Tag Null - Angelika B. Klein - E-Book

Tag Null E-Book

Angelika B. Klein

4,5

Beschreibung

Eine junge Frau erwacht in einem Krankenhaus in Amsterdam. Sie kennt weder ihren Namen, noch ihre Vergangenheit. Lediglich in ihren Träumen erhält sie Einblicke in ihr bisheriges Leben, welche jedoch so grausam sind, dass sie sich vor ihrer eigenen Identität fürchtet. Denn die Erinnerungen bestehen aus Blut und Gewalt!

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Im Schatten des Unrechts

Im Stillen

2,8 Tage

Autorin

Angelika B. Klein wurde 1969 geboren und lebt mit ihrem Ehemann sowie den beiden Kindern in München. Sie schreibt spannende Liebesromane für Jugendliche und Erwachsene sowie Thriller.

Alle Handlungen und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Sollten sich einzelne Namen oder Örtlichkeiten auf reale Personen beziehen, so sind diese rein zufällig.

www.facebook.com/AngelikaB.Klein

instagram: AngelikaB.Klein

Ein Kopf ohne Gedächtnis

ist eine Festung ohne Besatzung.

Zitat: Napoleon

Vergessen ist Gefahr und Gnade zugleich.

Zitat: Theodor Heuss

Man trägt doch eine eigentümliche Kamera im Kopfe,

in die sich manche Bilder so tief und deutlich einätzen,

während andere keine Spur zurücklassen.

Zitat: Bertha von Suttner

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

PROLOG

Mit schnellen Schritten versucht die kleine Frau mit ihrem Schäfermischling mitzuhalten.

„Jodie! Warum hast du es heute denn so eilig?“, ruft Mathilda Jansen ihrer zweijährigen Hündin hinterher. Die 68-jährige Witwe hetzt mit der losen Leine in der Hand durch die stille Nacht. Es ist zu einer unfreiwilligen Angewohnheit geworden, dass sie gegen vier Uhr morgens mit ihrem Hund durch die verlassenen Straßen läuft, um dem Schweigen ihrer einsamen Wohnung zu entfliehen. Vor einem halben Jahr ist ihr geliebter Ehemann, mit welchem Sie nächstes Jahr die goldene Hochzeit gefeiert hätte, an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben. Seitdem erträgt sie nur schwer die Lautlosigkeit ihrer vier Wände, die sie besonders in der Nacht zu erdrücken scheinen. Vor sechs Monaten war das noch anders. Da spürte sie nach ihrem nächtlichen Harndrang die Anwesenheit ihres Mannes, fühlte die Wärme seines Körpers neben sich und hörte das leise Pfeifen seines Atems. Sie legte ihre zierliche Hand auf seinen kräftigen Rücken und schlief fast augenblicklich wieder ein.

Heute jedoch hält sie es kaum noch in ihrer Wohnung aus. Jodie ist für sie der einzige Grund, warum sie die letzten Monate überstanden hat. Am liebsten wäre sie ihrem Gatten sofort gefolgt, brachte es aber nicht übers Herz, den jungen Hund, welchen die beiden gemeinsam aus den Fängen von unseriösen Tierhändlern befreit hatten, seinem Schicksal zu überlassen.

Ihr nächtlicher Spaziergang führt sie regelmäßig entlang des Grachtengürtels. Sie liebt die vielen Kanäle in ihrer Heimatstadt Amsterdam, weshalb bereits vor zehn Jahren, als sie und ihr Mann eine neue Wohnung suchten, schnell feststand, dass ihr neues Zuhause in der Innenstadt, in unmittelbarer Nähe einer Gracht liegen musste.

Während ihre Gedanken, wie so oft, in die Vergangenheit abschweifen, bemerkt sie plötzlich das aufgeregte Bellen ihrer Hündin. Irritiert blickt sie in die Dunkelheit.

„Jodie? Was ist los? Komm her zu mir!“ Sie kann ihre Wegbegleiterin nicht sehen, lediglich erahnen, in welcher Richtung sie sich befindet. Erneut ertönt ein lautes Bellen durch die Nacht, gefolgt von einem langgezogenen Jaulen, welches Mathilda augenblicklich Gänsehaut beschert.

„Jodie?“, ruft sie besorgt in die Finsternis. Langsam folgt sie dem mittlerweile leisen Wimmern der Hündin. Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen? Vielleicht hat sie sich verletzt? Ängstlich, mit wachsender Unruhe, steht Mathilda an einer Böschung, welche hinab zu dem kleinen Fluss führt.

„Jodie! Was ist da? Komm rauf zu mir!“ Plötzlich scheinen jegliche Geräusche um sie herum zu verstummen. Schemenhaft erkennt sie das hellbraune Fell, welches sich einige Meter unter ihr befindet.

„Was ist da, Jodie?“, will sie zögernd wissen. Regungslos verharrt das Tier in seiner liegenden Stellung, was Mathilda neugierig werden lässt. Erwartungsvoll klettert sie den steilen Hang hinunter.

„Wenn du mich hier nur zum Narren halten willst, und mich alte Frau umsonst diesen Weg hinunter scheuchst, dann wirst du es bereuen! Dann kannst du dir dein Leckerli am Nachmittag abschminken!“, murmelt sie vor sich hin, während sie konzentriert einen Fuß vor den anderen setzt. Als sie die Stelle erreicht, an welcher das junge Tier auf dem Boden kauert, kneift sie verwundert die Augen zusammen. „Was ist das? Was hast du da gefunden, Jodie?“, flüstert sie neugierig. Sie tritt einen Schritt näher und erkennt im nächsten Augenblick, was da vor ihr liegt.

Kapitel 1

Langsam öffnet sie ihre Augen. Das grelle Licht schießt in Sekundenschnelle in ihr Gehirn und verursacht einen stechenden Schmerz. Reflexartig schließen sich ihre Lider wieder. Einen Moment später versucht sie es erneut. Ihr Blick fällt auf hellblaue Gardinen, welche das einfallende Sonnenlicht dämpfen. Ein leises Piepen dringt an in Ohr. Als sie sich vorsichtig umsieht, erkennt sie einen Monitor, der ihre Herzfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung überwacht. Daneben steht ein Infusionsständer mit einer Flasche, welche eine weiße Flüssigkeit beinhaltet. Warum bin ich im Krankenhaus? Was ist passiert? Vorsichtig blickt sie an sich herab. In ihrer linken Hand steckt eine Infusionsnadel, fachmännisch abgeklebt, unter der Decke ragt ein dünner Schlauch mit gelber Flüssigkeit hervor. Warum habe ich einen Blasenkatheter?, schießt es ihr durch den Kopf.

Plötzlich öffnet sich die Türe. Ein junger Mann mit weißem Kittel, Mitte dreißig, blondes Haar, betritt das Zimmer.

„Goededag! Je werd wakker! Hoe gaat het?“, fragt er mit einem freundlichen Lächeln.

Verwirrt blickt sie ihn an.

„Begrijp me?“, hakt er vorsichtig nach.

Verständnislos zuckt sie mit den Schultern.

Lächelnd versucht der Mann es erneut. „Sprechen Sie englisch?“

„Ja!“, kommt umgehend ihre erleichterte Antwort.

„Guten Tag! Mein Name ist Dr. Luuk van Deen. Wie geht es Ihnen?“, setzt er seine Unterhaltung in Englisch fort.

Sie schluckt krampfhaft, bevor sie zögernd antwortet: „Mein Hals schmerzt, aber ansonsten … was ist passiert? Wo bin ich?“

„Sie hatten einen Unfall! Sie befinden sich im BonvenlJ Ziekenhuis in Amsterdam.“

„Einen Unfall? Ich kann mich nicht erinnern …“, gibt sie nachdenklich zu.

„Könnten Sie mir bitte Ihren Namen sagen, damit wir unsere Unterlagen vervollständigen können?“

„Ja, natürlich! Mein Name ist …“, bricht sie plötzlich ab. Ängstlich blickt sie den jungen Arzt an. „Ich weiß es nicht! Ich weiß meinen Namen nicht mehr! Was ist mit mir los?“, ruft sie ängstlich aus.

„Beruhigen Sie sich! Sie hatten eine schwere Kopfverletzung, da kann es durchaus vorkommen, dass vorübergehender Gedächtnisverlust eintritt“, versucht er sie zu besänftigen.

„Können sie mir erklären, was mit mir geschehen ist? Warum habe ich einen Blasenkatheter und wurde künstlich ernährt?“, will sie mit Blick auf den Infusionsständer wissen.

„Sie kennen sich offensichtlich aus. Sind sie Ärztin, oder Krankenschwester?“, fragt er mit überraschtem Unterton.

Ihr Blick schnellt an die Decke. Konzentriert versucht sie sich an ihre Identität zu erinnern. Wer bin ich? Was bin ich? „Ich weiß es nicht!“, gibt sie schließlich entmutigt zu.

Dr. van Deen zieht sich einen der hellbraunen Holzstühle heran und lässt sich darauf nieder. Abschätzend betrachtet er die Frau vor sich. Sie ist hübsch, trotz ihrer Verletzungen. Er schätzt sie auf Ende zwanzig, schlank, sportliche Figur. Ihre haselnussbraunen Augen verströmen eine Mischung aus Furcht und Neugier.

„Ich werde Ihnen alles, was ich weiß, erzählen. Vielleicht können Sie sich dann wieder erinnern“, ermutigt er sie.

Ihr hoffnungsvolles Nicken versetzt ihm einen unerwarteten Stich in der Magengegend.

„Sie wurden vor zehn Tagen von einer älteren Dame gefunden. Sie lagen nackt und völlig kahlgeschoren, schwerverletzt am Ufer einer Gracht.“

Spontan hebt die junge Frau ihre Hand und streicht über ihren haarlosen Kopf. An der rechten Seite ertastet sie eine Wundkompresse. „Was meinen Sie mit völlig kahlgeschoren?“, fragt sie verwundert.

„Naja, ich meine damit, dass auch Ihr Intimbereich komplett von allen Haaren befreit war“, erklärt Dr. van Deen ohne rot zu werden.

Der Frau im Bett gelingt dies jedoch nicht. Ihre Wangen erröten leicht, während sie ihren Blick beschämt nach unten senkt.

„Kann es nicht sein, dass ich bereits vor dem Unfall eine Glatze und eine Totalrasur bevorzugte?“ Das gegenseitige Schweigen hält eine Minute an, dann bricht die Verletzte es. „Warum gehen Sie davon aus, dass dies mit meinem Unfall zu tun hat?“, will sie neugierig wissen.

„Weil der Täter Sie zuerst vergewaltigt, anschließend mit einem Messer attackiert und zu guter Letzt die Komplettrasur vorgenommen hat. Das wissen wir daher, weil er mit der Rasierklinge nicht sehr zaghaft umgegangen ist. Ich vermute, dass eine Frau, die sich regelmäßig alle Haare von ihrem Körper entfernt, etwas vorsichtiger vorgeht.“

Entsetzt blickt die Patientin ihren Arzt an. Erst nach einigen Sekunden hebt sie vorsichtig die Bettdecke und blickt unter ihr weißes Krankenhaushemd. Auf ihrem Bauch kleben mehrere Wundkompressen, auf ihrer Brust sind drei Elektroden angebracht. Verwirrt schüttelt sie den Kopf. „Das macht doch alles keinen Sinn! Warum …?“, bricht sie verstört ab.

„Das Wichtigste ist jetzt, dass Sie sich noch ausruhen. Die Erinnerungen kommen sicher bald zurück.“

„Was ist mit meinem Kopf?“, fragt sie weinerlich, während sie erneut die verletzte Stelle betastet.

„Sie haben ein schweres Hirntrauma. Vermutlich wurde es durch einen harten Schlag ausgelöst. Wir mussten die Schädeldecke ein Stück öffnen, um der Schwellung Platz zu machen. Aufgrund der schweren Verletzungen am Kopf und im Bauchbereich haben wir Sie in ein künstliches Koma versetzt. Vor zwei Tagen begannen wir dann, die Narkose herabzusetzen und die Aufwachphase einzuleiten. Der Tubus wurde erst vor Kurzem gezogen, deshalb ist es völlig normal, dass Ihr Hals noch etwas schmerzt“, erklärt Dr. van Deen geschäftsmäßig.

„Woher wissen Sie, dass ich vergewaltigt wurde?“

„Sie wurden von einer Gynäkologin untersucht. Das ist unter diesen Umständen eine routinemäßige Vorgehensweise.“

„Haben Sie etwas über den Täter herausgefunden?“, hakt sie nach.

„Sie meinen eine DNA sichergestellt? Nein! Er war sehr vorsichtig und hat ein Kondom benutzt. Wir vermuten, dass er die Rasur vorgenommen hat, um mögliche weitere Spuren zu beseitigen“, erklärt er nachsichtig.

„Auf dem Kopf?“, fragt sie zweifelnd.

„Schon möglich! Wir haben gehofft, Sie könnten uns nach Ihrem Aufwachen mehr über die Tat erzählen.“

„Das würde ich gerne, glauben Sie mir!“

„Ruhen Sie sich jetzt aus. Ich schicke eine Schwester, die Ihnen den Blasenkatheter und den Zugang entfernt“, verabschiedet er sich und geht Richtung Tür.

„Dr. van Deen?“, ruft sie ihm eilig nach.

„Ja?“

„Wie geht es jetzt weiter? Wie soll ich rausfinden, wer ich bin?“, fragt sie verzweifelt.

„Lassen Sie sich und Ihrem Körper Zeit zu heilen. Die Erinnerungen kehren sicher bald zurück“, bemerkt er mit einem Augenzwinkern, bevor er das Zimmer verlässt.

Die restlichen Stunden des Tages verbringt die Unbekannte grübelnd in ihrem Bett. Sie versucht vergeblich sich an die Bilder aus ihrer Vergangenheit zu erinnern. Aber da sind weder Namen, noch Gesichter, noch Ereignisse, die irgendwelche Gefühle in ihr auslösen. Da ist einfach NICHTS! Ein schwarzes, gähnendes Loch! Es fühlt sich an, als hätte sie vorher einfach nicht existiert. Jedoch kann sie sprechen, lesen und weiß was ein Blasenkatheter ist. Sie kennt die Kontinente, Hauptstädte und Präsidenten der Welt. Als sie den Fernseher einschaltet, erscheint es ihr nicht fremdartig oder ungewöhnlich, den Nachrichten auf NTV zu folgen. Das Einzige, was sie von sich weiß, ist, dass sie in einem fremden Land aufgewacht ist - sie spricht kein niederländisch.

Ihr altes Leben existiert nicht mehr. All die Jahre, die sie bereits lebt, sind bedeutungslos, wenn sie sich nicht daran erinnern kann. Die Zeitrechnung beginnt für sie von Neuem. Ab heute! Nein! Eigentlich ab dem Tag, an dem mein Gedächtnis ausgelöscht wurde! Genau vor zehn Tagen! Das war der Tag NULL!

Nachdem sie vor Erschöpfung immer wieder eingeschlafen ist, wacht sie mitten in der Nacht auf. Vorsichtig setzt sie sich im Bett auf. Sie verspürt kaum Schmerzen. Ein leichtes Ziehen im Bauch sowie die Wunde des Katheters sind die einzigen Beeinträchtigungen, die sie bemerken kann.

Langsam berühren ihre Füße den Boden. Ohne näher darüber nachzudenken, steht sie auf. Etwas wackelig setzt sie einen Fuß vor den anderen. Momentan hat sie nur einen Wunsch! Sie verfolgt nur dieses eine Ziel! Sie will sich sehen!

Aufgeregt öffnet sie die Tür zum Bad, schaltet das Licht an und erblickt im nächsten Moment ihr eigenes Spiegelbild. Geschockt bleibt sie stehen. Müde, traurige Augen starren sie an. Unter dem rechten Auge befindet sich ein gelb-grüner Bluterguss. Sie tritt näher an den Spiegel heran und berührt zaghaft ihren Kopf. Sie spürt die harten, dunklen Haarstoppeln, die sich von ihrem Wachstum nicht abbringen lassen. Ihre Finger gleiten über ihre Stirn, vorbei an ihrer Wange bis zu ihrer Nase, die nach ihrem Ermessen nicht zu groß und nicht zu klein für das ovale Gesicht ist. Ihre Lippen sind schmal, haben jedoch sinnliche Züge. Vorsichtig hebt sie das Hemd, betrachtet ihre kleinen Brüste, den flachen Bauch und die schmale Hüfte. Zwei schlanke Beine tragen ihren leichten Körper. Als sie auf ihre Füße schaut, fällt ihr am rechten Knöchel etwas auf. Ist das ein Tattoo? Neugierig dreht sie das Bein zur Seite, bis sie die beiden geschwungenen Buchstaben entziffern kann. JD.

JD? Was soll das heißen?, grübelt sie angestrengt. Nachdenklich geht sie zurück ins Bett und kriecht unter die Decke. Noch lange liegt sie wach und versucht, sich an die Bedeutung dieses Tattoos zu erinnern. Wann, wo und warum hat sie es sich stechen lassen? Irgendwann schläft sie erschöpft ein, ohne eine Antwort auf ihre Fragen erhalten zu haben.

Kapitel 2

TAG 11

Am nächsten Morgen wird die ungewöhnliche Patientin von einer rundlichen, lächelnden Schwester geweckt.

„Guten Morgen! Haben Sie Hunger? Möchten Sie etwas Zwieback?“

Kopfschüttelnd setzt sie sich vorsichtig auf. „Nein, danke! Tee reicht mir“, erklärt sie leise.

„Die Visite hat schon begonnen. Der Doktor müsste jeden Moment bei Ihnen sein“, sagt die freundliche Schwester im Hinausgehen.

Ungeduldig wartet die junge Frau auf ihren Arzt. Sie möchte ihm von der Entdeckung an ihrem Fußknöchel berichten. Kopfschüttelnd schimpft sie sich einen Narr. So ein Quatsch! Die Ärzte haben sicher jeden Zentimeter an meinem Körper untersucht. Also haben sie mit Sicherheit auch schon das Tattoo gesehen!

Durch das laute Öffnen der Tür wird sie aus ihren Gedanken gerissen.

„Guten Morgen! Wie geht es unserer frisch Auferstandenen?“, klingt ein lauter Tenor durch das Zimmer. Vor ihrem Bett baut sich ein grauhaariger Mann auf, dessen freundliche Augen sie durch eine runde Brille anblicken, während sich seine weißen Zähne unter einem struppigen grauen Bart verstecken. Im Schlepptau folgen ihm drei junge Männer sowie zwei auffallend junge Frauen in weißen Kitteln. Zuletzt betritt die Schwester, welche sie geweckt hatte, das Krankenzimmer.

„Geht schon“, antwortet die Patientin eingeschüchtert.

„Mein Name ist Dr. Jacob Dekker. Ich bin der zuständige Chirurg, der Sie operiert hat. Dr. van Deen informierte mich, dass Sie offensichtlich Engländerin sind. Wie steht es heute mit Ihren Erinnerungen? Irgendwelche neuen Erkenntnisse?“, fragt er vertrauenserweckend.

Bedauernd schüttelt sie den Kopf.

„Das wird schon wieder. Die Heilung hat ihre eigene Zeitrechnung. Gerade das Gehirn macht manchmal was es will“, erzählt er lächelnd weiter. „Darf ich kurz auf Ihren Bauch schauen?“

Ohne zu zögern, hebt sie ihr Hemd an, um die versorgten Wunden freizulegen.

Behutsam zieht der Arzt die Kompresse von ihrer Haut und begutachtet die Naht eingehend.

„Sieht gut aus! Wenigstens die Schnittwunden verheilen zufriedenstellend!“, erklärt er abschließend.

„Dr. Dekker?“, fragt sie fast schüchtern. „Können Sie mir sagen, was …“

„Hat das Dr. van Deen noch nicht gemacht? Ich dachte, er hätte Sie ausführlich über Ihre Verletzungen aufgeklärt?“, fragt der Arzt verwundert.

„Wir haben eher über meinen Gedächtnisverlust gesprochen, als über die körperlichen Schäden“, gibt sie nun offen zu.

„Natürlich! Dr. van Deen ist ja auch Neurologe, kein Metzger, wie es unter Studenten heißt!“, bemerkt er mit einem dunklen Lachen.

Einen Augenblick lang erinnert sie seine tiefe Stimme an den Weihnachtsmann.

„Sie hatten drei Einstiche im Bereich des Bauches. Einer traf ihre Milz, die wir umgehend entfernen mussten, um weiteren Blutverlust zu vermeiden. Der zweite und dritte Einstich trafen jeweils den Darm“, erklärt er anschaulich, während er auf die jeweiligen Narben zeigt. „Wir mussten die perforierten Teile entfernen. Sie haben Glück, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt wurden. Sie dürften bald wieder auf dem Damm sein, nur mit dem Essen müssen Sie es vorerst etwas langsamer angehen“, ergänzt er lächelnd. “Nun ruhen Sie sich noch etwas aus. Schwester Anna bringt Ihnen später eine leckere Haferschleimsuppe. Dann kommen Sie sicher wieder schnell auf die Beine“, beendet er seine Unterrichtsstunde mit dem typisch kehligen Lachen. „Wir sehen uns morgen wieder!“

Einen Moment später verschwindet er mitsamt seiner Anhängerschaft aus dem Zimmer. Lediglich Schwester Anna bleibt zurück.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Sie nennen soll … da Sie sich doch nicht an Ihren Namen erinnern können“, bemerkt sie kleinlaut.

Ratlos hebt die junge Frau im Bett ihre Schultern.

Plötzlich erscheint ein aufmunterndes Lächeln in Schwester Annas Gesicht. „Ach! Da wird uns schon etwas einfallen, richtig? Jetzt hol ich Ihnen erst einmal den versprochenen Tee!“

Später am Vormittag erscheint Dr. van Deen, um nach seiner Patientin zu sehen.

„Wie geht es Ihnen heute?“, will er neugierig wissen.

„Genauso wie gestern“, flüstert sie entmutigt.

„Ich habe auf Ihrem Krankenblatt gelesen, dass die Wunden gut verheilen. Wenn Sie weiterhin solche Fortschritte machen, können Sie bald entlassen werden“, erklärt der Neurologe gutgelaunt.

„Soll ich mich jetzt freuen?“, wirft sie ihm fassungslos entgegen. „Wo soll ich denn hin, wenn ich aus dem Krankenhaus komme? Ich weiß weder wer ich bin, noch wo mein Zuhause ist.“

„Irgendjemand muss Sie doch vermissen! Wir haben bisher nur die Vermisstenanzeigen in den Niederlanden überprüft, aber jetzt, da wir wissen, dass Sie wahrscheinlich aus England stammen, werden wir unsere Recherchen ausweiten. Unser Büro setzt sich noch heute mit der englischen Polizei in Verbindung, um die gesuchten Personen mit Ihnen abzugleichen.“

Voller Hoffnung lauscht sie seinen Worten, als ihr plötzlich wieder ihr Tattoo einfällt.

„Haben Sie schon mein Tattoo gesehen?“, fragt sie aufgeregt, während sie ihm ihren rechten Fuß entgegenstreckt.

„Ein Tattoo?“, fragt er überrascht.

„Ich dachte, Sie hätten meinen nackten Körper vollständig untersucht“, erklärt sie mit erstauntem Unterton.

„Ich nicht! Ich bin Neurologe und Neurochirurg! Mein Fachgebiet befindet sich oberhalb des nackten Körpers“, unterstreicht er seine Antwort mit einem bedauernden Lächeln.

„Welch ein Pech für Sie!“, entgegnet sie schmunzelnd. „Ich habe das Tattoo heute Nacht entdeckt, aber ich habe keine Ahnung, was es bedeuten könnte“, erklärt sie plötzlich wieder ernst.

„JD? Vielleicht sind es die Anfangsbuchstaben Ihres Namens?“, rätselt Dr. van Deen.

„Wer tätowiert sich denn seinen eigenen Namen auf den Fußknöchel?“

„Ach! Da gibt es so einige Menschen. Sie würden sich wundern!“, bemerkt er wissend.

„JD? JD!“, überlegt sie laut.

„Vielleicht heißt es …“, setzt der Arzt an.

„Sagen Sie jetzt bloß nicht: Jane Doe!“

„Nein! Das wollte ich nicht sagen! Aber es ist eine gute Idee. Die unbekannte Person Jane Doe!“, sagt er theatralisch. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie Jane nenne? Wenigstens bis wir weitere Anhaltspunkte haben.“

„Jane? Nein, bloß nicht!“, stößt sie entsetzt aus.

„Wie dann? Wie soll ich Sie nennen?“

Für einen Augenblick denkt sie ernsthaft darüber nach, sich doch Jane zu nennen. Dann fällt ihr Blick erneut auf das schön gestochene Tattoo. „Nennen Sie mich JD!“

„JD? In Ordnung! Also JD, wir haben noch viel Arbeit vor uns, wenn wir die unbekannten Teile Ihres Gehirns erforschen wollen. Gehen wir es an!“, äußert er enthusiastisch. „Was halten Sie davon, wenn wir uns beim Vornamen nennen? Ich meine, das würde vielleicht einiges erleichtern“, ergänzt er vorsichtig.

„Gerne! Aber bekommst du keine Probleme? Du bist doch mein Arzt!“

„Keine Sorge! Das ist nicht das erste Mal, dass ich einem Patienten anbiete, mich beim Vornamen zu nennen. Also, ich bin Luuk“, erklärt er und reicht ihr die Hand.

Während sie noch über seine sorgenfreien Worte nachdenkt, ergreift sie seine Hand. „Ich bin JD.“

Nach seiner Bemerkung, dass es für ihn keine Seltenheit ist, mit Patienten auf die freundschaftliche Ebene zu wechseln, kann sie einen schmerzhaften Stich in ihrer Herzgegend nicht verleugnen.

„Weißt du noch etwas über mich, was ich noch nicht weiß?“, will sie schnell wissen.

„Ich hatte heute Morgen eine Unterredung mit Frau Dr. Martens. Sie ist die Gynäkologin, die dich vor zehn Tagen untersucht hat“, bricht er wartend ab.

„Und? Ich weiß bereits, dass ich vergewaltigt wurde. Und das ist momentan der einzige Grund, warum ich froh bin, mich nicht an meine Vergangenheit erinnern zu können. Ehrlich gesagt, hoffe ich auch, dass diese Erinnerung für immer verschwunden bleibt“, wendet sie verletzt ein.

„Da ist noch etwas Anderes. Du bist wahrscheinlich Mutter!“

„Warum wahrscheinlich?“, hakt sie gefasst nach.

„Dr. Martens sagt, dass du zu 99 % ein Kind geboren hast, was sie daran erkennt, dass am Damm eine verblasste Narbe zurückblieb.“

„Ich habe ein Kind?“, flüstert sie betroffen. „Und mein Kind ist jetzt irgendwo da draußen allein, weil seine Mutter sich an nichts mehr erinnern kann? Vielleicht braucht es Hilfe? Vielleicht liegt es alleine in der Wohnung, schreit sich die Lunge aus dem Leib und verdurstet qualvoll?“, stößt JD panisch aus. Plötzlich fällt ihr ein, dass sie bereits seit elf Tagen in diesem Krankenhaus liegt.

„Oh mein Gott! Wahrscheinlich ist es bereits tot!“ Tränen laufen ihr über die Wangen.

„Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand! Dr. Mertens ist sich sicher, dass die Geburt mindestens fünf Jahre zurück liegt. Vielleicht sogar länger. Es besteht also kein Grund, dass du …“

„Was weißt du schon? Auch ein fünfjähriges Kind kann verzweifelt nach seiner Mutter rufen!“, schreit sie weinend.

„JD! Hör mir zu!“, versucht Luuk sie zu beruhigen. Er hätte ihr gerne gesagt, dass er ganz genau weiß, wovon er spricht. Dass er miterlebt hat, wie eine Mutter ihr dreijähriges Kind zwei Tage lang alleine in der Wohnung zurückgelassen hat, weil sie es vorzog, mit ihrem neuen Freund auf eine Party zu gehen, bei welcher so viele verschiedene Drogen eingeworfen wurden, dass sie sich anschließend tatsächlich nicht mehr an ihren Sohn erinnerte. Und dass dieses dreijährige Kind es durchaus schaffte, sich von den kläglichen Essensresten im Kühlschrank zu ernähren, nachdem es sich aus dem abgesperrten Kinderzimmer befreit hatte. Aber er erzählt es JD nicht. Stattdessen fasst er sie fest an den Schultern und schüttelt sie leicht. „Mach dich nicht verrückt! Das nützt keinem etwas! Weder dir noch deinem Kind! Außerdem glaube ich kaum, dass du weggegangen und dein Kind unbeaufsichtigt zu Hause zurückgelassen hättest. Da war sicher ein Babysitter, oder sogar der Vater des Kindes!“

JD schließt die Augen. Sie möchte Luuk so gerne glauben.

„Woher weißt du, dass ich eine gute Mutter bin? Vielleicht habe ich mein Kind alleine gelassen, weil ich nur kurz um die Ecke in den Laden gehen wollte und dann wurde ich auf dem Weg dorthin überfallen!“

Weil ich eine schlechte Mutter erkenne, wenn sie vor mir steht, denkt er. „Weil du in Amsterdam überfallen wurdest und hier lebst du nicht! Möglicherweise warst du auf Geschäftsreise oder im Urlaub“, erklärt er ruhig.

Nachdenklich wandert ihr Blick durchs Zimmer. „In Ordnung!“, lenkt sie gefasst ein. „Gehen wir davon aus, mein Kind ist nicht in Gefahr. Warum bin ich in Amsterdam?“

„Das ist wohl die Gretchenfrage! Ich gehe am besten gleich in die Verwaltung hinunter und frage, ob sie schon etwas aus England erfahren haben. Eine Frau, wie du, wird doch sicher irgendwo vermisst!“, sagt er augenzwinkernd.

„Das hoffe ich!“, entgegnet sie optimistisch.

Der kurze Abstecher in die Verwaltung weitet sich unvorhergesehen zu einer mehrstündigen Abwesenheit aus. Noch bevor er das Büro der Klinik erreicht, erhält er einen Notruf über sein Diensttelefon. Auf dem Display wird ihm angezeigt, welcher Notfall eingeliefert wurde und wo er gebraucht wird. Da es sich bei den Verletzten um zwei zehnjährige Mädchen handelt, die beim Spielen im Wald von einem hohen Baum gestürzt sind, wobei sie sich schwere Verletzungen an den Gliedmaßen sowie am Kopf zugezogen haben, wird Luuks Anwesenheit bis in die Abendstunden benötigt.

Als er es schließlich in die Verwaltung schafft, ist diese bereits nicht mehr besetzt. Erschöpft von der mehrstündigen Operation begibt er sich zurück zu seiner rätselhaften Patientin.

Als er das Krankenzimmer betritt, bemerkt er sofort die Unruhe, die vom Bett ausgeht.

„Nein! Das wollte ich nicht! Es tut mir leid!“, stammelt JD, während sie im Schlaf ihren Kopf von einer Seite zur anderen wirft. Ihr Gesicht ist schweißnass, das Krankenhaushemd vom Schwitzen durchnässt.

Hastig legt Luuk ihr seine Hand an die Wange und redet eindringlich auf sie ein.

„JD! Wach auf! Du träumst nur! Wach auf!“, wiederholt er, während er sie sachte schüttelt.

Plötzlich öffnet JD ihre Augen. „Was?“, ruft sie schweratmend aus. Ihr Atem geht stoßweise, ihre Augen starren ihn ängstlich an.

„Es war nur ein Traum! Es ist alles in Ordnung! Beruhige dich!“, versucht der Arzt sie zu trösten.

„Luuk! Das war kein Traum!“

„Was meinst du damit?“, hakt Luuk überrascht nach.

„Das war eine Erinnerung! Und sie war so furchtbar, dass ich wünschte, es wäre nie geschehen!“, erzählt sie voller Entsetzen.

Kapitel 3

Acht Jahre vor TAG NULL

Zoe Jackson stand im Badezimmer ihrer kleinen 2-Zimmer-Wohnung in London und blickte ihrem Spiegelbild entgegen. „Guten Morgen du Monster! Du schaust wirklich furchtbar aus!“ Ihre braunen Augen lagen in dunklen Höhlen, ihr schwarzes Haar hing stumpf und strähnig herab, von ihrem Gesicht hoben sich kleine rote Flecken ab. „So kann ich unmöglich auf die Insel!“, stöhnte sie schockiert. Bereits am Abend zuvor bemerkte sie das Kratzen im Hals sowie leichte Gliederschmerzen, welche sie jedoch dem durchzechten Wochenende zuschrieb, das hinter ihr lag. Dabei hieß es doch, dass man erst ab Dreißig für exzessive Nächte am nächsten Morgen bezahlen würde. Sie hatte also noch fünf Jahre Zeit, ihr Nachtleben zu genießen, ohne am nächsten Tag wie halbverdaut und ausgespuckt auszusehen.

„Vicky!“, schrie sie mit krächzender Stimme in den Flur. Als eine Antwort ausblieb, rief sie erneut nach ihrer Mitbewohnerin. „V-i-c-k-y!“

„Was ist denn? Musst so früh schon das ganze Haus zusammenschreien? Ich hatte Nachtschicht, ich will schlafen!“, ärgerte sich die vier Jahre jüngere Krankenschwester.

„Kannst du für mich einspringen?“, kam Zoe ohne Umschweife zur Sache.

„Im Krankenhaus? Zoe! Mein Dienstplan lässt keine Extraschichten zu. Ich muss irgendwann auch mal schlafen!“, erklärte Vicky bedauernd.

„Nicht im Krankenhaus! Ich muss heute auf die Insel, aber ich bin krank!“

„Was hast du denn?“, wollte die Jüngere wissen, während sie ihre Kollegin genauer betrachtete.

„Schau mich doch an! Ich sehe furchtbar aus! Außerdem fühle ich mich wirklich krank!“

„Warst du gestern mit Tony unterwegs?“

„Was hat das mit Tony zu tun? Ich habe mir die Grippe eingefangen oder irgendetwas anderes schlimmes. Siehst du das nicht?“, erklärte Zoe verwundert.

Vicky kannte ihre hübsche Mitbewohnerin zwar erst seit einem Jahr, hatte aber schon öfters am eigenen Leib erfahren, dass diese äußerst wehleidig sein konnte, wenn es um ihr Aussehen ging. Zoe ging niemals ohne Makeup aus dem Haus. Selbst im Krankenhaus, auf der Kinderstation, wo sie beide arbeiteten, wollte sie stets perfekt aussehen. Zoe war der Überzeugung, potentielle Ehemänner könnten ihr überall über den Weg laufen, deshalb dürfe sie es nicht riskieren, ihr Äußeres zu vernachlässigen. So kam es tatsächlich einmal vor, dass Zoe sich krankmeldete, weil ein hässlicher Mückenstich am Auge ihr gesamtes Gesicht entstellte. Ein anderes Mal wollte sie ihren Dienst nicht antreten, weil eine aufgeplatzte Lippe noch nicht vollständig verheilt war. Erschwerend kam hinzu, dass an diesem Tag der alleinerziehende Vater eines kleinen Patienten auf Station zu Besuch kam, dem Zoe mit diesem entstellten Mund nicht unter die Augen treten wollte.

Vicky wusste also nur zu gut, dass Zoe gerne übertrieb, wenn sie mit ihrem Äußeren nicht hundertprozentig zufrieden war. Allerdings hatte sie noch nie ihren Job auf der Bohrinsel abgesagt. Selbst die aufgeplatzte Lippe hinderte sie damals nicht daran, ihrer freiwilligen Nebentätigkeit nachzugehen.

„Hindern dich etwa die roten Flecken im Gesicht daran, deine Arbeit dort zu verrichten?“, wandte Vicky verständnislos ein.

Ein bellender Hustenanfall, welcher unverkennbar tief aus der Lunge der Erkrankten kam, ließ Vicky erschaudern.

„Das hört sich aber gar nicht gut an! Leg dich lieber ins Bett. Hast du schon Fieber gemessen?“, wollte sie besorgt wissen.

„Nein!“, kam die krächzende Antwort.

Fünf Minuten später lag Zoe in ihrem Bett, die Decke bis unters Kinn gezogen.

„Du hast 39,5 Fieber! Du bist wirklich krank!“, bemerkte Vicky überrascht.

„Sag ich doch! Kannst du mich auf der Insel vertreten?“, bat Zoe ihre Freundin.

„Was? Vergiss es, das ist nichts für mich!“

„Bitte! Nur solange, bis ich wieder fit bin. Dann komme ich sofort und löse dich ab! Ich verliere den Lohn für den gesamten Monat, wenn ich nicht pünktlich antrete!“, bettelte Zoe verzweifelt.

„Zoe! Ich kann das nicht! Erstens bin ich im Krankenhaus eingeteilt und bekomme so schnell keinen Urlaub! Zweitens ist die raue See nichts für mich, ich werde seekrank! Drittens weiß ich überhaupt nicht, was man da tun muss!“, versuchte Vicky sich zu rechtfertigen.

„Ich kann dir auf einen Schlag alle drei Argumente zerschlagen, wenn du willst. Bitte Vicky, ich habe noch was gut bei dir! Du bekommst selbstverständlich den Anteil am Lohn, für welchen du arbeitest“, entgegnete Zoe schwach. Es war ihr anzusehen, dass sich ihr Zustand minütlich verschlechterte. Dieses Mal war sie wirklich krank!

„Falls ich es mache, habe ich mich dann für dein Entgegenkommen vor einem Jahr revanchiert? Sind wir dann quitt?“, fragte die Jüngere nachgebend. Ihr tat Zoe leid und sie wollte ihr genauso selbstlos helfen, wie ihre Mitbewohnerin es vor einem Jahr tat.

Viktoria Becker zog mit zwanzig Jahren von München nach London. Sie wollte ein Jahr dort arbeiten, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, aber vor allem, um in der Stadt zu leben, von welcher sie seit ihrer Jugendzeit schwärmte. London strömte für sie eine Faszination aus, welche keine andere Stadt besaß. Vielleicht war sie etwas blauäugig, als sie sich im London Bridge Hospital direkt an der Themse bewarb und gleichzeitig eine günstige Unterkunft in der Nähe suchte. Sie fand die Anzeige einer WG in der Innenstadt, welche ihr sofort eine Zusage erteilte. Auf Wunsch des Wohnungseigentümers zahlte sie drei Monatsmieten im Voraus.

Als Vicky ein halbes Jahr später mitsamt ihren Habseligkeiten vor der in der Anzeige angegebenen Adresse stand, traf die unvorstellbare Wahrheit sie mit voller Wucht. In dem Gebäude, welches die Hausnummer 8 am Hanway Place trug, befand sich ein chinesisches Restaurant. Auf Nachfrage beim Inhaber der Gaststätte, bekam sie mit mitleidigem Lächeln die Auskunft, dass sie nicht die Erste sei, die diesen Kriminellen auf den Leim gegangen wäre.

„Es tut mir leid, aber vermutlich werden Sie auch nicht die Letzte sein, der das passiert!“, entgegnete der Inhaber bedauernd.

So zog Vicky notgedrungen in eine Pension, welche allerdings so teuer war, dass ihr von dem hart verdienten Monatslohn im Krankenhaus nicht allzu viel übrig bleiben würde.

Am ersten Arbeitstag traf sie dann im Schwesternzimmer auf Zoe. Schnell merkten die beiden jungen Frauen, dass sie sich gut verstanden, obwohl sie nicht unterschiedlicher sein konnten.

Zoe war groß, hatte eine weibliche Figur mit großen Brüsten und sinnliche Lippen, die ihr Gegenüber, wenn sie lachte, völlig vereinnahmten. Ihre großen braunen Augen versprühten eine freundschaftliche Wärme, dabei verstand sie es sehr gut, Ernsthaftigkeit mit dem nötigen Maß an Ironie zu hinterlegen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Das war auch einer der Gründe, warum sie bei den Kindern auf der Station so beliebt war. Sie konnte streng sein, ohne streng zu wirken. Zoe war schnellem Sex nicht abgeneigt und hatte einige Affären mit den Vätern der kleinen Patienten. Bisher entwickelte sich jedoch noch keine dieser Romanzen zu einer ernsten Beziehung.

Vicky war einen Kopf kleiner als ihre Kollegin, sehr zierlich und hatte einen sportlichen, jungenhaften Körper. Zoe neckte sie gerne mit dem Schimpfwort „Bügelbrett“, wobei sie auf Vickys kleine Brüste anspielte. Sie hatte schmale Hüften und schlanke Beine. Ihre braunen Haare bahnten sich einen lockigen Weg über ihren Rücken, ihr hübsches Gesicht strahlte Freundlichkeit aus. Im Gegensatz zu Zoe, hielt sich Vicky bei männlichen Bekanntschaften allerdings zurück. Sie fand sich weder begehrenswert noch reif für eine feste Beziehung. Ihr Ziel war es, in London Lebenserfahrung zu sammeln, nicht jedoch einen Mann fürs Leben zu finden.

Vier Tage, nachdem Vicky ihre neue Arbeitsstelle angetreten hatte, erzählte sie Zoe in der Mittagspause von der WG, in welche sie ziehen wollte. „… Und stell dir vor, die machen das anscheinend ständig. Der Wirt des Restaurants erzählte mir, dass schon des Öfteren junge Leute vor seiner Tür standen, weil sie die WG suchten, in welcher sie ein Zimmer gemietet hatten“.

„Du musst sie bei der Polizei anzeigen. Das kannst du den Typen nicht durchgehen lassen“, riet ihr Zoe ernsthaft.

„Was soll das bringen? Ich habe doch keine Adresse von denen“, erklärte Vicky pessimistisch.

„Lass das mal deren Sorge sein. Sie kommen über Emailadresse oder Kontoverbindung schon an die Drahtzieher ran. Du musst dein Geld zurückfordern!“, drängte Zoe weiter.

„Ich habe gerade andere Probleme. Ich kann mir die Pension auf Dauer nicht leisten“, gab Vicky leise zu.

„Dann zieh zu mir!“

„Was?“

„Zieh zu mir“, wiederholte Zoe ihr unüberlegtes Angebot. Erst, nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, machte sie sich Gedanken darüber, ob sie ihr kleines Domizil überhaupt mit einem anderen Menschen teilen wollte.

„Bist du dir sicher? Ist deine Wohnung groß genug für uns zwei?“, fragte Vicky unsicher nach.

„Eigentlich nicht! Aber ich mag dich und ich will nicht, dass du wegen Geldproblemen wieder nach Deutschland ziehen musst. Wenn du bereit bist, zwei Zimmer mit mir zu teilen, dann bin ich es auch!“, bot Zoe festentschlossen an.

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Vickys Gesicht aus. Im nächsten Moment fiel sie ihrer Kollegin glücklich um den Hals. „Das ist so nett von dir, Zoe! Vielen, vielen Dank! Du hast etwas gut bei mir, das vergesse ich dir nie!“

Ein Jahr später saß Vicky nun am Bett ihrer kranken Freundin und genoss ein wenig das Gefühl, einer hilfebedürftigen Person den momentan sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.

„Wenn du das für mich machst, hast du dich mehr als revanchiert. Dann hast du wieder etwas bei mir gut! Außerdem ist es ein Haufen Geld, was du dort drüben verdienst, vergiss das nicht!“, bemerkte Zoe mit einem Augenzwinkern. Typisch Zoe, dachte Vicky, liegt sterbenskrank im Bett und hat immer noch einen Scherz auf Lager.

„Mach dir keine Sorgen! Ich rufe schnell in der Klinik an und sage Bescheid, dass ich dringend Urlaub brauche. Danach erklärst du mir aber bitte ausführlich, auf was ich mich da einlasse!“, ergänzte Vicky mit mahnendem Unterton.

Drei Stunden später saß sie in einem Helikopter und flog hinaus auf die offene See, ohne nur im Geringsten zu ahnen, dass die bevorstehende Zeit ihre gesamte Zukunft verändern wird.

Kapitel 4

TAG 12

„Um was ging es? Willst du mir von dem Traum erzählen?“, fordert Luuk seine ängstliche Patientin behutsam auf.

„Eigentlich nicht! Die Erinnerung war so erschreckend!“, flüstert sie entsetzt.

„Woher willst du wissen, dass es eine Erinnerung war? Vielleicht hat dein Gehirn einfach nur belastende Erlebnisse verarbeitet. Da kann schnell ein beunruhigender Traum entstehen.“

„Luuk! Es war kein Traum! Ich weiß, dass es wirklich geschehen ist! Und ich glaube, ich bin nicht der Mensch, für den du mich hältst!“, erwidert sie bedrückt.

„Ich halte dich für eine junge Frau, die etwas Schreckliches erlebt hat und ihr Unterbewusstsein wegen eines kräftigen Schlages die gesamten Erinnerungen verdrängt. Erzähl mir von deinem Traum, egal wie schlimm du ihn empfindest!“

JD blickt den blonden Mann an. Sie möchte ihm so gerne von dem Ereignis erzählen, hat aber Angst, dass er sich anschließend angeekelt von ihr abwendet.

Luuk rutscht ein Stück näher an sie heran und legt seine warme Hand auf ihren Unterarm. Ermutigend lächelt er sie an. Langsam steigen Tränen in ihre Augen, als sie sich dazu entschließt, ihm zu vertrauen.

„Ich war in einem weiß gefliesten Badezimmer. Links von mir befand sich eine Badewanne, rechts ein Waschbecken. Ich kniete mit dem Rücken zur Toilette. Ich erinnere mich an diesen Raum, ich habe dort gewohnt.“

„Das ist doch ein gutes Zeichen!“, wendet Luuk lächelnd ein.

„Das glaube ich eher nicht! Auf dem Boden vor mir lag ein kleiner Junge. Er war noch ein Kleinkind, vielleicht ein oder zwei Jahre alt. Um ihn herum …“. JD bricht plötzlich kopfschüttelnd ab. Tränen laufen ihr über die Wangen.

„Ist schon gut! Lass dir Zeit!“, beruhigt Luuk sie, während er sachte über ihren Arm streichelt.

Schluchzend blickt sie ihn durch den feuchten Schleier ihrer Tränen an und schüttelt ängstlich den Kopf.

„Ich kann nicht! Er … er …“, wispert sie unglücklich.

„Was war mit dem Jungen? War er verletzt? War es dein Sohn, den du gesehen hast?“

„Er war tot! Er lag in einer Blutlache. Sein blondes Haar war von Blut getränkt“, flüstert sie leise, mit der unergründlichen Angst, je lauter sie es ausspricht, desto mehr könnte es der Wirklichkeit entsprechen.

„Vielleicht ist er gestürzt und hatte eine Platzwunde am Kopf. Die kann ziemlich bluten!“, versucht Luuk zu erklären.

„Nein! Das Gefühl, welches ich in diesem Moment hatte, war pure Schuld! An meinen Händen klebte sein Blut und ich wusste augenblicklich, dass er tot war! Ich wusste, dass ich meinen Sohn verloren hatte! Diese unwiderrufliche, klammernde Trauer empfindet eine Mutter nur, wenn sie sicher ist, dass ihr Kind gestorben ist!“

„Es kann sich doch trotzdem um einen unglücklichen Sturz oder Unfall gehandelt haben. Du darfst dir keine Schuld daran geben!“

„Ich glaube aber, dass ich ihn umgebracht habe“, presst sie mühsam hervor.

„Warum? Wie kommst du darauf?“

„Neben ihm lag eine blutverschmierte Schere. Warum habe ich das nur getan?“, bricht JD im nächsten Moment schluchzend zusammen.

Voller Mitgefühl schließt Luuk sie in die Arme. Er drückt sie an sich und streicht ihr beruhigend über den Rücken. Was sollte er dazu sagen? Wie sollte er ihre Ausführungen widerlegen?

Erst als ihre Tränen versiegt und ihre Weinkrämpfe verebbt sind, lässt Luuk seine Patientin los.

„Geht es wieder?“

„Jetzt weiß ich wenigstens, was für ein Mensch ich bin!“, stößt JD verächtlich aus. „Ich habe mein eigenes Kind getötet! Warum auch immer“, ergänzt sie flüsternd.

„Das glaube ich nicht! Aber selbst, wenn es stimmen sollte, darfst du nicht aufgeben! Da draußen gibt es Menschen, die auf dich warten! Die dich lieben und dir sicher auch diese Erinnerung erklären können!“, versucht er sie zu bestärken.

„Jedenfalls kann ich mir sicher sein, dass mein Kind nicht irgendwo verlassen in einer Wohnung sitzt, während ich hier ohne Gedächtnis im Bett liege.“

„Hör auf! Zerfließe nicht in Selbstmitleid! Das steht dir nicht!“, kritisiert Luuk sie.

„Ha!“, gibt JD verächtlich von sich. „Was weißt du schon von mir?“

„Ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist! Jedenfalls jetzt nicht mehr!“

„Sehr beruhigend!“

Schweigend starren beide vor sich hin, bis Luuk nach einigen Minuten die Stille unterbricht. „Du hast im Traum englisch gesprochen, als ich herein kam.“

„Was ist daran besonders?“, wirft sie skeptisch ein.

„Die meisten Menschen träumen und schimpfen in ihrer Muttersprache! Offensichtlich kommst du tatsächlich aus England.“

„Apropos! Hast du bei der Verwaltung etwas erreicht?“, hakt sie vorsichtig nach.

„Ich konnte noch nicht nachfragen! Mir kam leider ein Notfall dazwischen. Aber morgen früh gehe ich sofort zu der zuständigen Sekretärin und frage sie nach dem Ergebnis ihrer Nachforschungen in England.“

„Und bis dahin?“, will sie kleinlaut wissen.

„Bis dahin versuchst du erst einmal den erschreckenden Traum zu vergessen und noch ein paar Stunden zu schlafen.“

„Ich habe Angst einzuschlafen“, gibt sie ängstlich zu.

„Wenn du willst, bleibe ich hier! Falls du wieder einen Alptraum hast, kann ich dich wecken“, bietet er fürsorglich an.

„Hast du keine Familie, die zu Hause auf dich wartet?“, fragt sie verwundert.

„Nein!“

„Keine Frau?“

„Nein!“

„Nicht einmal eine Freundin?“, hakt sie erstaunt nach.

„Willst du mich loswerden? Ich kann auch …“, deutet er zur Tür.

„Nein! Schon gut! Es überrascht mich nur, dass ein … junger Arzt, wie du, nicht liiert ist!“

„Das ist das Los eines Mannes, der seine Arbeit liebt! Ich wohne praktisch in der Klinik! Da bleibt wenig Zeit für Privates!“, gibt er augenzwinkernd zu.

Zufrieden schließt sie ihre Lider und sinkt wenig später, mit dem Bild des gutaussehenden Arztes vor ihren Augen, in einen erholsamen Schlaf.

Am nächsten Morgen erwacht sie bereits, bevor die Schwester zum täglichen Wecken erscheint.

Als sie ihre Augen öffnet, fällt ihr Blick auf Luuk, der zusammengekauert auf dem kleinen Stuhl sitzt, während sein Kopf auf seine Brust gesunken ist. Die Schrecken der vergangenen Nacht sind in weite Ferne gerückt. Die Sonne kündigt einen neuen, von guten Hoffnungen erfüllten Tag an.

JD bleiben lediglich ein paar Sekunden, den sympathischen jungen Arzt im Schlaf zu beobachten. Im nächsten Moment reißt Schwester Anna die Tür auf und begrüßt sie Anwesenden mit einem lauten „Guten Morgen!“

Vergeblich versucht JD die stürmische Schwester davon abzuhalten, Luuk zu wecken. Verwirrt öffnet dieser seine Augen und setzt sich im Stuhl auf.

„Dr. van Deen? Waren sie etwa die ganze Nacht hier?“, fragt die Schwester verwundert.

„Ich muss wohl eingenickt sein! Das kommt schon mal vor, Schwester Anna, das wissen Sie doch! Wir Ärzte haben ständigen Schlafmangel zu beklagen!“, erklärt er selbstsicher.

Nachdem die Schwester ihre morgendliche Arbeit routinemäßig verrichtet hat, verlässt sie wieder das Zimmer.

„Danke, dass du hiergeblieben bist! Aber jetzt solltest du vielleicht besser nach Hause fahren!“, bedankt sich JD lächelnd.

„Daraus wird wohl nichts! Ich habe Frühdienst! Ich springe im Ärztezimmer schnell unter die Dusche, dann bin ich wieder fit. Außerdem wollte ich noch in die Verwaltung, schon vergessen?“

„Nein! Wie könnte ich?“, gibt sie lächelnd zu.

Voller Tatendrang steht Luuk auf. „Bis später! Ich berichte dir, sobald ich kann!“, erklärt er zuversichtlich, bevor er das Zimmer verlässt.

Die Visite von Dr. Dekker verläuft zufriedenstellend.

„Wenn Sie möchten, können Sie heute einen kleinen Spaziergang im Park unternehmen. Ihrer endgültigen Entlassung steht dann in zwei Tagen nichts mehr im Wege“, berichtet er gutgelaunt.

Am späten Nachmittag erscheint Luuk, mit einer großen Tüte bewaffnet, im Zimmer.

„Was hast du denn vor? Bringst du jetzt deinen Schlafsack mit, damit du es hier in der Nacht bequemer hast?“, zieht sie ihn auf.

„Was?“, fragt er irritiert. „Achso! Eigentlich nicht! Willst du etwa, dass ich heute Nacht wieder hier bleibe?“

Augenblicklich schießt JD das Blut in die Wangen. Wie konnte sie nur annehmen, er würde gerne seine Zeit mit ihr verbringen?

„Sorry, vergiss es!“, bringt sie schnell hervor. „Warst du schon bei der Verwaltung?“

„Ja, war ich! Aber in England trifft auch keine der Vermisstenanzeigen auf dich zu. Wahrscheinlich kommst du doch aus einem anderen Land“, antwortet er ernüchternd.

„Und wie sollen wir das herausfinden? In vielen Ländern wird englisch gesprochen!“

„Ich weiß! Aber ich habe mir schon etwas überlegt! Möglicherweise bist du in England aufgewachsen, lebst aber jetzt wo anders. Oder du sprichst so gut englisch, weil du einige Jahre in England gelebt hast, obwohl du nicht dort geboren bist“, erklärt er seine Gedankengänge.

„Wie kommst du darauf?“

„Letzte Nacht, hier auf diesem unbequemen Stuhl, hatte ich selbst einen sehr aufwühlenden Traum, an welchen ich mich heute Früh erinnern konnte“, beginnt er seine Erklärung.

„Einen aufwühlenden Traum?“, hakt JD schelmisch nach.

„Versuch erst gar nicht, mich auszuquetschen. Ich werde ihn dir nicht erzählen! Jedenfalls kann ich mich erinnern, dass ich in meinem Traum englisch gesprochen habe“, erzählt er weiter.

„Ja und?“

„JD! Ich lebe in Amsterdam und ich bin auch hier geboren!“, hilft er ihr auf die Sprünge.

„Aha! Dafür sprichst du aber sehr gut englisch“, gibt sie anerkennend zu.

„Das liegt wohl daran, dass meine Eltern, als ich sieben Jahre alt war, nach Brighton ausgewandert sind. Ich ging dort zur Schule und machte meinen Abschluss. Als ich studieren wollte, zog es mich zurück nach Amsterdam.“

„Du willst damit sagen, dass, wenn man lange genug in einem anderen Land gelebt hat, auch in dieser Sprache träumen kann?“, fragt sie nachdenklich.

„Das ist eigentlich nichts Neues! Das ist bekannt! Ich habe diese Option nur nicht in Erwägung gezogen!“

„Und was heißt das jetzt im konkreten Fall?“, hakt JD ungeduldig nach.

„Ich werde dich jetzt auf verschiedenen Sprachen ansprechen und du versuchst möglichst spontan zu antworten. In Ordnung?“, schlägt er vor.

„Klar, schieß los!“, antwortet sie aufgeregt.

„Anata wa nihongo ga hanasemasen?“, will Luuk ernst wissen.

„Hä? Was ist das denn für eine Sprache?“, bringt JD verblüfft hervor.

„Japanisch!“

„Japanisch? Sehe ich aus, als würde ich aus Japan stammen? Nimmst du mich gerade auf den Arm?“, ruft sie beleidigt aus.

„Sorry! Aber ich wollte wenigstens einmal mit meinen geringen Japanisch-Kenntnissen angeben“, antwortet er lachend. „Kommt nicht wieder vor! Versprochen!“

„Warum sprichst du japanisch? Bist du etwa hochbegabt und hast dich als Kind gelangweilt?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, fährt sie fort: „Könnten wir jetzt ernsthaft anfangen?“

„Parli italiano?“, schisst er prompt die nächste Fremdsprache heraus.

„No!“, antwortet sie spontan.

„Hast du mich etwa verstanden? Warum sagst du No, wenn du italienisch sprichst?“, hakt er irritiert nach.

„Ich spreche kein Italienisch, aber das Wort Italiano versteht jedes Kind! Warst du noch nie in Italien?“, entgegnet sie verwundert.

„Natürlich! Und du offensichtlich auch! Das ist doch schon einmal eine gute Nachricht. Du warst schon einmal in Italien!“

„Super! Mein Problem ist aber nach wie vor, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann!“

„Parlez-vous francais?“, fragt Luuk als Nächstes.

„Un peu!“, kommt die prompte Antwort.

„Nur ein wenig oder mehr?“, hakt er nach.

„Hab ich doch gesagt: Nur ein wenig!“, antwortet sie ungeduldig. „Vermutlich Schulfranzösisch oder so!“

„Sprichst du deutsch?“, will Luuk jetzt wissen.

„Ja! Und ich glaube sogar sehr gut!“, bringt sie überrascht hervor. „Glaubst du ich komme aus Deutschland?“, fragt sie hoffnungsvoll.

„Das werden wir gleich rausfinden!“, antwortet er ebenfalls in der neuen Sprache. Ich laufe schnell zur Verwaltung, damit sie die Vermisstenanzeigen in Deutschland überprüfen!“ Im nächsten Moment ist er aus dem Zimmer verschwunden.

Während seiner Abwesenheit blickt JD starr aus dem Fenster. Ihre Gedanken finden plötzlich nur noch in deutscher Sprache statt. Als hätte man einen Schalter umgelegt. Sie versucht krampfhaft sich zu erinnern, ob einer der deutschen Städtenamen in ihr eine persönliche Erinnerung hervorruft. Berlin, Hamburg, Köln, Dresden, Frankfurt, Stuttgart, München, Nürnberg. Nein! Keine der Städte löst in ihr ein verändertes Gefühl aus. Neugierig denkt sie an ihren furchteinflößenden Traum der vergangenen Nacht. Klick! Der Schalter ist wieder umgelegt! Sie hört und denkt nur noch in Englisch! Dabei kann sie sich noch gut an die Gefühle erinnern, die in ihr hochkamen, als sie das kleine Kind vor sich liegen sah. Nach wie vor ist JD davon überzeugt, dass der Traum genauso in der Wirklichkeit stattgefunden hat. Sie hofft, dass sie irgendwann erfahren wird, was an diesem Tag wirklich in dem weiß gekachelten Badezimmer geschehen ist. Obwohl sie sich wünscht, dass sie nichts mit dem Tod des Kindes zu tun hat, schwelgt eine untergründige Angst in ihr, dass allein ihr Verhalten dazu beigetragen hat, dass es zu dem blutigen Drama kam. Angewidert schüttelt sie die beängstigenden Gedanken ab. Möglicherweise hat Luuk recht. Sie sollte sich keine selbstzerstörenden Vorwürfe machen, solange nicht eindeutig geklärt ist, was damals geschehen ist.

Als Luuk einige Zeit später zurückkommt, kann sie aus seinem Gesicht ablesen, dass er keine guten Neuigkeiten für sie hat.

„Werde ich in Deutschland auch nicht vermisst?“, fragt sie, ohne seine Mitteilung abzuwarten.

„Nein! Nichts! Ich verstehe das nicht! Wie kann es sein, dass eine junge Frau zwölf Tage lang von Niemandem vermisst wird?“, murmelt er vor sich hin.

„Vielleicht bin ich alleinstehend! Oder ich bin von meinem herrschsüchtigen Ehemann weggelaufen!“, spricht sie ihre Gedanken aus.

„Ersteres wohl kaum! Jeder Mann würde sich glücklich schätzen, dich seine Frau nennen zu können!“, entgegnet er ehrlich.

„War das ein Kompliment?“, hakt sie vorsichtig nach.

„Wir brauchen irgendeinen Anhaltspunkt! Vielleicht erkennst du in der Stadt etwas, wenn wir hinausgehen?“, übergeht er ihre Anspielung.

„Dr. Dekker meinte, ich könne heute einen Spaziergang im Park unternehmen“, gibt sie die ärztliche Anweisung wieder.

„Ich weiß! Deshalb habe ich dir etwas mitgebracht“, erklärt Luuk, während er nach der großen Tüte am Boden greift.

Neugierig blickt sie ihn an. „Doch kein Schlafsack?“, neckt sie ihn grinsend.

Amüsiert verdreht er die Augen, um sodann schwungvoll eine Jeans, einen Pullover, Unterwäsche, ein paar Sneakers sowie eine Sweatjacke aus dem Beutel zu ziehen.

„Findest du das nicht etwas übertrieben? Wenn wir in den kleinen Park hinunter gehen, kann ich doch auch den Bademantel überwerfen“, erklärt sie mit Blick auf den weißen Mantel, der vom Krankenhaus gestellt wird.

„Wir gehen nicht in den Park“, antwortet Luuk bestimmt.

„Aber Dr. Dekker sagte …“

„Ich weiß, was Dr. Dekker gesagt hat. Ich habe mit ihm gesprochen und von ihm die Erlaubnis erhalten, dich in die Stadt zu begleiten, damit du dich dort umsehen kannst.“

„Glaubst du, ich bin dazu schon fit genug?“, will sie unsicher wissen.

„Ich glaube schon! Und falls nicht, trage ich dich persönlich zurück in dein Bett. Versprochen!“ Luuks schelmisches Grinsen unterstreicht seine ehrlichen Worte.

„In Ordnung!“, lenkt sie lachend ein. „Wo hast du nur diese Klamotten her?“ Ihr Blick fällt auf die dunkelrote Spitzenunterwäsche, die unter der Jeans zum Vorschein kommt. Sie hebt das knappe Höschen in die Höhe und betrachtet es abschätzend. „Gibt es da doch eine Freundin?“

„Nein! Aber eine Schwester, die etwa das gleiche Alter und die gleiche Größe wie du hat!“, erwidert er verlegen.

„Hoffentlich hat sie dann nicht meine Figur! Ich fühle mich gefangen im Körper eines Leistungssport betreibenden jungen Mädchens vor ihrer Pubertät! Kleine Brüste, schmale Hüften, dünne Beine!“, bemerkt JD genervt.

„Das ist deine subjektive Sicht!“

„Rede nicht wie ein Psychiater mit mir! Ich sehe meinen Körper sehr realistisch!“, wirft sie ihm vor.

„Können wir aufhören, über deine Komplexe zu sprechen und endlich losziehen? Ich würde gerne zurückkommen, bevor die Nachtschicht beginnt. Ich habe heute nämlich Notdienst! Zieh dich bitte zügig an!“

Mit offenem Mund bleibt JD zurück, während Luuk beschwingt die Tür hinter sich zuwirft.

Als sie wenige Minuten später das Zimmer verlässt, wartet der junge Neurologe bereits vor der Tür. „Das ging aber schnell!“, bemerkt er anerkennend.

„Luuk, ich glaube es ist keine gute Idee, in die Stadt zu gehen. Ich fühle mich irgendwie nicht wohl!“ Verlegen streicht sie mit der Hand über ihre kahlrasierte Kopfhaut.

„Geht es dir körperlich schlecht oder ist es dir wegen deiner Glatze peinlich?“, spricht er sie ohne Rücksicht auf ihre Geste an.

„Du hättest Psychologe werden sollen, wenn du so gerne die Gedanken deiner Patienten errätst! Ich fühle mich tatsächlich etwas …“

„Nackt?“, beendet er ihren Satz.

„Danke für die aufmunternden Worte! Das hilft ungemein!“, äußert sie pikiert.

Plötzlich hebt Luuk ein rotes Tuch mit kleinen grünen Kleeblättern darauf in die Höhe.

„Deshalb habe ich dir das hier mitgebracht. Ich habe es mir aus der Onkologie geliehen. Allzu lange wirst du es vermutlich nicht brauchen“, erklärt er lächelnd.

Überrascht schaut JD ihrem Gegenüber in die Augen. „Danke! Du hast wohl an alles gedacht?“

Glücklich über das kleine Geschenk, wickelt sie das Tuch um ihren Kopf und bindet es auf der Rückseite zusammen.

Zwanzig Minuten später spazieren JD und Luuk durch die Straßen Amsterdams. Links von ihnen verläuft eine Gracht, rechts befinden sich verschiedene Geschäfte.

„Geht es noch? Oder hast du Schmerzen beim Laufen?“, will Luuk aufmerksam wissen.

„Es geht mir gut! Aber ich weiß nicht, ob das hier etwas bringt! Ich erkenne nichts wieder!“, antwortet sie entmutigt.

„Vielleicht sollten wir dorthin gehen, wo du gefunden wurdest?“, schlägt er behutsam vor.

„Meinst du wirklich?“

„Das ist der einzige Anhaltspunkt, den wir momentan haben.“

Schweigend setzen sie ihren Weg fort. Als sie an einem Juwelier vorbeikommen, stürmt vor ihnen ein älterer Mann mit grauem Haar aus dem Geschäft. Ohne Rücksicht auf die umstehenden Passanten stürmt er zu dem wartenden Taxi und steigt ein. Einige Meter hinter ihm erscheint eine junge Frau, Mitte zwanzig mit auffallend rotem Haar. Bevor sie das Taxi besteigt, fällt ihr Blick auf JD.

„Nelly?“, ruft sie erstaunt.

Überrascht bleibt JD stehen. „Meinen Sie mich?“

„Du bist doch Nelly? Oder?“ Abschätzend betrachtet sie JD. „Ich hätte dich mit dem Kopftuch beinahe nicht erkannt.“

„Du kennst mich?“, antwortet JD aufgeregt.

Die Rothaarige blickt nervös zu dem wartenden Taxi. „Sorry Nelly, aber ich habe wenig Zeit! Geht es dir gut? Du warst letztens so schnell weg!“, erzählt sie hastig.

„Entschuldige, aber ich kann mich nicht erinnern, ich …“

„Ich bin‘s Emma! Wir haben vor knapp zwei Wochen zusammen bei Roos gearbeitet! In der Witte Tulp bei de Wallen!“, erklärt sie ungläubig. „Warum bist du so schnell verschwunden?“

„Emma!“, ertönt eine rauchige Stimme vom Taxi her, die keine weitere Verzögerung zulässt.

„Sorry, ich muss los! Vielleicht sehen wir uns mal wieder!“, ruft Emma JD entgegen und springt im nächsten Moment durch die geöffnete Tür zu dem wartenden Fahrgast ins Wageninnere.

Verdutzt bleiben JD und Luuk zurück.

„Was war das denn?“, findet Luuk als Erster seine Stimme wieder.

„Das war offensichtlich Emma und sie kennt mich! Jetzt habe ich einen Namen! Ich heiße Nelly!“, erklärt JD völlig überrumpelt.

„Nelly? Schöner Name! Aber hat sie nicht gesagt, ihr hättet zusammen gearbeitet?“, hakt Luuk nachdenklich nach.

„Ja, richtig! Bei Roos! In der Witte Tulp. Kennst du das? Ist das ein Lokal oder etwa ein Hotel?“

Verlegen blickt er sie an. „Ich glaube, es wird dir nicht gefallen, wenn ich dir erzähle, was die Witte Tulp ist.“

„Warum? Witte Tulp? Heißt das nicht weiße Tulpe? Können wir gleich hinfahren? Vielleicht kennt mich noch jemand dort?“, plappert JD euphorisch drauflos.

Bedacht wendet Luuk sich an seine Begleiterin: „JD! Die Witte Tulp ist ein Bordell im Rotlichtbezirk de Wallen!“

Kapitel 5

Acht Jahre vor TAG NULL

Mit dicken Kopfhörern auf ihren Ohren blickte Vicky aus dem Fenster des Helikopters auf das stille Wasser unter ihr. Sie hoffte inständig, dass das Wetter die nächsten Tage so ruhig bleiben würde, denn ihre letzte Erfahrung auf einem großen Schiff bei stürmischer See, war keineswegs positiv in Erinnerung geblieben.