatischen Politiker Antoun Saadeh gegründet worden war, hatten sich Yusif und fast alle seine Brüder nach 1938 angeschlossen. Die Geschichte von Antoun Saadeh und seinem Lebenswerk, der SSNP, erzählt seine Tochter Sofia Saadeh im nächsten Kapitel (siehe Seite 62).

Nachbetrachtung

Rosemary Sayigh mit ihrem Mann Yusif Sayigh (hinten im Lehnstuhl). Foto: Borre Ludvigsen

Die Geschichte von Yusif Sayigh, der 2004 in Beirut starb, wurde von seiner britischen Frau Rosemary aufgezeichnet und 2015 in dem Buch Yusif Sayigh: Arab Economist, Palestinian Patriot: A Fractured Life Story veröffentlicht. Die beiden hatten sich in Beirut kennengelernt, wo Rosemary an der Amerikanischen Universität (AUB) Anthropologie studierte. 1953 hatten sie geheiratet. Rosemary arbeitete eine Zeitlang als Journalistin für den britischen Economist,