Tage des Donners - Stephan Reich - E-Book

Tage des Donners E-Book

Stephan Reich

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Beschreibung

Das Wunder von Eintracht Frankfurt Über Eintracht Frankfurt sagt man, dass sie eine Diva sei. In ihrer 125-jährigen Geschichte ging es immer auf und ab, auf Pokalerfolge folgten dramatische Abstiege, nach Aufstiegen hielt die Freude nicht lang und der Verein taumelte wieder. Kurz: Das Leiden gehört zur DNA eines SGE-Fans. Ein solcher ist Autor und Journalist Stephan Reich, der selbst kaum fassen konnte, was ihm 2018 geschah, als er in die erfolgreichste Zeit der Mainmetropolen-Elf hineingeriet. Mit Witz und Einfühlungsvermögen beschreibt der Autor seine Erlebnisse mit der Mannschaft. Beginnend mit dem völlig überraschenden Pokalsieg 2018, bei dem es nicht bleiben sollte. Es folgten Touren durch Europa mit internationalen Fanmärschen, einem beeindruckenden Auftritt auf dem Platz gegen den FC Barcelona und auf den Rängen des Camp Nou, gekrönt durch den Sieg des Europapokals 2022. • Mit spektakulären Fotos, ganz nah an der Mannschaft! • Die SGE gilt als launische Diva mit vielen Aufs und Abs, von den Höhepunkten des letzten Jahre handelt dieses Buch Buch zum 125-jährigen Jubiläum von Eintracht Frankfurt Stephan Reich reißt uns mit bei seiner Reise und schreibt rührend von und über die Legenden dieser Zeit: Über Mijat Gacinovic, der 2018 das Tor zum Glück schoss, über Alex Meier, einer der größten Spieler in der Vereinsgeschichte und über den generellen Irrsinn dieser paar Jahre, in denen der Chaos-Klub Eintracht Frankfurt plötzlich über sich hinauswuchs. Nicht zuletzt hilft er den Erinnerungen mit emotionalen Fotografien auf die Sprünge. Dieses Buch zum 125-jährigen Jubiläum möchte kein Eintracht-Frankfurt-Fan missen, vielleicht auch, weil die Erfahrung lehrt, dass auf jedes Hoch auch wieder dieses Tal folgt, das Fußballfans durchleiden müssen. Das vielleicht schönste Kapitel der Vereinsgeschichte, zusammengefasst in diesem opulenten Band, ist nicht nur lesenswert für Hardcore-Fans, sondern für alle, die den Fußball lieben.

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Stephan Reich

Tage des Donners

Das Wunder von Eintracht Frankfurt

Stephan Reich

Tage des Donners

Das Wunder von Eintracht Frankfurt

VERLAG DIE WERKSTATT

Inhalt

Vorwort

# 01Weg vom War-ja-klar

# 0270 Meter für die Ewigkeit

# 03Die perfekte Story

# 04Auf zum Double

# 05Zum Abschied von Alex Meier: Die große Liebe

# 06Sonne, Bier und Straßenmusik

# 07Die neue Leichtigkeit des Fanseins

# 08Tür zu einem sonnigeren Ort

# 09Energie mit Anlauf: Wie die Fans Eintracht Frankfurt durch Europa tragen

# 10Nach dem Chelsea-Aus: Trotzdem Sieger

# 11Der Fußball ist ein mieser Verräter

# 12Nach den Rekordabgängen: Die Uhren gehen anders

# 13Antes Inferno: Rebićs Abschied von Eintracht Frankfurt

# 14Die Fackel weitergeben

# 15Der Lauf des Lebens: Warum der Gaćinović-Abgang schmerzt

# 16Alex Meier (1): Als der Fußballgott nach Frankfurt kam

# 17Alex Meier (2): Vom Sündenbock zum Fußballgott

# 18Alex Meier (3): Abschied vom Fußballgott

# 19Rückkehrer Luka Jović: Der Traumfänger

# 20Vater Abraham: Der Kapitän hört auf

# 21Das abgerissene Denkmal: Keine Champions League für Eintracht Frankfurt

# 22Zum Tod von Jürgen Grabowski: Der größte Künstler, den die Eintracht je gesehen hat

# 23Mit der Eintracht in Barcelona: Where did it all go right?

# 24Der Tag, als Barcelona weiß war: Viertelfinal-Triumph von Eintracht Frankfurt

# 25Vor dem Europacup-Finale: König Kostić vor der Krönung?

# 26Vom Schließen des Kreises: Eintracht in Europa

# 27Stadt der Träumer: Frankfurt im Europacup-Finale

# 28Tage des Donners: Frankfurts epochales Finale

# 29Stadt der Träume: Eintracht Frankfurt feiert den Europacup-Sieg

# 30Zu den Sternen und zurück: Eintracht Frankfurt in der Champions League

# 31Der ewige Kevin: Zur Vertragsverlängerung von Kevin Trapp

# 32Plötzlich wird Fußball von Sterneköchen serviert

# 33Pokalfinale 2023: Die kleine Welle aus Zeit

Für meinen Onkel.Danke.

Vorwort

Es war ein Tag im August 1992, als ich mich rettungslos in den Fußball verliebte. Mein Onkel hatte mich abgeholt, er wohnte in Gießen, ich in Nordhessen, und wir fuhren in seinem hellblauen VW Jetta einem Tag entgegen, der mein Leben prägen würde.

Mein Onkel, Eintracht-Fan, seit er in den Achtzigern aus Siebenbürgen nach Gießen gekommen war, hatte mich in den Jahren zuvor schon in Richtung Eintracht Frankfurt gezogen. Hier mal ein Trikot, da mal eine Fahne, dazu die tollen Geschichten. Schließlich holte er mich ab, um mich zum ersten Mal ins Stadion mitzunehmen. Kurz zuvor war meine Mutter gestorben. Man fährt gut zwei Stunden, ob er diesen Weg auf sich nahm, um mir in einer dunklen Phase eine Freude zu machen? Trost zu spenden? Wahrscheinlich. Aber ich habe ihn nie gefragt. Vielleicht war es auch einfach an der Zeit. Viele Jahre später, als ich auch Neffen hatte, sie ebenso mit der Eintracht bezirzte, mal hier eine Fahne, mal dort ein Trikot, und sie in einem Alter waren, in dem man sie mit ins Stadion nehmen konnte, merkte ich eine innere Unruhe. So, als könnten sie sich doch noch von ihrem gerade entdeckten Lieblingsverein entfernen, flatterhaft wie sie als Kinder eben sind, würde ich sie nicht bald mit ins Stadion nehmen. Als könnten sie eines Tages aufwachen und denken: „Hm. Na ja. Egal.“ Als gäbe es noch etwas zu besiegeln.

Und das gibt es ja. Ich hatte schon vorher im Garten mit meinem Vater gekickt, der schönste Zeitvertreib, den ich mir denken konnte. Hatte die Begeisterung gespürt, wenn ich mit meinem Vater (Freiburg-Sympathisant) und Bruder (Dortmund-Fan) die „Sportschau“ ansah. Aber erst jener Tag im August 1992 war es, der mich endgültig an den Fußball band, an den Stadionbesuch, an den Verein Eintracht Frankfurt. Der Weg zum Stadion, die vielen Menschen, die Gesänge, etwas, das in der Luft lag und knisterte, als fiele ein wenig des Flutlichts, das man hinter dem Stadtwald erahnte, auf alle Dinge und brächte sie zum Glänzen. Es war, wirklich, magisch. Als ich die Treppenstufen hochging und den ersten Blick ins Stadion warf, ging ich über die Schwelle in eine neue Welt. Ich erinnere mich noch heute an diesen Moment und erlebe ihn stets wieder, wenn ich auch heute noch die Stadiontreppen hochlaufe und das erste Mal aufs Spielfeld blicke. Es hat etwas Erhabenes, als würde man unter Wasser getaucht und getauft und holt dann als neuer Mensch wieder Luft.

Das Spiel selbst erinnere ich bruchstückhaft, ein 4:1-Sieg nach Verlängerung im DFB-Pokal gegen Waldhof Mannheim, auf dem Heimweg im Jetta sangen wir Fangesänge. Die Eintracht, das wusste ich ja schon aus der „Sportschau“, war damals ein Spitzenklub. Die Meisterschaft 1992 hatte sie zwar vergeigt, woran ich mich nicht mehr erinnere, wie ganz generell nicht mehr an diese paar Wochen im Sommer 1992. Das änderte aber nicht viel daran, dass die Eintracht die spannendste Mannschaft im Lande war und ein Titel nur eine Frage der Zeit. Dachte ich.

Tja. In nur drei, vier Jahren zerfiel Eintracht Frankfurt in seine Einzelteile, stieg erstmals aus der Bundesliga ab, und das zu einer Zeit, in der sich im deutschen Fußball sehr viel tat: Fernsehgelder, Champions League, es gab keinen schlechteren Zeitpunkt. Denn als die Eintracht nach ein paar Jahren im Fahrstuhl wieder dauerhaft erstklassig war, mit einer knapp vermiedenen Insolvenz in den Knochen, waren die, die eben noch auf Augenhöhe gewesen waren, uneinholbar enteilt. Fortan war Mittelmaß angesagt, keine Magie mehr, nur noch Mühen einer endlosen Ebene. So war das nun, und so würde das immer bleiben, dachte ich, haderte oft damit und akzeptierte es nie. Dieser verdammte Klub, dieses verdammte Schicksal, dieses elendige Versprechen, das mir Eintracht Frankfurt einst gegeben hatte. Und das für immer so uneinlösbar bleiben würde. Dachte ich.

Dachte ich viele Jahre lang. In der Zwischenzeit war ich Journalist geworden und begann, auch über die Eintracht zu schreiben. Und wie durch ein Wunder, einfach so, ohne richtige Erklärung, änderten sich die Dinge wieder zum Guten. Für Eintracht Frankfurt, die Fans, die ganze Stadt, wie ich erfahren durfte, als ich 2019 nach Frankfurt zog. Plötzlich regnete es goldenes Konfetti von den Stadiondächern, und Spieler reckten golden und silbern glänzende Pokale in die Kurve, hin zu Leuten, deren Augen ebenfalls glänzten, diesmal aber nicht, weil sie einen Abstieg betrauerten, sondern weil sie Tränen der Freude in den Augen hatten. Die Spieler schrieben Geschichte, standen auf Podesten, schütteten Bier in die Pokale und tranken es wieder heraus und dann fuhren sie in Autokorsos durch ein Frankfurt, das völlig aus dem Häuschen war. Als Oliver Glasner den Europacup 2022 wieder und wieder in die Menge hielt, konnten viele hundert oder tausend Menschen den Cup anfassen. Ein silberner, rauer, wunderschöner Pokal, und berührte man ihn, war das der letzte Beweis, dass es wirklich stimmte, das alles. Dass es von allen mausgrauen, abgehängten Vereinen ausgerechnet meiner sein würde, der sich innerhalb von nur vier Jahren einmal auf den Kopf stellt, dem Schicksal trotzt, sein Versprechen doch noch einlöst, nach 30 Jahren, empfinde ich als großes Privileg. Geschichten wie jene von Eintracht Frankfurt 2018 bis 2022 sind im modernen Fußball eigentlich nicht mehr vorgesehen. Dass ich von Berufs wegen einer der Chronisten dieser Geschichte werden durfte, empfinde ich als noch größeres Privileg. Die Resonanz auf meine Texte, die in dieser wilden Zeit entstanden sind, war erstaunlich. Daraus entstand die Idee, dieses Buch zu machen. Nur wenige der Texte wurden im Zuge des Lektorats noch leicht verändert.

Meine Neffen sind jetzt dreizehn und elf Jahre alt. Sie haben den DFB-Pokal miterlebt, genauso den Triumph in der Europa League. Als ich begann, sie für die Eintracht zu begeistern, habe ich mir oft die Frage gestellt, ob das fair ist. Ob ich sie nicht zu einem Fanleben in der Ereignislosigkeit verdamme, wohingegen sie als Dortmund-Fans (mein Bruder, ihr Onkel, wirkte darauf hin, letztlich erfolglos) sicher ab und an mal Grund zum Jubeln gehabt hätten. Jetzt weiß ich, dass es nicht so ist, und das war lange eine ziemliche Überraschung. Aber wirklich gezweifelt habe ich nie, das Leben mit Eintracht Frankfurt war auch ohne große Erfolge schön, es geht ja eh um andere Dinge. Ich habe sie mittlerweile auch mit ins Stadion genommen, an einem kalten Novembertag verlor die Eintracht mit 0:2 gegen Wolfsburg. Einer der beiden sagte nach dem Abpfiff zu mir: „Macht doch nichts, es war trotzdem schön.“

Das kann ich, so ganz insgesamt, unterschreiben.

# 01

Weg vom War-ja-klar

Als Eintracht-Fan war man ans Verlieren gewöhnt – bis der Klub endlich wieder einen Titel gewann.

Berlin, 2018

Dass ich meine Freundin liebe, hat etwa 1.453.256 Gründe. Irgendwo weit oben auf der Skala, zwischen ihrem Humor und der Art und Weise, wie ihre Nase wackelt, wenn sie redet, ist die liebevolle Gleichmütigkeit, mit der sie meine Liebe zum Fußball im Generellen und zu Eintracht Frankfurt im Speziellen begleitet. Samstagnachmittage in diesigen Fußballkneipen, miese Laune nach dem Stadionbesuch, langweilige Monologe über den neuen Linksverteidiger aus Eindhoven und warum er so eine gute Verstärkung sein könnte – auch wenn es sie manchmal nervt, macht sie keine große Sache daraus.

Irgendwann zu Beginn unserer Beziehung, als es die Eintracht gerade mal wieder verkackt hatte, fragte sie mich, warum ich mir das überhaupt antue. Sie weiß natürlich, dass man aus der Nummer nicht mehr rauskommt. Dass man, wenn man sein Herz an einen Verein verloren hat, es nicht wieder bekommen wird, auch wenn das manchmal die wahrscheinlich einfachere Variante wäre. Ihre Frage war dennoch berechtigt, denn diese einfache Wahrheit, dass man sich seinen Verein nicht aussucht und ihm an- und nachhängt, ist oft, und wahrscheinlich für die meisten, irrational, anstrengend und mitunter schmerzhaft.

Lauf, Mijat, Lauf: Gaćinović rennt, und alle rennen mit

Denn warum gehen wir überhaupt zum Fußball? Klar, wenige Dinge sind so schön wie ein Stadionbesuch mit den Kumpels, der Zusammenhalt, das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das groß und für diejenigen links und rechts von dir genauso wichtig ist. Und natürlich gibt es sie, die kleinen Bonbons im Alltag: ein unverhoffter Sieg, ein Traumtor, das man live im Stadion sieht, oder mal eine unerwartete Tabellenposition.

Aber der Fußball im Jahre 2018 gibt einem auch genug gute Gründe, um den Fernseher abzuschalten oder sich anderen Hobbys zu widmen. Eine Meisterschaft, die nicht mehr spannend ist. Eine grotesk überfinanzierte Champions League. Eine verkaufte WM eines korrupten Verbands. Zumal es einem der eigene Klub ja auch oft schwer genug macht. Als die Eintracht am vergangenen Wochenende die Europa League scheinbar verschenkt hatte, mit einer blutleeren Vorstellung, saß mein Cousin, mit dem ich seit 25 Jahren durch dieses Tal namens Fußball gehe, mit leerem Blick neben mir und sagte: „Ich kann das nicht mehr. Das zieht zu viel Energie.“ Seit Rostock hängt der Eintracht der Ruf an, im entscheidenden Moment zu versagen, im kollektiven Gedächtnis der Fans hat er sich zur Gewissheit verknöchert. Vor allem nach dem Kovač-Abgang war für viele von uns klar: Jetzt geht dieser Mist wieder von vorne los.

Was aber immer bleibt, ist die Hoffnung. Als Anhänger eines Vereins wie Eintracht Frankfurt lebt man von der Hoffnung, und das quasi ausschließlich. Dieser kleine, irrationale, winzige Gedanke, irgendwo weit hinten im Kopf, dass mit ein bisschen Glück vielleicht ja doch irgendwann… Aber man weiß natürlich, dass mit jedem Jahr, mit dem sich der Fußball weiter in seine gegenwärtige Richtung bewegt, die Chance kleiner und kleiner wird, die Abstände zwischen oben und unten größer, und die Sinnfrage damit droht, immer akuter zu werden, auch wenn die Antwort darauf, warum wir das überhaupt machen, natürlich stets die gleiche bliebe. Weil es nun mal so ist.

In diesen acht, neun Sekunden, stand die Welt still, war alles schwerelos

Aber die Hoffnung stirbt eben nicht nur zuletzt, manchmal geht sie auch einfach in Erfüllung. Als ich am Samstag im Berliner Olympiastadion stand und schreiend meinen Cousin im Arm hielt, als Mijat Gaćinović einsam aufs Tor rannte, fühlte sich das an, als löste sich ein Knoten, den ich, die zahllosen anderen Fans, der Verein, die Stadt, seit 30 Jahren nicht hatten lösen können. Und er löste sich auf eine Weise, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht so perfekt hätte ausmalen können. In diesen acht, neun Sekunden, auf diesen 70 Metern, über die Gaćinović mit seinen dünnen Beinchen raste, mit dem ungleich stämmigeren Hummels hinter sich, wie er sich vier-, fünfmal umsah, während das Tor immer näher und das Geschrei immer größer wurde, vor sich eine zu einer tobenden Masse verschmelzende Fankurve, die Mitspieler, die an der Seitenlinie mit ihm rannten, als wollten sie ihn ins Tor tragen; in diesen acht, neun Sekunden, stand die Welt still, war alles schwerelos. Die ganze Wucht, die dieser Sport haben kann, alles, was ihn zu etwas so Großem und Bedeutsamem macht, steckte in diesem einen Sprint, in diesen acht, neun Sekunden. Und während Mijat Gaćinović einfach weiterlief, über die Bande, hin zu den Fans und noch weiter, bis in ihre weit offenen Herzen, hielt ich meinen heulenden Cousin im Arm, und er seinen.

Als Anhänger von Eintracht Frankfurt steht man nun vor der eigenartigen Aufgabe, seine Fan-Identität neu zu justieren, irgendwie anzupassen. Weg vom War-ja-klar, hin zum Wir-haben-es-geschafft. Weg vom Trauma von Rostock, hin zum Wunder von Berlin. Als mich meine Freundin damals fragte, warum ich mir das antue, antwortete ich im Scherz: „Weil es erdet“, und im Ernst: „Weil es ein Teil von mir ist.“ Außerdem ist es, bei allem Schmerz und aller Enttäuschung, ein großer Spaß, und etwas zu haben, das einen konstant emotional berührt, auch wenn nicht immer nur auf positive Weise, ist von unschätzbarem Wert. Man fühlt, man ist verbunden mit etwas, man lebt. Das wäre heute meine Antwort, wenn sie mich noch einmal fragen würde, ergänzt vielleicht durch ein: „Weil es sich lohnt, weil alles gut wird, weil man doch irgendwann mal auf der Seite der Sieger steht, auch wenn es 30 Jahre dauert und man schon gar nicht mehr daran geglaubt hat.“

Sekunden nach dem Tor zum 3:1 schrieb mir meine Freundin eine Nachricht, dass sie zu Hause fast habe weinen müssen. Nicht unbedingt wegen des Titels oder wegen Eintracht Frankfurt, sie verfolgt die Spiele wie gesagt eher gleichmütig. Sondern weil sie weiß, wie viel mir das alles bedeutet und dass wir nun eben gemeinsam in der Sache drinstecken. Von zahllosen emotionalen Momenten an diesem Wochenende war dieser einer der emotionalsten, den viele andere Frankfurt-Fans in ihren jeweiligen Varianten so ähnlich erlebt haben werden (jeder Fan, mit dem ich gesprochen habe, hat dutzende Nachrichten von Freunden und Verwandten bekommen). Hätte ich sie nicht sowieso schon gefragt, ob sie mich heiraten will, hätte ich es in diesem Moment wohl getan. Wahrscheinlich sogar mit dem Zugeständnis, dass wir nicht in einer Fußballkneipe heiraten.

# 02

70 Meter für die Ewigkeit

Eintracht Frankfurt besiegt sensationell den FC Bayern und wird Pokalsieger. Auch, weil Mijat Gaćinović den Sprint seiner Karriere hinlegte.

Berlin, 2018

Mijat Gaćinovićs Weg in die Ewigkeit ist knapp 70 Meter lang. Er spitzelt seinem Gegner den Ball vom Fuß, sprintet los, das Tor ist leer, aber es ist auch weit entfernt. Er hat die Augen weit geöffnet, als würde er vor der Größe dieses Moments erschrecken. Seine Arme rudern durch die Luft, er schwimmt an gegen die Strömung, die eine solche Chance sein kann. Die unendlichen Möglichkeiten dieser Handvoll Sekunden – Versagen, Triumph, diese endlos weiten 70 Meter. Er legt sich den Ball vor, rennt hinterher, blickt sich um, dreimal, viermal, fünf Sekunden vergehen, sechs, sieben. An der Seitenlinie springen Gaćinovićs Teamkameraden auf und ab, sprinten mit ihm, als müssten sie alle gemeinsam diesen einen letzten Ball des Spiels über die Linie treiben. Mit vereinten Kräften, damit nicht die ganze Wucht dieses Sports, dieses Moments allein auf Gaćinovićs schmalen Schultern lastet.

Gaćinović rennt. Im Stadion schwillt der Jubel an, Menschen ringen nach Luft und schreien trotzdem. Sie klammern sich an ihren Sitznachbarn fest, als müssten sie sicherstellen, nicht von der Fliehkraft des Augenblicks umgerissen zu werden. Sie springen von ihren Plätzen auf und scheinen nicht wieder zu landen. Sie lachen und weinen gleichzeitig. Sie hoffen und bangen, sie können es nicht glauben, Gaćinović rennt, sie verstehen: Niemand wird ihn mehr einholen können. Und während Gaćinović den Ball zum 3:1 über die Linie rollen lässt und einfach weiterrennt, über die Bande zu den Fans, und noch viel weiter, löst sich für die zahllosen Anhänger, die sich schreiend in den Armen liegen, ein 30 Jahre alter Knoten. Eintracht Frankfurt ist Pokalsieger.

So ungläubig sehen Sieger aus

In der TV-Übertragung geht es ein wenig unter, aber als der erste Jubel über die Sensation abgeebbt ist, bleibt es ungewöhnlich still im Stadion. Die Fans der Eintracht, sie haben für eine solche Situation keine Lieder. Ihre Gesänge handeln vom Durchhalten, davon, dass man trotzdem zum Fußball geht, auch wenn es oft schmerzhaft ist, und von der vagen Hoffnung, dass eines Tages alles besser wird. Nun, da dieser Tag gekommen ist, wirken viele Anhänger geradezu überrumpelt. Ihre Mannschaft verliert Pokale eher, als dass sie sie gewinnt, verpasst die Chancen eher, als dass sie sie nutzt. Es ist eine Gewissheit, die sich nach dem Trauma der 1992 in Rostock verlorenen Meisterschaft tief in die Seele der SGE-Fans gegraben hat und dort vernarbt ist. Jetzt halten die Spieler ihrer Mannschaft einen goldenen Pokal gen Kurve, von dem niemand im Stadion so recht sagen kann, warum nicht die Bayern, der größtmögliche Favorit an diesem Abend, ihn gewonnen haben. Fans schütteln die Köpfe, manche singen ein verlegenes „Oh, wie ist das schön“, das der tatsächlichen Schönheit dieses Abends nie gerecht werden kann.

Ebenso überrascht wie die Fans wirken die Spieler. Marius Wolf sitzt auf dem Rasen und schlägt erschrocken die Hände vors Gesicht. Kevin-Prince Boateng wird von seinen Emotionen in die Knie gezwungen. Der bullige Ante Rebić findet inmitten des Trubels ein paar Augenblicke, um zu weinen, und wirkt dabei, als täte er das zum ersten Mal. Sehr viel später in der Nacht, um vier Uhr morgens vor dem Brandenburger Tor, sagt Danny da Costa: „Ich brauche noch zwei, drei Tage, um das zu realisieren.“ Er spricht in diesem Moment für alle, die es mit der Eintracht halten.

Manche singen ein verlegenes „Oh, wie ist das schön“, das der tatsächlichen Schönheit dieses Abends nie gerecht werden kann

Und er hat unrecht. Denn um zu realisieren, was passiert ist, braucht es lediglich eine Nacht. Schon am frühen Morgen nach dem Triumph platzt der Frankfurter Römer aus allen Nähten, gegen Mittag wird er geschlossen. Als der Eintracht-Tross in Berlin ins Flugzeug steigt, warten in Frankfurt bereits 100 000 Menschen. Nach der Landung hält der Pilot den Pokal aus dem Fenster, die Feuerwehr grüßt die Maschine mit Wasserfontänen.