Tagebücher 1862–1897 - Sofja Andrejewna Tolstaja - E-Book

Tagebücher 1862–1897 E-Book

Sofja Andrejewna Tolstaja

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Beschreibung

Der erste Band umfaßt die Zeit von 1862–1897. Der Anlaß für die damals 18jährige Sofja A. Tolstaja, vom Beginn ihrer Ehe im Jahr 1862 an Tagebuch zu führen, war das für sie traumatische Erlebnis der Lektüre von Tolstois Tagebüchern, die sie über seine »ausschweifende Vergangenheit« in Kenntnis setzten. Dieses Trauma führte bei der sonst resoluten und praktisch denkenden Frau zu einer fast krankhaften Eifersucht, zu Anfällen von Mutlosigkeit und Depression. Dennoch gibt es in dieser Ehe über Jahre hinweg eine Zeit des Glücks und der Zufriedenheit. Die Romane ›Krieg und Frieden‹ und ›Anna Karenina‹ entstehen in enger Mitarbeit der Tolstaja. Als Tolstoi sich 1880 radikal einer asketischen Lebensweise zuwendet und die Verwaltung des Gutes sowie die Sorge um die Familie ganz und gar seiner Frau überläßt, kommt es zu ersten Auseinandersetzungen und zur zunehmenden Entfremdung. Die Tagebücher von Sofja Andrejewna Tolstaja sind nicht nur eine bedeutende Ergänzung zu den Werken Tolstois, sondern sind auch von hohem kulturgeschichtlichen Interesse als Sittenbild adeligen Lebens wie als Beitrag zur russischen Geistesgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Vor allem aber gewähren sie Einblick in die Höhen und Tiefen einer 48 Jahre währenden Ehe und in die Privatsphäre eines großen Dichters und seiner Familie. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 835

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Sofja Andrejewna Tolstaja

Tagebücher 1862–1897

Aus dem Russischen von Johanna Renate Döring-Smirnov und Rosemarie Tietze

FISCHER Digital

Inhalt

Aus dem Russischen übersetzt [...]VorbemerkungDie HeiratTagebücher1862186318641865186618671868187018711872187318741875187618771878187918821883188518861887189018911892189318941895Wanetschkas Tod1897Anmerkungen

Aus dem Russischen übersetzt von Johanna Renate Döring-Smirnov („Die Heirat“ bis 22. April 1891) und Rosemarie Tietze („Meine Reise nach Petersburg“ bis Ende 1897)

Vorbemerkung

Das Bild der Sofja Andrejewna Tolstaja (1844–1919) wird entscheidend mitbestimmt von der Bewertung jenes Wandels, der sich in den achtziger Jahren im Denken ihres Mannes, des russischen Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910), vollzog. Die Krise, die Tolstoi damals durchlebte (und von der seine „Beichte“ beredtes Zeugnis ablegt), war künstlerisch und existentiell so tiefgreifend, daß sie sein ganzes Leben und Werk in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ zu unterteilen scheint. Und bei dieser Unterteilung war die Position Sofja Andrejewnas unbestreitbar: „vorher“ die unvergleichliche Helferin, „nachher“ die eigentliche Schadensstifterin, die erst in seiner Todesstunde offensichtlich wirklich begriff, welches Verstehen sie ihm versagt hatte.

Als er am 28. Oktober 1910 endgültig von ihr geflohen, auf der Flucht aber lebensgefährlich erkrankt war, eilte sie ihm mit einigen ihrer Kinder in einem Sonderzug in den kleinen Ort Astapowo nach, wo er todkrank in einem Bahnwärterhäuschen lag. Doch erst nachdem er schon das Bewußtsein verloren hatte, ließ man sie für seine letzten Atemzüge an sein Lager treten. Und erst sehr viel später erkannten ihre Kinder, was ein solcher Abschied für sie bedeutet haben muß. Denn trotz aller mit den Jahren immer unerbittlicher hervortretenden ideellen Gegensätze und praktischen Unvereinbarkeiten wußten sich Lew Nikolajewitsch und Sofja Andrejewna doch achtundvierzig Jahre lang durch eine tiefe Liebe verbunden. Sie wird immer wieder in den Memoiren der Tolstoi-Kinder betont und selbst von Sofja Andrejewnas ärgsten Widersachern nicht in Abrede gestellt.

Etwa ein Jahr vor Tolstois Flucht und Tod hatte die damals fünfundsechzigjährige Sofja Andrejewna mit leichten Anklängen an den vers libre ihre Zu- und Abneigungen auf einem Blatt notiert, das man später unter ihren nachgelassenen Papieren fand:

Was ich mag

Im Herzen Stille

Im Sinn einen Traum

Wenn Menschen mir geneigt sind

Jedes Kind

Und alle Blumen

Und Sonne und viel Licht

Ich pflanze und schneide, durchwandre so gern

Die Bäume und den Wald

Ich liebe darzustellen, d.h. zu zeichnen, zu photographieren, eine Rolle zu spielen; ich bin gerne schöpferisch

und sei es beim Nähen

Ich liebe die Musik, jedoch beschränkt

Ich liebe in Menschen Klarheit, Einfachheit, Talent

Gewänder und Schmuck

Liebe Frohsinn und Feste, Schönheit und Glanz

Ich liebe Verse

Empfindsamkeit

Liebkosung

Ich arbeite gern produktiv

 

Was ich nicht mag

Haß und Unzufriedenheit der Menschen

In Herz und Sinn Hohlheit und wär sie vorübergehend

Den Herbst

Männer (bis auf wenige Ausnahmen)

Finsterheit und Nacht

Kartenspiel und Geld

Menschen verfinstert von Laster und Wein

Geheimnisse, Unehrlichkeit, Verschlossenheit

Die Steppe

Trinkliedergrölen

Den Prozeß des Essens

Talentlosigkeit und Listigkeit, Lüge und Heuchelei

Ich liebe das Wirtschaften nicht

Liebe nicht die Einsamkeit

Mag keinen Hohn, keine Parodien, keine Scherze, Kritiken und Karikaturen

Mag keine Faulheit und Nutzlosigkeit

Ertrage nur schwer jegliche Flegelei.[1]

Diese Notizen erscheinen insofern symptomatisch, als sie in nuce das gleiche Prinzip der Bewertung zu erkennen geben, das die Tagebuchaufzeichnungen Sofja Andrejewnas von ihrer Heirat 1862 bis zum Tod Tolstois im Jahre 1910 bestimmt. Auffallend ist zunächst das doppelte Verlangen nach einem reichen Innen- wie einem glänzenden Außenleben, der Wunsch, ebenso geliebt wie auch verehrt zu werden. Die Freude an der schönen Form gilt gleichermaßen der lichten Natur wie der reinen Kunst. Und zur Bewunderung für hohe Begabungen tritt der Anspruch, selbst schöpferisch tätig zu sein, und wäre es auch nur im Akt des Reproduzierens.

Auf der anderen Seite steht die vorbehaltlose Verurteilung von allen „finsteren Leidenschaften und Machenschaften“. Und wenn man die Tagebücher von Sofja Andrejewna kennt, weiß man, daß diese Angriffe gegen bestimmte Aspekte im Leben ihres Mannes zielen: einmal gegen die Ausschweifungen seiner Junggesellenzeit, deren Protokollierung in seinem Jugendtagebuch auf sie einen traumatisierenden Eindruck machte, als er sie ihr vor der Hochzeit zu lesen gab.

Zum anderen wandte sie sich später gegen seine ethisch sozialen Bestrebungen, deren Dringlichkeit sich für ihn immer mehr vor die Bedeutung aller künstlerischen Arbeiten schob. Und Sofja Andrejewna nannte die Anhänger ihres Mannes, die sich immer zahlreicher um ihn scharten und immer lautstärker von ihm forderten, seine Postulate auch im Familienalltag zu realisieren, nur die „Finsterlinge“. Unter ihnen wurde Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow (1854 bis 1936), der – aus dem Hochadel stammend – auf eine glänzende militärische Karriere verzichtete, um sozialethische Ideale Tolstois zu verbreiten und zu praktizieren, zu ihrem erbittertsten Gegner. Denn gegen alle Rücksicht auf Sofja Andrejewna erwartete Tschertkow eine entsprechende Konsequenz auch von Tolstoi selbst.

Jene fast gewaltsame Selbstverwandlung von den sexuellen Ausschweifungen der Jugend zur Absage selbst noch an das eheliche Leben um des Heils der (eigenen) Seele willen, wie sie Tolstoi am Ende der achtziger Jahre künstlerisch in seiner Novelle „Die Kreutzersonate“ zu proklamieren suchte, ist immer wieder auch als Ausdruck des tragischer werdenden Konflikts zwischen den Eheleuten Tolstoi gedeutet worden.[2] Und weil Sofja Andrejewna mit ihrer außerordentlichen Hellhörigkeit und Klugheit so etwas vorausahnte, trat sie selbst den Kampf gegen das Zensurverbot dieser Novelle an bis hin zu einer Privataudienz beim Zaren, mit der sie dokumentieren wollte, daß die konkrete Situation ihrer Familie nichts oder nur wenig mit solchen ethisch-ideologischen Erwägungen zu tun habe. Sofja Andrejewna hat diese Audienz beim Zaren – wie es ihre ausführliche Darstellung im Tagebuch zeigt – als großen persönlichen und gesellschaftlichen Triumph erlebt. Er war ihr wichtiger als das entschiedene Widerstreben ihres Mannes gegen alle offiziellen Machtinstitutionen, zu der die Herrschaftsgewalt des Zaren natürlich in erster Linie zählte. So gesehen enthüllt der Konflikt um die „Kreutzersonate“ tatsächlich einen wichtigen Punkt im Kampf zwischen den Eheleuten Tolstoi. Ungeachtet der Krise Tolstois wollte Sofja Andrejewna ihren Mann auch weiterhin auf seine Positionen des „Vorher“ verpflichten: Familienvater, Schriftsteller und Gutsbesitzer zu sein. Für Tolstoi aber war es, u.a. als er während einer Volkszählung in Moskau das soziale Elend ganz unerbittlich kennengelernt hatte, gerade deshalb zur „Krise“ gekommen, weil ihm die früheren Positionen seines Lebens und Arbeitens fragwürdig und qualvoll zuwider geworden waren.

Und damit tut sich auch in der Bewertung der Kunst eine fast unüberbrückbare Kluft zwischen beiden auf: Während Tolstoi (und darin ist er einer der konsequentesten Denker des sogenannten Kritischen Realismus) sich von der Kunst abwandte, um sich mit den Problemen der sozialen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, huldigt Sofja Andrejewna seit den neunziger Jahren immer mehr schönen Kunstformen, kopiert Gemälde, liebt Poesie und begeistert sich enthusiastisch für den Komponisten und Pianisten Sergei Iwanowitsch Tanejew (1856–1915), den Tolstoi höchstens als Schachpartner anerkennt und um den es 1895 zu einem der großen Eifersuchtsdramen zwischen den Tolstois kommt.

Gerade für Sofja Andrejewnas Liebe zur „schöngeistigen Kunst“, wie sie sich ja bis hin zu den Notizen ihrer Zu- und Abneigungen mitteilt, mußte Tolstois Absage an seine Kunst auch zu einer ganz unmittelbaren Bedrohung ihrer Identität führen: denn sie hatte sich selbst immer auch vor allem als Frau des großen Schriftstellers verstanden, als „Amme dessen Talents“ sie sich selbst gerne sah und zeigte. Wenn sie seine Manuskripte immer und immer wieder abgeschrieben, er ihr Urteil gesucht und geschätzt hatte, fühlte sie sich an seinem schöpferischen Prozeß beteiligt, und das in einem solchen Maße, daß sie zum Beispiel von seinem Drama „Die Macht der Finsternis“ als von unserem Stück spricht. Als sie aber einsehen muß, daß er nie mehr in dem von ihr ersehnten Maß zu seinem früheren Leben und Arbeiten zurückkehren wird, übernimmt sie mit der ihr eigenen entschlossenen Energie die ihr wesentlichen Aspekte seines Parts: sie versucht das zu bewahren und zusammenzuhalten, was er entäußern möchte. Sie verwaltet, soweit sie es kann, das Gut, vor allem aber besorgt sie die Edition seiner Werke. Und obwohl sie hier wiederum vor allem als die Frau des Schriftstellers Lew Tolstoi zu erscheinen sich bemüht, stellt sich doch auch für sie selbst immer dringender die Frage nach ihrer ganz eigenen Position.

 

Als die achtzehnjährige Sonja (so die russische Koseform für Sofja) Behrs im September 1862 gleich nach der Heirat dem vierunddreißigjährigen Grafen Tolstoi auf dessen recht wenig feudales Gut Jasnaja Poljana folgte, verließ sie die Welt der Großstadt Moskau, in der sie aufgewachsen, und die Lichter des Kreml, in dem ihr Vater als Hofarzt tätig war, gegen die kaum von Laternen erhellte Straße voll Pfützen und Morast auf dem Weg in das etwa zweihundert Kilometer entfernte Jasnaja Poljana. Und doch bedeutete dieser Weg in das unbekannte und beängstigende Gutsleben für Sonja einen sozialen Aufstieg: als Gräfin Tolstaja hatte sie eine gesellschaftliche Position erlangt, die sie auch später nie in Frage zu stellen oder gar aufzugeben bereit war (ihr Mann dagegen wollte gerade ein sehr junges Mädchen aus nicht-adligen Kreisen heiraten, um es um so besser nach seinen Vorstellungen formen zu können). Für Sonja Behrs war dieser soziale Aufstieg nicht zuletzt deshalb wichtig, weil er die in gewisser Weise ambivalente Stellung ihrer Familie rehabilitierte: Ihr Vater war als deutschstämmiger Lutheraner ohnehin Außenseiter, ihre Mutter aber entstammte einer als schmerzlich empfundenen, gesellschaftlich nicht sanktionierten Alliance. Ihr Vater Alexander Michailowitsch Islenjew, ein Gutsbesitzer aus Tula, hatte lange mit Sonjas Großmutter, einem ehemaligen Hoffräulein, zusammengelebt, obwohl deren Ehe mit einem (dem Alkohol verfallenen) Fürsten Koslowski wegen dessen Einspruch nicht aufgelöst werden konnte, so daß die Kinder aus der Verbindung zwischen Islenjew und der Fürstin Koslowskaja als nicht legitim galten. Nach dieser unglücklichen Großmutter war Sofja benannt worden.

Schon in ihrer eigenen Familie hatte Sofja Andrejewna als schwierig gegolten; man meinte, sie habe die jähzornig auffahrende Neigung ihres Vaters wie die zuweilen voreilige Selbstsicherheit des Urteils und Vorurteils von der Mutter Ljubow Alexandrowna geerbt. Auf diese Gemeinsamkeit von Mutter und Tochter, die er (ebenso wie die Lieblingsschwester Tanja) ihrer Haare wegen „die schwarzen Behrs“ nannte, wies Tolstoi schon 1864 in einem Brief an Sofja hin:

„Alle Schwarzhaarigen Eurer Familie sind mir lieb und sympathisch. Ljubow Alexandrowna ist Dir schrecklich ähnlich. Kürzlich hat sie an einem Lampenschirm gearbeitet, genau wie Du – Du fängst eine Arbeit an, und dann kann Dich schon nichts mehr davon abhalten. Sogar unschöne Züge habt Ihr gemeinsam. Ich höre bisweilen, wie sie im Brustton der Überzeugung von Dingen spricht, die sie nicht kennt, Behauptungen aufstellt und übertreibt, und erkenne Dich.“[3]

Sofja Andrejewnas Sehnsucht nach „Zärtlichkeit“ und „Liebkosung“, die sie nicht nur in den Notizen äußert, scheint von dieser Mutter, die als ernst und zurückhaltend stolz geschildert wird, nicht gestillt worden zu sein. Dagegen erschreckt sie ihr Mann (und hier kann sie sich wieder mit ihrer Mutter identifizieren) durch seine Sinnlichkeit, eine für sie zumindest anfangs finstere körperliche Begierde, die sie um so mehr quält, als sie in Jasnaja Poljana die ständige Gegenwart seiner früheren Geliebten, der Bäuerin Axinja Basykina (1836–1920) ertragen muß. Tolstoi seinerseits beklagte sich in den ersten Ehejahren über eine gewisse körperliche Kälte seiner Frau:

„Ich berührte sie – sie war am ganzen Körper glatt, angenehm anzufassen und kalt, aus Porzellan … Alles war nur zum Ansehen bestimmt.“[4]

In der jeweils unterschiedlichen Bewertung der animalischen Körperlichkeit trafen unmittelbar wesentliche Ängste von Tolstoi und Sofja Andrejewna aufeinander: sie fürchtete, verlassen zu werden, wenn seine Leidenschaft für sie erkaltet sei, er dagegen suchte in der körperlichen Liebe auch Erlösung von dem ihn bestimmenden Todesgrauen. Tolstoi, der 1860 das qualvolle Sterben seines Lieblingsbruders Nikolai miterlebt hatte, hatte bereits als Zweijähriger seine Mutter verloren. Und noch als Siebenundsiebzigjähriger spricht er – sie verklärend – voll Sehnsucht von einer fraglos annehmenden, bejahenden Liebe:

„Den ganzen Tag über ein Gefühl dumpfer Beklemmung. Gegen Abend wandelt sich dieser Zustand der Traurigkeit in zärtliche Rührung, in den Wunsch, gestreichelt, getröstet zu werden. Wie ein Kind möchte ich mich an ein liebendes, mitfühlendes Wesen schmiegen, Tränen der Liebe und Zärtlichkeit vergießen und mich gestärkt fühlen. Aber wo ist jenes Wesen, bei dem ich solche Zuflucht fände? […] An wen könnte ich mich also hängen? Wieder ein Kind werden und mich an meine Mutter schmiegen, so wie ich sie mir vorstelle? Ja, du, Mama, die ich niemals beim Namen nannte, weil ich doch nicht sprechen konnte … Ja, du, das höchste Ideal der reinen Liebe, das ich mir je vorstellen konnte, der menschlichen, warmen, mütterlichen Liebe. Danach verlangt meine müde Seele. Du, Mama, du, tröste mich, erleichtere mein Herz …“[5]

Nicht zuletzt dieses Ideal der Mütterlichkeit hat Tolstoi immer wieder so darauf bestehen lassen, daß Sofja Andrejewna ihre Kinder selbst stillte, eine Forderung, die sehr viel mehr dem Landleben als den gesellschaftlichen Konventionen Moskaus, in denen Sofja Andrejewna aufgewachsen war, entsprach. Doch obwohl ihr das Stillen unbeschreibliche Mühen und Schmerzen bereitete, fügte sie sich dem Wunsch Tolstois und zog nur in äußersten Fällen eine Amme hinzu. Als sie aber nach Tolstois Krise sich von der Verwaltung seines Gutes und der Ausgabe seiner Werke überbeansprucht fühlte, stellte sie, als sie wieder schwanger war, bereits vor der Geburt eine Amme ein mit den Worten, sie könne nicht die Funktionen von Mann und Frau zugleich erfüllen. Diese Worte und ein Streit um den Verzicht auf das Gut in Samara führten am 17. Juni 1884 zu einer so schweren Auseinandersetzung, daß Tolstoi damals zum erstenmal mit einem Sack über dem Rücken Familie und Haus verließ, im Gedanken an die unmittelbar bevorstehende Niederkunft jedoch noch einmal umkehrte. Am nächsten Morgen wurde die Tochter Alexandra geboren, die an der letzten Flucht Tolstois einen maßgeblichen Anteil hatte.

Auch zwischen Lew Nikolajewitsch und Sofja Andrejewna Tolstoi und ihren dreizehn Kindern bildeten sich immer wieder Zweierbindungen, die alle anderen auszuschließen drohten. Hatte die Bedrohung der symbiotischen Beziehung zwischen den Eheleuten Eifersuchtsszenen, Selbstmordversuche und Mordgelüste ausgelöst, so reagierte zumindest Sofja Andrejewna nicht weniger verblendet eifersüchtig auf die enge Beziehung zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter Mascha und nach deren Tod (1906) ihrer jüngsten Tochter Alexandra. Sie selbst war vor allem mit ihren Söhnen verbunden und sah es immer als ihre mütterliche Pflicht an, ihre Kinder finanziell abzusichern. Nicht zuletzt deshalb widersetzte sie sich allen Intentionen Tolstois, auf sein Eigentum nicht nur für sich, sondern auch für seine Familie zu verzichten. Sofja Andrejewna hatte schon in den Anfangsjahren ihrer Ehe voll Schrecken beobachtet, wie wenig konsequent Tolstoi in der Verwaltung seiner Güter in Jasnaja Poljana, Nikolskoje-Wjasemskoje und der Steppe von Samara war, wie er immer wieder neue Pläne entwickelte und verwarf, so daß sie in den achtziger Jahren zunächst den Wunsch, auf diese Güter zu verzichten, nur für einen neuerlichen Einfall – jetzt „aus christlichem Geist“ – hielt. Als sie dann selbst die Verwaltung von Jasnaja Poljana übernahm, wußte sie sehr wohl, daß die Erträge des Gutes gerade den Lebensbedarf der Familie und der Angestellten deckten, jedoch keinerlei Gewinn abwarfen. Nicht zuletzt deshalb bestand Sofja Andrejewna mit allem Nachdruck darauf, daß Tolstoi nicht auf die Einnahmen aus seinen Werken verzichten dürfe. Tolstoi dagegen sah mit ständig wachsendem Widerwillen, wie vor allem seine jüngeren Söhne das Geld verpraßten, das die Mutter ihnen immer wieder gab.

Wenn sie auch partiell gesellschaftlich verbogen sein mochte, so war die aufopferungsvolle Mütterlichkeit Sofja Andrejewnas sicher gerade das, was Tolstoi besonders an ihr liebte und bewunderte, wenn sie sich auch nicht zu jener „geistigen allumfassenden Mütterlichkeit“ gewandelt und entwickelt hat, auf die er nach seiner Krise bis in die letzten Lebensmonate hin gehofft und um deretwillen er Sofja Andrejewna so lange nicht verlassen hatte. Er hatte ihren Schmerz miterlebt, als ihnen sechs ihrer Kinder starben: Peter (1872 bis 73), Nikolai (1874–75), Warwara (1875 geboren und kurz darauf gestorben). Alexei (1881–86), Iwan, Wanetschka genannt, (1888–95), Marija, Mascha, (1870–1906), und er wußte, daß vor allem der Tod ihres jüngsten Sohnes Wanetschka, der ihr all die Liebe und vor allem die lichte Zärtlichkeit entgegengebracht hatte, nach der sie sich lebenslang sehnte, für sie den Zusammenbruch vieler Hoffnungen, ja ihrer Lebenskraft bedeutete. In der gemeinsamen Trauer um dieses letzte Kind sind Sofja Andrejewna und Lew Tolstoi einander noch einmal so verständnisvoll nahe gewesen wie später nie mehr. Denn während Tolstoi seinen nach der Krise begonnenen Weg weiterging, suchte Sofja Andrejewna Trost in der von Tolstoi zurückgewiesenen Kunst, suchte sie vor allem in der Begegnung mit dem Komponisten Tanejew jene seelische Nähe, die ihr als Wesen der Verehrung erschien, während Tolstoi sie vor allem für ein gesellschaftliches Spiel hielt und als sündhaft und verrucht zurückwies.

Sofja Andrejewna hat nach dem Tod Tolstois auch noch ihren Sohn Andrei verloren (1877–1916). Doch als Tolstoi starb, dessen Verlust sie seit ihrer Heirat immer gefürchtet hatte, trat in ihrem Leben eine für fast alle unerwartete Wandlung ein: sie wurde ruhiger, bescheidener, gütiger, ja sogar Vegetarierin. Sie führte nicht mehr Tagebuch, sondern machte nur weiterhin kurze Tagesnotizen und arbeitete an ihren umfangreichen Memoiren „Mein Leben“. In ihnen hat sie vieles ausführlicher geschildert, was sie, solange Tolstoi noch lebte, aus häufigem Zeitmangel nicht aufgezeichnet hatte. Aus diesen Erinnerungen ist auch die Darstellung ihrer Hochzeit entnommen, die eine russische Zeitung zum 50. Hochzeitstag der Tolstois am 23. September 1912 veröffentlichte.

 

Die häufigen zeitlichen Lücken im Tagebuch Sofja Andrejewnas, die ganz wesentliche Ereignisse (wie z.B. den Tod Aljoschas1886) unerwähnt lassen, erklären sich jedoch nicht nur aus dem Zeitmangel der Schreiberin, sondern sie weisen auf die Doppelfunktion dieses besonderen Tagebuchs hin. Natürlich sah es Sofja Andrejewna immer wieder als Aufgabe an, Einzelheiten aus dem Alltag, Arbeiten und Erleben ihres Mannes zu notieren, um sie später an die Nachwelt weiterzugeben. Und dennoch tritt diese Aufgabe immer wieder weitgehend zurück hinter ihrem ganz persönlichen Bedürfnis: sich selbst auszusprechen, zu klagen, sich zu beklagen und zugleich anzuklagen, sich zu rechtfertigen, sich zu verteidigen.

So viele wesentliche Einsichten über Tolstoi dieses Tagebuch seiner Frau aus achtundvierzig gemeinsam verlebten Ehejahren auch mitteilt, so erfüllt es keineswegs eine primär protokollierende Funktion (im Unterschied zu vielen anderen Tagebüchern jener Zeit) – dazu ist es viel zu sehr auf die Schreiberin selbst konzentriert, ist es zu voreingenommen. Es schildert oft sehr viel weniger Ereignisse, als daß es sie unter der Perspektive der eigenen expliziten Wertsetzungen interpretiert. Denn dieses Tagebuch wird eigentlich vor allem immer dann geführt, wenn der Dialog zu Tolstoi erschwert oder unterbrochen ist. Dann fingiert sich dieses Tagebuch den vermißten Partner, dem man alles erzählen, mit dem man alles besprechen kann und dessen Zuhören auch die ungerechtesten Ausfälle wieder in das richtige Lot rücken könnte.

Sofja Andrejewna war immer überzeugt, daß sogar ihre finstersten Gedanken im Prozeß des Aufschreibens eine Wandlung erleben könnten und es ihr selbst danach wieder lichter zumute sein würde. Und vielleicht macht diese Einschätzung des Tagebuchs es verständlicher, warum sie so verzweifelt darum bemüht war, daß Lew Nikolajewitschs Tagebücher nicht den „Finsterlingen“ überlassen würden, gegen die sie selbst in ihren Tagebüchern so erbittert kämpfte.

 

J.R. Döring-Smirnov

Die Heirat

(geschrieben 1912)

Reise nach Iwizy und Jasnaja Poljana

Als unsere Mutter uns drei Schwestern mitteilte, sie wolle Anfang August 1862 mit uns und unserem kleinen Bruder Wolodja in einer der damals üblichen Annenkow-Kutschen zu ihrem Vater, unserem Großvater Alexander Michailowitsch Islenjew[6], fahren, kannte unsere Freude keine Grenzen.

Großvater Islenjew lebte damals auf „Iwizy“ im Odojewer Landkreis, dem einzigen Gut, das von seinem ehemals großen Besitz übriggeblieben war, weil er es seiner zweiten Frau, Sofja Alexandrowna, geb. Schdanowa, der Stiefmutter meiner Mutter, überschrieben hatte. In seiner Erzählung „Kindheit“ hat Lew Nikolajewitsch Tolstoi sie als „La belle Flamande“ und Großvater als „Papá“ beschrieben. Mit der mittleren der drei Töchter aus der zweiten Ehe[7] meines Großvaters war ich eng befreundet.

Das Gut meines Großvaters lag etwa 50 Werst von Jasnaja Poljana entfernt, wo Marija Nikolajewna, die Schwester von Lew Nikolajewitsch, gerade aus Algier[8] gekommen, damals zu Besuch war. Meine Mutter beschloß, nach Jasnaja Poljana, das sie seit vielen Jahren nicht mehr aufgesucht hatte, zu fahren, um die unzertrennliche Freundin ihrer Kindheit wiederzusehen. Meine Schwester Tanja und ich waren begeistert, da wir uns über jede Abwechslung freuten, die sich uns bot. Mit großer Ungeduld erwarteten wir den Tag unserer Abreise. Im Hause herrschte fieberhafte Aufregung, die Vorbereitungen liefen auf vollen Touren, prächtige Kleider wurden genäht, die Koffer gepackt.

An diesen lang ersehnten Tag kann ich mich jedoch nur noch schwach erinnern. Ich habe auch nur eine schwache Erinnerung an die Reise selbst – Poststationen, Pferdewechsel, hastiges Essen und Müdigkeit infolge der ungewohnten Strapazen. Wir fuhren nach Tula zu Tante Nadeschda Karnowitsch, der Schwester unserer Mutter und Frau des Adelsmarschalls von Tula. Die Stadt kam mir sehr langweilig und schmutzig vor, aber auf dieser Reise mußte alles gewissenhaft besichtigt werden.

Nach dem Essen fuhren wir nach Jasnaja Poljana. Als wir aufbrachen, begann es bereits zu dämmern; es herrschte eine friedliche Stimmung. Der Weg durch den Sasseka-Wald[9] war sehr malerisch; der uns ungewohnte Anblick der unberührten Natur beeindruckte uns tief.

Marija Nikolajewna und Lew Nikolajewitsch empfingen uns herzlich. Die zurückhaltende, liebenswürdige Tante Tatjana Alexandrowna Jergolskaja begrüßte uns auf französisch, und ihre Gesellschafterin, die alte Natalja Petrowna[10], strich mir ein paarmal wortlos über die Schultern und zwinkerte meiner jüngeren Schwester Tanja zu, die damals fünfzehn Jahre alt war. Man führte uns in ein großes Zimmer mit einer gewölbten Decke, das nicht nur einfach, sondern ausgesprochen ärmlich möbliert war. An den Wänden standen ein Sessel und weißgestrichene Sofas mit sehr harten Kissen anstelle von Rückenlehnen. Sie waren ebenso wie die Sitzkissen mit blau-weiß gestreiftem Drillich bezogen. In der Mitte des Zimmers stand ein einfacher Tisch aus Birkenholz, angefertigt von einem Gutstischler. An der Decke waren eiserne Ringe angebracht, an denen früher Pferdesättel, Schinkenkeulen u.ä. gehangen hatten, als zur Zeit von Lew Nikolajewitschs Großvater, dem Fürsten Wolkonski, das Zimmer als Kammer diente.[11]

Es war Anfang August, und die Tage begannen allmählich kürzer zu werden. Wir liefen ein wenig im Garten herum, und Natalja Petrowna führte uns zu den Himbeersträuchern, an denen nur noch wenige Beeren hingen. Zum erstenmal in unserem Leben aßen wir die Früchte gleich vom Strauch und nicht aus den Sieben, in denen man uns auf der Datscha die Beeren zum Einkochen zu bringen pflegte. Sie schmeckten uns ausgezeichnet.

Nachtlager und Sessel

Als es dunkel wurde, beauftragte mich meine Mutter, die Reisekoffer auszupacken und die Betten vorzubereiten. Dunjascha[12], das Zimmermädchen der Tante, und ich richteten gerade das Nachtlager, als plötzlich Lew Nikolajewitsch in das Zimmer trat. Dunjascha sagte ihm, sie habe die drei Sofas bezogen, für den vierten Gast aber sei kein Bett mehr da.

„Man kann doch auch auf einem Sessel schlafen“, entgegnete Lew Nikolajewitsch, rückte den Voltaire-Sessel heran und stellte einen großen quadratischen Hocker ans Fußende.

„Ich werde auf diesem Sessel schlafen“, sagte ich.

„Und ich richte Ihnen das Bett“, sagte Lew Nikolajewitsch und begann mit ungeschickten Bewegungen, das Bettuch auszubreiten. Das machte mich etwas befangen, aber zugleich freute ich mich über die Vertrautheit, die dabei entstand. Als wir wieder nach oben kamen, sah uns meine Schwester Lisa fragend an. Wolodja und meine Schwester Tanja schliefen zusammengerollt auf einem kleinen Sofa im Zimmer der Tante, Mamá und Marija Nikolajewna unterhielten sich über die alten Zeiten. Ich erinnere mich noch lebhaft an jede Minute dieses Abends. Im Speisezimmer mit dem großen italienischen Fenster deckte der schielende kleine Diener Alexei Stepanowitsch[13] mit der stattlichen, recht hübschen Dunjascha (der Tochter des in Kindheit beschriebenen Diakons Nikolai[14]) den Tisch. Vom Speisezimmer aus gelangte man in ein kleines Wohnzimmer mit einem alten Klavichord aus Rosenholz; die Balkontür dieses Raumes stand offen, und vom kleinen Balkon aus hatte man eine herrliche Aussicht.

Ich trug einen Stuhl auf den Balkon, setzte mich und ließ die Natur auf mich einwirken. Diese Stimmung wird mir immer unvergeßlich bleiben. War es der Eindruck der Natur und Weite, war es die Vorahnung dessen, was anderthalb Monate später sich ereignete, als ich nunmehr als Hausherrin dieses Haus betrat, war es einfach der Abschied von meinem ungezwungenen Jungmädchenleben, oder war es all dies zusammen? – Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich glücklich und wie neugeboren.

Inzwischen hatten sich alle zum Abendessen eingefunden. Lew Nikolajewitsch kam auf den Balkon, um mich zu holen.

„Nein, danke, ich möchte nicht essen“, sagte ich. „Hier ist es so schön!“

Aus dem Speisezimmer drang die fröhliche Stimme meiner Schwester Tanja, die von allen geliebt und verwöhnt wurde. Lew Nikolajewitsch ging ins Zimmer, kehrte aber bald wieder zu mir auf den Balkon zurück. Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir sprachen; ich erinnere mich nur noch daran, daß er zu mir sagte: „Was sind Sie doch für ein klarer Mensch!“ Diese Worte beglückten mich.

Wie gut schlief ich im Voltaire-Sessel, den Lew Nikolajewitsch für mich gerichtet hatte! Die Lehnen auf beiden Seiten beengten mich zwar ein wenig beim Umdrehen, aber ich war glücklich darüber, daß Lew Nikolajewitsch diese Schlafstätte für mich bereitet hatte, und es überkam mich ein mir bisher unbekanntes freudiges Gefühl.

Picknick in Jasnaja Poljana

Freudig war auch das Aufwachen am nächsten Morgen. Ich wollte herumlaufen, alles ansehen, mit allen sprechen. Was für eine unbeschwerte Atmosphäre herrschte damals in Jasnaja Poljana! Lew Nikolajewitsch bemühte sich, uns bei fröhlicher Laune zu halten, und Marija Nikolajewna stand ihm dabei tatkräftig zur Seite. Sogenannte Walzen, eine lange Kremser-Equipage, wurden angespannt. Deichselpferd war der Fuchs Baraban, Strelka das Beipferd. Auf die braune Belogubka wurde ein Damensattel aufgelegt, für Lew Nikolajewitsch ein besonders schöner Schimmel gesattelt. Es kamen auch noch andere Gäste mit uns zum Picknick: Frau Gromowa, die Gattin eines Architekten aus Tula, und Sonetschka Bergholz, die Nichte von Julija Fjodorowna Auerbach, der Leiterin des Mädchengymnasiums von Tula. Marija Nikolajewna, glücklich über die Anwesenheit von meiner Mutter und Frau Gromowa, war besonders ausgelassen, fröhlich und geistreich, scherzte und steckte uns mit ihrer Heiterkeit an. Lew Nikolajewitsch schlug mir vor, Belogubka zu reiten.

„Aber wie kann ich das, ich habe doch kein Reitkleid an!“ sagte ich und blickte auf mein gelbes Kleid mit den kleinen schwarzen Samtknöpfen und dem passenden Gürtel.

„Das macht nichts“, erwiderte Lew Nikolajewitsch lächelnd. „Hier wird niemand außer den Bäumen Sie sehen“, und er half mir aufzusteigen.

Als ich neben Lew Nikolajewitsch durch den Sasseka-Wald galoppierte, wo sich jetzt unsere Bahnstation befindet, war ich der glücklichste Mensch auf Erden. Ich habe später immer wieder diese Stätten aufgesucht, aber dann, im Alltag, ging von ihnen nicht mehr jener Zauber aus, dem ich damals erlegen war. Wir erreichten eine Schonung, auf der ein Heuschober stand. Hier haben wir später oft mit unseren Kindern und der Familie meiner Schwester Tanja Tee getrunken und Picknicks veranstaltet, aber das war nicht mehr die gleiche Schonung, sie lag in einem anderen Licht.

Marija Nikolajewna forderte uns auf, den Heuschober zu besteigen und uns dort hinunterrollen zu lassen; wir stimmten begeistert diesem Vorschlag zu. Der Abend verlief laut und fröhlich.

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Krasnoje, einem Dorf, das früher meinem Großvater Islenjew gehört hatte[15] und wo meine Großmutter begraben ist[16]. Meine Mutter wollte unbedingt zu den Stätten ihrer Kindheit und zum Grab ihrer Mutter, das sich neben der Kirche befindet. Man ließ uns nur ungern fortfahren und nahm meiner Mutter das Versprechen ab, auf der Rückreise – und sei es nur für einen Tag – wieder nach Jasnaja Poljana zu kommen.

Krasnoje

Mit gemieteten Pferden fuhren wir in einer Kutsche Marija Nikolajewnas nach Krasnoje, wo wir uns jedoch nicht lange aufhielten.

Ich erinnere mich an die Kirche und an das Grabmal mit der Inschrift: „Fürstin Sofija Petrowna Koslowskaja geb. Gräfin Sawadowskaja“. Deutlich sah ich das Leben meiner Großmutter vor mir: Wie sehr hatte sie zunächst unter ihrem Mann, dem oft betrunkenen Fürsten Koslowski, mit dem man sie zwangsweise verheiratet hatte, dann unter der nicht legalisierten Verbindung mit meinem Großvater Alexander Michailowitsch Islenjew in dieser Dorfeinsamkeit gelitten, in der sie jedes Jahr ein Kind zur Welt brachte.[17] Ständig hatte sie in der Angst gelebt, mein Großvater, der dem Kartenspiel verfallen war, werde sein Hab und Gut verlieren. Diese Vorahnung hat sich dann auch tatsächlich am Ende seines Lebens bewahrheitet.

Der alte Geistliche und der Diakon Fetis erinnerten sich noch gut an Sofija Petrowna und sprachen mit bewegten Worten von ihr. „Ich habe die Schuld auf mich geladen, sie heimlich zu trauen“, erzählte uns der alte Geistliche. „Sie hat mich doch so sehr darum gebeten: ‚Wenigstens vor Gott, wenn schon nicht vor den Menschen, möchte ich die Ehefrau von Alexander Michailowitsch sein‘, hat sie immer wieder gesagt.“ Von dem Diakon Fetis wurde berichtet, er sei zu Grabe getragen, plötzlich aber wieder lebendig geworden, aus dem Sarg gesprungen und nach Hause gegangen. Ich sehe noch ganz deutlich seine hagere Gestalt und das fettige geflochtene graue Zöpfchen im Nacken vor mir. Dieser Anblick war für mich ungewohnt, aber ich war in einer seelischen Verfassung, in der mich nichts mehr in Erstaunen versetzte; mir schien alles beinahe unwirklich und zauberhaft schön.

Iwizy

Nachdem man die Pferde gefüttert hatte, fuhren wir von Krasnoje weiter zu unserem Großvater nach Iwizy. Auch dort wurden wir herzlich und festlich empfangen. Unser Großvater, der sehr schnell ging, dabei aber kaum die Füße hob, rutschte ständig auf seinen weichen Stiefeln aus. Er war immer zu Späßen aufgelegt, nannte uns „die gnädigen Fräulein aus Moskau“, pflegte uns mit dem Zeige- und dem Mittelfinger in die Backe zu kneifen, uns zuzublinzeln und mit verschmitztem Gesichtsausdruck irgend etwas Lustiges zu sagen. Ich sehe noch genau seine mächtige Gestalt vor mir, das schwarze Mützchen auf dem kahlen Kopf, die große gekrümmte Nase in dem braunen, glattrasierten Gesicht. Mit verwunderten Blicken schauten wir seiner zweiten Frau zu, die gewöhnlich eine lange Pfeife rauchte, wobei ihre Unterlippe herunterhing. Nur ihre schwarzen, glänzenden, ausdrucksvollen Augen zeugten von ihrer früheren Schönheit.

Die schöne Olga, äußerlich ruhig und kühl, führte uns nach oben in das Zimmer, das für uns vorbereitet war. Dort stand hinter einem Schrank mein Bett; statt eines Nachttischs hatte man einen einfachen Holzstuhl daneben gerückt.

Am nächsten Tag besuchten wir Nachbarn, die junge Töchter hatten; sie waren sehr höflich, aber uns in allem fremd. Es waren junge Damen vom Lande, wie man sie aus den Romanen Turgenjews kennt. Das Leben der Gutsbesitzer war noch vom feudal-patriarchalischen Geist geprägt. Ohne Eisenbahnverbindungen führten sie ein abgeschiedenes, aber zufriedenes Leben, das nur vom Nächstliegenden bestimmt war – den Problemen der Gutswirtschaft, den Nachbarn, der Jagd, den Handarbeiten der Frauen und den einfachen, fröhlichen Familien- und Kirchenfesten.

Unsere Reise in den Odojewer Landkreis erregte einiges Aufsehen. Wir hatten viel Besuch, nahmen an Picknicks, Bällen und Ausfahrten teil.

Unerwartet traf Lew Nikolajewitsch auf seinem Schimmel in Iwizy ein. Mein Großvater, der mit Graf Nikolai Iljitsch Tolstoi befreundet gewesen war und auch Lew Nikolajewitsch sehr mochte, freute sich sehr über seinen Besuch.

Offiziere, junge Gutsnachbarn, viele junge und ältere Damen kamen zu Besuch; sie waren uns in allem fremd. Aber was machte das schon? Wir waren fröhlich, und nur das zählte. Die Jugend, die tagsüber ausgeritten war, wollte abends tanzen. Der Reihe nach spielten wir auf dem Klavier zum Tanz.

„Wie elegant sie hier alle sind!“ bemerkte Lew Nikolajewitsch und blickte auf mein weißes Kleid mit violettem Barège und hellvioletten Schleifen auf den Schultern, von denen die langen Bänder herunterhingen, damals „Suivez-moi“ genannt. „Mir tut es leid, daß Sie bei meiner Tante nicht auch so elegant waren“, fügte er lächelnd hinzu.

„Tanzen Sie denn nicht?“ fragte ich.

„O nein, ich bin schon zu alt.“

An zwei Tischen spielten grauhaarige Herren und Damen Karten. Auch nachdem später alle abgefahren waren, blieben wir noch an den noch nicht zugeklappten Tischen sitzen, auf denen die Kerzen herunterbrannten, und hörten aufmerksam Lew Nikolajewitsch zu, der lebhaft erzählte. Mamá meinte aber, es sei allmählich an der Zeit, schlafen zu gehen; und sie forderte uns streng auf, uns zurückzuziehen. Als ich schon an der Tür war, rief Lew Nikolajewitsch:

„Sofja Andrejewna, warten Sie noch einen Augenblick!“

„Was gibt’s?“

„Lesen Sie doch das, was ich Ihnen hier aufschreibe.“

„Gut“, stimmte ich zu.

„Aber ich werde nur die Anfangsbuchstaben hinschreiben, Sie sollen die Wörter erraten.“

„Wie denn? Das ist doch unmöglich! Na gut, schreiben Sie.“

Lew Nikolajewitsch wischte mit einer kleinen Bürste alle Spielnotizen fort, nahm ein Stück Kreide und begann zu schreiben. Wir waren beide sehr erregt. Ich folgte seiner großen roten Hand und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf diese Kreide und die Hand, die die Kreide hielt. Wir schwiegen beide.

Die Kreideschrift

„I.J.u.I.V.n.G.e.m.n.a.a.m.A.u.m.U.z.G.“ schrieb Lew Nikolajewitsch.

„Ihre Jugend und Ihr Verlangen nach Glück erinnern mich nur allzusehr an mein Alter und meine Unfähigkeit zum Glück“, las ich vor.

Mein Herz begann stark zu schlagen, es pochte in meinen Schläfen, mein Gesicht brannte, ich hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum, für alles Irdische, verloren; ich glaubte, in dieser Minute alles zu können, alles zu verstehen, alles Unfaßbare zu erfassen.

„Nun, weiter“, sagte Lew Nikolajewitsch und schrieb: „I.I.F.h.e.f.M.ü.I.S.L.u.m.I.S.T.u.S.s.m.v.“

„In Ihrer Familie herrscht eine falsche Meinung über Ihre Schwester Lisa und mich. Ihre Schwester Tanetschka und Sie sollen mich verteidigen“, las ich schnell und fließend aus den Anfangsbuchstaben.

Lew Nikolajewitsch war nicht einmal verwundert – als handle es sich um das Selbstverständlichste. Wir waren uns innerlich so nahe, daß um uns herum nichts mehr zu existieren schien.

Ich hörte die verärgerte Stimme meiner Mutter, die mich ermahnte, schlafen zu gehen. Wir verabschiedeten uns hastig, löschten die Kerzen und gingen auseinander. Oben zündete ich hinter dem Schrank einen Kerzenstummel an, kauerte mich auf den Boden, legte mein Tagebuch auf den Stuhl und schrieb die Worte von Lew Nikolajewitsch auf, deren Anfangsbuchstaben er notiert hatte. Ich ahnte, daß sich zwischen uns etwas Ernstes, Bedeutungsvolles ereignet hatte, das nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, doch ich ließ weder meinen Gefühlen noch meinen Träumen freien Lauf. Ich vertraute all das, was an diesem Abend geschehen war, nur meinem Tagebuch an, verschloß darin das, was noch nicht ans Licht kommen durfte.

Wir fuhren aus Iwizy ab und hielten uns noch einmal für einen Tag in Jasnaja Poljana auf. Doch dieses Mal war die Stimmung weniger fröhlich. Marija Nikolajewna wollte uns nach Moskau begleiten und von dort wieder ins Ausland reisen, wo sie ihre Kinder zurückgelassen hatte. Tante Tatjana Alexandrowna, die ihre Mascha über alles liebte, war traurig und schweigsam. Schon immer war ihr die Trennung von Mascha schwergefallen, die sie wie eine Tochter aufgezogen und geliebt hatte, und die mit ihrem Neffen, dem Sohn ihrer Schwester Jelisaweta Alexandrowna[18], dem Grafen Walerijan Petrowitsch Tolstoi, so unglücklich war. Lew Nikolajewitschs Verhalten und die mißtrauischen Blicke meiner Schwestern und der anderen verwirrten mich. Auch meine Mutter war offensichtlich beunruhigt. Der kleine Wolodja und meine Schwester Tanja waren erschöpft und wollten sobald wie möglich nach Hause zurückkehren.

Die Fahrt in der Annenkow-Kutsche

In Tula mieteten wir eine der großen Annenkow-Kutschen, die nach ihrem Besitzer so genannt wurden. Sie hatten innen vier Plätze und hinten im Freien zwei weitere Sitze wie eine Droschke mit zurückschlagbarem Verdeck.

Lisa und ich verließen Jasnaja Poljana ungern. Wir verabschiedeten uns von der Tante und von Natalja Petrowna und suchten Lew Nikolajewitsch, um auch von ihm Abschied zu nehmen.

„Ich fahre mit Ihnen“, sagte er. „Wie könnte ich jetzt in Jasnaja Poljana bleiben? Es wird leer und langweilig sein.“

Ich fragte mich nicht, warum ich plötzlich so fröhlich wurde, warum alles plötzlich in neuem Glanz erstrahlte, sondern eilte nur, meiner Mutter und den Schwestern die Neuigkeit mitzuteilen. Man beschloß, daß während der ganzen Reise Lew Nikolajewitsch auf dem hinteren Sitz im Freien sitzen sollte, auf dem zweiten Hintersitz dagegen, von Poststation zu Poststation abwechselnd, meine Schwester Lisa und ich.

Und so fuhren wir dahin … Gegen Abend kam eine große Müdigkeit über mich. Ich fröstelte, hüllte mich warm ein, und ein Gefühl des Glücks stieg in mir auf neben diesem vertrauten Freund unserer Familie, dem Autor der „Kindheit“, diesem feinfühligen Menschen, der mir jetzt persönlich nähergekommen war. Er erzählte mir ausführlich und eindrucksvoll von seinem Leben im Kaukasus, von der Schönheit der Berge, der ursprünglichen Natur, von seinen Kriegserlebnissen. Seine ruhige, ein wenig rauhe Stimme, die wie von fernher an mein Ohr drang, war sehr angenehm. Manchmal nickte ich kurz ein, dann wachte ich wieder auf, und immer noch erzählte diese Stimme schön und poetisch ihre kaukasischen Geschichten. Es war mir furchtbar peinlich, daß ich manchmal den Schlaf nicht bekämpfen und nicht alles genau hören konnte, was Lew Nikolajewitsch erzählte; aber ich war ja noch so jung. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch. Meine Mutter und Marija Nikolajewna wechselten manchmal einige Worte; der kleine Wolodja piepste im Schlaf mit seinem dünnen, hohen Stimmchen.

Allmählich näherten wir uns Moskau. Nach der letzten Poststation sollte ich wieder mit Lew Nikolajewitsch auf dem hinteren Sitz fahren. Doch da kam meine Schwester Lisa zu mir und bat mich, ihr den Platz auf dem Außensitz zu überlassen.

„Sonja, wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich draußen sitzen“, bat sie. „In der Kutsche ist es so stickig.“

Wir kamen aus der Poststation und setzten uns auf unsere Plätze. Ich schlüpfte in die Kutsche.

„Sofja Andrejewna!“ rief mir Lew Nikolajewitsch zu, „Sie sind doch jetzt an der Reihe, hinten zu sitzen!“

„Ich weiß, aber mir ist kalt“, antwortete ich ausweichend und schlug die Tür der Kutsche hinter mir zu.

Lew Nikolajewitsch stand einen Augenblick verlegen da und setzte sich dann auf den Kutschbock.

Am nächsten Tag reiste Marija Nikolajewna wieder ins Ausland, wir kehrten nach Pokrowskoje auf unsere Datscha zurück, wo mein Vater und meine Brüder uns erwarteten.

Die letzten Jungmädchentage und meine Novelle

Mein ganzes bisheriges Leben hatte sich verändert. Äußerlich war noch alles gleich: die Umgebung, die Menschen, ich selbst. Doch eben nur äußerlich. Wo aber war mein eigentliches Ich geblieben, jenes Gefühl, das mich schon in Jasnaja Poljana und Iwizy ergriffen hatte und mich auch weiterhin beherrschte? Mein Ich war unabhängig von Raum und Zeit, frei, grenzenlos und allmächtig. Diese letzten Tage meiner Jungmädchenzeit waren von einer besonderen Lebenskraft und inneren Ergriffenheit bestimmt. Noch zweimal in meinem Leben sollte ich einen ähnlich lebhaften Aufschwung meiner seelischen Kräfte erfahren.

Diese Gefühlsregungen überzeugten mich stärker als irgend etwas sonst, daß die Seele ein selbständiges Leben führt, unsterblich ist und daß der Tod die Befreiung der Seele darstellt, die den Körper verläßt.

Lew Nikolajewitsch mietete sich in Moskau eine Wohnung bei einem deutschen Schuster.

In dieser Zeit nahmen ihn seine Schulprojekte sehr in Anspruch.[19] Die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Jasnaja Poljana“, die nur ein Jahr bestand[20], befaßte sich vor allem mit pädagogischen Richtlinien für die Volksschulen.

Er kam fast täglich zu uns nach Pokrowskoje. Manchmal brachte ihn unser Vater mit, der oft aus beruflichen Gründen in die Stadt fahren mußte. Einmal erzählte uns Lew Nikolajewitsch, daß er im Palast des Peter-Parks gewesen sei und durch den wachhabenden Flügeladjudanten wegen der Beleidigung, die ihm die völlig unbegründete Polizeidurchsuchung von Jasnaja Poljana zugefügt hatte[21], Zar Alexander II. einen Brief habe überreichen lassen. Es war der 23. August 1862. Der Zar weilte damals anläßlich der Manöver auf dem Chodyner Feld im Peter-Park.

Lew Nikolajewitsch und ich gingen oft spazieren und unterhielten uns; einmal fragte er mich, ob ich Tagebuch führe.

Ich konnte ihm eine bejahende Antwort geben, denn schon seit meinem elften Lebensjahr pflegte ich Aufzeichnungen zu machen; außerdem hatte ich im Alter von sechzehn Jahren eine Novelle geschrieben.

„Lassen Sie mich Ihre Tagebücher lesen“, bat mich Lew Nikolajewitsch.

„Nein, das kann ich nicht.“

„Nun gut, dann geben Sie mir die Novelle.“

Ich überreichte ihm das Heft. Am nächsten Morgen fragte ich ihn, ob er die Novelle gelesen habe. Er antwortete mir ruhig und gelassen, er habe sie nur überflogen. Doch in seinem Tagebuch fand ich später folgenden Eintrag: „Sie ließ mich ihre Novelle lesen. Welch eine Energie der Wahrheit und Schlichtheit!“[22] Und dann erzählte er mir, er habe die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ihn mein Urteil über eine Gestalt der Novelle, den Fürsten Dublizki, in dem er sich wiedererkannt habe, sehr tief betroffen hätte. Ich hatte geschrieben, der Fürst sei von „selten unansehnlichem Äußeren und sehr wechselhaft in seinem Urteil“.

Als wir einmal besonders fröhlich und ausgelassen waren, wiederholte ich ständig ein und denselben albernen Satz: „Wenn ich einmal Zarin bin, werde ich dies oder jenes machen“ oder „Wenn ich einmal Zarin bin, werde ich dies oder jenes befehlen“. Vor der Veranda stand das Pferdekabriolett meines Vaters, aus dem gerade das Pferd ausgespannt worden war. Ich setzte mich in das Kabriolett und rief aus: „Als Zarin werde ich nur noch in solchen Kabrioletts fahren.“

Lew Nikolajewitsch ergriff die Wagendeichsel und zog mich wie ein Pferd im Trab und sagte: „So werde ich meine Zarin spazierenfahren.“ Wie kräftig und gesund war er!

„Lassen Sie das doch, das ist doch zu schwer für Sie!“ schrie ich. Aber ich war sehr vergnügt und freute mich, daß er so kräftig war und mich spazierenfuhr.

Was für zauberhafte Mondabende und Nächte! Wie heute sehe ich die Schonung vor mir im Mondschein und den Widerschein des Monds im nahegelegenen Teich. Diese Mondnächte waren stahlgrau, frisch, verliehen neue Kraft … „Was sind das für phantastische Nächte“, sagte Lew Nikolajewitsch oft, wenn er mit uns auf dem Balkon saß oder in der Umgebung der Datscha spazierenging. Zwischen uns kam es nicht zu romantischen Liebeserklärungen; da wir uns schon lange kannten, gingen wir einfach und unkompliziert miteinander um. Und mir gelang es, noch ein wunderbares, freies, durch nichts verwirrtes Jungmädchenleben zu vollenden.

Lew Nikolajewitsch kam immer wieder zu uns. Wenn es spät wurde, forderten ihn manchmal meine Eltern auf, bei uns zu übernachten. Einmal – es war Anfang September – begleiteten wir ihn ein Stück auf seinem Nachhauseweg. Bevor wir uns von ihm trennten, trug meine Schwester Lisa mir auf, ihn zu ihrem Namenstag am 5. September einzuladen, ohne ihn jedoch über den Anlaß zu unterrichten. Ich bat ihn, uns an diesem Tag zu besuchen, mir gelang es aber nicht, meine Einladung geschickt zu formulieren. Er lehnte zunächst ab, wunderte sich und fragte dann: „Warum laden Sie mich denn gerade für den 5. September ein?“ Ich konnte seine Neugier nicht befriedigen, denn Lisa hatte mich ausdrücklich um Stillschweigen gebeten. Lew Nikolajewitsch versprach zu kommen. Über seinen Besuch freuten wir uns immer sehr. Mit ihm war es immer so interessant und lustig.

Zunächst bezog ich seine Besuche nicht auf mich, doch bald merkte ich, daß meine Gefühle für ihn ernster wurden. Ich erinnere mich, daß ich einmal bewegt nach oben in unser Jungmädchenzimmer mit dem italienischen Fenster lief, das auf den Teich, die Kirche, all das blickte, was mir seit meiner Geburt vertraut war (ich bin in Pokrowskoje geboren). Ich stand am Fenster, mein Herz schlug heftig. Auch vor meiner Schwester Tanja, die das Zimmer betrat, konnte ich meinen Gemütszustand nicht verbergen.

„Was ist los mit dir, Sonja?“ fragte sie teilnahmsvoll.

„Je crains d’aimer le comte“, antwortete ich ihr schnell und ohne weitere Erklärung.[23]

„Wirklich?“ wunderte sich Tanja, die solche Gefühle bei mir nicht vermutet hatte. Sie machte sich sogar Sorgen, denn sie kannte mich gut und wußte, daß der Ausdruck „aimer“ für mich niemals bedeutete, mit einem Gefühl leichtfertig umzugehen, sondern eher zu leiden.

In Moskau

Zwischen dem 5. und 16. September reiste unsere ganze Familie nach Moskau. Wie immer, wenn wir die Datscha verließen und dem Leben auf dem Land den Rücken kehrten, kam mir Moskau langweilig, eng, verschlossen vor; ein beklemmendes Gefühl ergriff mich dann. Vor der Abreise pflegten wir möglichst viele der geliebten Plätze noch einmal aufzusuchen; in diesem Jahr nahm ich tatsächlich Abschied vom geliebten Pokrowskoje und damit zugleich von meinem unbeschwerten Leben.

Auch in Moskau besuchte uns Lew Nikolajewitsch fast täglich. Einmal ging ich abends ganz leise ins Schlafzimmer zur Mutter, die schon im Bett lag. Wie oft hatte Mamá, wenn wir von einer Abendeinladung oder aus dem Theater kamen, fröhlich gesagt: „Nun los, erzählt doch!“ Und wir erzählten ihr von dem Abend oder spielten ihr die einzelnen Rollen des Bühnenstücks vor. Diesmal aber waren wir beide bedrückt.

„Was hast du, Sonja?“ fragte mich meine Mutter.

„Ich habe ein Problem, Mamá. Alle glauben, daß Lew Nikolajewitsch nicht mich heiraten wird, aber alles spricht dafür, daß er mich liebt“, sagte ich zaghaft.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter plötzlich böse wurde und mich barsch anherrschte: „Ständig bildest du dir ein, daß alle in dich verliebt seien. Du phantasierst doch bloß.“ Diese Reaktion auf meine Offenheit machte mich traurig, und seitdem vertraute ich meine Gefühle niemandem mehr an. Mein Vater war ebenfalls verärgert, daß Lew Nikolajewitsch uns so oft besuchte, ohne nach alter russischer Tradition um die Hand der ältesten Tochter zu bitten; darum verhielt er sich abweisend Lew Nikolajewitsch und unfreundlich mir gegenüber. Die Situation war gespannt und schwierig, besonders für mich.

Am 14. September sagte Lew Nikolajewitsch zu mir, er müsse mir etwas sehr Wichtiges mitteilen. Es war nicht schwer zu erraten, worum es sich handelte. An diesem Abend sprach er sehr lange mit mir. Während ich Klavier spielte, hatte er sich an den Ofen im Wohnzimmer gelehnt. Jedesmal, wenn ich das Spiel unterbrach, wiederholte er: „Spielen Sie, spielen Sie …“ Wegen der Musik konnten die anderen seine Worte nicht verstehen, aber meine Hände zitterten, die Finger verhaspelten sich, spielten vielleicht schon zum zehntenmal das Motiv des Walzers „Il Bacio“, den ich auswendig gelernt hatte, um den Gesang meiner Schwester Tanja zu begleiten.

Einen Antrag machte mir Lew Nikolajewitsch an diesem Abend noch nicht, und ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Worte. Dem Sinne nach sagte er, er liebe mich und wolle mich heiraten. Er erging sich aber nur in Andeutungen. Doch in sein Tagebuch schrieb er:

„12. September 1862. Ich bin verliebt. Daß man so lieben könnte, hätte ich nie geglaubt. Ich bin dem Wahnsinn nahe und werde mich erschießen, wenn das so weiter geht. Einen ganzen Abend war ich bei ihnen. Sie ist in jeder Beziehung ein prächtiger Mensch …“

„13. September 1862 … Morgen gehe ich hin, sobald ich aufgestanden bin, und mache ihr einen Heiratsantrag oder ich bringe mich um … 4 Uhr nachts … Ich habe ihr einen Brief geschrieben und werde ihn morgen übergeben, d.h. heute am 14. Mein Gott, wie fürchte ich mich zu sterben! Das Glück, und noch dazu dieses, scheint mir unmöglich. Mein Gott, hilf mir! …“[24]

Am 16. September, einem Sonnabend, kamen abends mein Bruder Sascha und seine Kameraden. Im Speisezimmer tranken wir Tee und bewirteten die hungrigen Kadetten. Lew Nikolajewitsch verbrachte den ganzen Tag bei uns. Schließlich wartete er einen Augenblick ab, als keine fremden Blicke auf uns ruhten, und rief mich in das Zimmer meiner Mutter, in dem sich gerade niemand aufhielt.

„Ich wollte mit Ihnen sprechen“, begann er, „aber ich konnte es nicht. Hier ist ein Brief, den ich schon einige Tage in der Tasche mit mir herumtrage. Lesen Sie ihn. Ich werde hier auf Ihre Antwort warten.“

Der Antrag

Ich nahm den Brief und eilte in das Zimmer, das ich mit meinen beiden Schwestern teilte. So lautete der Brief:

„Sofja Andrejewna, ich halte es nicht mehr aus. Drei Wochen lang sage ich mir jeden Tag: heute gestehe ich ihr meine Liebe, und dann gehe ich doch wieder fort mit der gleichen Sehnsucht, dem gleichen Bedauern, mit Furcht und Glück im Herzen. Und jede Nacht, wie auch jetzt wieder, bedenke ich das Vergangene, quäle mich und frage mich: Warum habe ich nichts gesagt, und was hätte ich sagen können? Jetzt nehme ich diesen Brief mit, um ihn Ihnen zu überreichen, wenn es mir wieder nicht gelingt oder mein Mut nicht ausreicht, Ihnen alles zu sagen. Die falsche Meinung Ihrer Familie über mich besteht – wie mir scheint – darin, daß ich in Ihre Schwester Lisa verliebt sei. Das ist nicht richtig. Ihre Novelle geht mir nicht aus dem Kopf: Nach der Lektüre wurde mir klar, daß es mir – Dublizki – nicht zukommt, vom Glück zu träumen, daß Sie sehr hohe poetische Forderungen an die Liebe stellen … daß ich den Mann nicht beneide, den Sie lieben werden. Ich glaubte, ich könnte mich an Ihnen freuen, wie man sich an Kindern freut. In Iwizy habe ich geschrieben: Durch Ihre Jugend fühle ich mich nur allzusehr an mein Alter erinnert. Doch schon damals habe ich mich belogen, und jetzt wieder. Damals hätte ich alles abbrechen, mich in die Einsamkeit zurückziehen und mich meiner Arbeit widmen sollen. Jetzt aber kann ich es nicht. Ich fühle, daß ich in Ihrer Familie Verwirrung gestiftet habe, daß ich Ihnen nicht mehr nur ein aufrichtiger Freund sein kann. Ich vermag nicht fortzugehen und traue mich doch nicht zu bleiben. Sie aufrichtiger Mensch, sagen Sie mir, Hand aufs Herz, ohne um Gottes willen etwas zu überstürzen, was soll ich tun? Was man verspottet, das macht einen zum Knecht. Hätte man mir vor einem Monat gesagt, daß man sich so quälen kann, wie ich mich jetzt quäle, und bei aller Qual doch glücklich ist, hätte ich mich totgelacht. Sagen Sie mir ehrlich, wollen Sie meine Frau werden? Doch nur, wenn Sie von ganzem Herzen ja sagen können. Wenn aber auch nur ein Anflug von Zweifel in Ihnen ist, sagen Sie lieber: nein. Prüfen Sie sich gut. Für mich wird es schrecklich sein, das Nein zu hören, doch ich bin darauf gefaßt und werde in mir Kräfte finden, mit dieser Zurückweisung fertig zu werden. Doch wenn ich als Ehemann niemals so geliebt werde, wie ich liebe, wird es schrecklich sein.“[25]

Ich las diesen Brief nicht sogleich aufmerksam bis zum Ende, sondern überflog ihn nur bis zu den Worten: „Wollen Sie meine Frau werden?“ Als ich nach oben zu Lew Nikolajewitsch mit meinem „Ja“ zurücklaufen wollte, kam mir meine Schwester Lisa in der Tür entgegen und fragte mich: „Was ist los?“ „Le comte m’a fait la proposition“, antwortete ich ihr schnell. Meine Mutter trat ein und erfaßte sofort die Situation. Sie nahm mich energisch bei den Schultern, drehte mich zur Tür und sagte: „Geh zu ihm und sag ihm deine Antwort.“

Als ob ich Flügel hätte, rannte ich die Treppe hinauf, huschte am Speisezimmer, am Wohnzimmer vorbei, lief in das Zimmer meiner Mutter. Lew Nikolajewitsch stand in einer Ecke des Zimmers an die Wand gelehnt und wartete auf mich. Ich ging auf ihn zu, er ergriff meine Hände.

„Nun, wie ist es?“ fragte er.

„Selbstverständlich ja“, antwortete ich.

Einige Minuten später wußten es alle im Haus, welche Entscheidung ich getroffen hatte, und alle sprachen uns ihre Glückwünsche aus.

Der Namenstag, die Braut

Am 17. September hatten meine Mutter – Ljubow Alexandrowna – und ich Namenstag. Allen Moskauer Verwandten, Freunden und Bekannten, die zu uns kamen, um zu gratulieren, teilten wir meine Verlobung mit. Als der alte Universitätsprofessor, der meiner Schwester und mir Französischunterricht erteilt hatte, erfuhr, daß nicht meine ältere Schwester, sondern ich Lew Nikolajewitsch heiraten würde, rief er reichlich naiv aus: „C’est dommage, que cela ne fut Mlle. Lise, elle a si bien étudié.“

Die kleine Katja Obolenskaja stürzte herbei, umarmte mich und sagte im Unterschied zu ihm: „Wie freue ich mich, daß Sie einen so guten Menschen und Schriftsteller heiraten!“

Ich war nur eine Woche lang verlobt: vom 16. bis 23. September. Man schleppte mich durch die Geschäfte, und ich probierte ohne innere Anteilnahme Kleider, Wäsche und den Kopfschmuck. Einmal brachte mir Lew Nikolajewitsch, der täglich zu uns kam, seine Tagebücher mit. Die Lektüre dieser Tagebücher, die er mir aus allzu großer Gewissenhaftigkeit vor der Eheschließung zu lesen gab, erschütterte mich. Hätte er es lieber nicht getan! Ich habe viele Tränen vergossen bei der Enthüllung seiner Vergangenheit.

Als Mamá einmal abends mit meinen Schwestern ins Theater fuhr, um „Othello“ zu sehen, in dem der berühmte Aldridge die Hauptrolle spielte, bestellte sie auch für uns eine Kalesche. Ich erinnere mich noch ganz deutlich an mein Gefühl: Ich befürchtete, daß Lew Nikolajewitsch bald von mir, einem dummen, unbedeutenden jungen Mädchen, enttäuscht sein würde. Wir schwiegen fast während der ganzen Fahrt.

Einmal kam er, als ich gerade mit meiner Freundin Olga S.[26] in der Halle am Fenster saß und sie bitterlich weinte. Lew Nikolajewitsch wunderte sich:

„Sie tun gerade so, als ob man sie beerdigen würde“, sagte er.

„Nun ist alles vorbei, Sie nehmen Sie mit sich fort, und für uns alle ist sie verloren“, sagte sie auf französisch und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

Diese Woche glich einem bedrückenden Traum. Für viele Menschen brachte meine Hochzeit Leid, Lew Nikolajewitsch aber drängte zur Eheschließung. Meine Mutter meinte, es müsse doch wenigstens noch das Allernötigste, wenn schon nicht die ganze Aussteuer, vorher genäht werden.

„Aber sie hat doch genug zum Anziehen“, sagte Lew Nikolajewitsch, „sie ist überhaupt immer so elegant gekleidet.“

In aller Eile wurde mein Hochzeitskleid genäht. Die Hochzeit wurde auf den 23. September, 19 Uhr, in der Hofkirche festgesetzt. Lew Nikolajewitsch kaufte eine prächtige Dormeuse, schenkte mir eine Brillantnadel und bestellte Photos meiner ganzen Familie. Er ließ sich auch selbst photographieren, und ich äußerte den Wunsch, dieses Photo in das goldene Armband einzufassen, das mir mein Vater geschenkt hatte. Lew Nikolajewitsch hatte außerdem viel Ärger und Aufregung mit Herrn Stellowski[27], dem er damals seine Werke verkauft hatte. Weder die Geschenke noch die Kleider versetzten mich in stürmische Begeisterung. Sie waren nicht besonders wichtig für mich, denn ich war ganz und gar erfüllt von meiner Liebe, von meiner Angst, daß Lew Nikolajewitsch mich nicht mehr lieben würde. Diese Angst blieb mein ganzes Leben lang in meinem Herzen, obwohl wir mit Gottes Hilfe diese Liebe in all den achtundvierzig Jahren unseres Ehelebens bewahren konnten.

Als Lew Nikolajewitsch und ich über unsere Zukunft sprachen, ließ er mir die Wahl, ob ich nach der Hochzeit weiterhin in Moskau bei den Verwandten leben oder ob ich zunächst ins Ausland bzw. gleich nach Jasnaja Poljana fahren wolle. Ich entschied mich für das letztere, um sogleich ernsthaft das Familienleben zu Hause zu beginnen. Lew Nikolajewitsch freute sich über meine Entscheidung.

Die Hochzeit

Und so kam der Tag der Hochzeit, der 23. September, herbei. Ich sah Lew Nikolajewitsch nur für einige Minuten. Wir setzten uns auf die bereits gepackten Reisekoffer, und er begann, mich mit Verhören und Zweifeln an meiner Liebe zu quälen. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er fliehen wolle, weil er Angst vor der Heirat hatte.[28] Ich brach in Tränen aus. Da kam meine Mutter hinzu und wies ihn in heftigem Ton zurecht: „Mußt du sie ausgerechnet jetzt quälen?“ fragte sie. „Heute findet die Hochzeit statt; Sofja ist ohnehin traurig zumute, weil sie sich von uns trennt; dann müßt ihr noch die Reise antreten, und nun ist sie ganz in Tränen aufgelöst.“ Lew Nikolajewitsch bekam offensichtlich ein schlechtes Gewissen und ging schnell fort. An diesem Tag aß er mit Wassili Stepanowitsch und Praskowja Fjodorowna Perfiljew zu Mittag. Sie segneten ihn und geleiteten ihn in die Kirche. Timirjasew sollte Brautführer sein. Lew Nikolajewitschs Bruder Sergei war schon fortgefahren, um alles für unsere Ankunft in Jasnaja Poljana vorzubereiten.

Nach achtzehn Uhr begannen meine Schwestern und meine Freundinnen, mir beim Ankleiden zu helfen. Ich hatte ausdrücklich darum gebeten, daß kein Friseur kommen sollte, und richtete mir meine Haare selbst. Ich war in Wolken von Tüll gehüllt. Mein Kleid war duftig und zart und hatte nach der damaligen Mode ein tiefes Dekolleté und Ärmel. Meine Schultern und Hände waren mager und knöchern wie die eines noch nicht vollentwickelten jungen Mädchens. Als ich fertig angezogen war, warteten wir auf den Brautführer, der uns mitteilen sollte, daß der Bräutigam in der Kirche sei.

Es verging mehr als eine Stunde, niemand kam. Ich befürchtete plötzlich, Lew Nikolajewitsch sei geflohen – er hatte sich morgens so seltsam verhalten. Doch da erschien statt des Brautführers, aufgeregt und abgehetzt, der leicht schielende Diener Alexei Stepanowitsch, um aus dem Reisekoffer ein sauberes Hemd herauszunehmen. Bei den Vorbereitungen für die Hochzeit und die Abreise hatte man vergessen, ein frisches Hemd für den Bräutigam zurechtzulegen. Man hätte auch keines kaufen können, weil am Sonntag alle Geschäfte geschlossen waren. Es verging noch sehr viel Zeit, bis der Bräutigam das Hemd bekam, es anzog und in die Kirche fuhr. Doch endlich kam der Brautführer und teilte mir mit, daß der Bräutigam auf mich warte. Da begann das Abschiednehmen, Weinen und Schluchzen, und ich war völlig aufgelöst.

„Was sollen wir denn ohne unsere liebe kleine Gräfin machen?“ sagte die Kinderfrau, die mich seit meiner frühesten Kindheit so genannt hatte, wahrscheinlich weil ich den Vornamen meiner Großmutter, der Gräfin Sofija Petrowna Sawadowskaja, trug.

„Ohne dich komme ich um vor Langeweile“, sagte meine Schwester Tanja. Mein kleiner Bruder Petja blickte mich mit seinen traurigen schwarzen Augen an. Mutter mied meine Nähe und zwang sich, die Hochzeitsvorbereitungen abzuschließen. Die bevorstehende Trennung machte alle traurig.

Ich suchte meinen Vater, der sich nicht wohl fühlte, in seinem Arbeitszimmer auf, um mich von ihm zu verabschieden. Er war gerührt und ergriffen. Brot und Salz wurden bereitgestellt; meine Mutter, die die Ikone der Märtyrerin Sofija in der Hand hielt, und ihr Bruder Michail Alexandrowitsch segneten mich.

Schweigend fuhren wir zur Kirche, die in der Nähe des Hauses lag, in dem wir wohnten.[29] Lew Nikolajewitschs Tante Pelageja Iljinitschna Juschkowa und mein kleiner Bruder Wolodja, der die Ikone trug, saßen neben mir in der Kutsche. Ich weinte während der ganzen Fahrt. Der Wintergarten und die Hofkirche Mariä Geburt waren prächtig erleuchtet. Im Wintergarten kam mir Lew Nikolajewitsch entgegen, er nahm meinen Arm und geleitete mich zur Kirchentür, wo uns der Geistliche erwartete, der uns an der Hand zu den Chorstühlen führte. Die Gäste waren schon in der Kirche. Es hatten sich aber auch viele Fremde eingefunden, die am Hof tätig waren. Im Vorbeigehen hörte ich, daß sie Bemerkungen über meine Jugend und mein verweintes Aussehen fallenließen. Zwei Geistliche nahmen feierlich die Trauungszeremonie vor, während die Chorknaben des Hofes sangen.

Die Hochzeit von Lewin und Kitty in „Anna Karenina“[30] ist nach unserer Trauungszeremonie erzählt. Lew Nikolajewitsch hat das äußere Zeremoniell ebenso treffend wie den psychologischen Prozeß in der Seele Lewins gezeichnet.

Ich hatte in den vergangenen Tagen so viele Aufregungen durchgemacht, daß ich wie gelähmt unter der Brautkrone stand. Ich hatte das Gefühl, es vollziehe sich etwas Unbestreitbares und Unausweichliches. Es geschah, was geschehen mußte, dabei gab es nichts mehr zu bedenken. Mein Bruder Sascha und sein ehemaliger Korpskamerad P.[31], der damals bereits Gardeoffizier war, waren meine Brautführer. Als die feierliche Handlung zu Ende war und uns die Gäste beglückwünscht hatten, fuhren wir – nun als Paar allein – in der Kutsche nach Hause. Lew Nikolajewitsch war sehr fürsorglich und offensichtlich glücklich …

Bei uns im Kreml hatte man alle Vorbereitungen getroffen: Champagner, Obst, Pralinen usw. waren aufgetragen. Nur die Verwandten und die engsten Freunde nahmen daran teil. Anschließend zog ich mich um, und man half mir ins Reisekleid. Unser betagtes Zimmermädchen Warwara, von Doktor Anke, dem alten Freund meines Vaters, der stets zu Späßen aufgelegt war, „Auster“ genannt, sollte mich nach Jasnaja Poljana begleiten. Geschäftig hastete sie mit Lew Nikolajewitschs Diener Alexei hin und her und packte noch die letzten Sachen ein.

Geleit und Abreise

Der Kutscher und die sechs Postpferde trafen ein. Die neue Dormeuse, die Lew Nikolajewitsch erst wenige Tage zuvor gekauft hatte, wurde angeschirrt, die schwarzen, spiegelblanken, verschnürten Reisekoffer auf der Kutsche festgebunden. Dann drängte Lew Nikolajewitsch zur Abreise.

Etwas bedrückend Quälendes schnürte mir die Kehle zu. Zum erstenmal wurde mir deutlich bewußt, daß ich mich für immer von meiner Familie, von all denen, die ich so sehr liebte, trennte. Aber ich zwang mich, meine Tränen zurückzuhalten. Ich begann, Abschied zu nehmen. Es war entsetzlich! Als ich mich von meinem kranken Vater verabschiedete, standen meine Augen voll Tränen. Auch Lisa war den Tränen nahe. Meine Schwester Tanja und mein Bruder Petja, der viel zuviel Champagner getrunken hatte – mit Absicht, wie er sagte, um nicht zu traurig zu sein – weinten laut und hemmungslos. Der Junge wurde ins Bett gebracht. Ich ging nach unten, küßte und segnete meinen kleinen zweijährigen schlafenden Bruder Wjatscheslaw, verabschiedete mich von der Kinderfrau Wera Iwanowna, die mich schluchzend umarmte, mich ins Gesicht, auf die Schultern küßte, wie es gerade kam. Die zurückhaltende alte Stepanida Trifonowna[32], die mehr als fünfunddreißig Jahre als Haushälterin bei uns gelebt hatte, wünschte mir Glück.