Im Stillen - Angelika B. Klein - E-Book

Im Stillen E-Book

Angelika B. Klein

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Beschreibung

Nach einem schweren Autounfall liegt Sarah Baumann im Koma. Kurz zuvor schrieb sie einen rätselhaften Brief an ihre ehemalige Freundin Lisa. Während diese versucht, in Erfahrung zu bringen, welches Geheimnis Sarah in sich verbirgt, reist sie gedanklich zurück in die Vergangenheit. Sie wird mit Ereignissen konfrontiert, die ihr Bild von dem freundlichen Mädchen von damals zu zerstören drohen. Vielleicht sollten einige Geheimnisse besser geheim bleiben...

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Leidenschaft, die dir Leiden schafft

Sehnsucht, die du sehnlichst suchst

Schuld, die dich schuldig macht

Im Schatten des Unrechts

Autorin

Angelika B. Klein wurde 1969 geboren und lebt mit ihrem Ehemann sowie den beiden Kindern in München. Sie schreibt spannende Liebesromane für Jugendliche und Erwachsene.

Alle Handlungen und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Sollten sich einzelne Namen oder Örtlichkeiten auf reale Personen beziehen, so sind diese rein zufällig.

www.facebook.com/AngelikaB.Klein

Im Stillen hat sie gelitten

Im Stillen hat sie bereut

Im Stillen ist sie gegangen

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Epilog

LESEPROBE

DANKSAGUNG

PROLOG

Sie öffnet ihre Augen. Um sie herum ist alles schwarz. Von weit her hört sie leise Stimmen, kann sie jedoch nicht zuordnen.

„Wo bin ich?“, fragt sie leise. Keine Reaktion!

„Was ist passiert?“, will sie etwas lauter wissen. Aber auch dieses Mal bekommt sie keine Antwort. Erst jetzt bemerkt sie, dass keines ihrer Worte nach außen drang. Ängstlich versucht sie, durch eine Bewegung auf sich aufmerksam zu machen. Aber auch diese Bemühungen bleiben ohne Erfolg!

Vielleicht bin ich gelähmt?, schießt es ihr durch den Kopf. Angestrengt konzentriert sie sich auf ihre Gliedmaßen und stellt erleichtert fest, dass sie das Laken unter ihren Fingerspitzen spürt. Auch an ihren Zehen ertastet sie die kühle Decke. Aufmerksam hört sie den Stimmen im Raum zu.

Es dauert lange – viel zu lange – bis sie endlich begreift, was geschehen ist.

Kapitel 1

Nachdenklich sitzt Lisa Kerner hinter dem Steuer ihres weißen VW Polo, während der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt. Sie hat noch eine lange Fahrt vor sich, kommt aber gut voran, da die Autobahn an diesem Mittwochnachmittag nicht sehr belebt ist. Während aus dem Radio gerade ein Song aus den 80er Jahren läuft, wandert ihr Blick zum Beifahrersitz, auf welchem ein weißes Kuvert liegt. Warum gerade jetzt?, fragt sie sich bestimmt zum hundertsten Mal. Warum ist es ihr so wichtig, mich persönlich zu sprechen? Und warum springe ich sofort ins Auto und nehme knapp 400 Kilometer Fahrt auf mich, um mich mit ihr zu treffen?

Sie erinnert sich an den Tag, als sie den Briefkasten öffnete und zwischen den bunten Angeboten für ofenfrische Pizza sowie verführerischer Pasta ein weißes Kuvert steckte. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung öffnete sie den Umschlag und blieb mitten auf der Treppe wie erstarrt stehen, als sie den Namen des Absenders erkannte. Sarah, ihre alte Schulfreundin, wählte diesen ungewöhnlichen Weg, um sich mit Lisa in Verbindung zu setzen. Neugierig las sie die mit zierlicher Handschrift verfassten Zeilen:

Liebe Lisa,

du wunderst dich sicherlich, warum ich dir einen Brief schreibe, wo doch unser Kontakt in den letzten Jahren lediglich aus Emails oder WhatsApp-Nachrichten bestand. Ganz einfach: Es fällt mir momentan leichter, das weiße Papier mit dem blauen Stift zu füllen, als mich an den Computer zu setzen. Seit sechs Jahren trage ich eine Last mit mir, die ich gerne ablegen würde. Mir ist seit dem Tod meines Vaters so vieles klargeworden! Kannst du zu mir nach München kommen? Ich würde den Weg zu dir ja gerne auf mich nehmen, aber Leonie ist momentan krank, weshalb ich ihr die lange Fahrt nicht zumuten möchte. Entschuldige, dass ich dir keine Einzelheiten mitteile, aber mir liegt wirklich viel daran, dir die Lage unter vier Augen zu erklären. Meine Adresse findest du auf der Rückseite des Kuverts. Ich würde mich wirklich darüber freuen, wenn du kommen könntest. Schreib mir einfach eine kurze Nachricht, ob und wann es dir möglich ist. Auch Leonie freut sich riesig, meine damalige beste Schulfreundin kennenzulernen.

Bis bald und liebe Grüße

Deine Sarah

Beunruhigt faltet Lisa den Brief zusammen, während sie zügig ihre Wohnung betritt. Was möchte Sarah mit ihr besprechen? Und warum gerade jetzt?

Das ist jetzt zehn Tage her. Leider war es Lisa erst jetzt möglich, bei ihrem Arbeitgeber, einer renommierten Anwaltskanzlei in der Stadtmitte Frankfurts, Urlaub zu nehmen. Seit einem halben Jahr arbeitet sie dort als Referendarin und steht kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen.

Während sie auf die nasse Fahrbahn vor sich starrt, schweifen ihre Gedanken ab.

Kapitel 2

RÜCKBLICK

„Lisa, willst du gleich am ersten Tag zu spät kommen?“, ruft ihr Vater streng vom Erdgeschoss nach oben. „Beeil dich, dann kann ich dich mitnehmen!“, erklärt er versöhnlich, als seine Tochter auf der Treppe erscheint.

„Ich hasse es, in eine neue Schule zu müssen! Ihr reißt mich einfach aus meinem Freundeskreis! Sind euch soziale Kontakte so unwichtig?“, beschwert sich Lisa über die neue Situation.

„Du weißt ganz genau, dass wir das nicht freiwillig machen! Das haben wir dir oft genug erklärt!“, mischt sich jetzt ihre Mutter ein.

„Ja! Bla bla bla!“, motzt Lisa abfällig. „In einem Jahr bin ich achtzehn, dann könnt ihr mich zu nichts mehr zwingen!“

„Schön! Aber bis dahin, wohnst du mit uns zusammen und gehst zur Schule!“, übergeht Lisas Mutter die Anspielung.

Zwei Minuten später verlassen Vater und Tochter das Haus.

Lisa weiß genau, dass sie ihren Eltern Unrecht tut, wenn sie ihnen die Schuld für den Umzug gibt. Ihr Vater arbeitete als Maschinenbauingenieur in einer großen Firma in Frankfurt, welche plötzlich auf die Idee kam, eine komplette Abteilung zu schließen, um die dadurch ersparten Gelder in die Forschung zu stecken. Zwar wurde den Gekündigten ein Ersatzarbeitsplatz angeboten, welchen Lisas Vater jedoch aus Stolz sowie einer offensichtlichen Degradierung ausschlug. Stattdessen hat er eine Stelle in Fürstenfeldbruck, in der Nähe von München, angenommen. Eine mittelständige Firma suchte einen Ingenieur für Maschinenbau, wobei ihr die langjährige Erfahrung ihres Vaters ein überdurchschnittliches Gehalt wert war. Eigentlich kann Lisa von Glück reden, dass der Umzug in den Schulferien stattfand, so dass sie nicht während des laufenden Schuljahres in eine neue Klasse muss.

Die Fahrt zur Schule dauert nur kurz, selbst zu Fuß hätte Lisa den Weg in wenigen Minuten geschafft. Kurz nachdem sie die Autotür zugeschlagen hat, ertönt das typische Läuten der Schulglocke. Schnell hetzt sie ins Gebäude, um das Sekretariat aufzusuchen.

Missbilligend quittiert die Bürokraft das verspätete Erscheinen der neuen Schülerin, bevor sie Lisa zu ihrem Klassenzimmer führt.

Als sie die Tür öffnet, blicken ihr zweiundzwanzig Augenpaare entgegen. Die leicht ergraute Lehrerin dagegen, hat offensichtlich nicht vor, sich in ihrem Unterricht stören zu lassen. Unbeirrt schreibt sie eine lange Formel an die Tafel.

„Entschuldigung, Frau Ziegler! Hier ist die Neue!“, macht die eingeschüchterte Sekretärin sich bemerkbar.

„Sie ist zu spät!“, ruft die Mathelehrerin streng aus, ohne sich umzudrehen.

Die Sekretärin bedeutet Lisa, sich schnell auf einen der freien Stühle zu setzen, bevor sie die Tür eilig hinter ihr schließt.

Die erste Doppelstunde lässt Lisa, ohne bemerkenswerten Kontakt zu den Mitschülern, über sich ergehen. In der darauffolgenden Pause tritt sie unsicher in den Flur.

„Hallo! Ich bin Sarah!“, spricht sie plötzlich ein freundliches Mädchen von der Seite an.

„Hi! Ich bin Lisa! Sind die Lehrer alle so drauf, wie diese Frau Ziegler?“, entgegnet Lisa argwöhnisch.

„Nein!“, lacht das blonde Mädchen neben ihr. „Sie ist nur sehr diszipliniert und hasst es dementsprechend, wenn sich jemand nicht an ihre imaginären Regeln hält!“

„Und die wären?“, hakt Lisa nach.

„Die wichtigste Regel ist sicher: Komme niemals zu spät!“, erklärt Sarah mit Nachdruck.

„Ich werde es mir merken“, gibt Lisa lachend von sich.

Die restliche Zeit, bis zur nächsten Stunde, unterhalten sich die beiden Mädchen. Schnell merken sie, dass sie auf einer Wellenlänge sind. Bereits am nächsten Tag sitzen sie im Unterricht nebeneinander, treffen sich am Nachmittag privat zum Lernen oder hören gemeinsam Musik, während sie sich gegenseitig von ihren bisherigen Erfahrungen mit Jungs erzählen.

Eines Tages schlägt Sarah vor, das Basketballtraining der Jungenmannschaft zu besuchen.

„Sarah! Basketball interessiert mich wirklich nicht! Können wir vielleicht etwas anderes machen?“, jammert Lisa gelangweilt.

„Es geht doch nicht um den Sport! Es geht um die heißen Jungs dort!“, erwidert Sarah gekränkt.

„Willst du mich etwa verkuppeln?“, äußert Lisa erstaunt.

„Nein! Nicht dich!“

Kapitulierend verdreht Lisa die Augen. Sie hält nicht viel davon, gut gebaute Jungs in Achselshirts beim Sport zu beobachten. Allerdings ist ihr bewusst, dass die meisten Mädchen ihres Alters, so offenbar auch Sarah, diese Art der Beschäftigung geradezu lieben.

Gelangweilt trottet Lisa hinter ihrer Freundin in die Halle. Nachdem sie auf der Tribüne Platz genommen haben, überblickt sie die Spielfläche. Abschätzend betrachtet sie die einzelnen Spieler, die sich zum Aufwärmen Bälle zuwerfen. Anerkennend muss sie zugeben, dass die Jungs nicht schlecht ausschauen, aber so heiß, wie Sarah behauptet hat, findet sie diese nicht. Da war ja ihr Freund in der 9. Klasse heißer, und der hatte ein Milchgesicht und abstehende Ohren! Aber er war sehr nett! Sie konnte mit Tim über alles reden. Außerdem bekam sie von ihm ihren ersten richtigen Kuss!

Während Lisas Gedanken in der Vergangenheit verweilen, krallt sich ihre Nachbarin plötzlich an ihrem Arm fest.

„Oh mein Gott! Da ist er! Schau ihn dir an! Ist der nicht süß?“, japst Sarah entzückt.

Verwirrt reißt sich Lisa aus ihrer Erinnerung, um in Richtung Spielfeld zu blicken. Sofort erkennt sie den Grund für Sarahs Euphorie.

Mit dunklen Haaren, die ihm wild zu Berge stehen, ein rotes Trikot über seinem muskulösen Körper sowie seine schlanken, langen Beine in weißen Sneakers, läuft die Nummer sechs der Mannschaft ein. Lisas Bewunderung hält sich in Grenzen.

„Und wer ist das?“, fragt sie ruhig.

„Das ist Finn!“, erklärt Sarah anhimmelnd. „Er ist der Schwarm der ganzen Schule!“

„Was ist so besonders an ihm? Außer, dass er einen guten Körperbau vorzuweisen hat, meine ich“, will Lisa unschlüssig wissen.

„Warte einen Moment!“, antwortet Sarah, wobei sie ihren Blick nicht eine Sekunde von ihrem Ziel abwendet.

„Worauf?“

„Warte! Dann siehst du es!“, kommt Sarahs ungeduldige Erklärung.

Mit wachsender Neugier beobachtet Lisa den Spieler mit der Nummer sechs. Trotz intensiver Begutachtung kann sie Sarahs überschwängliches Verhalten nicht verstehen. Viele der Spieler haben einen gut gebauten Körper, darin unterscheidet sich dieser Finn nicht sonderlich von seinen Mannschaftskollegen. Als das Training schließlich zu Ende ist, laufen die einzelnen Spieler an der Tribüne vorbei. Winkend begrüßen sie die Zuschauer.

Mittlerweile gelangweilt, setzt Lisa ein gezwungenes Lächeln auf, welches sie den vorbeikommenden Jungs schenkt. Bis plötzlich Finn vor ihr auftaucht. Wie hypnotisiert bleibt ihr Blick an seinen Augen hängen. Noch nie hat sie ein so helles und reines Blau gesehen! Im nächsten Moment verschwindet er wieder aus ihrem Blickfeld.

„Und? Hast du es gesehen?“, stupst Sarah sie erwartungsvoll an.

„Meinst du seine Augen?“, hakt Lisa vorsichtig nach.

„Nein! Seine weißen Schuhe!“, gibt Sarah verächtlich von sich. „Natürlich meine ich seine Augen!“

„Ja, die sind ganz hübsch!“

„Ganz hübsch? Die sind der Hammer! Jedes Mädchen auf der Schule wünscht sich, von diesen Augen angesehen zu werden!“, träumt Sarah vor sich hin.

Allein das ist schon ein Grund für Lisa, sich nicht für diesen Finn zu interessieren. Sie will nicht eine von vielen sein, sondern die Einzige für ihre große Liebe.

Kapitel 3

An einer Raststätte, nahe Nürnberg, legt Lisa eine Pause ein. Während sie sich ihre Beine vertritt, donnern die schweren Lkws an ihr vorbei Richtung Süden. Lisa freut sich, endlich Sarahs vierjährige Tochter, Leonie, kennenzulernen. Nach Lisas Wegzug, vor sechs Jahren, haben sie häufig telefoniert und sich Emails geschrieben. Auch von Sarahs Schwangerschaft erfuhr Lisa als eine der Ersten. Dass ausgerechnet Marco der Vater des Kindes war, überraschte sie allerdings. Soweit sie sich erinnert, hatten die beiden während ihrer Schulzeit kaum miteinander zu tun. Marco spielte zwar in der Basketballmannschaft, fand bei ihrer Freundin allerdings keine besondere Beachtung.

Eigentlich wollte Lisa ihre Freundin schon viel früher besuchen. Leider ergab sich nie eine günstige Gelegenheit. Entweder war sie zu sehr in ihr Studium eingespannt, oder Sarah war mit Leonie im Urlaub, bei ihren Eltern oder, wegen Krankheit der Kleinen, an das Bett gebunden.

Mit der Zeit verebbte langsam der Kontakt. Die letzten zwei Jahre gratulierten sie sich nur noch über Kurznachrichten zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Umso überraschender war es für Lisa, als sie jetzt der Brief ihrer damaligen Freundin erreichte.

Erneut taucht in ihr die unbeantwortete Frage auf. Warum jetzt? Vielleicht ist sie krank? Sterbenskrank? So etwas erzählt man nicht gerne über Email oder Whats-App! Sichtlich bilden sich Sorgenfalten auf ihrer Stirn.

Plötzlich setzt der Regen wieder ein. Schnell steigt Lisa in ihr Auto, um die letzte Etappe ihrer Reise in Angriff zu nehmen.

Zwei Stunden später, erreicht sie das Autobahnende in München. Ihr Navi führt sie sicher durch die Straßen, bis sie schließlich wenig später den Stadtteil Obermenzing erreicht. Vor einem zweistöckigen Wohnhaus parkt sie am Straßenrand.

Aufgeregt überfliegt sie die Klingelschilder, bis sie den gesuchten Namen findet. Mit feuchten Händen drückt sie den entsprechenden Knopf. Wenig später ertönt der Türöffner.

Mit zunehmender Nervosität läuft Lisa in den ersten Stock und bleibt in dem modernen Treppenhaus vor einer weiß gestrichenen Tür stehen. Plötzlich erscheinen beunruhigende Bilder vor ihrem inneren Auge. Sarah abgemagert … mit blutunterlaufenen Augen und strähnigen Haaren. Von einer schweren Krankheit gezeichnet …

Plötzlich öffnet sich die Tür. Lisas Blick wandert nach unten, bis sie ein kleines Mädchen entdeckt, welches sie schüchtern anblickt.

„Hallo! Du musst Leonie sein! Ich bin Lisa und möchte zu deiner Mama!“, begrüßt Lisa das schüchterne Kind.

„Leonie!“, hört sie plötzlich eine tadelnde Männerstimme aus der Wohnung. „Du sollst doch nicht alleine die Tür öffnen! Du weißt doch nie, wer …“, bricht die Stimme abrupt ab.

Lisa schaut dem Mann in die Augen. Augenblicklich stockt ihr der Atem. Solch ein intensives Blau hat sie bisher nur einmal in ihrem Leben gesehen.

„Lisa?“, unterbricht Finn die Stille. „Was machst du denn hier?“

„Äh! Eigentlich wollte ich zu Sarah! Sie hat mir geschrieben, dass ich sie besuchen soll und …“, stottert Lisa verwirrt.

„Komm erst einmal rein, dann erklär ich dir alles!“, unterbricht sie Finn.

Während die vierjährige Leonie sich vor dem Fernseher im Wohnzimmer niederlässt, um die eingelegte DVD ihrer Lieblingssendung weiter zu sehen, setzen sich die Erwachsenen auf das gemütliche Ledersofa.

„Möchtest du etwas trinken?“, bietet Finn unschlüssig an.

„Ja, gerne! Ich bin lange gefahren“, antwortet Lisa zaghaft. Die Spannung, welche in der Luft liegt, ist von jedem der Anwesenden zu spüren. Selbst Leonie dreht sich gelegentlich zu Lisa, um sie zu beobachten.

Finn stellt ein Glas Wasser auf den Tisch, anschließend setzt er sich wieder neben seinen unerwarteten Besuch.

„Wo ist Sarah?“, will Lisa skeptisch wissen.

Trauer blickt ihr aus Finns schönen Augen entgegen. „Wann hat Sarah dir geschrieben?“, setzt er vorsichtig an.

„Vor zehn Tagen. Sie meinte, sie wolle etwas mit mir klären, ihr Gewissen erleichtern“, antwortet Lisa ehrlich.

„Lisa … Sarah hatte einen Unfall … sie liegt seit einer Woche im Koma!“, bringt Finn mühsam hervor.

Schlagartig weicht Lisa das Blut aus dem Gesicht. Ihr wird schwindlig, übel und leicht schwarz vor den Augen. Sie hat Schwierigkeiten zu atmen oder einfach nur gerade zu sitzen. Reflexartig legt Finn einen Arm um ihre Schultern.

„Alles in Ordnung? Willst du dich hinlegen?“, schlägt er fürsorglich vor.

„Nein! Was … was ist passiert? Sie hat mir geschrieben und … ich habe ihr per WhatsApp geantwortet, dass ich erst heute kommen kann. Wie … warum …?“, stottert Lisa geschockt.

„Sarah war bei ihrer Mutter in Fürstenfeldbruck. Auf dem Rückweg nach München hatte sie einen Autounfall. Sie ist mit einem Lkw zusammengestoßen.“

Kapitel 4

RÜCKBLICK

Zwei Monate nach Schulbeginn sind Lisa und Sarah bereits beste Freundinnen. Sie verbringen jede freie Minute zusammen. Immer häufiger schleppt Sarah ihre Freundin am Wochenende zu den Spielen der heimischen Basketballmannschaft. Anfangs strahlt Lisa noch wenig Begeisterung aus, mit der Zeit jedoch wird ihr Teamgeist geweckt und sie fiebert bei den Spielen regelrecht mit.

„Dieser Finn scheint es dir ja wirklich angetan zu haben“, bemerkt Lisa mit einem wissenden Lächeln.

„Ach! Willst du etwa behaupten, er gefällt dir nicht? Ich sehe doch deine Blicke, wenn du ihn von der Tribüne aus beobachtest! Du kannst es nicht leugnen: Du findest ihn auch süß, oder?“, bohrt Sarah lächelnd nach.

„Natürlich sieht er gut aus! Aber einen hübschen Mann hast du nie für dich alleine! Finn ist der typische Junge für eine kurze Affäre oder ein wenig Spaß - aber eine feste Beziehung?“, wendet Lisa skeptisch ein.

„Wer sagt denn was von einer festen Beziehung?“, neckt Sarah sie grinsend.

Eine Woche später, am Vormittag eines Spieltages, stehen sie gemeinsam neben dem großen Wandspiegel in Sarahs Zimmer und begutachten ihre Outfits. Die beiden Freundinnen könnten nicht unterschiedlicher sein. Sarah ist groß, hat eine blonde Mähne und auffallend grüne Augen. Lisa dagegen ist etwa einen Kopf kleiner und hat braune kurze Haare, die sich nur schwer zähmen lassen. Ihre haselnussbraunen Augen passen perfekt in ihr liebliches Gesicht mit den sinnlichen Lippen. Beide Mädchen sind schlank, wobei Lisa immer das Gefühl hat, sie müsse mehr für ihre Figur tun, als Sarah.

„Seit wann kennst du Finn schon?“, will Lisa neugierig wissen.

„Seit zwei Jahren - als er an diese Schule kam. Wir waren aber nur ein Jahr gemeinsam in einer Klasse, dann wollte das Schicksal, dass ich die Zehnte wiederholen muss!“, erklärt Sarah bedauernd.

„Und du hast es noch nicht geschafft, ihn auf dich aufmerksam zu machen?“, hakt Lisa verständnislos nach.

Umgehend trifft sie Sarahs strafender Blick durch den Spiegel. „Klar habe ich das! Aber bei dieser Vielzahl von Mädchen, die ständig um ihn herumschwirren, ist es nun mal schwer, ihn dazu zu bewegen, dass er nur Augen für dich hat“, bemerkt Sarah belehrend.

Eine Stunde später, sitzen sie auf der Tribüne der Sporthalle und beobachten, wie Finn und seine Mannschaftskollegen dem Sieg entgegenspielen. Als wenige Minuten später der Schlusspfiff ertönt, jubeln die Fans der triumphierenden Mannschaft zu. Lachend durchqueren die Spieler die Halle, steuern direkt auf die Tribüne zu, auf welcher auch Lisa und Sarah sich befinden. Als Finn schließlich an ihnen vorbeigeht, lächelt er die beiden Mädchen an. Während Lisa zaghaft sein Lächeln erwidert, hebt Sarah spontan die Hand, um ihm zuzuwinken. Lachend winkt er zurück.

Nachdem die beiden Mannschaften sowie ihre Trainer und die Schiedsrichter die Halle verlassen haben, erheben sich auch Lisa und Sarah, um auf den Ausgang zuzusteuern. Kurz bevor sie die Tür erreichen, zieht Sarah ihre Freundin zur Seite.

„Komm! Wir warten vor der Kabine auf ihn“, flüstert sie verschwörerisch.

„Bist du dir sicher?“, fragt Lisa zweifelnd.

„Du hast doch gesagt, ich soll ihn auf mich aufmerksam machen!“, entgegnet Sarah unschuldig.

Aber doch nicht so!, denkt Lisa, während sie ihrer Freundin folgt.

Ungeduldig warten sie vor der Tür, wobei ein Spieler nach dem anderen aus der Kabine kommt. Schließlich erscheint Finn, mit feuchtem Haar, welches er sich nach hinten gekämmt hat.

Mutig versperrt Sarah ihm den Weg.

„Hallo Finn! Kennst du mich noch? Wir waren ein Jahr zusammen in einer Klasse“, spricht sie ihn freundlich an.

„Natürlich! Wie könnte ich dich vergessen?“, antwortet er charmant.

Augenblicklich vergisst Sarah ihre einstudierten Worte. Geschmeichelt lächelt sie ihr Gegenüber an.

Neugierig wandert Finns Blick über ihre Schulter.

„Hast du noch jemanden dabei?“, will er vorsichtig wissen.

Blitzschnell dreht Sarah sich um und zieht ihre Freundin neben sich.

„Das ist Lisa! Sie ist neu hier!“, erklärt sie freundlich.

Finns Blick schwenkt zwischen Lisa und Sarah, bleibt schließlich auf Lisa ruhen.

„Hallo Lisa! Schön, dich kennenzulernen!“, grüßt er sie, während er ihr seine Hand entgegenhält.

Unsicher wandert Lisas Blick zu seinen außergewöhnlichen Augen. Als sie ihm ihre Hand reicht, durchfährt sie ein leichter elektrischer Schlag, während das einvernehmende Blau bis in ihre Seele dringt.

Sarah unterbricht die eingetretene Stille. „Hast du vielleicht Lust, etwas mit uns Trinken zu gehen?“, reißt sie Finn aus seiner Starre.

„Tut mir leid! Aber wir feiern noch unseren Sieg! Vielleicht ein andermal?“, wendet er sich an Lisa, wobei er ihr erneut tief in die Augen blickt.

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwindet er im nächsten Moment.

Missmutig läuft Sarah auf die Straße. „Er ist so ein Idiot!“, schimpft sie vor sich hin.

„Warum? Was hat er denn getan?“, will Lisa unsicher wissen.

„Was er getan hat? Hast du das nicht erkannt?“

„Er hat doch nur gesagt, dass er mit seinen Jungs noch feiern geht“, setzt Lisa kleinlaut an.

„Lisa! Hast du nicht bemerkt, wie er dich angesehen hat? Der will was von dir!“, lamentiert Sarah beleidigt.

„Wirklich? Aber ich will doch nichts von ihm! Du brauchst keine Angst haben, dass ich ihn dir wegnehme!“, beruhigt Lisa ihre Freundin.

Abrupt bleibt Sarah stehen. „Darum geht es doch gar nicht! Ich habe deinen Rat befolgt und ihn angesprochen, aber er hatte nur Augen für dich! Was stimmt denn nicht mit mir?“, will sie gekränkt wissen.

„Nichts! Ich meine … es ist alles in Ordnung mit dir! Vielleicht bist du einfach nicht sein Typ? Du hast Recht – er ist wirklich ein Idiot, wenn er nicht erkennt, wie hübsch du bist!“, versucht Lisa sie aufzumuntern, während sie sich im Stillen fragt, ob Sarah mit ihrer Bemerkung vielleicht Recht hat.

„Wenn ich nicht sein Typ bin, dann bist du es sicher! Außerdem habe ich bemerkt, wie er dich mit seinen Blicken verschlungen hat!“, gibt sie etwas ruhiger von sich.

„Sarah! Aussehen ist doch nicht alles! Selbst wenn …“

„Nimm ihn dir ruhig, wenn du willst! Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen!“, erklärt sie mit Tränen in den Augen.

„Sarah! Hör auf damit!“, schreit Lisa ihre Freundin wütend an. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nichts von ihm will. Ich habe keine Lust, nur eine Nummer auf seiner Liste zu sein! Jetzt hör auf zu trauern und lass uns noch zu Starbucks gehen“, versucht sie die Gekränkte abzulenken.

Kapitel 5

„Das kann doch alles nicht wahr sein!“, bringt Lisa mühsam hervor. Finn hat ihr mittlerweile ein Glas mit hochprozentigem Alkohol in die Hand gedrückt, wovon sie angewidert genippt hat.

„Sarah hatte noch Glück im Unglück! Offensichtlich hat sich ihr Gurt beim Aufprall gelöst, so dass sie, als sich das Fahrzeug überschlagen hat, aus dem Fenster geflogen ist. Andernfalls hätte der Motorblock sie zerquetscht, als das Auto frontal in einen großen Baum gekracht ist“, erzählt Finn behutsam.

„Ich kann das alles einfach nicht glauben! Wäre ich nur früher gekommen, dann hätte ich sie noch gesehen!“, flüstert Lisa fassungslos.

„Keiner konnte ahnen, dass so etwas passiert!“, versucht Finn sie zu trösten.

Wortlos starren beide vor sich hin.

„Warum bist du eigentlich hier?“, unterbricht Lisa die eingetretene Stille.

Finn blickt zur Wohnzimmertür. Erst vor einigen Minuten hat er Leonie ins Bett gebracht.

„Wegen Leonie! Ich kümmere mich um sie!“, erklärt er ruhig.

„Ich hätte niemals gedacht, dass Sarah und du nochmals Freunde werden könnt. Nach allem, was damals passiert ist!“, setzt Lisa nachdenklich an. „Wo habt ihr euch wieder getroffen?“

„Vor der Uni! Es war reiner Zufall! Sie studierte Kommunikationswissenschaft und ich Geschichte und Deutsch auf Lehramt. Als wir uns unterhalten haben, stellten wir fest, dass wir uns doch nicht so unsympathisch sind, wie wir anfangs dachten.“

„Und du hast nichts Besseres zu tun, als dich um Sarahs Tochter zu kümmern? Hast du keine Freundin?“, will Lisa neugierig wissen.

Plötzlich erkennt Finn, welche Richtung dieses Gespräch einschlägt. Für einen Moment überlegt er, Lisa über die wahren Begebenheiten aufzuklären. Als er ihr in die Augen blickt, entscheidet er sich jedoch dagegen. Seine Gefühle zu ihr haben sich seit damals nicht geändert.

„Nein! Momentan habe ich keine Freundin“, antwortet er mit gutem Gewissen.

Gedankenverloren lehnt Lisa sich zurück. „Hast du irgendeine Ahnung, was Sarah mit mir besprechen wollte? Ich meine … sie schreibt mir doch nicht nach all den Jahren, aus heiterem Himmel einen Brief und bittet mich inständig zu ihr zu kommen, wenn es nicht wichtig wäre! Ich habe keinen Anhaltspunkt, um was es sich handeln könnte!“

Nachdenklich knetet Finn seine Unterlippe. Schließlich dreht er sich zu Lisa. „Lisa! Da gibt es etwas, das du wahrscheinlich noch nicht weißt“, setzt er behutsam an.

Ängstlich wartet Lisa auf seine Erklärung.

„Sarah hat sich seit dem Tod ihres Vaters verändert. In den letzten zwei Monaten hat sie sich immer mehr in sich zurückgezogen. Sie hat Leonie vernachlässigt, wollte nicht mehr arbeiten und hat sich bei ihrer Mutter verkrochen“, erklärt er.

„Du meinst, sie war depressiv?“, hakt Lisa ungläubig nach.

„Leider wollte sie auch zu keinem Arzt, deshalb wissen wir es nicht sicher. Aber die letzte Woche, vor dem Unfall, hat sie bei ihrer Mutter gewohnt. Sie hat sich in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen, wollte niemanden sehen und mit niemanden sprechen. Sie bat mich, mich während dieser Zeit um Leonie zu kümmern. Dann, am Tag vor dem Unfall, kam plötzlich ein Anruf von ihr. Sie meinte, es gehe ihr wieder gut, sie würde am nächsten Tag nach Hause kommen. Sie hat sich wirklich glücklich angehört. Sie sprach sogar einige Worte mit Leonie.“

„Dass der Tod ihres Vaters ihr so zugesetzt hat?“, überlegt Lisa laut.

„Sie hat ihn geliebt, wie keinen anderen Menschen – außer Leonie vielleicht. Zu ihrem Vater hatte Sarah eine ganz besondere Beziehung. Sie hat es nur sehr schwer überwunden, dass er so unerwartet gestorben ist.“

„Was ist passiert?“, will Lisa jetzt wissen.

„Er ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Und Sarah war dabei – sie hat alles miterlebt!“

Kapitel 6

RÜCKBLICK

Lisa befindet sich allein auf dem Nachhauseweg, da Sarah seit zwei Tagen mit Grippe im Bett liegt. Als sie die Straße überquert, hört sie plötzlich ihren Namen.

„Lisa?“, ruft eine freundliche Männerstimme.

Abrupt dreht sie sich um und blickt erneut in die strahlend blauen Augen des Mädchenschwarms der Schule.

„Hallo Finn!“, bringt sie unsicher heraus.

„Darf ich dich ein Stück begleiten?“, fragt er höflich.

„Wenn du keine anderen Verpflichtungen hast?“, kontert Lisa schlagfertig.

Während sie langsam weitergehen, beobachtet Finn seine Begleitung.

„Kann es sein, dass du mich nicht besonders magst?“, will er neugierig wissen.

„Woher soll ich das wissen? Wir kennen uns doch gar nicht!“, antwortet sie ehrlich.

„Hast du Lust das zu ändern?“

„Was?“

„Hast du Lust, dass wir uns besser kennenlernen?“, ergänzt er.

Unsicher wendet Lisa ihren Blick ab. „Ich weiß nicht recht…“, gibt sie vorsichtig zu.

„Ist es wegen Sarah?“, hakt Finn nach.

„Wie kommst du darauf?“, blickt Lisa ihn erschrocken an.

„Ich merke, wenn ich angebaggert werde! Sarah ist da leider nicht anders als die anderen Mädchen! Nur bei dir bin ich mir nicht sicher…“, gibt er zögernd zu.

„Ob ich dich anbaggere? Sicher nicht!“, kontert sie schnell.

„Ich weiß! Bei dir habe ich ein anderes Gefühl!“

„Und in welche Richtung geht dieses Gefühl?“, kommt es ihr unsicher von den Lippen.

„Ich weiß es nicht! Deshalb will ich es ja herausfinden!“, erklärt er nachdenklich.

„Die Mühe kannst du dir sparen! Ich will nichts von dir! Ich steh nämlich nicht auf Typen, die jede Woche ein anderes Mädchen flachlegen!“, wirft sie ihm unfreundlich entgegen.

Mit schnellen Schritten läuft sie weiter. Ohne Mühe hält er ihr Tempo mit.

„Bist du etwa voreingenommen? Wer sagt denn, dass ich jede Woche ein anderes Mädchen habe?“, kontert er aufgebracht.

„Willst du es etwa abstreiten? Die Chancen liegen dir regelrecht zu Füßen! Meine Freundin eingeschlossen!“

„Ich muss überhaupt nichts abstreiten! Was wäre, wenn mich all die Chancen nicht interessieren, sondern nur eine einzige Chance?“, erklärt er gefühlvoll.

Stur läuft sie weiter. Plötzlich packt er sie am Arm, dreht sie schwungvoll zu sich um. „Lisa! Ich will dich doch nur kennenlernen! Warum unterstellst du mir Sachen, die nicht wahr sind?“

Ihre Blicke treffen sich. Und in diesem Moment weiß Lisa, dass sie ihm voll und ganz erlegen ist. Tief im Innern wünscht sie sich nichts sehnlicher, als ihn kennenzulernen, um den Blick dieser Augen nie mehr missen zu müssen.

Eine Woche später gibt sie Finns wiederholten Einladungen nach und trifft sich mit ihm in einem Cafe. Schnell merkt Lisa, dass Finn nicht der typische, oberflächliche Kerl ist, für den ihn alle halten. Liebevoll erzählt er von seiner Familie, seiner kleinen Schwester sowie seiner ersten großen Liebe, die ihn wegen eines Anderen verlassen hat.

„Sie hat dich verlassen?“, bringt Lisa ungläubig heraus.

„Warum erstaunt dich das so? Jeder kann verlassen werden!“, antwortet er verständnislos.

„Ich meine nur: Jedes Mädchen wäre doch froh, dich als Freund zu haben.“

„Jedes Mädchen?“, hakt er vorsichtig nach.

„Äh … ich meine … fast jedes Mädchen“, korrigiert Lisa ihre Aussage.

„Das hört sich aber sehr oberflächlich an! In einer Beziehung habe ich die gleichen Probleme wie jedes Pärchen.“

„Du weißt aber schon, dass die meisten Mädchen keine Beziehung mit dir wollen, sondern nur eine heiße Nacht?“, erklärt Lisa ernüchternd.

„Wer sagt das?“

„Sarah! Und sie ist schließlich eine von deinen Verehrerinnen!“, gibt Lisa kleinlaut zu.

„Ausgerechnet Sarah! Ihr hätte ich das niemals zugetraut, dass sie so …“, bricht er plötzlich ab.

„Was? Was hättest du Sarah nicht zugetraut? Ich dachte, du kennst sie nicht so gut!“, bemerkt Lisa überrascht.

Nachdenklich schaut er seine Begleitung an. „Du weißt nichts davon, stimmt’s?“, setzt er zögernd an.

„Wovon weiß ich nichts?“, will sie alarmiert wissen.

„Hat Sarah dir nicht erzählt, was damals in der 10. Klasse passiert ist?“, fragt er vorsichtig.

„Nein! Was ist denn passiert?“

„Das soll sie dir lieber selbst erzählen. Ich glaube nicht, dass es ihr recht wäre, wenn du es von dritter Seite erfahren würdest“, erklärt er behutsam.

Kapitel 7

„Wo willst du heute schlafen?“, fragt Finn leise.

„Eigentlich war geplant, dass ich bei Sarah bleibe, aber jetzt, wo ….“

„Du kannst doch trotzdem hier bleiben. Du kannst das Bett haben, ich lege mich hier auf das Sofa“, erklärt er bereitwillig.

„Ich will dir aber keine Umstände machen“, wehrt Lisa vorsichtig ab.

„Quatsch! Das macht keine Umstände. Ich freue mich, dass du da bist. Wirklich! Und morgen früh können wir gemeinsam in die Klinik fahren, um Sarah zu besuchen“, zerstreut er augenblicklich ihre Bedenken.

„Danke, Finn!“

„Für dich immer, Kleines!“, flüstert er, während er ihr einen Kuss auf die Stirn gibt.

Am nächsten Morgen bringen sie gemeinsam Leonie in den Kindergarten und fahren anschließend weiter ins Krankenhaus Rechts der Isar.

Als sie das Krankenzimmer betreten, bleibt Lisa erschrocken stehen. In dem sterilen Zimmer liegt ihre Freundin, umgeben von weißer Bettwäsche. Ein dicker Schlauch führt in ihren Mund, während drei verschiedene Monitore hinter ihr an der Wand stehen.

Behutsam führt Finn sie zu einem der Stühle. „Sie muss noch künstlich beatmet werden, aber die Ärzte hoffen, dass sich das in den nächsten Tagen ändert.“ Ausführlich erklärt er Lisa die Aufzeichnungen der Monitore und welche Kurve welche Bedeutung hat. „Die Ärzte sagen, dass das EEG gute Werte zeigt. Ihre Gehirnströme weisen normale Tätigkeit auf. Sie wissen nur noch nicht, warum sie nicht aufwacht!“

Lange sitzen sie schweigend neben der Bewusstlosen, wagen es kaum zu sprechen.

„Finn? Was ist, wenn sie nie wieder aufwacht?“, bringt Lisa mit Tränen in den Augen hervor. Sie ist so überfordert mit der momentanen Situation, dass sie am liebsten aus dem Zimmer flüchten würde.

„Daran wollen wir nicht denken! Die Ärzte sind sehr zuversichtlich. Außerdem kommt Anja jeden Nachmittag mit Leonie vorbei. Sie sagt, Sarahs Herzschlag hätte bereits auf Leonies Worte reagiert. Wir können also davon ausgehen, dass sie uns hört und wahrnimmt. Sie ist dem Wachsein näher als dem tiefen Schlaf!“, erklärt Finn zuversichtlich.

„Wie geht es Anja?“, will Lisa besorgt wissen. Mit dem Tod ihres Mannes sowie dem jetzigen Unfall ihrer Tochter, hat Sarahs Mutter zwei schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen.

„Sie hält sich tapfer. Leonie gibt ihr Kraft!“, antwortet Finn kurz.

Zwei Stunden später verlassen sie das Krankenhaus wieder. Lisa fühlt sich ausgelaugt und müde. Finn bringt sie zurück in Sarahs Wohnung.

„Ich muss noch zur Arbeit. Leonie bleibt heute bei ihrer Oma. Möchtest du, dass ich am Abend vorbeikomme? Dann können wir uns in Ruhe unterhalten“, fragt er vorsichtig.

„Gerne! Wenn du nichts Anderes vorhast?“, antwortet Lisa zurückhaltend.

Lächelnd verabschiedet Finn sich, während Lisa sich auf das Sofa legt.

Als die Tür sich hinter ihm schließt, sinkt sie bereits in einen unruhigen Schlaf.

Durch das Geräusch von klapperndem Geschirr wird sie geweckt.

Langsam begibt sie sich in die Küche, wo sie Finn entdeckt, der geschäftig mit Pfanne und Topf hantiert.

„Hast du gut geschlafen?“, fragt er fürsorglich.

„Nicht wirklich! Ich hatte einen beunruhigenden Traum!“

„Ging es um Sarah?“, hakt er fürsorglich nach.

„Auch! Aber ich will nicht darüber reden! Was machst du da?“

„Essen! Sieht man das nicht?“, erwidert er lachend.

„Wie lange bleibt Leonie bei ihrer Oma?“, will Lisa neugierig wissen.

„Anja und ich wechseln uns mit der Betreuung ab. Sie bringt die Kleine morgen zurück“, erklärt er liebevoll.

Das Essen schmeckt besser, als Lisa erwartet hätte. Anscheinend hat Finn noch unentdeckte Talente, von denen sie nichts weiß. Nachdem sie den Tisch abgeräumt haben, setzen sie sich mit einem Glas Wein auf das Sofa im Wohnzimmer.

Unschlüssig dreht Lisa das Weinglas in ihren Händen.

„Finn? Kannst du dich erinnern, als du mir erzählt hast, Sarah hätte ein Geheimnis, welches sie mir selbst erzählen solle?“, setzt Lisa an.

Nach einem kurzen Augenblick des Überlegens nickt Finn. „Ja! Das war bei unserem ersten Date! Ich erklärte dir, du solltest Sarah lieber selbst danach fragen.“

„Richtig! Sie hat es mir aber nie erzählt!“

„Hast du sie nicht darauf angesprochen?“, will Finn erstaunt wissen.

„Doch! Gleich am Tag nach unserem Gespräch. Sie ist mir jedoch ausgewichen und hat schnell das Thema gewechselt. Als ich nachhakte, meinte sie, es spiele keine Rolle, was damals passiert sei. Unsere Freundschaft solle unbelastet bleiben.“

„Das hat sie gesagt?“, fragt Finn fassungslos.

„Ja! Sie meinte, sie wolle nicht mehr darüber reden und ich solle das bitte akzeptieren“, erklärt Lisa bedrückt.

„Das versteh ich nicht! Die ganze Schule wusste davon! Warum wollte sie es ausgerechnet dir nicht erzählen? Du warst doch ihre beste Freundin?“

„Würdest du es mir jetzt erzählen?“, bittet Lisa leise.

„Ich weiß nicht … wenn Sarah nicht wollte, dass du es erfährst, vielleicht …“

„Bitte! Sie liegt im Koma und ich habe das Gefühl, sie nie richtig gekannt zu haben. Wenn die ganze Schule davon wusste, dann kann ich es doch auch erfahren!“, fleht sie regelrecht.

Finn schaut ihr lange in die Augen. Er erkennt die Angst, dass ihr ein wichtiges Detail aus dem Leben ihrer Freundin fehlen könnte und entschließt sich, seinen Vorsatz zu brechen.

„Wir waren damals beide sechzehn Jahre alt. Ich kam neu an die Schule und Sarah war in meiner Klasse. Wir hatten nicht viel miteinander zu tun. Sie hing mit ihren Freundinnen rum und ich hielt mich an meine Kumpels aus der Basketballmannschaft. Wir hatten einen jungen Lehrer in Mathe und Sport. Er hieß David Schweiger und war erst Ende Zwanzig. Von Anfang an bemühte er sich um ein freundschaftliches Verhältnis zu uns Schülern. Er bot uns das Du an und hatte auch nach Schulschluss immer ein offenes Ohr für unsere Probleme. Für uns Jungs wurde er eine Art Kumpel, die Mädchen haben ihn reihenweise angehimmelt. Leider konnte er mit seiner lockeren Art trotzdem nicht verhindern, dass einige Schüler schlechte Noten in Mathe schrieben. So auch Sarah. Sie stand auf einer glatten Fünf, weshalb, zusammen mit der Fünf in Latein, ihr Vorrücken gefährdet war. Sarah wollte mit David über ihre Note reden, ihn bitten, ihr noch zu einer Vier zu verhelfen. Daher ging sie nach Ende der Schulstunde zu ihm ans Pult. Sie fragte ihn, ob er in der Pause kurz Zeit für sie hätte. Daraufhin meinte er, sie könne nach Schulende zu ihm ins Bücherlager kommen, weil er dort noch einige Aufgaben zu erledigen hätte.“

„Hast du das alles selbst gehört, oder woher weißt du das?“, unterbricht Lisa ihn neugierig.

„Das hat Sarah vor Gericht ausgesagt“, erwidert Finn leise.

„Vor Gericht? Erzähl weiter!“, fordert Lisa ihn ungeduldig auf.

„Sarah ist also nach Schulschluss zu David ins Bücherlager gegangen, um mit ihm über ihre Zensur zu sprechen. Sie waren allein dort, das Gebäude war so gut wie leer. David bot ihr an, ihr zu helfen, aber er wollte eine Gegenleistung“, bricht Finn nachdenklich ab.

„Er wollte Sex?“, bringt Lisa erschüttert hervor.

„Ja! Aber Sarah weigerte sich. Sie schrie ihn an und riss sich von ihm los. Er drückte sie gegen die Wand und vergewaltigte sie“, erzählt Finn leise weiter.

„Oh mein Gott!“, entfährt es Lisa. Ruhig sitzen sie nebeneinander.

Schließlich bricht Finn das Schweigen. „David wurde zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt!“

Kapitel 8

RÜCKBLICK

Lisa und Finn treffen sich mittlerweile regelmäßig. Meistens unter der Woche oder am Sonntag, da samstags die Basketballspiele stattfinden, nach welchen Finn sich noch mit seinen Spielerkollegen trifft. Obwohl Sarah sich mit Äußerungen zurückhält, merkt Lisa, dass ihre Freundin neugierig beobachtet, wie sich ihre Beziehung zu Finn verändert. Anfangs hatte Lisa Angst, Sarah könnte sauer oder eifersüchtig sein, dass sie sich jetzt häufiger mit Finn trifft. Mit der Zeit stellte sie jedoch fest, dass ihre Freundin sich wirklich für sie freute. Offensichtlich reichte Sarahs Schwärmerei für Finn nicht aus, um die enge Beziehung zu ihrer besten Freundin zu gefährden.

„Hat er dich schon geküsst?“, will Sarah eines Tages wissen. Sie liegt auf Lisas Bett, während sich ihre Freundin vor dem großen Standspiegel betrachtet.

„Nein! Wir lassen uns Zeit!“, entgegnet Lisa zurückhaltend.