Tagebücher in Einzelheften. Heft 8 - Erich Mühsam - E-Book

Tagebücher in Einzelheften. Heft 8 E-Book

Erich Mühsam

0,0

Beschreibung

Erich Mühsam führte zwischen 1910 und 1924 Tagebuch. Er war Lyriker und Anarchist, Satiriker und Revolutionär und einer der führenden Köpfe der Münchener Räterepublik. In seinen Tagebüchern hat er sein Leben festgehalten - ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber - und niemals langweilig. Sie sind ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument. Die historisch-kritische Ausgabe der "Tagebücher" wird seit 2011 von Chris Hirte und Conrad Piens herausgegeben. Sie erscheint in 15 Bänden als Leseausgabe im Verbrecher Verlag und zugleich als Online-Edition unter muehsam-tagebuch.de. Begleitend werden nun die "Tagebücher" in Einzelheften" als E-Books veröffentlicht. Jedes Einzelheft dieser mitreißenden Tagebücher ist mit einem Register versehen und verschlagwortet. Die hier vorliegende Ausgabe ist das Heft 8.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 223

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erich Mühsam

Tagebücher in Einzelheften

Heft 8

7. Januar – 1. April 1912

Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens

Erich Mühsam (1878–1934) hat 15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, sein Leben und seine Zeit im Tagebuch festgehalten, ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber – und niemals langweilig. Mühsam macht die Nachwelt zum Zeugen eines einzigartigen Experiments: Er will Anarchie nicht nur predigen, sondern im Alltag leben. Er läßt seiner Spontaneität, seiner Sinnlichkeit, seinen Überzeugungen freien Lauf und beweist sich und seiner Mitwelt, daß ein richtiges Leben im falschen durchaus möglich ist – man muß es nur anpacken. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Doch sein Sendungsbewußtsein verleiht ihm eine Kraft, die ihn auch über die schlimmen Jahre der bayerischen Festungshaft rettet.

Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt. Sie erscheinen gedruckt in 15 Bänden, als eBooks in 35 Einzelheften und zugleich im Internet auf www.muehsam-tagebuch.de, wo neben dem durchsuchbaren Volltext auch ein kommentiertes Register und der Vergleich mit dem handschriftlichen Original geboten wird.

München, Sonntag, d. 7. Januar 1912.

Peppi ist wie verschollen. Ich schrieb ihr zwei Briefe, in denen ich sie bat zu telefonieren, zu schreiben oder zu kommen. Keine Antwort. Es ist wieder mal echt Mühsam: es kommt mit einem Mädchen bis zu den letzten Präliminarien, aber in dem Augenblick, wo man mit ihr hineinsteigen will, rollt das Bett davon. Diese glaubte ich schon ganz sicher zu haben.

Freitag abend also sollte Gruppensitzung sein. Außer mir waren noch drei Leute gekommen. Da außerdem der Gambrinus-Saal eine Schneiderversammlung beherbergte, zogen wir wieder ab. Torggelstuben, wo ich Uli und Seewald mit Kanders traf. Später Simplizissimus. Ich mußte vortragen. Jeanne war reizend, das Verhältnis mit Thesing scheint jetzt aber perfekt zu sein.

Gestern war Feiertag (Heilige drei Könige). Ich mußte in aller Frühe aufstehen, weil ich um 10 Uhr im Gambrinus vom Ortskartell München der freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften zu einem Vortrag über die Wahlen erwartet wurde. Ich mußte erst die ganze umständliche Geschäftsberichtserstattung und Protokollverlesung mit anhören, die diese Revolutionäre als ärgste Spießerseelen entlarvte. Dann ruhte ich eine halbe Stunde und ging ins Torggelhaus, Mittag essen. Meine Hoffnung auf Peppi trog. Ich saß dann lange allein im Orlando, bis Muhr, Strauß und Meßthaler kamen. Dann ging ich zu Lina Woiwode in die Kanalstrasse. Das Mädel wohnt entzückend. Die ganze Wohnung ist im Rokokostil gehalten und sie paßt ausgezeichnet in die Sammlung famoser Möbel und kleiner Kunstsachen. Sie küßte mich zum Empfang auf den Mund, und es wäre reizend bei ihr gewesen, hätte sie nicht eine Wiener Dame zu Besuch gehabt, die wohl das Dümmste und Peinlichste war, was herumläuft. Alt, häßlich, geschwätzig, gespreizt und von kaum mehr wahrscheinlicher Beschränktheit. Ich bekam Thee mit Butterbrot und Gänseleberpastete. Lintscherl schenkte mir ein allerliebstes Bild von sich als Eva in »Hundstage« und die Küsse, die sie mir gab, trösteten mich über Peppis Untreue.

Ich fuhr heim, und schon kamen Thesing und Tarrasch, die mir Jeanne brachten und wieder abfuhren. Jeanne ließ sich zu meiner Enttäuschung nicht küssen, wehrte sich aber sehr zierlich gegen meine Versuche, indem sie fortlief und sang: »Peut-être demain – peut-être jamais«. Ich fuhr dann mit ihr zum Lustspielhaus. Das Haus überfüllt. Ich mußte ein Billet teuer bezahlen (4 Mk 70). Dahin setzte ich Jeanne. Ich selbst stand während des ersten Aktes. Nachher okkupierten wir beide die beiden für die Polizei reservierten Plätze, die frei geblieben waren. Es gab »Josephine« von Bahr. Ich schätze diese ganze von Shaw besonders kultivierte Art garnicht, Helden zu verkleinern und sie den Butterhändlern im Parkett als ihresgleichen vorzuführen. Aber der große Erfolg des Stückes beruht natürlich darauf. Gespielt wurde keineswegs vorzüglich. Die Roland hatte keine Spur von dem Aristokratischen, das zur Josephine gehört. Sie war wieder reichlich ordinär und geriet manchmal peinlich ins Mauscheln. Weigerts Bonaparte unterm Stiefel. Wie der Mann zu seinem guten Schauspielernamen gekommen ist, wird mir ewig rätselhaft bleiben. Unter den Chargen waren Schwaigers Moustache und vor allem Götz’ Talma gut. Alles andere mittelmäßig und drunter. Die Regie ganz gut. Jeanne war entzückend. Am Schluß des zweiten Aktes wird die Marseillaise gespielt. Da nahm sie meine Hand, und ich merkte, daß sie weinte. Ihr wars wie eine persönliche Ovation, daß sie in einem deutschen Theater plötzlich ihre Marseillaise hörte. – Nachher aber schimpfte sie auf das Stück und ärgerte sich, was man in Deutschland aus »notre bon Napoléon« machte.

Torggelstube. Im Residenztheater war Halbes »Ring des Gauklers« aufgeführt worden. Uraufführung. Ich wollte nicht hinein, obwohl Halbe selbst mir ein Billet zur Verfügung gestellt hatte. Mich regen derlei Dinge sehr auf. Ich habe Halbe sehr gern, und so absolut sicher war ich des Erfolges nicht, und die Foyergespräche bei großen Premieren sind mir zum Kotzen. Gottseidank: es war ein sehr großer Erfolg, und so hatte die Torggelstube einen ganz großen Abend. Halbe brachte Frau und Tochter nebst jüngstem Sohn mit. Ferner: Stolberg und Frau, Mia von Hagen, Waldau, Steinrück, Basil, Rößler, Korfiz Holm, die Swoboda und Randolf, Heinrich Mann, Wilhelm Hertzog, an anderen Tischen verstreut zum Teil Roda Roda und Frau, Etzel und Frau und sehr viele andere. Dann auch Wedekind und Frau. Uli und Seewald erschienen, mit ihnen Strich. Das Puma verblieb annoch in Wilmersdorf. Die wird wieder nett wildern. – Es gab Bowle und Sekt. Ich trank sehr viel. Um 3 Uhr Massenaufbruch ins Odeon-Casino, wo bis 4 Uhr musiziert wurde, und wo wir bis nach 5 Uhr blieben, ein großer Teil der früheren Gesellschaft. Dort trafen wir noch Fritz Behn und Alfred Walter Heymel. Ich poussierte Mia, und mir ist, als hätte ich einen Kuß von ihr erwischt. Nachher der Rest der Gesellschaft, dem sich Uli und Seewald anschlossen zum Donisl. Ein wüstes Lokal. Ich war schon betrunken und glaube, ich habe mich sehr kompromittierlich aufgeführt. So erinnere ich mich einer Volksrede, die ich mit Fritz Behn zusammen hielt. Er fing jedesmal einen Satz an und ich sprach ihn weiter. Ob schließlich eine Empfehlung des Zentrums oder der Sozialdemokraten dabei herauskam, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hatte ich einen Kanonenrausch, als ich um ½ 8 Uhr in der Frühe von Behn und Heymel per Auto heimbefördert wurde.

Morgen schreibe ich die zehnte Kain-Nummer fertig. Heute bin ich doch zu benommen und lendenlahm.

München, Montag, d. 8. Januar 1911.

Ich muß dringend an die Arbeit gehn, auf die Gefahr, daß das Tagebuch darüber zu kurz kommt. Viel zu berichten giebt’s auch nicht. Ich war mit der kleinen Französin im Vortragsabend Henry-Delvard. Sie sind gut, wie sie immer waren: nicht besser als früher, aber distinguierter. Meine Begleiterin war glücklich, französisch singen zu hören. Ich sprach dort mit Dr. Sieveking und Frau, geborene Benda aus Zürich. Nachher Torggelstube, nachdem ich Jeanne an Thesing abgeliefert hatte. Ekert, Heinrich Mann, Steinrück, Seyffert (ein Tropf) und Weigert. Amüsante Gespräche, denen zwei fremde vornehme Herren, die sich an den Tisch verirrt hatten, sehr interessiert zuhörten. Wir sandten an Tilla Durieux ein Telegramm ab, da im »Berliner Tagesblatt« stand, sie sei am Blinddarm operiert worden. Wie Heinrich Mann erzählte, handelt es sich um eine ganz harmlose Geschichte. Sie konnte die Operation vornehmen lassen, wann sie wollte und hat es jetzt getan, weil nicht sie sondern Irene Triesch die Rolle der Königin Christine bekommen hat. So ist sie vor dem Publikum entschuldigt und hat dazu noch die Reklame. Nachher wir alle ins Café Odeon. Steinrück erzählte von den ersten Anfängen seiner Theaterlaufbahn: äußerst unterhaltend. Um 3 Uhr brachte mich Heinrich Mann per Auto nach Hause.

Eben war ein Dr. Schmidt bei mir, ein Österreicher, der vorher bei mir angeklingelt hatte. Er ist, da er in Ungarn zuständig ist, aus Österreich ausgerissen, nachdem er 7 Monate Gefängnis dort abgesessen hat, wegen anarchistischer Reden. Ich weiß aber nicht recht, ob dem Mann ganz zu trauen ist. Ich hatte ein wenig den Eindruck, als ob er bei mir Anarchist, bei Horniffer Monist und vielleicht bei Blei Erotiker wäre. Ich schickte ihn zu Roda Roda. Denn der Rat, den er von mir wollte, auf welche Weise er hier einen Vortrag arrangieren könnte, und mit wieviel Kosten, kam schließlich darauf hinaus, wie er für sich und seine Frau die Reise nach Frankfurt bezahlt kriegen könnte. Hoffentlich glückt es dem armen Kerl, fortzukommen.

München, Dienstag, d. 9. Januar 1912

Ein unglaubliches Wetter. Gestern eisige Kälte. Nachher starker Schneefall. Jetzt Tau und Regen und unermeßlicher Dreck, durch den die Welt in den Karneval watet. Ich kaufte mir gestern – für 6 Mark – ein Passepartout fürs Café Luitpold. Nun kanns also losgehn. Ob Frieda kommen wird? Es scheint nicht, und so bleiben mir die Herzensnöte vom vorigen Jahr erspart. Denn die andern Frauen, vielleicht Lotte ausgenommen, sind nicht imstande, mich mit schlechter Behandlung zu erschüttern. Beweis: Peppi. Ich saß gestern abend im Luitpold, da kam sie herein – mit dem kleinen Herrn Auerbach, der sie damals bei Benz begleitete. Sie war so verlegen, daß ich lachen mußte. Heute wollte sie bestimmt telefonieren und mir alles aufklären. Jetzt ists ein viertel über zwei Uhr. Noch hat sie sich nicht gemeldet. Natürlich ist der Auerbach grade an dem Nachmittage wiedergekommen, wo sie mich in ihr Bett nehmen wollte. So habe ich wieder das Nachsehn. Die kleine Wiegand geht mich eigentlich überhaupt nichts an. Ich nehme sie gelegentlich, weil ich ja leider nichts besseres habe. – Ella, die mir mitteilte, daß sie meine letzte Geldsendung noch nicht erhalten habe, da sie in die Charlottenburger Mommsenstrasse umgezogen ist, scheint nicht mehr daran zu denken, daß sie herkommen wollte. Steinrück wollte neulich wissen, daß sie und Karlheinz Martin demnächst heiraten werden. Sehr möglich. Nicht einmal die Gräfin wird zum Fasching hier sein. Gestern bekam ich mal wieder einen Brief von ihr aus Ascona. »Was macht Ihr Greis? Meiner ist sehr munter.« – Nach München wolle sie nicht wieder. So ist mein Herz eigentlich jetzt ganz frei. Vielleicht helfen die Redoutentage zu einem neuen und dauerhaften Erlebnis. Einmal wird doch wohl auch meinem Begehren geholfen werden. Wie singt Jeanne: »Peut-être demain, peut-être jamais, peut-être même aujourd’hui!« ...

Dem armen Johannes setzen die Schikanen des Lebens wieder niederträchtig zu. Jetzt hat er, da die Polizei ihm ins Leumundszeugnis schrieb, es schwebe gegen ihn ein Betrugs- und ein Unterschlagungsverfahren, von dem halbjährlichen Friedlaender-Geld alle Schulden bezahlt – ich fürchte, er hat am 1. Januar zum letzten Male von der Erbschaft bekommen –, und jetzt hat ihn trotzdem der Rektor vorladen lassen und ihm die Immatrikulationskarte wieder abgenommen. Der arme Junge beschwört mich nun, ich soll in Erfahrung bringen, welchen Betrug er begangen hat. Ich will heute zu Strauß deswegen. Es ist ein Kreuz. Meine Januar-Nummer ist immer noch ganz vernachlässigt. Eventuell werde ich heut mal die Nacht dranwenden.

München, Mittwoch, d. 10. Januar 1911 [1912]

Ich habe mit Morax zusammen ein neues Spiel begründet, das wir jetzt täglich versuchen: Schach, bei dem die Figur, die gezogen werden muß, ausgewürfelt wird. Da wir dabei Strafen und Belohnungen von 1–5 Pf eingeführt haben, ist das Hazardspiel sehr lustig. Eben habe ich 26 Pfennige gewonnen.

Mit der Kain-Nummer 10 bin nun glücklich fertig. Ich glaube, sie ist recht gut geworden, viele Grobheiten nach verschiedenen Seiten, auch wieder an die Adresse der »Münchner Post«, und allerlei über die Reichstagswahlen.

Gestern nachmittag traf ich im Café Odeon Heinrich Mann. Er will bald abreisen, wahrscheinlich nach Nizza. In der Torggelstube saß ich zuerst mit der Swoboda und Randolf, Weigert, Ekert und dem Grafen Keyserling. Als der Champagnerreisende Grimm kam, floh ich an den Tisch, an dem sich inzwischen Wedekind mit Frau, Schwägerin und Neffen und Ida Roland mit Dr. Robert gruppiert hatten. Wedekind sagte allerlei versteckte Bosheiten gegen Halbes »Ring des Gauklers«, den ich morgen abend sehen werde. Robert erzählte, daß der »Drei-Masken-Verlag« ihm die Einreichung der »Freivermählten« angekündigt habe.

An den Wiener Akademischen Verband für Literatur und Musik habe ich endlich den gewünschten Beitrag geschickt (das Gedicht: »Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack – «). Wedekind erzählte, daß auch er etwas hingeschickt habe. Das ist übrigens derselbe Verein, der »Schloß Wetterstein« mit Steinrück und Eveline Sanding aufführen will. Steinrück stellte mir in Aussicht, daß er dafür eintreten will, daß der Verein mir die Reise nach Wien bezahlen soll, damit ich ausführlich über die Vorstellung schreiben kann. Es wäre schön. Ich ginge sehr gern einmal für ein paar Tage nach Wien – schon Johannes’ wegen.

Erotisch bin ich wieder schlecht dran. Küsse kriege ich zwar genug, aber die Möglichkeit zu weiterem fehlt mir ganz. Nun poussiere ich auch noch das zweite Stubenmädel. Sie ist zwar nicht entfernt so hübsch wie die große Blonde, auch viel ordinärer, dafür aber aufrichtig geil und sehr auf Küsse aus. Ich bin gespannt, ob ich eins von den Mädchen mal ins Bett kriegen werde.

München, Freitag, d. 12. Januar 1912.

Halbe hatte mir auf der Kegelbahn gesagt, er wolle zur dritten Aufführung des »Rings des Gauklers« wieder ins Theater gehen und mit mir verabredet, daß ich das Basilsche Billet gegen das neben Halbes Platz umtauschen sollte. Gestern mittag trafen wir uns dann beim Hoftheaterportier, wo die Transaktion vor sich ging. Von da aus zu Bittner. Dorthin hatten wir uns mit Wilm und Körting verabredet. Körting reist in diesen Tagen nach Ägypten und ins Innere Afrikas ab. Auch Etzel war dort. Ich ging bald – in die Torggelstube, Mittag essen. Dort traf ich Muhr, Gotthelf, Strauß und Friedl Münzer, die wegen der angeblich noch intakten Jungfernschaft aufgezogen wurde. Das Mädel ist kuhdumm, aber ganz hübsch. Offenbar legt sie selbst auf die Erhaltung ihrer Virginität wenig Wert. Ich persönlich möchte mich aber bedanken, sie ihr abzugewöhnen. Die wird man so schnell nicht los, wenn man sich mal mit ihr eingelassen hat. – Um 3 Uhr war Redaktionssitzung des »Kometen«. Als ich hinkam, fragte mich Diro Meier, ob ich das aktuelle Gedicht fertig habe für die nächste Nummer. Ich hatte es total vergessen, sagte aber, ich hätte es im Kopf fertig und brauchte es nur noch aufzuschreiben. Ich schrieb dann in der Tat ein zwanzigzeiligesMoritz-Gedicht noch während der Sitzung aus dem Handgelenk nieder, und ich glaube, es ist garnicht übel geworden. Jedenfalls merkt ihm kein Mensch die Improvisiertheit an:

»Der Bürger denkt: Was soll der Bettel?

Nach größern Taten ruft die Zeit.

Er greift zu seinem Stimmenzettel

in stolzer Wahlbeflissenheit – –« in dem Ton geht’s weiter,

ganz flüssig und mindestens so gehaltvoll wie die Verse des Herrn Edgar Steiger im »Simplizissimus« und des Herrn Beda in der »Jugend«.

Beim Kometen macht sich allmählich zwischen Redaktion und Mitarbeitern eine recht gereizte Stimmung bemerkbar. Es ist nie Geld da, so daß Thesing und Bolz (ich bekomme ja nur am Monatsersten) ihre üble Laune sehr deutlich zeigen. Ich halte natürlich der Redaktion gegenüber durchaus zu ihnen, dränge aber von einer Sitzung zur andern auf die Fertigstellung eines Kontrakts, mit dem ich hingehalten zu werden scheine. Wir hatten uns vor Monaten schon auf einen Kontrakt geeinigt, ich hatte ihn auch unterschrieben, habe aber keine Abschrift bekommen. Da das Ende des Unternehmens ja doch Prozesse sein werden, will ich wenigstens was Schriftliches in der Hand haben.

Abends also Residenztheater. Ich saß neben Halbe in einer Parterreloge, allen Augen sichtbar, und folglich etwas betreten. Viele Bekannte im Parkett. Sehr bemerkt wurde es, daß Graf Du Moulin-Eckart, der alldeutsche Professor und Agitator mich begrüßte und ziemlich lange im Gespräch mit mir vor der Loge stehn blieb. Vielleicht denunziert es jemand den Sozialdemokraten. Mir wärs wurscht.

Bei der Aufführung zeigten sich die Schwächen des Stücks deutlicher noch als bei der Lektüre. Die Sprache ist reichlich geschraubt, die Situationen oft garzu künstlich arrangiert. Geradezu komisch wirkt es, daß fast alle, oder überhaupt alle Figuren des Stückes sich zufällig wiedersehn, wiedererkennen. Bei alldem handelt sichs aber doch um ein gutes Theaterstück voll starker Effekte und voll wirksamer Handlung. Gespielt wurde nur teilweise gut. Steinrück und die Hagen in den Hauptrollen waren ausgezeichnet und lieferten ein vorzügliches Zusammen- und Ineinanderspielen. Graumann (der Alchymist Hülff) kam garnicht recht zustande mit seiner Aufgabe. Er quälte sich mit jeder Einzelheit ab und wollte überall charakterisieren. Aber ein einheitliches Bild des Charakters konnte er nicht gestalten, weil er es offenbar innerlich nicht sah. Lützenkirchen war ursprünglich für die Rolle vorgesehen, hatte sie aber blöderweise zurückgeschickt, weil ihm nur der Henning Schwarz genügt hätte für seinen Ehrgeiz. Basil (Kröner) war nicht schlecht, ohne zu imponieren. Merkwürdigerweise als seine Partnerin ausgezeichnet die Swoboda, die hier sein mußte, wie sie sonst faute de mieux ist: ordinär und plump. Ganz schlecht schon wieder die Michalek. Brillant, wenn auch von Wassmann infiziert, Schwanneke. Der alte Wohlmut als alter Chronist sympathisch. Die Regie Basils sehr lobenswert. Ich glaube, ihm dankt Halbe den Erfolg zur Hauptsache. Das Publikum ging bis zu Ende mit, sodaß ich an der Seite des Autors über allerlei Ängste leichter hinwegkam. – Nachher Torggelstube. Zuerst setzte ich mich an den Haupttisch, flüchtete aber von da ostentativ, als Seyffert anfing, wieder einmal hundsdumme politische Polemiken gegen mich zu führen. Halbe kam und Wedekinds Neffe. Wir blieben zu dreien bis ¾ 2 Uhr beisammen. In der ganzen Zeit verlangte Halbe fortgesetzt Urteile über das Stück. Ich sagte ihm vorsichtig aber ehrlich meine wahre Meinung.

Heute gehe ich mit Jeanne in die Bonbonnière. Claire Waldoff, die ich vorgestern nacht im »Simpl« traf, hat mich aufgefordert, ihr heftig zu applaudieren. Ich habe seit Jahren eine Schwäche für das Zwittergeschöpf.

München, Montag, d. 15. Januar 1912.

Wieder zwei Tage nicht eingeschrieben, und natürlich gerade zwei Tage voll mancherlei Erlebnissen. Vor allem ein Brief der vorgestern ankam: von Ella. Sie schreibt, sie wolle bis zum 22ten in Berlin bleiben, fahre dann nach Frankfurt und komme Mitte Februar bestimmt zu mir nach München. Natürlich pumpte sie mich auch um 20 Mk an, die ich ihr umgehend schickte. Jetzt sind die 500 Mk vom Dreimasken-Verlag ziemlich alle. Das Ende des Monats wird sein wie immer: ein gewaltiger Dalles. Ob ich nun wirklich auf Ella hoffen darf? Mich regt der Brief von ihr sehr auf. Ich bin beinahe überzeugt, daß sie sich in Frankfurt mit Martin offiziell verloben wird. Es wäre jedenfalls mal wieder etwas Neues, während der Brautzeit den Gatten zu ersetzen. Wenn nur der »Komet« nicht eines Tages die Zahlungen einstellt! Dann sind all die schönen Pläne Essig. Aber vielleicht hilft der Himmel uns doch endlich auf andere Weise. Heute kam eine Karte von Charlotte. Papa sei am 27ten Dezember wieder krank geworden und bis jetzt sei keine wesentliche Besserung bemerkbar. Er sei schwach, mutlos, deprimiert und ohne Appetit. Trotzdem sei nach Julius’ Meinung kein Grund zu ernster Besorgnis. Immerhin: 73 Jahre ist ein hohes Alter, und das Herz ist ein wichtiges Lebensorgan. Ich habe stärker als je die Empfindung, daß mein Erleben bei der Peripethie angelangt ist.

Freitag abend: Mit Jeanne in der »Bonbonnière«. Aus dem Programm taugt nur die Waldoff etwas, deren Schnodderigkeit prachtvoll ist. Auch ihre Bewegungen und die ganze Art ihres Vortrags wirken glänzend. Sie ist die bei weitem beste Grotesk-Soubrette, die es giebt. Professor Anton Dressler singt eigne Kompositionen, seine sehr hübsche blonde Freundin Rolfs solche von Anton Dressler. Ein Fräulein Bibo singt keineswegs aufregend keineswegs aufregende Chansons. Außerdem giebt es Lichtbilder, von denen nur der Prolog bemerkenswert ist. Meßthaler erscheint kinematographisch und man sieht ihn eine Rede halten. Dann verneigt er sich und verschwindet. Eine recht witzige Parodie auf alle Konferenzen. Das ist alles. Der Raum ist entzückend. Intim, stilvoll, gemütlich. Jeanne wirkte sehr dekorativ, man sah aus allen Winkeln nach unserer Loge. – Später »Simplizissimus.« Ich setzte mich zu Claire Waldoff. Es wurde gehörig geschweinigelt.

Sonnabend: Vom Tage fällt mir nichts Bemerkenswertes ein. Abends: Karnevalsanfang. Modellball in der »Blüte«. Ich ging mit Bolz, den Geschwistern Tarrasch und Thesing hin. Es war unerhört fad. Eine Dame sprach mich an, ein Fräulein Berta Feldmann und bestellte mir Grüße von Lilly Adameck. Lilly! Ich war überglücklich, ihren Namen wieder zu hören. Die reizende liebe Freundin von Frieda Gross. Ich führte Frl. Feldmann in unsere Gesellschaft ein. Sie war in Gesellschaft eines unglaublich dummen und langweiligen Schweizers, namens Pulver. Sie selbst ist Jüdin, trägt eine Stahlbrille, hat die Stirn voller Pickel und studiert Kunstgeschichte. Sie ist recht intelligent, zwanzig Jahre alt, aber prätentiös und sehr wenig anmutig. Nichts für mich. Von der Blüte aus ins Luitpold. Man schrie und lärmte, ohne daß sich irgendwelche natürliche Lustigkeit zeigte. München muß sich in den Karneval erst hineinleben. Ich sprach im Luitpold das kleine pummelige hübsche Mädchen an, das immer im Stefanie und bei Kati Kobus herumsitzt. Sie trug einen gelben Pierrot-Anzug mit Pumphosen, sah reizend aus und nannte sich Maxi. Ich hatte lange die Gelegenheit gesucht, sie anzusprechen und will jetzt weiteres mit ihr zu beginnen trachten. Ich kam, nachdem ich noch mit Thesing im Stefanie Billard gespielt hatte, nach 6 Uhr früh heim.

Sonntag: Mittags waren Uli und Seewald bei mir, die erzählten, Lotte sei wieder in München. Ich erwartete sie den ganzen Nachmittag im Stefanie und suchte sie Abends ebenso vergeblich in der Torggelstube. Dort saß Wedekind mit Frau, Albu, Weigert, Ekert, die Lorm und Gottowt; an einem anderen Tisch Muhr, Eyssler und ein fremder Herr mit Peppi Krchow, Lottchen und noch einem Mädel vom Gärtnerplatztheater. Peppi war sehr betreten, als sie mich sah. Ich spielte den Beleidigten und setzte mich an den Wedekindtisch. Nachher rief sie mich aber und fragte mich leise, ob ich böse sei. Versöhnung. Ich blieb aber bei Wedekind, mit dem ich in sehr interessante Unterhaltung kam: über Autorität in der Ehe. Tilly beteiligte sich lebhaft und sehr geschickt an der Debatte. Sie gab mir in vielem ihrem Mann gegenüber recht. Um 2 Uhr Aufbruch. Der andere Tisch war schon fort. Als wir gingen, kam Eyssler noch einmal ins Lokal. Peppi und Lottchen saßen in einem Auto vor der Tür. Wir alle – außer Wedekind – fuhren jetzt ins Odeonkaffee. Peppi war grantig, bat mich aber im Auto, ich möchte lieb zu ihr sein, auch wenn sie garstig wäre. Sie nahm es mir dann übel, als ich mich, da sie mir den verlangten Kuß verweigerte, an Lottchen schadlos hielt, die mir den Schnabel willig hinhielt. Nach drei Uhr kam ich heim, von Sidonie Lorm und Gottowt im Auto bis an die Schelling- Ecke Amalienstrasse begleitet.

Heute: Vormittags besuchte mich Muschi und erzählte, Consul sei beim Rodeln verunglückt und habe sich den Schenkel gebrochen. Verfluchter Wintersport! – Mittags traf ich endlich das Puma im Café. Sie erzählte von ihren Berliner Erlebnissen. Hubert hatte große Unannehmlichkeiten, da er in Verdacht geriet, mit einem 11jährigen Mädel, der kleinen Stieftochter Hadwigers, kriminelle Scherze getrieben zu haben. Puma scheint diesmal in Berlin nicht allzu ehebrüchig gelebt zu haben. Ella dürfte renommiert haben, da sie mir schrieb, sie hätte dem Puma für mich Küsse mitgegeben. Uli zeigte mir im Café einen Brief von Frick, der mich sehr ärgerte. Er macht »in Friedels Auftrag« ironische Bemerkungen über meine Gedichte an E. B. und die Carmen-Novelle (die ich noch in Friedas Handschrift besitze). Es ergiebt sich aus dem Schreiben, daß Frieda ihn offenbar beauftragt hat, ihrer Verwunderung darüber Ausdruck zu geben, daß ich Peter nichts zu Weihnachten gesandt habe. Ich hatte damals kein Geld. Zu seinem Geburtstag soll er bekommen. Ich begleitete das Puma noch zu Brakl, der ihre Puppenglasstube (mit dem Bett von der Dult) verkauft hat. Lotte kriegt 180 Mk dafür. Ich bin sehr glücklich, daß das geliebte Geschöpf wieder da ist.

München, Donnerstag, d. 18. Januar 1912.

Endlich ist die Januar-Nummer der »Kain« heraus, und ich habe wieder kurze Zeit Ruhe mit dieser Arbeit. Der »Komet« beansprucht indessen viel von meiner Zeit. Eigentlich wächst mir meine Oaha-Tätigkeit doch schon sehr zum Halse heraus. Andrerseits kann ich aber auf die sicheren 200 Mk im Monat absolut nicht verzichten, und der Gedanke, daß die Pleite doch vielleicht in naher Zeit akut sein wird, ängstigt mich beträchtlich. Fuhrmann ist zwar noch gutes Muts. Er behauptet, jetzt eine sichere große Finanzierung in Aussicht zu haben. Aber was sind Aussichten? Mein ganzes Leben hat sich bis jetzt auf Aussichten aufgebaut, und der Ertrag ist minimal bei Licht besehn. Augenblicklich ists mal wieder die Aussicht auf den Tod des Vaters, die mich beschäftigt. Zwar schreibt Hans, daß die nervöse Depression sich zu legen scheine, aber ein Greis von 73 Jahren, glaube ich, ist dann dem Ende am nächsten, wenn ihn der Lebensmut verläßt. Ich gestehe, daß mich der Anblick jedes Depeschenboten erschreckt. Immer ahne ich das Eintreffen der Nachricht von einer plötzlichen Wendung meiner Geschicke. Es ist sehr schlimm für einen Menschen in meinem Alter, das ganze Dasein auf diese Hilfe von außen aufbauen zu müssen. Aber ich weiß zu genau, daß ich die finanzielle Sicherheit brauche, um Rechtes schaffen zu können. Dieser ewige Kleinkampf denerviert und entkräftet mich ganz. Ich kann mich auch nicht zu dem Bürgerglauben entschließen, daß erst dann eine Persönlichkeit gelte, wenn sie die äußeren Nöte des Lebens selbst überwindet. Nahrung, Kleidung, Wohnung und ein gewisser Luxus der Lebenshaltung muß eo ipso garantiert sein, dann wird ein tüchtiger Geist Tüchtiges zeugen können. Ich bin von alledem noch weit ab. Mein Anzug ist schon ganz schäbig, einen neuen kann ich mir nicht kaufen. Mein Geld ist fast ganz zu Ende, zumal ich heut eine Schusterrechnung von 5 Mk 40 bezahlen mußte. Der Gedanke, wieder fortwährend an allen Kanten herumpumpen zu müssen, quält mich entsetzlich. Dabei noch die ewige Wurzerei von allen Seiten. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht Geld verschenke. Bis auf die Straße verfolgen mich die Leute, die von mir Hilfe aus ihren Nöten ersehnen, und jedesmal wieder verführt mich die Vorstellung, daß es den Armen ja viel viel schlechter geht als mir, herzugeben und mich dadurch in weitere Ungelegenheiten zu bringen. Johannes, Ella, Lotte, Uli, alle die Leute, die mich mehr angehn, bekommen infolgedessen viel weniger von mir, als ich geben möchte, und der undelikate Brief Fricks an Uli, der wieder aus einzelnen Wendungen im Kain-Kalender (»der kleine Himmel meiner Liebe«; »das verbogene Wasserrohr«) zotige Symbole herausgedeutet hat, tut mir nachhaltig weh, da ich daraus sehe, wie selbst Friedas, meiner einzigen Frieda Zuneigung wankt, wenn mich Geldmangel gegen Peterle unaufmerksam macht. Die 80 Mk monatlich für den »Kain« sind ein höllisches Stück Geld. 40 Mk – eigentlich 43 – für Johannes sind in ihrer Regelmäßigkeit eine schwer drückende Belastung meines Budgets, – und doch nimmt mir keiner diese Lasten ab, hilft mir keiner, sie auch nur [ein] wenig erleichtern. Gestern traf ich Wolfskehl. Ich erzählte ihm von Johannes’ Not und deutete merklich an, daß ich ihn zu ständiger Unterstützung bewegen möchte. Er versprach, mir zu schreiben. Das war alles. Was wird herauskommen dabei? Eine einmalige kleine Summe, die nicht hin und nicht herlangt, sicher nichts nachhaltig Wirksames. Fuhrmann ließ gestern durchblicken, daß er eventuell geneigt wäre, den »Kain« zu finanzieren. Als ich ihm aber sofort sagte, daß ich seine Hilfe nur annehme, wenn meine Selbständigkeit als Herausgeber, Redakteur und alleiniger Mitarbeiter gewahrt bleibt, schwieg er. Dieselbe Geschichte wie damals mit Gänschen-Eyssler. Wenn das Pack seine miserablen Gedichte gedruckt kriegt, rückt es Geld heraus. Sonst nicht einen Sou.

Gestern sah ich im Schauspielhause Herbert Eulenbergs »Alles um Geld«. Ein ganz herrliches Stück, und es spricht außerordentlich für die Münchner, daß sie ihm den Erfolg bereitet haben, der ihm in Berlin versagt blieb, wo der Karsten Sauer den Vincenz spielte. Es ist schön, daß man endlich romantisches Schauen versteht, auch wenn gegenwärtige Dinge damit gezeichnet werden. Die Aufführung entsprach nicht dem hohen Wert der Dichtung. Die Regie tat garnichts, um das Schattenhafte des ganzen Geschehens zu gestalten. Alles war plump, derb, gradezu und deshalb gegen den Geist des Dramas. Hans Raabe