Tag für Tag erneuert - Wolfgang Lenk - E-Book

Tag für Tag erneuert E-Book

Wolfgang Lenk

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Beschreibung

Tag für Tag erneuert Spiritualität ist ein Weg der Verwandlung. In diesen Briefen lässt Gertrud tiefe Einblicke in das Zusammenspiel zwischen meditativen Übungen, ihrem Alltag und Erinnerungen an schöne und schmerzliche Lebenserfahrungen nehmen. Viele zentrale Themen dieses Weges bringt sie zur Sprache: Leib als Ort spiritueller Erfahrung, Bedeutung von äußeren und inneren Bildern, bewusstes Nicht-Tun, Klärungsprozesse, Gottesvorstellungen, Umgang mit Leiden, Ja zum Leben. "Der Kampf gegen mein Leben kostet so viel Kraft und ist doch sinnlos. Die Kraft brauche ich besser für das Leben, um den Alltag zu bestehen. Ich habe es schon ganz gut gelernt, jeden Augenblick so zu leben, wie er nun einmal ist." "Vor vielen Jahren hatte ich den Eindruck, dass mein Unterbewusstsein wie ein dunkler Keller ist. ... ... Allmählich im Laufe von vielen Jahren ist aus einem dunklen Keller eine Krypta geworden, in der es Leben gibt." Gertrud schreibt aus ihren persönlichen Erfahrungen heraus, nie belehrend. Das macht die Briefe anregend für den eigenen Weg, der immer beginnen kann und nie endet.

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Gott spricht:

Licht soll aus der Finsternis hervor leuchten.

Sein Christuslicht hat er in unsere Herzen gegeben.

Durch uns strahlt es zu anderen.

Wir aber haben solchen Schatz in irdenen, zerbrechlichen

Gefäßen.

Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt,

so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.

Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist,

schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige

Herrlichkeit,

uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare,

sondern auf das Unsichtbare.

Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich;

was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

nach 2. Korinther 4, 6+7+17+18

Inhalt

Statt eines Vorwortes

Einleitung

Schatz in irdenen Gefäßen – Briefe August 1999 bis Dezember 2000

Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert – Briefe Januar 2001 bis Mai 2005

Anhang: Übungen, auf die sich die Brief beziehen

Statt eines Nachwortes: Gedanken zum Lebensende

Dank

Statt eines Vorwortes

„Ein kostbares Geschenk sind mir Deine Briefe und noch mehr der innere Weg, den Du darin zum Ausdruck bringst.

Wann darf ein Mensch schon so nahe an das zarte Verhältnis einer Seele zu Gott herantreten, wie Du es mir darin erlaubst. Auch für einen Pastoren wie mich ist das nicht ‚Alltagsgeschäft‘, sondern ‚Heiliges Land‘ – der Ort, wo der Himmel die Erde berührt wie bei Jakobs Traum von der Himmelsleiter – oder wie in Jesajas Vision im Tempel.“1

So schreibe ich an Gertrud, nachdem ich bereits seit mehr als einem Jahr mit ihr in intensivem Gespräch bin – meist telefonisch, gelegentlich in direkter Begegnung, selten von meiner Seite auch durch Briefe. Sie selbst reflektiert ihren spirituellen Weg sehr intensiv in ihren Briefen, die hier nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich werden.

Anfangs ist ihr wichtig, dass im Blick auf ihren Brief niemand „anders erfährt, dass er von mir kommt. Ich fürchte, mir würde dadurch zu viel verlorengehen.“2 Später korrigiert sie sich ausdrücklich: „Jetzt möchte ich Dir aber sagen, dass ich inzwischen anders denke über das, was meine Briefe an Dich angeht. Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass es gar nicht so sehr um mich geht, sondern dass irgend etwas wie ein Strom durch mich hindurch fließt zu Dir oder auch weiter ... So hast Du also von mir aus alle Freiheit zu tun, was Du für gut hältst. Ich habe keine ‚Urheberrechte‘ und habe auch keine Befürchtungen mehr, dass es mir schaden könnte. Am Ende wird Gott uns beide bewahren und hoffentlich im Stillen gebrauchen und Segen fließen lassen, wohin er will.“3

In diesem Vertrauen und in dieser Hoffnung können diese Briefe auch für andere, die sich auf einen spirituellen Weg begeben, fruchtbar werden. Denn in den Briefen kommen viele zentrale Themen eines jeden spirituellen Weges zur Sprache – Themen, die sich natürlich in den letzten Abschnitten des Lebens besonders unausweichlich stellen.

So durfte ich Gertrud begleiten und Einblick nehmen in einen Weg, auf dem auch ich selbst unterwegs bin – auf dem sie mir aber zugleich ein Stück voraus war:

Vom ersten Brief an ist der

Leib

wesentlicher Ort der spirituellen Erfahrung – zunächst in Übungen, die Körperwahrnehmung einbeziehen, später auch in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Schmerzen.

Bilder

aus der christlichen Tradition gehören zum Übungsweg in der Gruppe, an dem Gertrud teilnahm. Für sie entfaltet sich die Kraft dieser Meditationsbilder in Resonanz zu ihren alltäglichen Erfahrungen sowie zu ihrer stark ausgeprägten eigenen Bilderwelt und entwickelt eine heilsame Wirkung.

Was kann es bedeuten, dass Gott sein Licht in unseren Herzen aufleuchten lässt, wir aber diesen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen tragen – auch zu anderen hin? Im Zentrum des spirituellen Weges steht bewusstes

Nicht-Tun

: Gertrud erfährt, wie im Nichtstun Gott Raum gewinnt – auch nachdem sie durch ihre Krankheit nichts mehr tun kann – und dass seine Kraft wie ein Strom durch sie hindurch wirkt.

Wie kann es geschehen, dass sich Gottes Licht in uns ausbreitet? Gertrud erfährt einen inneren Prozess der

Klärung

, der für jeden über reine Wellness-Übungen hinaus gehenden spirituellen Weg unverzichtbar ist. Bei ihr spiegelt sich dieser Prozess in den Bildern der Verwandlung eines unheimlich bis bedrohlich erlebten Kellers in eine lebensvolle Krypta.

In diesem Prozess verwandeln sich bei Gertrud auch ihre Vorstellungen und

Bilder von Gott

.

Ist die Spannung auszuhalten zwischen der Erfahrung unserer Grenzen und möglicherweise zunehmenden Schwächen und dem, was Paulus „über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ nennt? Die Briefe entfalten eine „Theologie des Leidens“, die nicht an irgendwelchen akademischen Schreibtischen erdacht ist.

Leiden

als a-personaler Einbruch in ihr Leben nimmt Gertrud als Person an und erfährt darin eine trans-personale Qualität göttlicher Nähe. Anders ausgedrückt: Ihre Leidenserfahrungen sind nicht Theorie, sondern erlittene Schmerzen, ertragene Sinnlosigkeit und Ringen mit Gottes abwesender Anwesenheit oder auch anwesender Abwesenheit. Sie sind durchwoben von dem Trost aus der Begegnung mit Gottes Leiden in Christus.

In vertieften meditativen Übungen – wie auch im Prozess zum Ende des Lebens hin – kann eine

neue Beziehung zum Leben

gewonnen werden, die Abstand ohne Distanzierung und liebende Verbundenheit auch ohne äußere Nähe in sich schließt. Darin bricht eine neue Ebene der Freiheit auf, die am Ende auch die Freiheit zum Hinübergehen über die Schwelle des Todes beinhaltet.

Erst jetzt – nach mehr als einem Jahrzehnt – fühle ich mich in der Lage, die Briefe erneut zu lesen und schließlich aus der Hand zu geben.

* * *

Bis auf geringfügige Kürzungen, klärende Einschübe und Korrekturen der Rechtschreibung werden die Briefe unmittelbar wiedergegeben. Dabei habe ich über ihren persönlichen Vornamen hinaus gehende Angaben zu ihrer wie zu anderen genannten Personen anonymisiert.4

Ich erläutere die Briefe gelegentlich durch kurze Hinweise.5 Anleitungen zur Meditation6 bilden den Hintergrund für die Erfahrungen dieses Briefwechsels – vor allem im ersten Jahr. Diese Meditationen wirken auch noch weiter in den Jahren, in denen Gertrud durch die Folgen eines Sturzes in ihrer Wohnung an keinen Tagungen mehr und auch nur noch selten an Übungen in der Gruppe teilnehmen kann. Einige dieser Übungen sind im Anhang dargestellt.

An wenigen Stellen habe ich Briefe von mir an Gertrud eingefügt.7

Auf Literaturverweise im Text verzichte ich. Sie wären dem Charakter dieser Briefe nicht angemessen. „Statt eines Nachwortes“ sind einige wenige Texte zu den anklingenden Themen angehängt. Wer sich jedoch grundsätzlicher mit hier durchlebten Erfahrungen beschäftigen möchte, findet genügend Literatur zum Thema.

Mir selbst waren in den letzten Jahren drei Bücher hilfreich, auf die ich gern verweise:

Verena Kast, Altern – immer für eine Überraschung gut, Patmos-Verlag, 2016

Gerda und Rüdiger Maschwitz, Spirituelle Sterbebegleitung, Mankau Verlag, 2013

Monika Renz, Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht, Herder-Verlag, 2015

1 Hier und im folgenden Text der Einleitung sind die Datumsangaben aus den Briefen vermerkt: 15. Dezember 2001. Jakobs Traum von der Himmelsleiter: 1. Mose 28, 10 ff. – Jesajas Vision im Tempel: Jesaja 6, 1 ff.

2 24.2.2000

3 8.10.2003

4 Die jeweiligen Namen sind durch Buchstaben ersetzt.

5 Die Erläuterungen zu den Briefen sind kursiv geschrieben.

6 Die Übungen sind dem Buch entnommen: Christliche Feste meditativ erfahren. Ein Praxisbuch für Einzelne und Gruppen. Wolfgang Lenk in Zusammenarbeit mit Ellen Kubitza und Irmgard Lenk, Benziger-Verlag 1999 – zur Zeit vergriffen. Mit dem Kürzel „CF“ und Seitenzahl wird ggf. darauf verwiesen.

7 Auch sie sind kursiv gedruckt.

Einleitung

Gertrud habe ich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre kennengelernt. Sie hatte seit Jahren regelmäßig an Einkehrtagen des Gemeindedienstes der Nordelbischen Kirche teilgenommen, die von Mittwoch vor Himmelfahrt bis zum Sonntag danach dauerten. Ein Rhythmus von Tagzeitengebeten, Vorträgen über biblische Themen und persönlicher Stille prägten diese Schweigetage, bei denen auch das Angebot zu Gespräch oder persönlicher Beichte selbstverständlich war. Ein Bild aus einer dieser Tagungen hat sich mir tief eingeprägt: Bei einer kreativ-spielerischen Gestaltung eines biblischen Textes hatte sie ein großes, blaues Tuch ergriffen und um sich geschlungen. Ihr Gesicht mit den rosa Wangen, den gewellten, grauen Haaren und den unternehmungslustig leuchtenden Augen strahlte daraus hervor: „Sich von Gottes Liebe umhüllen lassen“ war das Thema gewesen.

Von November 1999 bis Juni 2000 nahm sie teil an dem Meditationskurs: „Meditation im Alltag – Christliche Feste meditativ erfahren“8. In dieser Zeit begann mein intensiver Gesprächs- und Briefkontakt mit ihr, der erst kurz vor ihrem Tod endete. Sie war damals 72 Jahre alt und starb in ihrem 78. Lebensjahr. Erst auf diesem schriftlichen Weg erfuhr ich in immer neuen Einblicken auch Einzelheiten aus ihrem Leben.

Gertrud wurde 1927 geboren. 1943 war sie 16 Jahre alt, als ein Bombenangriff weite Teile Hamburgs und auch ihr Elternhaus zerstörte. Seit 1949 war sie verheiratet und wurde Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn, später auch mehrfache Großmutter. Tiefe seelische Verletzungen, verbunden mit depressiven Einbrüchen, brachten sie an eine Grenze, die sie eines Tages fast leibhaftig wie eine unüberwindliche Mauer erlebte. Gleichzeitig aber erfuhr sie eine Geborgenheit, die sie nur als Gottesbegegnung begreifen konnte.9 Nach diesem Erlebnis fand sie Anschluss an eine Gemeinde, in der sie sich mit Freude ehrenamtlich engagierte und Unterstützung auch für ihre schwierige persönliche Situation fand. Eine tiefe Krise in der Gemeinde und das wachsende Leiden an ihrer Ehe führte schließlich 1987 dazu, dass sie in einen anderen Stadtteil in ein eigenes Haus zog und sich scheiden ließ. Das Haus, in dem sie mit 60 Jahren ein neues Leben begann, bewohnte sie noch 18 Jahre lang bis zu ihrem Tod im Juli 2005.

Die tiefen Brüche und Verletzungen ihres Lebens blieben als dunkle Spur bis zuletzt wirksam in einbrechenden depressiven Episoden, aus denen sie sich jedoch immer wieder hin zu der Erfahrung göttlichen Lichtes und unbegreiflicher Liebe lösen konnte.

Schreiben war für Gertrud eine elementare Lebensäußerung, die sie auch zur Klärung ihrer eigenen Gedanken und Erfahrungen brauchte.10

Die Briefe berichten von Gertruds inneren Erfahrungen in zwei verschiedenen Phasen ihrer letzten Lebensjahre, die durch eine deutliche Zäsur voneinander unterschieden sind:

Die erste Phase (1999 – 2000) umfasst vor allem die Zeit, in der sie am Meditationskurs teilnahm. Sie reflektieren die Erfahrungen, die sie mit den Übungen dieses Kurses gemacht hat, aber auch die Nachwirkungen, verstärkt durch ihre Teilnahme an einem Einkehr-Wochenende im Gethsemanekloster bei Goslar, das besonders durch seine romanische Krypta eindrucksvoll weiter wirkte. Auch in der zweiten Phase klingen immer wieder einmal Motive aus dieser Zeit an, treten aber in den Hintergrund der Erinnerung bzw. der verinnerlichten Erfahrung.

Die zweite Phase (2001 – 2005) beginnt mit einem tiefen Einbruch, als sie im Januar 2001 in ihrer Wohnung stürzt und in der Folgezeit an Lähmungserscheinungen und Schmerzen leidet. Zunächst ist sie an das Haus gebunden wie auch in der letzten Phase ihres Lebens. Die ersten Briefe aus dieser Zeit sind sehr kurz, auch die späteren schreibt sie oft nur mit Mühe, obwohl sie schon nach einem halben Jahr wieder in fast derselben gepflegten Handschrift wie vor dem Unfall schreibt. „Ich bin nur froh, dass Gott mich nicht auch noch am Schreiben hindert. Das zählt ja zu den Dingen, die ich noch tun kann.“11

Gertrud muss nun allerdings zunehmend mit Nerven-Schmerzen leben, die ihr das Schreiben schwer machen. Sie ringt mit der Frage, welchen Sinn ihr Leben in diesem Zustand überhaupt noch haben kann. Sie macht jedoch die erstaunliche Erfahrung, dass Schmerzen und Gottes Nähe in einen eigenartigen Einklang kommen können: Gottes Nähe nicht trotz der Schmerzen, sondern in ihnen! 12 Dabei unterscheidet sie genau zwischen diesen Schmerzen, von denen sie weiß, dass sie – nach vergeblichen ärztlichen Bemühungen – nur ausgehalten werden können, und anderen, wie zum Beispiel Zahnschmerzen, für die sie sich durch kieferchirurgische Eingriffe noch im letzten Jahr ihres Lebens Hilfe holt.

Immer wieder einmal taucht die Frage auf, wie lange sie das noch aushalten müsse. Dabei beschreibt sie mit erstaunlicher Klarheit einen eigenartigen Zwischenzustand, zwischen dem Leben, an dem sie nun nicht mehr ungebrochen teilhaben kann, und dem Leben, auf das sie jenseits des Todes hofft. Dieser Zustand hat für sie nichts mit stumpfer Gleichgültigkeit zu tun, sondern ist wache Teilhabe am Leben – jedoch aus einer anderen Perspektive als der handelnden.13 Gleichzeitig leidet sie aber auch unter der Distanz und sehnt sich danach, „irgendwo zu Hause „ zu sein.14

Nach viereinhalb Jahren des Leidens wird es ihr geschenkt, endlich ganz in der anderen Wirklichkeit anzukommen.

Gertrud war eine Frau mit ausgesprochen visueller Begabung. Auch nach ihrer ersten starken Gotteserfahrung tauchten immer wieder Bilder auf – ungewollte Imaginationen bei Tag oder auch in Träumen. So erlebte sie auch biblische Geschichten weniger von ihrer rationalen Bedeutung als von deren bildlich-symbolischem Gehalt her. Sie war in der Bilderwelt der Bibel zu Hause; das erwies sich gerade in der schwierigsten Phase ihres Lebens als wertvolle Quelle, aus der sie immer wieder schöpfen konnte. Was im „betrachtenden Gebet“ seit Ignatius von Loyola systematisch geübt werden kann, war für sie selbstverständlich.

Dabei hatte sie ein gesundes Unterscheidungsvermögen zwischen der Welt ihrer inneren Bilder und der Welt der äußeren Realitäten: Die inneren Bilder waren ein Teil ihrer Begegnung mit der göttlichen Wirklichkeit. Sie hatten zu tun mit ihrem innersten Wesen, hinderten jedoch in keiner Weise ihre Fähigkeit, ihren Alltag zu bewältigen.15

Für mich als geistlichem Begleiter war zunächst wichtig abzuklären, welche Qualität dieses innere Bilderleben für Gertrud hatte. Spirituelle Erfahrung und seelisch krankhafte Entwicklungen sind bisweilen nahe beieinander. Aus diesem Grund hatte wohl auch eine Seelsorgerin einmal zu ihr gesagt, sie dürfe ihre „Bilder nicht ernst nehmen, weil das Schwärmerei ist“16. Nachdem mir klar war, wie selbstverständlich sie in ihrer Alltagswirklichkeit zu Hause war, konnte ich auch auf die heilende Kraft ihrer Bilder17 vertrauen, die sie sowohl spontan als auch in Zusammenhang mit der Meditation von biblischen Texten und Symbolen entwickelte. So schrieb sie rückblickend: „Es begann vor einigen Jahren damit, dass Du mir Mut gemacht hast, meine Bilder zuzulassen. Später, wenn ich Fragen hatte, hast Du mir keine direkten Antworten gegeben, sondern Denkanstöße und die Ermutigung, meinen eigenen Weg zu finden. Und das ist es wohl, was mir wirklich hilft.“18

In dem Meditationskurs „Meditation im Alltag – Christliche Feste meditativ erfahren“ sind die Grundschritte meditativer Übung immer wieder verbunden mit Übungen zur Wahrnehmung des Körpers.19 Dahinter steht die Einsicht, dass unser Körper immer schon präsent ist – wie auch Gott schon gegenwärtig ist und nicht erst durch unsere Übung vergegenwärtigt werden muss. Allerdings sind wir mit unserem Bewusstsein meist nicht ganz an diesem Ort, an dem unser Körper schon ist: Hier. Auch sind wir mit unserer Aufmerksamkeit meist nicht ganz in dieser Zeit, in der wir einzig unseren Körper – und damit unser Leben – erfahren: Jetzt20. Die Grundübung ist also ganz schlicht: Einfach nur da sein, wie Gott bereits da ist. Der Leib wird dabei begriffen als „Tempel des Heiligen Geistes“.21 Darin ist der Meditationsweg, den auch Gertrud in der Gruppe mit uns gegangen ist, ein kontemplativer Weg. Zur Kontemplation führen in diesem Kurs sowohl die Übungen zur Wahrnehmung des Körpers als auch die Themen, Bilder und Symbole aus dem Kirchenjahr, die oft mit imaginativen Anregungen verbunden sind. Notwendig gehört zu diesem Weg aber auch das Angebot persönlicher Begleitung, die Gertrud dann bei mir wahrnahm.

Sowohl in der Körperwahrnehmung als auch in den symbolischen Bildern liegt die Tiefenwirkung begründet, die solch ein meditativer Weg haben kann und die Begleitung notwendig macht: Im Körper sind viele, wenn nicht sogar alle Erfahrungen unserer Biographie gespeichert, die unser Bewusstsein längst vergessen hat.22 Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass Gertrud im Laufe des Kurses – und auch in seiner Wirkung darüber hinaus – Ereignisse erinnerte, die sie meinte, längst hinter sich gelassen zu haben: Unbewältigtes kam zu Tage und konnte sich gerade durch die Begleitung im Gespräch klären und lösen. Ihr „Keller“ – oder wie sie es auch nennen konnte: ihre „Tiefe“ – wurde aufgeräumt und verwandelte sich zum Ort des Rückzugs angesichts äußerer Schmerzen und Erschütterungen. Er wurde zum Ort der bleibenden Gegenwart Gottes.

Dieser Prozess leitete etwas ein, was ohnehin in der letzten Lebensphase eine wichtige Rolle spielt: noch einmal auf das Leben zurück zu schauen und besonders im Blick auf schwierige Erfahrungen und Abschnitte des Lebens einen Weg zum Frieden zu finden. Dabei ist es nötig, solche Themen immer wieder anzusehen, bis sie losgelassen werden können. So ist es wohl nicht nur Ausdruck ihrer abnehmenden Kräfte, wenn Gertrud in den Briefen der letzten Jahre manche Themen neu aufgreift und noch einmal etwas anders beschreibt, die in früheren Briefen schon vorkamen. Ich habe mich deshalb entschieden, diese Wiederholungen nicht zu tilgen.

Im letzten Brief vor ihrem Tod blickt sie selbst auf diesen ganzen Prozess noch einmal zurück und schreibt: Vor längerer Zeit hatte „ich … den Eindruck, dass es tief in mir einen ganz dunklen Raum gibt, zu dem ich keinen Zugang habe. Es war eigentlich nicht beängstigend für mich, weil ich davon überzeugt war, dass Jesus diesen Raum kennt und ihn bewacht. Aber dann hatte ich während der Zeit des Meditationskurses in der Stille zu Hause das Erlebnis, dass aus meiner Tiefe etwas Schreckliches hoch kam. Es sah aus wie eine Schlange mit einem grässlichen Kopf. Mir war so, als müsste ich mich übergeben und dann war es auch vorbei. Später erlebte ich dann diesen Raum in mir hell und so wie die Krypta in Riechenberg. Einmal in der Weihnachtszeit lag in diesem Raum auf dem Boden ein Kind und füllte den ganzen Raum mit Wärme.“23

8 In der Einladung zu dieser Halbjahresgruppe heißt es: „Körperübungen, kreative Impulse und Anleitungen zur Meditation sind darin verbunden mit grundsätzlichen Überlegungen zur meditativen Praxis wie zu den Themen des christlichen Jahreszyklus.“ Der Kurs ist dargestellt in dem o.g. Buch „Christliche Feste meditativ erfahren“.

9 vgl. Brief vom 24.2.2000

10 vgl. Brief vom 1.8.2003

11 10.4.2003

12 vgl. Briefe vom 2.6.2003 und 3.7.2003

13 vgl. Brief vom 1.5.2003

14 vgl. Brief vom 31.12.2000

15 vgl. Brief vom 8.7.2000

16 vgl. Brief vom 10.4.2003

17 Ausführlich mit diesem Thema habe ich mich noch zu Gertruds Lebzeiten in einem Vortrag über die „Heilende Kraft der Bilder“ befasst, abgedruckt in: Wolfgang Lenk, der Weg, den du gehst, Aufsätze, Betrachtungen, Vorträge und Meditationen, Books on Demand, 2015, S.242

18 vgl. Brief vom 10.4.2003

19 Vgl. CF S.29 ff.

20 Mehr dazu in: Wolfgang Lenk, Meditation, Band 2 der Reihe „Endlich Zeit für...“ im Lutherischen Verlagshaus, Hannover 2007, S.61 ff. – im Folgenden zitiert als „M“ und Seitenangabe.

21 1. Korinther 6,19

22 Vgl. M S.24 ff.

23 vgl. Brief vom 6.5.2005

Schatz in irdenen Gefäßen – Briefe August 1999 bis Dezember 2000

14.08.1999

Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr das, was ich bei den Einkehrtagen in Breklum in diesem Jahr erlebt habe, bis in meinen Alltag hinein wirkt. Im Juni habe ich mir das Knie verletzt. Jetzt kann ich schon wieder ganz gut laufen, aber mein Kniebänkchen ist seitdem außer Betrieb. Ich weiß auch nicht, ob ich es noch einmal wieder benutzen kann. Das gehört nun wohl auch zu den Dingen im Leben, die ich loslassen muss.

Mir fallen die vielen Frauen ein, die in den vergangenen Jahren die Einkehrtage aufgeben mussten, weil die Gesundheit nicht mehr ausreichte. Der Gedanke, dass es auch bei mir vielleicht so weit sein könnte, hat mich zuerst fast zur Verzweiflung gebracht. Aber noch ist das ja gar nicht sicher, und wenn es dann so weit sein wird, werde ich wohl auch das loslassen können.

Bei unserem letzten Gottesdienst in Breklum haben Sie mit uns eine Übung gemacht, die ich seitdem zu Hause oft praktizierte: das ganz bewusste Stehen auf der Erde, die Hände nach oben ausgestreckt, den Segen aufzunehmen, festzuhalten und dann weiterzugeben, bis wir wieder leer vor Gott stehen. Das hat mir oft gut getan.24

Jetzt empfinde ich das wie den Ablauf meines eigenen Lebens. Ich bin an dem Punkt angekommen, wo ich alles weg gegeben habe, wie ein Baum, von dem die Früchte abgeerntet sind. Nun kann ich nur noch die letzten Blätter loslassen. Aber der Gedanke, leer vor Gott zu stehen, hat nichts Erschreckendes mehr für mich, es ist manchmal sogar unbeschreiblich tröstlich. Aber dies Loslassen der letzten Blätter ist sehr realistisch: Ich bin dabei, mein Haus aufzuräumen und alles, was ich nicht mehr brauche, weg zu geben oder weg zu werfen. Es gibt zum Beispiel noch viele Erinnerungen an meine erste Zeit bei der Haushalterschaft.25 ... Die Zeit hat mein Leben und besonders mein Tun sehr geprägt. Aber jetzt kann ich das alles loslassen, weil ich es nicht mehr brauche. Das Loslassen scheint im Augenblick überhaupt meine Hauptbeschäftigung zu sein. Aber ich habe den Eindruck, je mehr ich Dinge und Erinnerungen loslasse, um so mehr fühle ich mich von Gott festgehalten. Ich bin froh, dass ich meine Erfahrungen mit Gott nicht auch noch loslassen muss.

02.12.1999

Ich möchte Dir doch noch einmal sagen, wie es mir nach unserem Gespräch ergangen ist. Mit einer kurzen Antwort auf eine kurze Frage am Dienstag möchte ich das nicht abtun.

Meine Sichtweise auf meine vergangene Lebenszeit hat sich sehr geändert, als mir klar wurde, dass Gott ja schon immer dabei war, auch als ich es noch nicht wusste. Ich kann nun die Dinge, die in meiner Erinnerung hochkommen (jetzt sind es auch viele gute!), in die Hände nehmen, als einen Teil meines Lebens bejahen und ganz behutsam in meinen imaginären Korb legen. Aber es ist kein Abfallkorb, sondern wie einer, in den man Früchte sammelt.

Nun muss ich nicht mehr mein Leben als einen Scherbenhaufen ansehen, sondern als etwas, zu dem ich stehen kann.-

Und dann ist da noch etwas: Bei der Meditation am Dienstag, als es darum ging, offen zu sein zum Empfangen, fielen mir die Zeiten meiner Schwangerschaften ein. Es waren die schönsten Zeiten in meinem Leben, so gut zu spüren, dass etwas Geliebtes in mir wächst. Und dieses Gefühl war ganz leise am Dienstag wieder da.

Ich war schon längere Zeit der Meinung, dass ich mein Leben gelebt habe und war auch bereit, das alles los zu lassen. Und nun tut sich ganz zaghaft die Frage bei mir auf, ob es denn vielleicht doch noch einmal etwas ganz Neues geben wird in meinem Leben?26

08.12.1999

Ich hatte ja jetzt angefangen, mein Leben zu akzeptieren und zu bejahen. Und doch kam da immer wieder ein Aber....

Ich hätte so gern etwas Sinnvolleres getan. Ich hätte Gott gern am Ende meines Lebens etwas Schöneres zurückgegeben, so wie man einem Menschen, den man liebt, etwas Schönes geben möchte. – Und jetzt ist da wieder einmal ein Bild: Auf meinem Weg, der hinter mir liegt, ist eine lange Lichterkette. Viele kleine Lichter, und zu jedem gehört eine gute menschliche Begegnung, ein Gespräch, ein Geschenk, ein Brief, eine Umarmung oder auch nur ein Wort, ein Blick, ein Gebet. Das hat mich unbeschreiblich glücklich gemacht.

Ich hatte bisher immer gedacht, wenn Gott sich mit mir so viel Mühe macht, dann müsste das einen Grund haben, dann würde er irgendetwas von mir erwarten. Und ich konnte es nicht herausfinden.

Nun sehe ich, dass Gott mein Leben ganz anders ansieht als ich, dass er gar nichts anderes von mir erwartet hat, als diese vielen kleinen Dinge, die mir so selbstverständlich sind. Er liebt mich einfach nur so. Du hast es mir mehr als einmal gesagt, aber ich konnte es bisher wirklich nicht glauben. Nun hat es bei mir „klick“ gemacht, endlich! -

Und dann ist da noch etwas anderes: Vor einigen Jahren war da ein Bild von unserer Welt, schrecklich dunkel und voll von schreienden und weinenden Menschen. Und Gott sagte: „Ich will euch doch helfen, warum haltet ihr denn die Hände nicht auf.“

Das hat mich lange nicht losgelassen. Aber nun ist diese Welt voll von unzähligen kleinen Lichtern, lauter Spuren, wo Gott in seinen Menschen über diese Erde geht. Durch die vielen kleinen Lichter ist es bei mir schon jetzt wie Weihnachten. Ich kann das alles kaum fassen, darum musste ich es Dir wieder einmal schreiben, nur einfach so.

Zwischen diesem und den folgenden Briefen liegen eine Reihe von Meditations-Übungen zu Weihnachten und zur Epiphanias-Zeit, auf die Gertrud zunächst nicht schriftlich eingeht. In späteren Briefen beschreibt sie jedoch Nachwirkungen und greift Erfahrungen aus diesen Übungen auf.27

In Verbindung mit den Visualisierungen und Imaginationen bei der Meditation hatte ich Gertrud in einem Gespräch ermutigt, ihre eigenen inneren Bilder ernst zu nehmen. Auch hatte ich sie gebeten, mir frühere Bilder aufzuschreiben, die sie noch erinnerte. Der folgende Brief ist darauf eine Antwort.

24.02.2000

Ich möchte den Versuch machen, die Bilder zu beschreiben, die mir begegnet sind und die mein Leben so verändert haben. Ob das überhaupt möglich ist, weiß ich aber noch gar nicht.

Es begann damit, dass ich an einem Vormittag plötzlich eine Wand vor mir sah, die mir meinen Weg versperrte. Darüber war ein helles Licht. Es war aber kein warmes Licht wie von der Sonne, sondern durchdringend hell und erschreckend. Das hat mich umgeworfen. Obwohl Gott in meinem Leben bisher überhaupt keine Rolle gespielt hatte, war mir sofort klar, dass er jetzt vor mir steht. Ich war davon überzeugt, dass jetzt gleich alles über mir zusammenbrechen würde und damit mein Leben zu Ende wäre. Aber das machte mir keine Angst, ich war nur froh, dass Gott wirklich da war, wenn auch auf eine erschreckende Weise. Aber dann passierte das Schreckliche gar nicht. Im Gegenteil, es war so, als würde mich jemand aufheben und mich in die Arme nehmen. Das war für mich so unfasslich, ich war einfach selig.

Danach habe ich angefangen, die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite durchzulesen, ich habe sie förmlich verschlungen wie einen Liebesbrief Gottes an seine Menschen.

Später wachte ich einmal in der Nacht auf, sah vor mir eine Wiese und in der Ferne den Himmel an einer Stelle offen. Vor dort kam ein Licht, aber diesmal war es ein wärmeres Licht. Eine lange schwankende Strickleiter hing von oben bis zu mir und es war eine leise Stimme, die nur „komm“ sagte. Und ich konnte fröhlich und völlig ohne Angst ja sagen.