Tagebücher 1898–1910 - Sofja Andrejewna Tolstaja - E-Book

Tagebücher 1898–1910 E-Book

Sofja Andrejewna Tolstaja

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Beschreibung

Der zweite Band der Tagebücher der Sofja Andrejewna Tolstaja umfaßt die Zeit von 1898–1910. Für sie sind es Jahre der Enttäuschung und Verzweiflung. Das Tagebuch dient ihr als »Selbstgespräch des Herzens«, wenn sie sich mutlos, mißverstanden oder verlassen fühlt. Am 13. März 1902 schreibt sie: »Einem Genie muß eine friedliche, angenehme Umgebung geschaffen werden, ein Genie muß man verpflegen, man muß ihn lieben, darf keinen Anlaß zur Eifersucht geben, damit er seine Ruhe hat, man muß die zahllosen Kinder, die das Genie in die Welt setzt, großfüttern und erziehen, denn für ihn wäre es ja lästig, sich mit ihnen abzuplagen, und außerdem hat er ja keine Zeit, denn er muß ja mit Epiktet, Sokrates, Buddha und dgl. Umgang pflegen und muß selbst danach trachten, ihnen gleich zu werden.« Der Streit um den Nachlaß, den Tolstoi seinem Anhänger Tschertkow vermachen will, führt zum endgültigen Bruch der Ehe. Als Tolstoi nach seiner Flucht aus Jasnaja Poljana im Sterben liegt, weigert er sich, seine Frau noch einmal zu sehen. Damit enden die Aufzeichnungen der Sofja A. Tolstaja, die ihren Mann um neun Jahre überlebt. Die Tagebücher sind nicht nur eine bedeutende Ergänzung zu den Werken Tolstois, sondern sind auch von hohem kulturgeschichtlichen Interesse als Sittenbild adeligen Lebens wie als Beitrag zur russischen Geistesgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Vor allem aber gewähren sie Einblick in die Höhen und Tiefen einer 48 Jahre währenden Ehe und in die Privatsphäre eines großen Dichters und seiner Familie. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 867

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Sofja Andrejewna Tolstaja

Tagebücher 1898–1910

Aus dem Russischen von Johanna Renate Döring-Smirnov und Rosemarie Tietze

FISCHER Digital

Inhalt

Aus dem Russischen übersetzt [...]Tagebücher1898 [Teil 1]1898 [Teil 2]1899190019011902190319041905190819091910 [Teil 1]1910 [Teil 2]AnmerkungenPersonenregister

Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze (1. Januar 1898–30. Dezember 1902) und Johanna Renate Döring-Smirnov (1. Januar 1903–4. November 1910).

Tagebücher

1898–1910

1898

1. Januar. Gestern feierten Lew Nikolajewitsch, Andrjuscha, Mischa, Mitja Djakow, die beiden Danilewski-Jungen und ich Silvester. Danilewskaja war plötzlich erkrankt, und so mußten die Jungen zu uns kommen, anstatt zu Hause zu feiern. Der Abend war sehr nett, voller Eintracht, friedlich und schön. Wir tranken Don-Sekt, Lew Nikolajewitsch Tee mit Mandelmilch.

Heute morgen habe ich Klavier gespielt und auf Mischa aufgepaßt, damit er lernte. Dann fuhr ich zur alten Tante Wera Alexandrowna Schidlowskaja, plauderte mit ihr und meinen Kusinen; war außerdem noch bei den Istomins. Aß mit Lew Nikolajewitsch allein zu Mittag. Sein Befinden macht ihm immer noch zu schaffen, er hat wenig gegessen, bloß Pilzsuppe mit Reis und Grießbrei mit Mandelmilch, und Kaffee getrunken. Er ist schlapp und unleidig, denn er ist es nicht gewohnt, krank und schwach zu sein. Wie werden ihm Schwäche und Kräfteverfall künftig noch zusetzen! Und wie verlangt es ihn noch nach Leben und Tatkraft! Aber er wird bald siebzig, diesen August schon, also in einem halben Jahr. Ständig sitzt er allein oben in seinem Arbeitskabinett, liest und schreibt ab und zu Briefe; heute besuchte er den kranken Russanow, der ihn vergöttert. Auf dem Sofa in seinem Kabinett liegt der schwarze Pudel, den Gräfin Subowa unlängst Tanja schenkte. Diesen Pudel nahm er auf seinen Gang mit.

Morgen kommt unsere Mascha angereist, um den Arzt zu konsultieren. Tanja und Sascha sind immer noch auf dem Land; morgen treffen sie wahrscheinlich bei Ljowa und Dora in Jasnaja Poljana ein. Möchte auch nach Jasnaja Poljana fahren. Wie sehr ich diesen Ort liebe, wieviel Schönes ich dort erlebt habe!

3. Januar. Gestern morgen trafen Stassow, der Bildhauer Ginzburg, ein junger Künstler und Wereschtschagin (der schlechte Schriftsteller) bei uns ein. Stassow machte es sich zunutze, daß er schon vierundsiebzig ist, küßte mich stürmisch und sagte: „Wie rosig und schlank Sie sind!“ Ich wurde verlegen und wußte nicht, wie ich mich ihm entziehen sollte. Wir gingen nach oben in den Salon und unterhielten uns über Lew Nikolajewitschs Aufsatz „Über die Kunst“. Stassow sagte, L.N. habe alles auf den Kopf gestellt.[1] Das wußte ich auch ohne ihn, schließlich hat L.N. es ja darauf angelegt!

Zu einem unangenehmen kleinen Zusammenstoß mit L.N. kam es, als ich ihm vorwarf, das Publikum habe das „Journal filossofii i psichologii“ für zwei Jahre abonnieren müssen, um L.N.s Aufsatz zu lesen, da er im November-Dezember-Heft und im Februar-März-Heft erscheint; wenn ich jedoch so etwas in der Gesamtausgabe seiner Werke herausbrächte, würde ich es für fünfzig Kopeken verkaufen, und alle könnten es lesen. Da schrie L.N. mich vor allen Anwesenden an: „Ich und nichts hergeben! Ich geb’s doch der Allgemeinheit! Aber seit ich alles umsonst weggebe, macht man mir Vorwürfe!“

Gar nichts gibt er mir: „Herr und Knecht“ hat er heimlich an den „Sewerny westnik“ geschickt[2], ebenso heimlich vor kurzem auch seine „Einführung“, die er jedoch wieder zurückholte[3]; auch den Aufsatz über die Kunst hat er mir sorgfältig vorenthalten. Sei’s drum! Er ist im Recht – seine Werke sind und bleiben sein Eigentum; aber anzuschreien braucht er mich trotzdem nicht.

Gestern abend ist Mascha mit Kolja eingetroffen. Sie ist nur noch für ihren Mann da, wir existieren für sie nur noch am Rande; aber sie für uns eigentlich auch. Ich freute mich, sie wiederzusehen; schade, daß sie so mager ist; und ich freute mich, daß sie ganz in ihrer Liebe aufgeht, das ist ein großes Glück! Auch ich bin lange in dieser einfältigen Liebe aufgegangen, ohne Vorbehalte und Kritik. Ich bedauere es, daß ich sehend wurde und in vielem enttäuscht. Besser, ich wäre bis ans Ende meiner Tage in blinder und einfältiger Liebe befangen geblieben. Was ich bei meinem Mann als Liebe zu deuten suchte, war Sinnlichkeit, die bisweilen abflaute, sich in schroffe, mürrische Strenge verkehrte, dann jedoch wieder zunahm und sich in Ansprüchen, Eifersucht, aber auch Zärtlichkeit äußerte. Jetzt verlangt es mich nach friedlicher, gütiger Freundschaft; nach Reisen mit einem stillen, herzlichen Freund, nach Teilnahme, Ruhe …

Abends war ich in „Sadko“[4]. Eine schöne, unterhaltsame Oper, die Musik stellenweise gut, zeugt von Talent. Der Komponist wurde endlos hervorgerufen, bekam gewaltige Ovationen. Mir gefiel es, aber auch Musikhören wäre schöner, wenn neben mir, wie bei vielen anderen, ein stiller, guter Freund und Gatte sitzen würde.

Muß unentwegt Visiten abstatten und entgegennehmen, das fällt mir sehr zur Last …

Abends. Zu Tisch waren Stassow, Kassatkin, Ginzburg und Maté bei uns – der eine Bildhauer, der andere Graveur[5]. Nach dem Essen kam Muromzewa, blumengeschmückt und in einem gelben Atlaskleid, aber nicht mehr nüchtern, und ich war entsetzt, wie immer, wenn ich Menschen sehe, die nicht ganz bei sich sind. Später traf Rimski-Korsakow[6] mit seiner Frau ein, und Muromzewa fuhr wieder ab.

Es kam zu sehr hitzigen und lautstarken Gesprächen über Kunst. Stassow schwieg, L.N. schrie, und Rimski-Korsakow verteidigte ungestüm die Schönheit in der Kunst und daß man gebildet sein müsse, um sie zu verstehen. Darum geht es in L.N.s Aufsatz.[7] L.N. lehnt die Schönheit ab und auch, daß man zum Verständnis der Kunst eine gewisse Bildung haben müsse; keiner von uns gab ihm darin recht. Die Korsakows kamen ein paarmal auf Sergei Iwanowitsch zu sprechen, und zwar mit der gleichen Hochachtung und Liebe, die jeder für ihn empfindet, außer meinem rabiaten Mann. Wie ist er bei der Unterhaltung heute in die Luft gegangen! Ich habe immer Angst, daß er mit seiner Grobheit jemanden beleidigt.

Bin müde von diesem ganzen Tag unter Menschen … Die Jungen sind bei den Luginins zum Tanz.

5. Januar. War gestern auf einer morgendlichen Tanzveranstaltung im Hause Schtscherbatow, wo sich die ganze sogenannte Moskauer Gesellschaft eingefunden hatte. Ging Saschas wegen hin, die frühmorgens mit Tanja von den Brüdern auf dem Land zurückgekehrt war, und um zuzuschauen, wie meine Söhne tanzen. Es war eine sehr fröhliche Veranstaltung, und so harmonisch, ohne Mißtöne.

Spätabends fuhr ich noch zur Abendeinladung von Muromzewa, um diese nicht zu kränken, und dort wurde ich sehr achtungsvoll empfangen; es wurde gesungen, musiziert, und das war angenehm. Aber dieser Strudel gesellschaftlicher Verpflichtungen macht mich völlig benommen. Außerdem sind alle drei Töchter krank: Mascha hat entsetzliche Kopfschmerzen mit hysterischen Anfällen, Sascha hatte einen Abszeß im Ohr, der sehr weh tat und aufplatzte, und Tanja hat eine dicke Backe, fiebert ein wenig und hat nur noch Suchotin im Kopf, der morgen kommt.

Lew Nikolajewitsch ist wieder gesund, geht spazieren und ist freundlich zu mir. Besuchte heute zu Fuß eine Ausstellung von Kunststudenten, die schrecklich schlecht war, nur einige Landschaften ganz passabel, weckten schöne Erinnerungen an Sommer, Wald und Wasser … Repin hat heute bei uns gespeist und den ganzen Tag hier verbracht. Außer ihm noch zahlreiche andere Gäste.

6. Januar. War Schlittschuhlaufen auf den Patriarchenteichen, lief lange mit den Maklakows und Natascha Kolokolzewa. Es taute und regnete. Ist sehr lustig und gesund, dieses Schlittschuhlaufen. Abends las ich, saß bei Sascha und lauschte der Musik eines unbekannten jungen Mannes, Pol aus Kiew, der Lew Nikolajewitsch und uns seine Werke vorspielte; sehr begabt.[8] L.N. ist mißgestimmt, da ihm die Arbeit immer noch nicht von der Hand geht. Er war auch Schlittschuhlaufen, in irgendeinem Heim für obdachlose Minderjährige, und das nicht zum ersten Mal. Morgens habe ich geweint, mußte an Wanetschka denken, und gegen Abend überfiel mich wieder die Sehnsucht nach so vielem, was man im Leben gerne möchte, nicht hat und auch niemals haben wird …

L.N. liest die ganze Zeit Materialien über das Leben im Kaukasus, über die Natur und alles, was mit dem Kaukasus zusammenhängt.[9]

8. Januar. Gestern war Repin beim Essen zu Gast, er bat Lew Nikolajewitsch wiederholt, ihm ein Thema für ein Gemälde zu stellen. Er sagte, er wolle seine letzten Lebenskräfte auf ein gutes Kunstwerk verwenden, das die Mühe lohne. Lew Nikolajewitsch hat ihm noch keinen Rat gegeben, denkt aber nach.[10] Ihm selbst geht die Arbeit noch nicht von der Hand. Ein entsetzliches Wetter: fürchterlicher Wind, überall steht das Wasser, schlimmer als im Moskauer Frühjahr; drei Grad über Null, trübe.

Gestern las ich eine lobende Kritik von Kaschkin über die Oper „Sadko“[11], die mir ungeheuer gefällt, und ich wäre zu gerne wieder hingegangen. L.N. redete so gütig auf mich ein, ich solle es doch tun, daß ich wegen meines Leichtsinns ein noch schlechteres Gewissen hatte. Ich hätte mich sogar gefreut, wenn ich keine Karte bekommen hätte. Doch was passiert: an der Kasse war meine Karte die letzte. Ich hatte dritte Reihe Sperrsitz, wollte aber Balkon. So ging ich nach oben und bat, jemand möge mit mir tauschen: unten sei es so laut, und ich hätte Ohrenschmerzen. Da rief mich jemand beim Namen: es war Saschas Lehrerin Kaschkina. Sie schickte ihren Bruder nach unten und plazierte mich zwischen sich und ihre Mutter. In der Pause sprach mich noch A.I. Maslowa an. Sie hatte ebenfalls Balkon, aber weiter hinten als ich, und war mit ihrer Kusine und Sergei Iwanowitsch da. Ich erstarrte regelrecht, da ich an L.N.s gütiges Zureden denken mußte. Mir spielt das Schicksal immer solche Streiche. Das Theater faßt dreitausend Leute; ich bin entsetzlich kurzsichtig, kann selbst auf zwei Schritt Entfernung niemanden erkennen; vom Parterre aus zu sehen, wer in der zweiten Reihe Balkon sitzt, ist unmöglich – und trotzdem landete ich schließlich in Sergei Iwanowitschs Nähe. Als wir unsere Pelze holten, wechselten wir einige Worte, er sagte, er habe seine Sinfonie für Orchester abgeschlossen und besuche uns in den nächsten Tagen.

Daheim wollte ich L.N. sagen, daß ich Sergei Iwanowitsch gesehen hatte, brachte es aber einfach nicht über mich. Als ich in sein Zimmer trat, kam mir L.N.s Gesicht so hager und traurig vor, daß ich am liebsten auf ihn zugestürzt wäre und ihm gesagt hätte, ich könne niemanden mehr lieben als ihn; ich sei bereit, alles auf der Welt zu tun, damit er seine Ruhe habe und glücklich sei; aber das wäre zu befremdlich gewesen, und außerdem, wer garantiert mir denn, ob er nicht wie Mascha schlecht über mich gedacht hätte, ob er nicht gemeint hätte, daß ich etwas wußte, daß es arrangiert und abgesprochen war …

Sascha ist krank, sie hat einen Abszeß im Ohr; mir tut die junge Freundin meines jetzigen Lebens sehr leid. Tanja liebe ich innig wie eh und je, bedaure sie und beobachte schmerzerfüllt den Kampf ihrer Gefühle. Andrjuscha ist nach Twer gefahren, Mischa im Lyzeum. L.N. wollte gerade ausreiten, aber das Pferd lahmt, und so ist er zu Fuß fort.

10. Januar. War mit Marussja Maklakowa in einer der regelmäßig veranstalteten Gemäldeausstellungen[12]; es gab zwar wenig gute Bilder, aber ich liebe eben die Kunst. A propos Kunst: Gestern sagte A. Stachowitsch, der Adjutant des Großfürsten Sergei Alexandrowitsch, beim Großfürsten habe man Lew Nikolajewitschs Aufsatz „Über die Kunst“ gelesen und zutiefst bedauert, daß „dies aus der genialen Feder Lew Tolstois geflossen ist“. Dann sprach man noch über unsere Familie, und der Großfürst, der mir am Mittwoch bei Glebowa begegnet war, sagte zu Stachowitsch, er sei von meinem ungewöhnlich jugendlichen Aussehen frappiert gewesen. Ich bin schon so an dieses Kompliment gewöhnt, und es ist auch so billig, daß ich ihm keinerlei Bedeutung mehr beimesse. Wenn ich doch nur ein bißchen mehr wäre als bloß die jugendlich aussehende Frau von Lew Tolstoi, wie wäre ich froh! Ich denke dabei an die geistigen Qualitäten.

L.N. ist ruhig, gesund, kann aber immer noch nicht arbeiten. Wir sind einträchtig, unser Verhältnis ist so unkompliziert wie schon lange nicht mehr. Ich bin so froh! Doch ob das wohl anhält?

13. Januar. Gestern hatte Tanja Namenstag. Von morgens an bereiteten wir die Abendgesellschaft vor. Erst verschickte Tanja Einladungen, dann löste ich sie ab. Das sind wir unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen schuldig. Als ich mittags – noch in der Morgenjacke, zerzaust und ohne etwas zu hören – gerade eine Schachtel auspackte, da standen auf einmal Sergei Iwanowitsch und Juscha Pomeranzew vor mir. Ich regte mich furchtbar auf, wurde überrot und brachte kein Wort heraus. Ich hatte geheißen, niemanden zu empfangen, aber die beiden wurden aus irgendeinem Grund hereingelassen. Wir unterhielten uns fast eine Stunde, sprachen über „Sadko“, Rimski-Korsakow u.a. Als Sergei Iwanowitsch ging, befiel mich eine lähmende Traurigkeit, weil ich, um L.N. zu beruhigen, diesen Menschen hassen oder zumindest mich ihm gegenüber wie zu einem Fremden verhalten müßte – aber das ist unmöglich.

Auf der Abendgesellschaft gab es Gesang von Muromzewa-Klimentowa und Stachowitsch, Klavierspiel von Igumnow und Goldenweiser, Licht und reichlich zu essen, einen General, Fürstinnen, junge Damen – und es war weder lustig noch langweilig. Eher schwierig. L.N. spielte Wint mit Stolypin, meinem Bruder Sascha u.a.

Mascha und Kolja sind heute abgefahren.

14. Januar. Lew Nikolajewitsch ist in den letzten beiden Tagen munterer geworden.

Sascha ist, Gott sei Dank, wieder gesund und hat mit dem Lernen begonnen. Mischa ist heute ebenfalls endlich darangegangen und dann ins Maly Theater gefahren, um sich die „Kämpfer“ von M. Tschaikowski anzuschauen.

Bemühe mich, recht zu leben, doch häufig erfüllt tiefe Verzweiflung mein Herz … Herr, steh mir bei!

16. Januar. Tanja will nach Petersburg. Ich machte eine Andeutung, ich würde gerne zur Aufführung der Wagner-Opern nach Petersburg fahren, doch Lew Nikolajewitsch überschüttete mich darauf mit so bösen Vorwürfen, ließ sich so giftig über meine verrückte Liebe zur Musik, meine Unfähigkeit, Dummheit usw. aus, daß mir alle Lust vergangen ist.

Saß den ganzen Tag mit dem Kontordiener an der Buchführung und habe sehr sorgfältig alles geordnet, was die Bücher, die Kinder und den Haushalt anbetrifft, bin jedoch nun sehr müde und habe Kopfweh. Spätabends war ich mit Lew Nikolajewitsch spazieren, wir brachten Marussja Maklakowa nach Hause, Bruder Stjopa und Dunajew waren auch dabei.

Serjoscha und Iljuscha sind eingetroffen. Spät am Abend kam es zu einem bedrückenden Gespräch mit Lew Nikolajewitsch. Mit seinen Verdächtigungen, seiner Eifersucht und seinem Despotismus wird es immer schlimmer. Jeder selbständige Schritt, den ich unternehme jede Lustbarkeit, und sei sie auch noch so unschuldig, jede Stunde, die ich am Klavier verbringe, macht ihn gereizt.

Tanja und Marussja Maklakowa haben sich heute die Photographien verschiedener Männer angesehen und darüber geredet, welchen davon sie heiraten würden. Als sie zu Lew Nikolajewitschs Porträt kamen, riefen beide aus: „Unter gar keinen Umständen!“ Ja, es ist schon schwer genug, unter Despotismus zu leben, aber wenn noch Eifersucht hinzukommt – das ist entsetzlich!

17. Januar. Bis spät in die Nacht hinein hackte L.N. auf mir herum: Er bitte, ihn aufs Land ziehen zu lassen, ich brauchte ihn nicht, das Leben in Moskau bringe ihn um – und so fort.[13] Der Ausdruck ziehen lassen hat keinerlei Bedeutung, denn halten kann ich ihn sowieso nicht. Daß er nach Moskau kam, wollte ich deshalb, weil es für mich nur natürlich und eine Freude ist, mit meinem Mann zusammenzusein, den zu lieben und für den zu sorgen ich gewohnt bin. Ich habe alles getan, damit ihn nicht die Eifersucht quält, und habe trotzdem sein Vertrauen nicht errungen. Wenn er aufs Land führe, würde er sich noch mehr quälen; und falls wir alle abführen – was soll dann aus Mischa und Sascha werden, sollen sie denn nichts lernen? Da zerbricht man sich den Kopf … Lew Nikolajewitschs Gleichgültigkeit und Untätigkeit in der Erziehung seiner Kinder war mir immer eine Last, und das mache ich ihm zum Vorwurf. Wie viele Väter erziehen ihre Kinder nicht nur selbst, sondern ernähren sie auch durch ihrer Hände Arbeit, wie mein Vater es getan hat! L.N. aber meint, sogar mit der Familie zu leben bringe ihn um.

War morgens geschäftlich auf der Bank und einkaufen. Ein fürchterlicher Wind, sechs Grad unter Null. Iljuscha ist zu einer Hunde-Ausstellung und des Geldes wegen gekommen; auch Serjoscha ist hier. Bruder Stjopa ist abgefahren, Sonja Mamonowa eingetroffen.

Als ich heute auf der Bank warten mußte, las ich Zeitung; die Geschichte der Arbeiter, die durch eine Gasexplosion auf der Makejew-Zeche im Gouvernement Charkow umgekommen sind, rührte mich zu Tränen. Die Beerdigung, das Leid der Angehörigen, die erschlagenen Pferde, die verstümmelten Menschen – das alles ist schrecklich! Umgekommen sind Menschen, die ohne Licht, ohne Freude und unablässig arbeitend ein schweres, mühseliges Leben unter Tage führten! Und gleich daneben wird voller Erregung über die Dreyfus-Affäre in Paris berichtet. Wie kam sie mir doch nichtig vor im Vergleich zu der russischen Katastrophe!

18. Januar. Lew Nikolajewitsch hat Schnee geräumt, die Eisbahn im Garten mit Wasser begossen und viele Briefe geschrieben. Er ist sehr schweigsam und wenig umgänglich; nachdem er mich erst gekränkt hat, beschwert er sich jetzt bestimmt über mich in den Briefen an seine Freunde.

20. Januar. Sascha sammelte gestern morgen milde Gaben für den Sohn des Lakaien Iwan, der uns verläßt. Der kleine Ljonja hat sich mit heißem Wasser aus dem Samowar verbrüht und liegt im Krankenhaus.

Vorgestern ist etwas Erstaunliches passiert. Meine Söhne waren im Theater, Serjoscha wollte sich „Sadko“ im Solodownikow-Theater anschauen. Auf einmal packte mich die Angst, das Theater werde abbrennen, und ich sagte noch zu Lew Nikolajewitsch, mir schwane, es gebe einen Theaterbrand. Und tatsächlich, in derselben Nacht, als das Publikum auseinandergegangen war, brannte das Theater ab und stürzte das Dach ein.

War heute mit Sascha in der Stadt, kaufte ihr Schuhe und ein Korsett. Fegte dann im Garten den Schnee von der Eisbahn; Lew Nikolajewitsch kam hinzu, und wir fegten gemeinsam Schnee, dann fuhr er Schlittschuh, und ich setzte mich ans Klavier und übte anderthalb Stunden.

Der Abend verschaffte mir einen großen Kunstgenuß. Marija Nikolajewna Muromzewa brachte den jungen Pianisten Gabrilowitsch mit, und er spielte uns den ganzen Abend ausgezeichnet vor: eine Ballade und ein Nocturne von Chopin, ein Impromptu von Schubert und ein Rondo von Beethoven. Mischa Olsufjew und Marussja Maklakowa kamen auch. Lew Nikolajewitsch hatte großes Vergnügen an der Musik und bedankte sich bei dem fröhlichen, gutherzigen und begabten zwanzigjährigen Jungen.

Mit Sonja Mamonowa, die bei uns zu Gast ist, las ich eine Rezension von L.N.s Aufsatz „Über die Kunst“. Alle Kritiker äußern sich zurückhaltend über diesen Aufsatz.[14]

21. Januar. Wollte für die neue Ausgabe von „Kindheit und Knabenjahre“ Korrektur lesen und fing auch damit an, doch da stellte sich heraus, daß es nicht die richtige Schrift war, und ich schickte alles an die Druckerei zurück und ließ neu setzen.[15]

Abends übte ich eifrig eine Beethoven-Sonate ein. Dann war ich müde, ging nach oben zu Lew Nikolajewitsch, doch bei ihm saßen ein Fabrikarbeiter, ein Soldat und einer von den Finsterlingen. Puh, wie lästig, ewig diese Wand, die die verschiedensten Besucher (und was für welche!) zwischen mir und meinem Mann bilden.

Den ganzen Tag kam es zwischen Sonja Mamonowa, Lew Nikolajewitsch und mir immer wieder zu Gesprächen über die Herausgabe einer Zeitung für das Volk auf dem Lande. Das Ziel wäre, dem Volk eine interessante Lektüre zu verschaffen.[16] Also zum Beispiel Meldungen über ein Eisenbahnunglück, eine Schiffskollision, eine Grubenkatastrophe oder die Ankunft chinesischer, abessinischer und anderer ausländischer Gäste; metereologische, agronomische und historische Berichte, außerdem Nachrichten über unseren Zaren und die Zarenfamilie, kurze Beschreibungen der Feiertage und, als leichte Lektüre, etwas Unterhaltendes. Lew Nikolajewitsch begeisterte sich so sehr für diese Idee, daß er Sytin (den Verleger von Büchern und Bildern für das Volk) brieflich zu sich bat, um über die finanzielle Seite der Angelegenheit zu sprechen. Vor allem: L.N. will mich für diese Zeitung heranziehen. Ich bin sehr angetan von dieser Idee, aber mit ihm könnte ich die Sache nicht angehen, wir sind zu unterschiedlich eingestellt, und unpraktisch, wie L.N. ist, würde er mir alles verderben. Nicht als Redakteur, nur als Mitarbeiter für Belletristik würde ich Lew Nikolajewitsch einsetzen.

Bin müde, schwermütig, gehe schlafen und mich in meine Seele und Gedanken versenken – in jenes Leben, das ich in der Wirklichkeit nicht führe. Ich schlafe wenig, aber dafür denke ich ständig nach, gebe mich Erinnerungen hin, sogar über die Zukunft denke ich noch nach und erwarte etwas von ihr.

Mischa hat heute das Halbjahresexamen in Griechisch bestanden.

22. Januar. Habe den ganzen Morgen Klavier gespielt, bin nervös bis in die Fingerspitzen, habe die ganze letzte Nacht nicht geschlafen; lag mit offenen Augen im Dunkeln und fürchtete, meinen Mann aufzuwecken und zu beunruhigen. Wie ich heute am Klavier saß, kam mir auf einmal in den Sinn, L.N. könnte sterben, man hat ja angedroht, ihn umzubringen[17], und plötzlich brach ich in Tränen aus … So streng er auch mit mir sein mag, doch wieviel Liebe zu ihm ist noch in meinem Herzen!

Abends im Konzert – ein Quartett von Professoren des Wiener Konservatoriums.

L.N. ging morgens mit Tanjas schwarzem Pudel im Garten spazieren; seine Eisbahn ist aufgetaut. Dann bekam er den Brief einer Dame aus dem Gouvernement Woronesch, daß dort Hungersnot herrsche, und sie bitte um Rat und Hilfe. L.N. schrieb über die Hungersnot einen Brief an die „Russkije wedomosti“, aber die werden ihn wohl kaum veröffentlichen.[18] Abends besuchte er den kranken Russanow. Popow kam, er fährt zu Birjukow und bringt ihm etwas von L.N. Birjukow fährt von Bauska nach England.[19] Dorthin ist gestern auch Winer abgereist, die frühere Lebensgefährtin des ebenfalls verbannten Fürsten Chilkow.

26. Januar. War die ganzen letzten Tage krank. Hatte erst eine starke Neuralgie in der rechten Kopfhälfte, dann starkes Fieber, später Halsschmerzen. Der Arzt kam, der junge Ussow, er befürchtete Diphtherie, was sich aber bei der Untersuchung nicht bestätigte. Diese jungen Ärzte sind schon erstaunlich: Maljutin behandelte Sascha – und nahm kein Geld, und Ussow nahm auch keines. Ich habe ihnen L.N.s Werke geschickt, von ihm signiert. Tanja ist immer noch in Petersburg, und L.N. hat mir auf rührende Weise den Rachen gepinselt, so richtig eifrig und ungeschickt. Meine Krankheit hat ihm einen Schrecken eingejagt, und auf einmal ist er ganz alt und verzagt geworden. Wie seltsam wir doch alle lieben! Er zum Beispiel ist ruhig und glücklich, wenn ich dumpf und gelangweilt zu Hause sitze und arbeite oder lese. Wenn ich aber rege bin, etwas unternehme oder mit jemandem verkehre, packt ihn die Unruhe, und dann ärgert er sich und behandelt mich schlecht. Mir fällt es aber manchmal sehr schwer, ständig die heftigen Anwandlungen meines lebhaften, leicht beeindruckbaren Naturells zu unterdrücken!

Gestern lag ich im Bett, und zu L.N. kamen wieder drei Molokanen aus Samara und baten um Empfehlungsschreiben für Petersburg. Sie wollen sich noch einmal wegen der Kinder bemühen, die ihnen von der Regierung weggenommen und in Klöster gesteckt wurden.[20] Die armen Kinder und Mütter! Und welch ein barbarisches Mittel, um Menschen zum orthodoxen Glauben zu bekehren! Das überzeugt niemanden, im Gegenteil.

Heute traf meine Schwester Lisa aus Petersburg ein. Sie las uns ihre Aufsätze über Tarife, Finanzen und bäuerliches Gemeinwesen vor. Wie es einer Frau einfallen kann, sich mit solchen Problemen abzugeben! Sie hat sich mit Leib und Seele dem Finanzwesen Rußlands verschrieben und hat ständigen Umgang mit Minister Witte. L.N. und Dunajew fanden vieles sehr klug, besonders, was sie über den Tarif schreibt, der erst kürzlich in Rußland eingeführt wurde und sich bereits als völlig untauglich erwiesen hat.[21]

War heute zu einem Musikabend bei Muromzewa eingeladen, konnte aber nicht hingehen. Am Samstag versäumte ich das Sinfoniekonzert; um Beethovens „Egmont“-Ouvertüre ist es mir leid. Überließ Serjoscha meine Karte und freue mich, daß er es schön fand.

Habe gestern im Bett und auch heute die Korrekturfahnen der „Kindheit“ gelesen, die mich jedesmal wieder ergreift. Habe Rückenschmerzen, bin schwach, und unablässig nagt an meinem Herzen die Schwermut.

Eben kam L.N. und sagte: „Will ein wenig bei dir sitzen.“ Er zeigte mir zwei Siebenpfund-Hanteln, die er heute gekauft hat und mit denen er Gymnastik machen will. Er ist sehr schlapp und sagt ein ums andere Mal: „Als wäre ich schon siebzig.“ Dabei wird er ja im August siebzig, also in einem halben Jahr. Mittags lief er Schlittschuh und fegte den Schnee weg. Aber er kommt mit seiner geistigen Arbeit nicht voran, und das bekümmert ihn am meisten.

27. Januar. Mittags Korrekturlesen, abends Gäste: Zurikow, der alte Boborykin, der ehemalige Gouverneur von Orjol, Professor Grot, Sulerschizki, Gorbunow u.a. Bin noch krank, und es erschöpfte mich sehr, konnte weder an den Gesprächen noch an sonst etwas teilnehmen. L.N. fuhr ein wenig Schlittschuh und korrigierte die Fahnen der „Kunst“.[22]

28. Januar. Konnte nur mit Mühe aufstehen, so schlecht geht es mir: Übelkeit, Gliederreißen am ganzen Körper und Kopfschmerzen. Habe trotzdem lange an den Korrekturen und den Finanzen der Kinder gesessen; gestern und heute übertrug ich die Posten aus dem allgemeinen Ausgabenbuch in die einzelnen von Andrjuscha, Mischa und Ljowa. Die liebe M.J. Leontjewa besuchte mich, und wir führten ein offenherziges Gespräch über ernste Lebensprobleme.

Sergei Iwanowitsch schickte seine liebe alte Kinderfrau Pelageja Wassiljewna vorbei, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.

L.M. hat sich beim Schneeräumen und Schlittschuhlaufen wieder zu sehr angestrengt. Die Übungen mit den Hanteln haben auch begonnen. All das zusammen hat bewirkt, daß ihm die Galle wieder zu schaffen macht; er hat zur Unzeit eine Menge Linsen und Haferbrei gegessen und danach überhaupt nichts zu Mittag. Habe gerade Emser holen lassen und ihm zu trinken gegeben, was er auch bereitwillig tat. Er sitzt und liest; ich lese zur Zeit „Désastre“ von Paul Margueritte und seinem Bruder. Der Roman spielt offenbar in der Zeit des französisch-preußischen Krieges.[23]

Zu Lew Nikolajewitsch kam eine Dame namens Kogan, und es ergab sich ein Gespräch über philosophische Fragen, über die Bestimmung des Menschen, das Glück und die Wege, die dahin führen.

Das Abschreiben und die Korrektur der – bisher noch nicht umfangreichen – neuen Arbeiten hat jetzt Sulerschizki übernommen, ein kluger, begabter und ungezwungener junger Mann, der früher einmal mit Tanja in der Schule an der Mjasnizkaja Malerei studiert hat. L.N. ist sehr zufrieden mit seiner Arbeit.

29. Januar. Tanja ist aus Petersburg zurückgekehrt. Sie war wegen der Kunstalben hingefahren, die sie herausgibt[24], und hat eine sehr angenehme Zeit verbracht. Zugunsten der Kinder, die man den Molokanen im Gouvernement Samara weggenommen hat, war sie bei Pobedonoszew. Er sagte, der dortige Bischof habe den Bogen überspannt, und fügte hinzu, er werde dem Gouverneur von Samara schreiben und hoffe, die Sache werde beigelegt. Wie durchtrieben! Er tat so, als wisse er nicht, daß Tanja die Tochter von Lew Nikolajewitsch ist, und als sie schon die Treppe hinunterstieg, da fragte er: „Sind Sie die Tochter von Lew Nikolajewitsch?“ Sie sagte: „Ja.“ – „Dann sind Sie die berühmte Tatjana Lwowna?“ Worauf ihm Tanja erwiderte: „Daß ich berühmt bin, das habe ich allerdings nicht gewußt.“[25]

Bruder Stjopa ist mit seiner kranken, schwerhörigen und bedauernswerten Frau eingetroffen. Serjoscha und er haben den Kauf eines Gutes im Gouvernement Minsk zu einem Ende gebracht. Fragt sich nur, ob es einträglich ist. M. Stachowitsch war zum Essen da. Lew Nikolajewitsch korrigierte den ganzen Tag die Fahnen des Aufsatzes „Was ist Kunst?“. Jetzt ist Abend, er war mit dem schwarzen Pudel spazieren, nun ißt er Hafersuppe mit Wasser und trinkt Tee.

Den ganzen Tag war Schneesturm, drei bis fünf Grad unter Null. Fühle mich immer noch unpäßlich, habe Rückenschmerzen. Saß zwei Stunden am Klavier, studierte und spielte viele Walzer, Nocturnes und Préludes von Chopin. Doch welch eine Stümperei! Wieviel Mühe es kostet, um einigermaßen anständig zu spielen, und ich spiele so schlecht und komme so langsam voran!

30. Januar. Heute muß ich mir eingestehen, daß Sergei Iwanowitsch unzweifelhaft Einfluß und Wirkung auf mich ausübt. Er hat mich heute besucht, wir unterhielten uns jedoch nur kurz allein. Bruder Stjopa und Sohn Serjoscha waren dabei; aber als Sergei Iwanowitsch wieder ging, empfand ich eine solche Nervenberuhigung, solch stille Freude wie schon lange nicht mehr. Ob das übel ist? Dabei sprachen wir nur über Musik, über seine Werke und über Alt-, Sopran- und Tenorschlüssel. Er erläuterte mir und Serjoscha den Unterschied zwischen diesen Schlüsseln. Dann sprachen wir darüber, wie man sein Gewissen beruhigt, wenn man strenge Maßstäbe an sich selbst anlegt; daß nach dem Tod eines nahestehenden Menschen alles, worin man sich vor ihm schuldig fühlt, besonders schwer auf einem lastet. Sergei Iwanowitsch fragte mich voller Teilnahme nach meiner Krankheit, nach den Kindern und meinen Beschäftigungen der letzten Zeit – das war alles so schlicht, so ruhig und herzlich, daß ich es geradezu als ein übermäßiges Glück empfand. Wie schade, daß Lew Nikolajewitschs Eifersucht sowohl unsere Freundschaft als auch die von L.N. und der ganzen Familie mit diesem wunderbaren, idealen Menschen unmöglich macht! Serjoscha war zu Sergei Iwanowitsch sehr nett, freundschaftlich und ungekünstelt. Er hat ihn gelobt und würde ihn lieben, wenn der Vater nicht wäre. Von sich selbst hat Sergei Iwanowitsch erzählt, er bearbeite seine Oper, befasse sich mit der Idee eines neuen Quartetts[26] und habe seine Sinfonie nach Petersburg geschickt, wo sie am 18. oder 20. März aufgeführt wird. Könnte ich doch hinfahren!

Stjopas Frau war da; ihre Schwerhörigkeit ist sehr schlimm. Habe für Lew Nikolajewitsch neue Korrekturen in den Aufsatz „Über die Kunst“ übertragen, was drei Stunden in Anspruch nahm. Dann aß Marussja Maklakowa bei uns zu Mittag und las mir die Korrekturfahnen von „Kindheit“ vor. Haben den „Rodnik“ mit Ljowas Artikel „Jascha Poljanow“ („Erinnerungen an die Kindheit“) erhalten.[27] Es rührt mich sehr, diese Erinnerungen aus der Sicht meiner Kinder zu lesen, der Artikel hat mir vieles aus dem reinen, arbeitsamen Leben mit den Kindern und im Dienst an meinem Mann, das ich meine ganze Jugend über geführt habe, wieder ins Gedächtnis gerufen. Ich würde jene Zeit jedoch nicht zurückholen mögen. Wieviel Traurigkeit, wieviel Tragik lag doch in jenem entsagungsvollen Leben voller Anspannung, Mühe und Liebe, ohne daß sich jemand um mich, um meine jugendlichen Lebensfreuden oder wenigstens eine Ruhepause gekümmert hätte … Ganz zu schweigen von meiner geistigen Entwicklung oder von meinen ästhetischen Freuden …

31. Januar. War zum ersten Mal nach meiner Krankheit außer Haus. Zahlte für Iljuscha tausend Rubel bei der Adelsbank ein, hob Zinsen ab und tätigte verschiedene Überweisungen. Lästige, aber unumgängliche Geschäfte. Andrjuscha traf ein, wieder Geldgespräche, darüber, daß er mehr und mehr braucht. Wann endlich kommt der glückliche Moment, da ich die Geldplagereien meiner Kinder los bin! Ich dachte, die Teilung würde mich davor bewahren; doch gerade sie hat meine Kinder zugrunde gerichtet.[28]

L.N. korrigierte den ganzen Morgen die Fahnen des „Kunst“-Aufsatzes, dann räumte er eifrig den Schnee von der Eisbahn, zog Schlittschuhe an und fuhr. Abends sitzt er jetzt gewöhnlich gerne bei den Gästen, manchmal zieht er sich zum Lesen und Ausruhen zurück.

1. Februar. Habe schlecht geschlafen, bin spät aufgestanden, habe Korrektur gelesen und die gestrigen Geldgeschäfte in die Kontobücher eingetragen. Überwand meine Trägheit und fuhr zu den Patriarchenteichen, wo Sascha, Andrjuscha und Mischa Schlittschuh liefen. Traf außerdem noch viele Bekannte dort an. Später kamen auch noch meine Ältesten, Serjoscha und Tanja. Mit großem Vergnügen liefen wir alle Schlittschuh. Am schönsten war es mit Juscha Pomeranzew. Wie nett, lustig, offen und begabt dieser Juscha Pomeranzew doch ist! Ich liebe ihn sehr, er hat wertvolle Eigenschaften und eine vielversprechende Zukunft.

Meine Kinder genierte es zunächst, daß ich auf Schlittschuhen stand, besonders die Jungen; doch als sie sahen, wie unauffällig und leicht ich laufe, beruhigten sie sich anscheinend, und Andrjuscha drehte sogar eine Runde mit mir.

Das Schlittschuhlaufen hatte mich doch erschöpft, und so schlief ich nach dem Mittagessen, was ich sonst nie tue. Als ich erwachte, waren Gäste da: Butenew, Maslow, der Maler Kassatkin und Baratynskaja. Wir unterhielten uns sehr gut über die Slawjanophilen, die Kunst, die Sektierer und Tanjas Reise nach Petersburg. Lew Nikolajewitsch hatte wieder Schmerzen an Magen und Galle, er meint, die Äpfel wären schuld, aber ich bin überzeugt, daß es vom zu anstrengenden gestrigen Schneeräumen herkommt. Er hat nicht einmal zu Mittag gegessen. Sehe voller Leid, daß er abnimmt; wenn er schläft, sieht er so klein aus im Bett, und an Schultern und Rücken zeichnen sich alle Knochen ab. Sein Gesicht hat zur Zeit eine frische Farbe, er ist munter und kraftvoll in den Bewegungen, aber mager. Mühe mich sehr, ihn möglichst gut zu verköstigen, doch das ist schwierig; gestern ließ ich ihm Spargel und eine leichte Cremesuppe vorsetzen, und trotzdem fühlt er sich heute nicht wohl. Bemühe mich außerdem, ihn nicht zu verstimmen, widerspreche ihm nie und gehe nirgends hin.

Als wir heute über Kunst sprachen, führte L.N. verschiedene Werke an, die er für echte Kunstwerke hält, zum Beispiel „Die Magd“ von Schewtschenko, die Romane von Victor Hugo und die Zeichnung von Kramskoi, wie ein Regiment vorüberzieht und eine junge Frau, ein Kind und eine Amme aus dem Fenster schauen[29]; dann Surikows Zeichnung zu L.N.s Erzählung „Gott sieht die Wahrheit“ – wie in Sibirien Zwangsarbeiter schlafen, und dazwischen sitzt ein Greis. Außerdem erwähnte er noch eine Erzählung, ich weiß nicht mehr von wem (wahrscheinlich ebenfalls von Hugo), wie eine Fischersfrau Zwillinge zur Welt brachte und starb, und eine andere Fischersfrau, die schon fünf Kinder hatte, nahm die beiden auf, und als ihr Mann nach Hause kam, berichtete sie zaghaft von dem Tod jener Mutter und der Geburt der Zwillinge, worauf der Mann sagte: „Dann müssen wir sie eben nehmen.“ Da zog die Frau den Vorhang beiseite und zeigte ihm, daß sie die Kinder bereits aufgenommen hatte.[30] Und auch anderes noch kam des längeren zur Sprache.

Trotz seines schlechten Befindens fuhr L.N. im Garten Schlittschuh und ging mit Dunajew ein wenig spazieren.

Ohne Musik ist mir öde, doch – was tun!

2. Februar. Gestern gingen wir spät zu Bett, und ich schlief fast die ganze Nacht nicht. Schon lange war ich nicht mehr so tief religiös gestimmt. In meiner Seele wurde jenes Gefühl wach, das ich nach Wanetschkas Tod empfunden hatte, und zog mich ganz in seinen Bann. Als ob ich den Vorhang angehoben und einen ernsten Blick ins Jenseits geworfen hätte, d.h. auf jenen körperlosen, rein geistigen Zustand, bei dem alles Irdische belanglos wird. Diese Stimmung brachte mich zum Beten, und das Gebet brachte mir Ruhe.

Las morgens Korrektur, ging dann Ofrossimowa (Stolypina) besuchen und erfuhr, daß sie schon am 31. Januar wohlbehalten einen Sohn zur Welt gebracht hat. Darauf begab ich mich zu meiner alten Tante Schidlowskaja und saß ein wenig bei ihr. Zum Essen waren die jungen Maklakows bei uns. Abends gingen Tanja, Sascha und Marussja in „Sadko“. Ich wollte mich ans Klavier setzen, aber da kam Andrjuscha, er tat mir leid, und wir führten zusammen ein schönes Gespräch. Später, als der Arme wieder zu seinem Regiment nach Twer aufgebrochen war, spielte ich doch noch anderthalb Stunden. L.N. saß tagsüber an der Arbeit, abends las er Briefe von den Duchoborzen und ein Buch über Mary Urussowa, das ihre Mutter geschrieben hat.[31] Dann schrieb er Briefe und war sehr froh, allein zu sein.

Erhielt Briefe von Mascha und Ljowa.[32] Es ist kalt, windig; zwölf Grad unter Null.

3. Februar. Heute hat die Kinderfrau Namenstag, und wir vermieden es, einander zu begegnen, um nicht, wie in den letzten beiden Jahren, in Tränen auszubrechen bei der Erinnerung an Wanetschka, der sich immer so rührend bemüht hat, den Namenstag der Kinderfrau auszurichten, wie er sich ausdrückte, und ihr eine Tasse, ein Tuch oder Süßigkeiten kaufen ließ. Den ganzen Tag ertrug ich standhaft den Kummer, der mir die Kehle zuschnürte, und sprach mit keinem Menschen darüber, erst abends setzte ich mich ans Klavier, um mein Herzeleid mit jenen Musikstücken wegzuspielen, mit denen der mir dafür so teure Mensch meinen Kummer eingedämmt hat.

Bei Lew Nikolajewitsch versammelte sich abends sein Freundeskreis: Gorbunow, Popow, Menschikow aus Petersburg und noch zwei neue: der eine ein Freund von Boulanger, wie der andere heißt, weiß ich nicht.[33] Alles höchst wortkarge Leute. Interessante Gespräche gab es keine, sie redeten über Kunst, erwähnten einige gehaltvolle Bilder. L.N. hat Schnupfen. Beim Lesen der Korrekturfahnen von „Kunst“ fiel ihm morgens plötzlich auf, daß ein Stück ausgelassen war; darauf ging er erst zu Grot, dann in die Redaktion des „Journal filossofii i psichologii“ und ließ das Stück wieder einfügen.

4. Februar. Nahm eine Musikstunde bei Miss Welsh, spielte lange. Abends war Menschikow da. Ich nickte im Salon ein, darauf ging ich zu Bett.

5. Februar. War in einem Konzert von Studenten des Konservatoriums. Kam leider zu spät, da ich nicht wußte, daß es um acht Uhr begann. Saß das ganze Konzert über neben Sergei Iwanowitsch; ich habe es gerne, wenn er fast zu jedem Musikstück seine Erläuterungen und Kommentare gibt. Fuhr ihn dann nach Hause, und er freute sich wie ein Kind, weil das Pferd so flott lief.

Daheim wurde mir auf einmal ganz grauenhaft zumute, als ob ich etwas Frevelhaftes verheimlichte. Mir hatte Sergei Iwanowitsch einfach leid getan, in seinem dünnen Mantel, bei Wind und Kälte; ihn heimzubringen war nur natürlich. Und außerdem geht er am Stock, hinkt auf einem Bein.

Morgen wird er uns mit Goldenweiser vierhändig seine Sinfonie und die „Orestie“ vorspielen.

6. Februar. Ein gezwungener und ziemlich schwieriger Abend. Sergei Iwanowitsch und Goldenweiser spielten vierhändig die sinfonische Ouvertüre der „Orestie“, eine Komposition von Tanejew. Die Meinigen hörten alle mit herablassender Gleichgültigkeit zu. Es war peinlich, niemand äußerte Lob; Lew Nikolajewitsch sei Dank, daß er aufgrund seiner Wohlerzogenheit wenigstens sagte, das Thema gefalle ihm. Aufgewühlt und zufrieden waren nur Anna Iwanowna Maslowa und ich. Wir haben die „Orestie“ wie auch die Ouvertüre bereits mit Orchester gehört, die Klavierdarbietung war für uns nur eine Gedächtnisstütze.

L.N. habe ich heute wenig gesehen. Er las, brachte Korrekturfahnen von „Kunst“ zu Grot, schrieb viele Briefe, und abends saß er bei uns. Er ist wieder wohlauf, aber da gibt es etwas, das er verheimlicht. Weiß nicht, wo er das letzte Heft seines Tagebuchs hingetan hat, fürchte, er hat es Tschertkow geschickt.[34] Fürchte mich aber auch, ihn zu fragen. O mein Gott! Unser ganzes Leben haben wir gemeinsam verbracht; meine ganze Liebe, meine ganze Jugend – alles habe ich L.N. gegeben. Und das Ergebnis ist, daß ich ihn fürchte! Ihn fürchte, ohne in irgendeiner Weise vor ihm schuldig zu sein! Wenn ich dieses Gefühl der Furcht zu analysieren beginne, dann gebe ich die Analyse sehr bald wieder auf. Im Laufe der Jahre habe ich vieles nur zu gut begreifen gelernt.

Schon allein, daß er mich in seinen Tagebüchern beharrlich und geschickt angeschwärzt, daß er nur meine schwachen Seiten in kurzen, boshaften Strichen festgehalten hat, schon allein das beweist, wie geschickt er sich die Märtyrerkrone flicht und mich zur zänkischen Xanthippe macht.

O Herr! Du allein wirst uns richten!

7. Februar. Habe fast den ganzen Tag mit Marussja Maklakowa die Korrekturfahnen von „Knabenjahre“ und „Was ist Kunst?“ gelesen. Lew Nikolajewitsch sitzt immer noch an den Korrekturen von „Kunst“. Serjoscha hat abends lange gespielt, stellenweise sehr schön. Schlimmer Schneesturm den ganzen Tag.

8. Februar. L.N. klagt wieder über Unwohlsein. Der Rücken tut ihm vom Hals ab weh, und den ganzen Tag ist ihm speiübel. Was für eine Kost er zu sich nimmt – einfach schrecklich! Heute aß er gesalzene Pilze, marinierte Pilze und zweimal gekochtes Dörrobst – das liegt alles schwer im Magen, nährt aber überhaupt nicht, und so magert er ab. Abends bat er um Pfefferminztee und trank ein wenig. Außerdem verfällt er davon in Trübsinn. Heute sagte er, sein Leben neige sich dem Ende zu, die Maschine sei kaputt, es sei an der Zeit; dabei sehe ich doch, daß er eine sehr feindselige Einstellung zum Tod hat. Heute hat er mich an seine Tante Pelageja Iljinitschna Juschkowa erinnert, die in unserem Haus gestorben ist. Sie wollte auch nicht sterben und stand dem Tod feindselig, ja mit Ingrimm gegenüber, als sie begriff, daß er nahe war. L.N. hat dergleichen nicht ausgesprochen, aber sein Trübsinn und seine völlige Interesselosigkeit zeigen, daß der Gedanke an den Tod auch für ihn bitter ist. Den ganzen Tag war er nicht draußen, mittags schlief er in seinem Kabinett, korrigierte Fahnen und las. Jetzt ist Abend; Grot, der Professor, sitzt bei ihm, er hat ihm wieder Korrekturfahnen von „Kunst“ gebracht. L.N. sehnte sich die ganze Zeit danach, Wint zu spielen, aber da ihm ständig übel war, konnte er es nicht.

Schaute abends noch einmal zu L.N. hinein; mir völlig fremde Leute saßen bei ihm: ein Bauer, ein Fabrikarbeiter und ein Finsterling. Das ist jene Wand, die sich in den letzten Jahren zwischen mir und meinem Mann aufgerichtet hat. Ich hörte ihren Gesprächen zu. Der Fabrikarbeiter fragte naiv: „L.N., und was halten Sie denn so von der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus?“

Mein Mischa ist schon den ganzen Tag verschwunden, und ich bin sehr unzufrieden über seine ständige Abwesenheit von zu Hause. Aber als achtzehnjähriger Springinsfeld langweilt er sich eben bei Fabrikarbeitern, alten Leuten und ohne Jugend. Die schwerfällige und eingebildete Sascha ist zu jung und als Gefährtin für ihn nicht interessant. Da war die lebhafte, teilnahmsvolle und kluge Tanja ganz anders.

9. Februar. Heute unterhielt sich Bruder Stjopa mit Lew Nikolajewitsch und Serjoscha. Ich trat ein – und sie verstummten. Ich fragte, wovon sie geredet hätten. Sie wurden verlegen …

Ja, ich bin schon arm dran! Ihn hat immer an mir gestört, daß ich alles Erlesene, daß ich die Reinheit liebe – innerlich wie auch äußerlich. Das alles brauchte er nicht. Er brauchte eine passive, gesunde, stumme und willenlose Frau. Und jetzt ist meine Musik ihm eine Qual, er verurteilt meine Blumen im Zimmer, und meine Liebe zu jeglicher Kunst, zur Lektüre von Beethovens Biographie[35] oder der Philosophie Senecas verspottet er … Je nun, ich habe mein Leben gelebt, es führt zu nichts, die alten Wunden im Herzen wieder aufzureißen.

12. Februar. Zwei Tage nichts eingetragen. Habe in dieser Zeit viel an den Korrekturbogen des Aufsatzes „Was ist Kunst?“ gearbeitet. Fügte fremdsprachige Zitate und Korrekturen ein; die Korrekturen von „Kindheit und Knabenjahre“ brachte ich zum Abschluß. Vorgestern abend ging L.N. zu Russanow, zu mir kamen seine Nichten Lisa Obolenskaja und Warja Nagornowa, und der Maler Kassatkin brachte großartige Zeichnungen: Illustrationen des Evangeliums von dem französischen Maler Tissot. Mit Tanja zusammen betrachteten wir diese Zeichnungen, die sehr interessant und originell, in ethnographischer Hinsicht bemerkenswert und voller Phantasie sind.[36]

Gestern war ich zu Fuß am Kusnezki-Most; als ich heimkam, sah ich L.N. im Garten Schlittschuh laufen. Darauf zog ich flugs meine Schlittschuhe an und lief mit ihm. Nach den Patriarchenteichen kommt es einem in unserem Garten jedoch eng und nicht sehr lustig vor. L.N. läuft sehr sicher und gut Schlittschuh; seit drei Tagen ist er wieder munterer und fröhlicher. Als ich gestern ins Konzert fuhr, führte ich mir so richtig deutlich die Not des Volkes aufgrund von Mißernten und Brotmangel vor Augen; allerorts wird davon bereits gesprochen. So klar sah ich alles vor mir, als hätte ich es gerade mit eigenen Augen gesehen: die Kinder, die um Brot bitten, es gibt aber keines, die Mütter, die beim Anblick der hungrigen Kinder leiden und selbst ebenfalls hungrig sind – und da packte mich das Entsetzen, eine Art hilfloser Verzweiflung … Nichts macht mich mehr leiden als der Gedanke an hungernde Kinder. Wahrscheinlich deshalb, weil damals, als ich meine Kinder stillte, dieser Gedanke, das Kind könnte Hunger haben, mich ständig plagte, und jetzt tun mir nicht mehr meine eigenen Kinder leid, sondern alle Kinder auf der Welt.

Heute morgen kam es zu einer höchst unerfreulichen Szene mit Mischa. Er hatte nicht zu Hause übernachtet, ich machte ihm Vorwürfe, er gab barsche Antworten, und ich geriet in Zorn; dann ging er hinaus und pfiff vor sich hin. Das verstimmte mich vollends, ich brach in Tränen aus und sagte zu ihm: „Deine Mutter weint, und du pfeifst, hast du denn gar kein Herz?“ Er war betroffen und zeigte Reue. Um Nerven und Herz zu beruhigen, spielte ich Beethovens „Pathétique“. Anderthalb Stunden spielte ich Klavier, übte auch noch eine andere Sonate ein; da kam L.N. herein; ich fing an, von Mischa zu sprechen, doch das interessierte ihn nicht, er brachte mir Arbeit: Korrekturen zu dem Aufsatz „Was ist Kunst?“ vom einen Exemplar ins andere übertragen.

Das nahm zwei Stunden in Anspruch. Dann brachte er diese Korrekturbogen zur Druckerei, und ich richtete mit Werotschka das Zimmer für Dora und Ljowa her.

Nach dem Essen spielte ich noch ein wenig; Ljowa und Dora trafen ein. Wir saßen beisammen und unterhielten uns, Grot kam, und wir sprachen über den Aufsatz; er gefällt niemandem. Mich empörte heute, wie in diesem Aufsatz Beethoven abgeurteilt wird. Als ich kürzlich seine Biographie las, lernte ich diesen genialen Menschen noch höher schätzen und lieben. Aber jede Zuneigung meinerseits ruft in Lew Nikolajewitsch augenblicklich Haß hervor, sogar gegenüber Toten. Ich weiß noch, als ich Seneca las und von ihm begeistert war, sagte er sogleich, das sei ein aufgeblasener, dummer Römer gewesen, der sich in schönem Geschwätz gefallen habe.[37] Alle seine Gefühle muß man verbergen.

Die arme Tanja ist irgendwie niedergedrückt; sie war mit Sascha Schlittschuhlaufen, aber das heiterte sie nicht auf. Serjoscha ist zu den Olsufjews gefahren, er fehlt mir, ich liebe ihn sehr.

Erhielt einen herzlichen Brief von Andrjuscha. Gestern schrieb ich Mascha; sie hat heute Geburtstag, wird siebenundzwanzig. Dabei ist sie mein fünftes Kind! Kann mich einfach nicht alt fühlen. Alles ist jung geblieben: mein Empfindungsvermögen, mein Arbeitseifer, die Fähigkeit zu lieben und zu leiden, die heftige Neigung zur Musik und die Lust am Schlittschuhlaufen oder einem geselligen Abend. Und ebenso leicht ist auch mein Gang und mein Körper gesund, bloß das Gesicht ist gealtert …

13. Februar. War den ganzen Abend mit den Korrekturfahnen beschäftigt, trug in den „Kunst“-Aufsatz Korrekturen und fremdsprachige Zitate ein. Gestern gab ich L.N. die Erlaubnis, sein Vorwort zu Serjoschas Übersetzung von Carpenters Aufsatz über die Bedeutung der Wissenschaft an Gurewitsch zu schicken, für den „Sewerny westnik“. Die Erlaubnis gab ich ihm deshalb, weil ich im 15. Band der Gesamtausgabe nach dem „Kunst“-Aufsatz diese Abhandlung über die Wissenschaft abdrucken möchte; dem Sinn nach ist sie nämlich eine Fortsetzung des Aufsatzes.[38] L.N. war über meine Zustimmung sehr erfreut.

Abends schrieb L.N. unendlich viele Briefe. Schon den zweiten Abend nimmt er Soda ein, da er sich mit trockenen Pfannkuchen den Magen vollgeschlagen hat. Der Arme, aus Prinzip rührt er weder Butter noch Kaviar an. Diese Enthaltsamkeit ist zwar sehr schön, aber wenn man dabei der Versuchung widerstehen muß, das ist dann weniger schön.

14. Februar. Der Trubel der Butterwoche. Machte Einkäufe für den Abend, dann fuhren Tanja, Sascha, Ljowa und ich zum Schlittschuhlaufen, Dora kam nur zum Zuschauen mit, da sie schwanger ist. Zu Mittag saßen wir im Familienkreis, alle waren so guter, gelöster Stimmung, und das war angenehm. L.N. arbeitet noch immer an den Korrekturen des „Kunst“-Aufsatzes. Abends ging er einen Kaufmann besuchen, einen zweiundsiebzigjährigen Anhänger von ihm, der Leberkrebs hat.[39] Dieser Kaufmann beklagte sich bei L.N., wie lästig ihm das Leben mit seiner Familie sei, Frau und Sohn beteten Holzbretter (d.h.Ikonen) an.

Abends trafen sehr viele Kinder ein, vor allem Jungen; erst saßen alle träge herum, dann spielten sie Gesellschaftsspiele und Scharaden, sangen im Chor und machten gymnastische Übungen vor; ein paar Jungen spielten Wint. Mitten am Abend tauchten Leute in Domino-Kostümen und Masken auf (später erfuhren wir, daß es die Kalatschows und Ustinows waren, mit denen wir nicht bekannt sind). Wie immer kam bei dem Abend nichts heraus. Bedauere sehr, daß ich Ljowa und Dora keinerlei Unterhaltung bieten kann.

Meine Stimmung und mein Innenleben sind nach wie vor gleich: Immer wieder bricht der Gram um Wanetschka auf. Wie ich gestern den Nowinski-Boulevard entlangfuhr, stand mir auf einmal wieder jener schreckliche Tag vor Augen, als L.N. und ich Wanetschkas kleinen Sarg über diese Straße fortbrachten … Dabei bete ich jedesmal, Gott möge mir helfen, vor dem Ableben meine Seele zu läutern, damit ich mich mit meinen verstorbenen Kleinen in Gott vereinen kann …

Und noch immer empfinde ich die gleiche Liebe zur Musik, sie allein hält mein seelisches Gleichgewicht aufrecht und hilft mir zu leben. Und noch immer spüre ich die gleiche Herzensneigung zu gewissen Menschen, die mir meinen Glauben an die guten Eigenschaften der Menschen erhalten, wie auch an jene Hilfe, die sie einem durch ihre hohen inneren Werte spenden.

Der Abend endete damit, daß Goldenweiser ein Nocturne von Chopin, eine Etüde von Liszt und ein Scherzo von Chopin spielte.

15. Februar. Von morgens an Schneetreiben und Dämmerlicht; im Haus Stille. Andrjuscha erzählte mir entsetzliche Dinge über Ausschweifungen und gefallene Frauen. Zu traurig, daß ihn so etwas interessiert. L.N. saß wieder an den Korrekturen. Tanja ist bedrückt, Sascha unpäßlich. War den ganzen Tag mit der Gutswirtschaft beschäftigt, bestellte Samen, was immer viel Überlegung und Aufmerksamkeit erfordert. Ging nicht außer Haus. Versuchte zu spielen, wurde aber ständig gestört. Glebowa kam mit P. Stachowitsch zu Besuch. Will jetzt über niemanden den Stab brechen und bitte nur den Herrn: „Laß mich meiner Sünden gewahr werden und nicht meinen Bruder richten.“ Zu Tisch waren Wera Sologub und Ljowa Suchotin bei uns, Andrjuscha und Mischa waren da, es war sehr gemütlich und schön. Abends schrieb ich; die Belski-Mädchen und Butenews kamen, Vater mit Tochter. L.N. spielte mit ihnen und den Mädchen Federball: er ist gesund und fröhlich. Wir unterhielten uns über die Dekabristen; als L.N. über sie schreiben wollte, las er viel darüber, und was er noch weiß, hat er uns erzählt.[40]

Serjoscha kehrte von den Olsufjews zurück; der arme Andrjuscha ist wieder nach Twer. Wie ungern er abfuhr! Während des Federballspiels mußte ich wieder voll Wehmut an Wanetschka denken. Wie merkwürdig, je weniger Musik ich höre, desto mehr sehne ich mich nach Wanteschka, und je mehr Musik ich höre, desto weniger sehne ich mich. Sergei Iwanowitschs Musik vertreibt die Wehmut vollkommen. Genau wie bei einer Waage: wo man die Gewichte hinschiebt, da senkt sie sich.

16. Februar. Montag der ersten Fastenwoche. Ich liebe diese Zeit, diese Stimmung geschäftiger Stille und religiöser Einkehr. Früher liebte ich sie auch wegen der Nähe des Frühlings – jetzt ist mir dieses Gefühl abhanden gekommen. Wozu brauche ich den Frühling! Er erhöht mein Wohlbefinden nicht, sondern schmälert es nur, da er ein rastloses Suchen und Sehnen nach einem Glück mit sich bringt, das ich doch nicht mehr erleben werde.

Änderte morgens ein Kleid von Sascha; dann spielte ich zweieinhalb Stunden Klavier; vor dem Essen besuchte ich S.A. Filossofowa und plauderte mit ihr über die Kinder, die Enkel, über Unglücksfälle und verschiedene Verwandte. Als ich aus ihrem Haus trat, hatte ich ein solches Verlangen nach Bewegung, Luft, Einsamkeit und Freiheit – daß ich zu Fuß heimging. Kam zu spät zum Essen; die Meinigen schalten mich gutmütig, alle saßen schon am Tisch, und ich verzehrte schleunigst meine Fastenspeise. So Gott will, werde ich die gesamten Fasten einhalten. Nach dem Essen schaute ich mir die Bilder in einer Zeitschrift an, die L.N. aus Philadelphia geschickt bekommen hat. Wir unterhielten uns über den Ankauf von Gütern. Dann schrieb ich das Ende von L.N.s Aufsatz über die Kunst ab, um es nach England zu senden; zwei Stunden saß ich daran.[41]

L.N. las abends Schillers „Räuber“ und war davon begeistert.[42] Habe auf seinem Schreibtisch heute ein schwarzes Wachstuchheft gesehen, in dem er – das weiß ich – belletristische Erzählungen angefangen hat.[43]

17. Februar. Morgens gelang es mir, über zwei Stunden zu spielen. Dann kaufte ich einen Sattel, den ich Ljowa morgen zum Namenstag schenken werde, und für Lew Nikolajewitsch will ich noch Honig, Datteln, eine besondere Sorte getrockneter Pflaumen, Birnen und gesalzene Pilze besorgen. Er hat auf dem Fensterbrett gerne einen Mundvorrat, und wenn er Hunger hat, ißt er Datteln und Dörrobst einfach mit Brot. Heute hat er viel geschrieben, was, weiß ich nicht, er spricht nicht darüber.[44] Dann fuhr er mit Sohn Ljowa Schlittschuh. Das Mittagessen verlief fröhlich und unbeschwert. Abends war Dunajew da, ich stickte, denn an irgendwelche Arbeit ist überhaupt nicht zu denken, wenn Gäste da sind. Und was für Gäste man mir heute auf den Hals geladen hat! Ein gewisser Aristow wollte zu L.N., Lew Nikolajewitsch war jedoch ins Schwitzbad gegangen und zwei Stunden lang mit Sergejenko irgendwo verschollen, so daß ich mir von diesem Herrn endlose Geschichten über das Bewässern von Feldern, über Fischzucht und seine Familienangelegenheiten anhören und auch noch mit ihm beratschlagen mußte, ob er seine zweiundzwanzigjährige Tochter einem reichen Fünfzigjährigen zur Frau geben solle. Ein merkwürdiges Ansinnen an eine ihm so völlig fremde Frau wie mich! Später berichtete mir Sergejenko, er wolle ein Buch über Lew Nikolajewitsch herausbringen, mit Porträts von ihm, seiner Familie, mit Bildern aus seinem Leben usw.[45] Das ist peinlich, solange wir noch am Leben sind.

18. Februar. Lew Nikolajewitschs und Ljowas Namenstag. L.N. will ja grundsätzlich nichts von Festen wissen, und von Namenstagen schon gar nicht. Ljowa schenkte ich einen sehr guten englischen Sattel von Zimmermann. Saß den ganzen Tag an der Arbeit: erst änderte und flickte ich Lew Nikolajewitschs grauen Flanellkittel; dann stickte ich einen Streifen auf weißes Tuch – eine schöne, alberne Arbeit, die ich schon vor langem angefangen habe. Wenn ständig Gäste kommen, so ist Sticken dabei noch das beste, sonst ermüdet es sehr.

Zu Mittag aßen wir im Familienkreis; Onkel Kostja Islawin und Lew Nikolajewitschs Nichten Lisa Obolenskaja und Warja Nagornowa waren gekommen. Viele von den Kindern hatten sich eingefunden: Serjoscha, Tanja, Ljowa und Dora, Mischa und Sascha; ich habe es gerne, wenn die Familienfeste gefeiert werden.

Mit Don-Sekt tranken wir auf die Gesundheit der Namenstagskinder. Aber insgesamt blieb von dem Tag ein Gefühl der Leere zurück.

L.N. brachte Korrekturfahnen von „Kunst“ in die Redaktion, dann korrigierte er das Carpenter-Vorwort für den „Sewerny westnik“[46].

Gestern abend machte mich das, was L.N. zur Frauenfrage sagte, sehr betroffen. Schon immer war er gegen die Freiheit und die sogenannte Gleichberechtigung der Frau; gestern aber äußerte er auf einmal, daß eine Frau, wie auch immer sie tätig sein möge – als Lehrerin, in Medizin oder Kunst –, doch nur ein einziges Ziel kenne: die geschlechtliche Liebe. Und sobald sie es erreicht habe, sei’s um all ihre Tätigkeit im Handumdrehn geschehen.

Ich war über diese Ansicht schrecklich empört und machte Lew Nikolajewitsch Vorwürfe wegen seiner unverändert zynischen Einstellung gegenüber Frauen – wieviel habe ich darunter leiden müssen! Ich sagte zu ihm, er habe deshalb solch eine Meinung von den Frauen, weil er bis zum Alter von vierunddreißig Jahren mit keiner einzigen anständigen Frau näher bekannt gewesen sei. Dieser völlige Mangel an Freundschaft und seelischer – nicht körperlicher – Zuneigung, diese Gleichgültigkeit gegenüber meinem geistigen und Innenleben, die mich bis heute so quält und erbittert und die sich mir mit den Jahren immer klarer enthüllt hat: das eben hat mir das. Leben vergällt, mich ernüchtert und läßt mich nun meinen Mann weniger lieben.

19. Februar. Sergejenko verbrachte den ganzen Tag bei uns: er schreibt mit Tanja ein Drama[47], vor allem aber stellt er einen biographischen Band über Lew Nikolajewitsch zusammen und fragt uns deshalb aus. L.N. zeichnete ihm heute den Plan des Hauses, das früher in Jasnaja Poljana stand, in dem L.N. zur Welt gekommen und aufgewachsen war und das er selbst einer Spielschuld halber an den Gutsbesitzer Gorochow im Dorf Dolgoje verkauft hat. Dort steht es auch heute noch, halb zerfallen, und Sergejenko will mit einem Photographen hinfahren und die Photographie in seinen Band aufnehmen.[48]

Als L.N. den Plan dieses Hauses zeichnete, hatte er einen ganz gerührten, schönen Gesichtsausdruck. Er erinnerte sich: hier war das Kinderzimmer, dort wohnte Praskowja Sawischna, da war das große Kabinett des Vaters, da der Saal, der Raum für die Junggesellen, der für die Aufwärter, das Diwanzimmer usf. Es war ein großes Haus. Sergejenko befragte mich, womit man Lew Nikolajewitsch zu seinem Geburtstag in diesem Jahr, am 28. August, eine Freude machen könne; da wird L.N. siebzig. Er hatte die Idee, dieses Haus zu kaufen, es nach Jasnaja Poljana überführen und so, wie es früher war, wieder aufbauen zu lassen. Oder darin einen Hort für kleine Kinder einzurichten, deren Mütter zum Arbeiten außer Haus gehen … Wir kamen zu keinem Schluß, offenbar ist dafür jedoch Geld vorhanden.

L.N. hält sein Tagebuch sorgfältig versteckt. Früher erriet ich immer, wo es war, oder fand es zufällig. Jetzt kann ich es absolut nicht finden und habe nicht die geringste Ahnung, wo er es aufbewahrt.

20. Februar. Schon drei Tage Schneesturm, das schlägt aufs Gemüt. Unsere Beschäftigungen sind noch die gleichen: Lew Nikolajewitsch bearbeitet eifrig das 20. Kapitel der „Kunst“, und ich spiele unentwegt Klavier.

Mischa bereitet sich im Lyzeum aufs Abendmahl vor, ich aber war diese Woche kein einziges Mal in der Kirche, und das ist mir unangenehm.

Bei L.N. waren Besucher, zwei Bauern – was er mit denen bloß zu reden hat! Jetzt ist Mitternacht, er aber wollte soeben Korrekturbogen zu Grot auf den Nowinski-Boulevard bringen; nur mit Mühe konnten wir ihn davon abhalten.

21. Februar. Morgens eine Musikstunde mit Miss Welsh. Danach spielte ich weiter. Immer noch Schneesturm. War spazieren, anderthalb Stunden lang. L.N. sitzt immer noch an den Korrekturen des 20. Kapitels. Heute fuhr er mit Enkelin Annotschka ins Rumjanzew-Museum und zeigte ihr die Gemälde, die ethnographische Sammlung und die Wachsfiguren mit russischen Trachten aus den verschiedenen Gouvernements. Abends Gäste in hellen Scharen: zu Mischa kamen junge Burschen, zu Sascha und Annotschka Kinder; Sulerschizki sang, ein gewisser Saz vom Konservatorium spielte Cello, Nagornow Klavier. Die Musik brachte einige angenehme Minuten, doch ich war sehr erschöpft.

22. Februar. Besuchte den kranken Russanow, und wir sprachen über L.N., den Vegetarianismus und Tschertkow, den die Russanows nicht schätzen; sie sagen, er sei nicht normal, habe Anfälle von Geistesverwirrung, was als Mißtrauen, Redseligkeit, Despotismus und Geschäftigkeit zutage trete. Überhaupt sei wenig Güte in ihm. Dann war ich noch bei Filossofowa. Wieder aßen alle bei uns zu Mittag, es gab Pfannkuchen. Als ich eine halbe Stunde vor dem Essen heimkam, sagte man mir, Graf Olsufjew und Sergei Iwanowitsch Tanejew seien da. Ich freute mich sehr und stürzte nach oben. Sie unterhielten sich mit Tanja, die auf der Couchette lag. Sergei Iwanowitsch brachte mir seinen „Sonnenaufgang“, eine Komposition für vier Stimmen nach einem Gedicht von Tjutschew[49], und spielte sie mir vor. Ein wunderbar komponiertes Werk, das zwei Stimmungen wiedergibt: das Warten auf die Sonne und ihr triumphales Erscheinen.

Wir sahen uns nur kurz und redeten nur wenig. Zu Gesprächen zwischen uns wird es erst wieder an jenen einsamen Abenden kommen, wenn ich mit Mischa und Sascha, aber ohne Lew Nikolajewitsch und ohne Tanja hier sein werde. Tanja sagte mir gestern eine Menge böser Dinge anläßlich Sergei Iwanowitschs Besuch. Was kann ein freundschaftliches Verhältnis den anderen eigentlich ausmachen?

23. Februar. Wanetschkas Todestag. Drei Jahre ist es her. Gleich nach dem Aufstehen ging ich in die Kirche, betete und dachte an meine verstorbenen Kinder, Eltern und Freunde. Ließ eine Seelenmesse lesen. Dann besuchte ich Mascha, die Frau des Kochs. Sie hat heute im Gebärhaus einen Sohn zur Welt gebracht. Dann ging ich zu Schiljajewa, einer armen Gutsbesitzerin aus der Kursker Gegend, deren außergewöhnlich musikalischer Sohn bei Sergei Iwanowitsch Unterricht hat. Traf sie nicht an, wollte herausbekommen, in welchen Verhältnissen sie lebt. Kaufte Blumen und arrangierte sie um Wanetschkas Porträt. Der Kinderfrau kaufte ich Honig und Kringel. Als ich heimkam, räumte L.N. gerade den Schnee von der Eisbahn im Garten. Dann lief er Schlittschuh und wurde so müde, daß er das Mittagessen verschlief und später allein aß. Er hat die Korrekturen abgeschlossen und will sich nun nicht mehr mit „Kunst“ befassen. Er möchte eine neue Arbeit anfangen; angefangen ist im übrigen sehr vieles, aber ob diese Anfänge auch zu einem Ende kommen!

Abends spielte L.N. mit dem Grafen Olsufjew, meinem Bruder Sascha und S.A. Filossofowa Wint. Sonja und Annotschka half ich heute bei der Abreise nach Hause. Serjoscha ist für einen Tag aus Tula gekommen.

Den ganzen Tag war mir ungemein schwer ums Herz. Als ich heute zur Kirche kam, da fingen auf einmal die Vögel an zu zwitschern, die es sich am Dach und beim Tor der Kirche in der Sonne wohl sein ließen. Und trotz des Frostes schien die Sonne hell und schon frühlingshaft. Dabei fielen mir Lermontows Worte ein: „… und die Natur, die gleichgültige, in ihrer ewigen Schönheit strahlt!“[50] Eben, gleichgültig ist sie, trotz aller menschlichen Gefühle, trotz unserer verwirrten, gequälten, aber alles andere als gleichgültigen Herzen.

24. Februar. Wieder hat Lew Nikolajewitsch mit dem Magen zu tun; er klagt über Sodbrennen, Kopfschmerzen und Mattigkeit. Heute beim Essen habe ich mir voll Entsetzen angeschaut, was er aß: erst gesalzene Milchpilze, die aneinanderklebten, weil sie gefroren waren; dann vier große geröstete Buchweizenschnitten mit Suppe, sauren Kwas und Schwarzbrot. Und alles in großen Mengen.

Ich esse zur Zeit das gleiche wie er, d.h. alles, was eine Fastenspeise ist, und habe ständig Verdauungsschwierigkeiten, dabei esse ich nur halb so viel wie er. Was das erst für ihn, den Neunundsechzigjährigen, heißt, diese blähende Kost ohne Nährwert zu sich zu nehmen!

Von Sergei Nikolajewitsch kam ein Brief, der L.N. wie auch uns beunruhigt. Seine Tochter Wera scheint die Schwindsucht zu haben.[51]