Tal der Toten - Ria Winter - E-Book

Tal der Toten E-Book

Ria Winter

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Beschreibung

Nominiert für den Seraph-Phantastikpreis 2020 **Wenn die rettende Magie zugleich tödliche Gefahr birgt…** Als die 18-jährige Inari mitten im Herbst einen Strauß Maiglöckchen vor ihrer Hütte findet, ahnt sie, dass nur einer dieses Zeichen hinterlassen haben kann: ihr verstorbener Vater. Denn seit seinem Tod beschützt er das Inkere-Tal vor Eindringlingen. In Inari keimt die Hoffnung auf, er könnte auf magische Weise zu seiner Familie zurückkehren. Sie beschließt die Geheimnisse ihres Tals zu erforschen. Aber je mehr Inari erfährt, desto größer werden ihre Zweifel daran, dass die Magie, die einst ihren Clan vor der Auslöschung rettete, wirklich ein Segen ist.   Mit ihrem Roman gewann Ria Winter beim Schreibwettbewerb von tolino media und Impress den 3. Platz! Die Begründung der Jury: »Ein wundervoller Debütroman, der mit seinem außergewöhnlichen Setting und der einnehmenden Atmosphäre ab der ersten Seite verzaubert!«   //»Tal der Toten« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Seitenzahl: 431

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Ria Winter

Tal der Toten

**Wenn die rettende Magie zugleich tödliche Gefahr birgt …** Als die 18-jährige Inari mitten im Herbst einen Strauß Maiglöckchen vor ihrer Hütte findet, ahnt sie, dass nur einer dieses Zeichen hinterlassen haben kann: ihr verstorbener Vater. Denn seit seinem Tod beschützt er das Inkere-Tal vor Eindringlingen. In Inari keimt die Hoffnung auf, er könnte auf magische Weise zu seiner Familie zurückkehren. Sie beschließt die Geheimnisse ihres Tals zu erforschen. Aber je mehr Inari erfährt, desto größer werden ihre Zweifel daran, dass die Magie, die einst ihren Clan vor der Auslöschung rettete, wirklich ein Segen ist.

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Vita

Danksagung

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© privat

Ria Winter ist in St. Petersburg aufgewachsen, hat dann aber die Newa gegen die Elbe eingetauscht. Heute lebt und arbeitet sie in Hamburg. Am liebsten ist sie in Fantasy-Welten unterwegs, die so bunt und vielseitig sind wie das reale Leben. Mit ihrem Debütroman gewann sie beim Schreibwettbewerb von tolino media und Impress den 3. Platz.

Für meine Oma, die immer an mich und meine Geschichten geglaubt hat.

Prolog

Sie trugen immer mehr Leichen auf die Lichtung. Suvi stand am Waldrand und suchte mit einer Hand Halt am pfeilgeraden Stamm einer Kiefer, während sie mit der anderen ein Tuch vor ihren Mund drückte. Zu ihren Füßen schimmerte die dunkle Mischung aus Blut, Harz und Fischschuppen, mit der sie den Ritualkreis auf die nackte Erde gezeichnet hatten. Die Magie lag dick in der Luft und pulsierte durch den Baumstamm unter Suvis Fingern.

»Das reicht.« Alya hielt die Männer und Frauen auf, die weitere Tote holen wollten. »Wir versuchen es erst mal mit denen hier. Tretet zurück.«

Die Menschen, alle mit den schmalen, dunklen Gesichtern der Lumi, wichen auf der Stelle zurück und verschwanden im Wald. Sie gingen nicht weit – Suvi spürte sie noch zwischen den Bäumen, wie sie sich aneinanderdrückten, voller Hoffnung und Angst. Die Flammen ihrer Leben zuckten im Rhythmus der Magie.

Als Alya Suvi am Waldrand entdeckte, stieß sie einen ungeduldigen Seufzer aus.

»Jetzt komm! Und nimm das verdammte Tuch runter. Die Leichen sind nicht mehr ansteckend, das weißt du doch!«

Sie wusste es. Trotzdem fiel es ihr schwer, das Tuch vom Mund zu nehmen und die faulige Luft einzuatmen. Instinktives Grauen ballte sich in ihrer Brust zusammen, als sie in den Blutkreis eintrat. Die Geräusche des Waldes verstummten wie abgeschnitten. Suvi spürte weder die kühlen Finger des Windes auf ihrem Gesicht noch die Wärme der Sonnenstrahlen. Unter ihren nackten Füßen wanden sich dünne Baumwurzeln wie Würmer in der Erde.

Sie waren zu dritt: Suvi, Alya und Pekko. Die einzigen Schamanen, die von der Seuche verschont geblieben waren. Unter ihnen war Suvi die Einzige, die gar nicht erkrankt war. Pekkos Bein war erlahmt, Alyas Gesicht war ein Feld von Narben. Aber sie waren die Glücklichen. Die Unglücklichen lagen zwischen ihnen auf dem Boden.

Suvi zwang sich, genau hinzusehen. Sie kannte alle Toten mit Namen. Die geschorenen Köpfe, die wächserne Haut und die schlichten weißen Gewänder verliehen ihnen eine Ähnlichkeit, die ihre individuellen Lebensgeschichten auslöschte. Egal, was sie getan hatten, hier lagen sie alle beisammen, getötet von einem unsichtbaren Gift in ihrem Blut. Von der Grausamkeit ihrer Feinde.

»Wir sollten sie den Vivaara vor die Füße werfen«, stieß Suvi aus. »Sollen sie sehen, was sie angerichtet haben!« In der geräuschlosen Welt des Kreises hallte ihre Stimme unnatürlich laut wider.

»Und auf unsere einzige Verteidigung verzichten? Nein.« Pekko legte ihr kurz eine knorrige Hand auf die Schulter. »Denk nicht an Rache. Wir sind hier, um unser Volk zu retten. Denk an die Zukunft.«

»Was für eine Zukunft können wir schon haben?« Suvi breitete die Arme aus, als könnte sie die Berge berühren, die sie von allen Seiten umschlossen. »Wir sind gefangen in diesem Tal! Sie haben uns hierher getrieben, damit wir sterben! Und wenn wir tot sind, zünden sie alles an und ernten unsere Asche!«

»Nicht wenn wir heute Erfolg haben«, sagte Alya grimmig. Ihr Blick ruhte auf einem Toten vor ihr, einem Jungen mit verkrusteten Händen und Füßen. »Die Toten werden uns verteidigen. Niemand wird dieses Tal betreten, wenn wir es nicht erlauben.«

»Und dann?«, fragte Suvi bitter. »Wir sind immer noch gefangen! Sie sind immer noch tot! Wir zögern das Unvermeidliche nur hinaus!«

Alyas Hand schnellte vor und packte Suvi am Kinn. Ihre Finger waren heiß und voller Magie.

»Willst du aufgeben, ja? Dann leg dich hier hin und stirb!« Suvi bleckte die Zähne, bereit, die Frau wegzustoßen, aber da drehte Alya ihren Kopf grob herum, zurück in Richtung des Waldes. »Das ist die Zukunft! Willst du sie aufgeben?«

Dort, wo Suvi eben noch gestanden hatte, am Rande des Kreises, drückte sich nun eine schmale Mädchengestalt gegen den Baumstamm. Verschiedenfarbige Augen, braun und grün, starrten erschrocken zu den Schamanen herüber.

Suvi riss sich von Alya los und zischte das Mädchen an. Es zuckte zusammen, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Dummes Gör«, murmelte Suvi und wandte sich ruckartig ab. In ihrem Rücken spürte sie die Lebensenergie des Mädchens wie einen munteren Bach, der auf dem Weg den Berg herunter nur weiter anschwellen würde, bis er sich in einen unergründlich tiefen See ergoss. Die Magie schwamm darin wie ein flinker Fisch.

Alya und Pekko sahen ihr abwartend entgegen. Ohne Suvi konnten sie das Ritual nicht durchführen. Der Gesang benötigte mindestens drei.

»Na schön«, sagte sie schließlich gepresst. »Aber die Vivaara werden büßen! Dieses Tal wird nicht unser Grab werden!«

»Ein Grab ist nicht das Ende«, sagte Pekko.

Suvi ließ ihren Blick über die ordentlich aufgereihten Toten wandern. Sie warteten: still, entstellt, hilflos.

»Hier nicht«, sagte sie.

Schneeschellen

Es flatterte in Inaris Brust. Sie blieb einen Moment lang liegen und ließ den Atem von ihrem Bauch bis zu ihrer Nase rollen. Wie immer fühlte sich ihr Körper kurz nach dem Aufwachen anders an – als hätte sich in Abwesenheit ihrer Seele in der Nacht etwas anderes darin ausgebreitet, das ihre Glieder hölzern und fremd wirken ließ.

Hinter der Wand hörte sie das vertraute Kratzen des Besens über die Holzdielen. Ihre Mutter war natürlich schon auf den Beinen und fegte den Boden, so wie sie es schon vor dem Zubettgehen getan hatte. Gleich würde sie den Besen beiseitestellen und einen Lappen in den Wassereimer bei der Tür tunken, um die Dielen zu wischen, als hätte sich dort in der Nacht unsichtbarer Schmutz abgelagert.

Inari legte ihren Unterarm über die Augen. Ihre Haut roch nach Schweiß und dem würzigen Rauch der Sauna. Sie sog den Geruch tief ein, um den Rest der Fremdheit zu vertreiben, der sich in ihrer Brust eingenistet hatte. Aber der Druck verschwand nicht. Ihr Körper fühlte sich an wie ein vertrautes, durch jahrelange Nutzung glatt und formlos geschliffenes Ding.

Als nebenan das Klatschen des nassen Lappens zu hören war, setzte Inari sich endlich auf. Blasse Sonnenstrahlen fielen durch einen Spalt in der Fensterlade in die Hütte. Ein vertrauter Anblick: die Feuerstelle in der Ecke, Töpfe und Becher in den Regalen an der einen Wand, die schwere Eichentruhe und ein kleiner Tisch an der anderen, Kräuterbündel, die von den Holzbalken herabhingen, Inaris Bettstatt aus ausgebreiteten Fellen. Es roch nach Kräutern, nach Fisch und nach Rauch. Inari erinnerte sich nicht daran, je anders aufgewacht zu sein.

Die kleine Vogelfigur aus Holz neben Inaris Kissen beobachtete, wie sie das Bärenfell abwarf und ihre braunen Haare geschickt zu einem Zopf flocht. In den runden Augen der Eisente schien ein Abglanz der Traumwelt zu liegen, an die normale Menschen wie Inari sich nicht erinnern konnten. Ohne eine solche Holzfigur, von Schamanen geschnitzt und gesegnet, würde sich die Seele eines Schlafenden im Traum verirren und den Rückweg in dessen Körper nicht mehr finden. Inari kannte die Geschichten ebenso gut wie die anderen Lumi und steckte den Vogel vorsorglich in einen Lederbeutel, den sie sich um den Hals hängte.

»Guten Morgen!« Niska hörte nicht auf zu wischen und sah nicht einmal auf, als Inari das schwere Fell vor dem Eingang in ihr Zimmer beiseiteschlug. »Hast du gut geschlafen?«

Wie eine Tote, lag es Inari auf den Lippen. Aber das war eine veraltete Redewendung. Hier im Tal schliefen die Toten nicht.

»Ja, danke.«

Sie beobachtete einen Moment lang ihre Mutter: ihren gebeugten Nacken, halb bedeckt von einem hellen Haarknoten, die starken, faltigen Hände, die den Lappen auswrangen, die Lippen, die sich lautlos bewegten, während Niska irgendetwas zählte, das nur für sie einen Sinn ergab. Die Luft in ihrem Zimmer war warm und abgestanden, die Fensterläden seit Jahren geschlossen.

»Der Dorfvorsteher will mich heute sehen«, sagte Inari schließlich. Sie achtete darauf, die Türschwelle nicht zu überschreiten. »Brauchst du etwas von unten?«

»Oh, frag Ronna bitte, ob sie einen Krug Bier für uns hat! Wir müssen doch auf deinen Vater anstoßen!«

Inari ließ den Blick fallen, dorthin, wo ihre in dicke Socken gehüllten Füße an die unsichtbare Schwelle stießen, die Niskas Welt von ihrer trennte. Es war zwei Jahre her, seit ihre Mutter es zuletzt geschafft hatte, Inari zu berühren.

»Ich werde sie fragen.«

***

Als Inari nach draußen trat, saß Taavi schon erwartungsvoll neben der Saunahütte und hatte die Ohren aufgestellt. Seine gelben Augen hingen mit leuchtender Aufmerksamkeit an Inari, aber er rührte sich nicht von seinem Wachposten.

»Komm!«, rief sie. Sofort sprang er auf und lief auf sie zu. Sein geschwungener Schwanz schlug aufgeregt von einer Seite zur anderen. Sie warf ihm einen der kleinen Fische zu, die vom gestrigen Fang übrig waren, und er fing ihn in der Luft auf. »Gut gemacht, Brummbär!« Inari musste sich kaum bücken, um dem Hund durchs kurze schwarz-weiße Fell zu streichen. Hechelnd drängte er sich gegen ihre Beine.

Das erste Tageslicht tat sich schwer damit, durch die dichte Nebeldecke zu dringen, die im Herbst über dem Tal lag. Inari konnte die dunklen Stämme der Kiefern und Fichten jenseits der Saunahütte nur erahnen, die die Grenze des Waldes markierten. Der nahende Winter lag in der frostigen Luft, im blassen Sonnenlicht, in dem aufsteigenden Atem vor Inaris Gesicht. Die Kälte war früh dran in diesem Jahr.

Als sie sich aufrichtete und den Bogen an ihrer Schulter zurechtschob, fiel ihr Blick auf ein zartes Weiß auf dem Baumstumpf, den sie zum Holzhacken benutzte. Taavi blieb an ihrer Seite, als sie herüberging und den Tau auf ihren hohen Stiefeln sammelte.

Es waren Schneeschellen. Die kleinen weißen Glockenblüten waren unberührt vom Frost, frisch und lebendig, als wären sie gerade erst gepflückt worden.

Inari hob die Blumen vorsichtig hoch, als könnten sie sich unter ihrer Berührung auflösen wie der Nebel. Die Blüten wippten leicht in ihrer Hand.

Sie hatte seit Monaten keine Schneeschellen mehr gesehen. Ihre Blüten verschwanden, bevor der Sommer an Kraft gewann.

Und doch lagen sie hier, wie ein Gruß des Frühlings.

Ein Schauder lief Inaris Rücken herunter. Um den Holzblock herum wuchs kaum Gras, ein Pfad führte in den Wald. Es war schwer, in dem harten Boden Spuren zu erkennen. Wachsam spähte Inari in die Schatten zwischen den Bäumen, aber dort rührte sich nichts. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet. Taavi schnaubte warm gegen ihre Hand.

»Du hättest Alarm geschlagen, wenn hier nachts jemand herumgeschlichen wäre, oder?«, fragte sie ihn halblaut. Er wedelte noch energischer mit dem Schwanz und schaute ebenfalls in Richtung Wald. »Ja, wir gehen gleich.«

Einen Moment lang betrachtete sie noch die Schneeschellen in ihrer Hand, so zart und unmöglich, dass Inari erwartete, sie zwischen ihren Fingern zergehen zu sehen. Aber sie erzitterten nur leicht im Wind.

Inari seufzte und legte die Blumen zurück auf den Holzblock. Sie hatte keine Zeit für Unmögliches.

»Na gut, an die Arbeit.«

Taavi bellte zustimmend.

***

Der unbehagliche Schauder hatte sich in Inaris Nacken festgesetzt, aber im Wald atmete sie etwas auf. Hier war alles vertraut. Die dunkelgrünen Nadelbäume zeigten sich unberührt vom kalten Herbst. Die Heidelbeersträucher waren rot entbrannt und die dicke Moosdecke von Pilzkappen durchsetzt. Hoch oben zwitscherten Vögel, ein Eichhörnchen huschte den nächsten Ast hoch. Taavi drehte den Kopf und schnüffelte unsichtbaren Spuren am Boden nach.

Auch hier hing zwischen den Bäumen noch Nebel, aber Inari hätte den Weg auch im Dunkeln gefunden. Ihre erste Falle war leer, aber in der zweiten hatte ein Moorschneehuhn sein Leben ausgehaucht. Inari verstaute das Federbündel in der Tasche, die sie um ihre Schulter geschlungen hatte, und spannte die Falle neu.

Wieder hatte sie das Gefühl, dass ein schwerer Blick auf ihr ruhte. Abrupt stand sie auf und sah sich um, aber der Wald verriet nichts. Inaris Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb. Taavi schien ihre Unruhe zu bemerken und spannte sich an, die Ohren gespitzt.

Irgendwo über ihnen ertönte der hallende Ruf eines Kuckucks.

Inari rieb sich hart über das Gesicht.

»Es ist nichts, Brummbär«, sagte sie und kraulte Taavi abgelenkt hinter den Ohren. »Nur Geister.«

Ihre Mutter hätte jetzt gesagt, dass sie zu viel Zeit allein im Wald verbrachte. An Morgen wie diesen drohte die Sehnsucht nach Inaris Vater sich mit scharfen Krallen einen Weg aus ihrer Brust zu graben. Sie vermisste seine breitschultrige Gestalt auf den Waldwegen vor ihr; sein abgehacktes Nicken, wenn er einen Hirsch erspäht hatte; die Lieder, die er auf dem Heimweg gesungen hatte. Inari hatte keine Angst vor dem Wald und der Einsamkeit, aber selbst nach acht Jahren hoffte sie immer noch, Spuren auf dem Boden zu entdecken, die nicht da sein konnten.

Nachdem sie alle Fallen geleert und neu aufgestellt hatte, nahm sie den Bogen in die Hand.

»Such«, sagte sie zu Taavi und er verschwand zwischen den Bäumen. Sie folgte langsam und suchte sich einen möglichst lautlosen Weg zwischen Sträuchern und herabgefallenen Ästen.

Ihre Gedanken kreisten immer noch um ihren Vater. Niska beharrte jedes Jahr darauf, an seinem Todestag auf ihn anzustoßen und Erinnerungen an ihn auszutauschen, aber je älter Inari wurde, desto bitterer wurde diese Tradition.

Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er mit ihr getobt wie mit seinem Hund und sie überall mit hingenommen. Sie hatte auf seinen Füßen gestanden und geschworen, größer als er zu werden. Er hatte gelacht und sie in den Fluss geworfen.

Sie hatte ihn vergöttert – den Mann, der weder Bär noch Wolf fürchtete und die Sprache des Waldes kannte.

Aber je älter sie geworden war, desto mehr hatte er sich von ihr entfernt. Während er tagelang durch den Wald streifte, musste Inari sich um ihre Mutter kümmern, die sich seit dem Ausbruch der Fleckenseuche immer enger in ihren Kokon aus Ängsten eingewoben hatte und immer seltener das Haus verließ. Wie sollte Inari sich nun mit Liebe an einen Mann erinnern, der sie schon allein gelassen hatte, bevor ein gestürzter Baum ihm den Tod gebracht hatte?

Taavi bellte in der Ferne und riss sie aus ihren Gedanken. Inari beschleunigte ihren Schritt. Sie hatte schon seit fast einem Monat kein Reh und schon gar keinen Elch erlegt. Selbst ihre Spuren waren selten geworden. Mit dem Winter vor der Tür wurde es höchste Zeit, dass sie wieder größere Beute machte. Felle konnte Inari in der Siedlung gegen Salz eintauschen, das sie dringend brauchten, um ihre Vorräte haltbar zu machen.

Taavi bellte wieder, aber es klang falsch. Es war nicht das aggressive Bellen und Knurren, mit dem er einen Hirsch stellte, sondern ein fast schon freudiger Laut. Hatte er einen anderen Jäger getroffen? Die Südseite dieses Berges war eigentlich Inaris Jagdgebiet, sie hatte es von ihrem Vater geerbt.

Vorsichtig, den Bogen in der Hand, schlich sie voran, auf das Bellen zu.

Als die Kiefern um sie herum plötzlich zurücktraten, erstarrte Inari. Vor ihr stieg der Waldboden etwas an und öffnete sich zu einer kreisrunden Lichtung. In der Mitte stand eine Gruppe von Birken, dicht an dicht. Ihre hellen Stämme badeten im Licht, als hätte es den Nebel nie gegeben. Um einzelne Äste waren weiße Bänder gebunden und wehten sanft im Wind.

Inari war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, wie nah sie dem Totenhain gekommen war.

Die Vogelstimmen waren verstummt, eine tiefe Stille strömte ihr entgegen. Sie senkte hastig den Bogen und neigte ehrerbietig den Kopf. Zu Füßen dieser Birken wurden die Seelenvögel der Verstorbenen vergraben, damit sie wieder mit dem Land eins wurden. Der Hain war vor elf Jahren gepflanzt worden, nachdem die Lumi ins Tal gekommen waren. Die meisten dieser Toten waren Opfer der Seuche geworden. An dieser Stelle hatten die Schamanen damals auch das Ritual durchgeführt, das die Körper der Toten wieder auferstehen ließ.

Nun war der Hain ein Ort des Gedenkens und der Trauer, eine Verbindung zum Leben vor dem Tal und das größte Heiligtum der Lumi. Niemand sollte ohne Segen der Schamanen hierherkommen. Es fühlte sich falsch an, die Seelenbäume auch nur anzusehen.

Taavi kläffte wieder und Inaris Kopf fuhr in die Höhe. Sie entdeckte den Hund auf halbem Weg zum Hain. Schwanzwedelnd schaute er zu ihr zurück.

»Taavi, nein!«, zischte sie und schnalzte mit der Zunge. »Komm her!«

Er stellte die Ohren in ihre Richtung auf, sah aber wieder zum Hain. Inaris Magen verkrampfte sich. Riefen die Seelen nach ihm? So alt war er doch noch nicht, sie konnte ihn nicht auch noch verlieren …

»Taavi!«

Zögernd verließ sie den Schutz der Bäume. Die Stille legte sich auf sie wie eine dicke Decke. Sie meinte wieder das Flattern in ihrer Brust zu spüren, das jeden Morgen die Rückkehr ihrer Seele in ihren Körper begleitete. Jeder Atemzug fiel ihr schwer. Ihre Beine bewegten sich träge, als würde sie durch ein Moor waten.

Die lichtdurchflutete Baumgruppe vor ihr wirkte sehr weit entfernt, wie am Ufer eines großen Sees. Trotzdem konnte Inari die einzelnen Birken ganz genau erkennen – die weißen Trauerbänder, die eingeritzten Namen in der Borke, die verstreuten Schneeschellen im Gras.

Schneeschellen.

Frisch und lebendig wie im Herzen des Frühlings.

Taavi stupste seine feuchte Schnauze gegen Inaris Hand. Sie spürte es kaum.

Eine Gestalt trat hinter der nächsten Birke hervor. Ein Mann mit kahl geschorenem Kopf und breiten Schultern. Er ließ eine Hand auf dem Baumstamm ruhen, während die andere reglos an ihm herabhing. Sein Blick unter der gerunzelten Stirn ging an Inari vorbei ins Leere.

Es war ihr Vater.

Die Toten und die Lebenden

Inaris Atem stockte. Ihr Herz warf sich schmerzhaft gegen ihren Brustkorb, als würde es sich einen Weg nach draußen bahnen wollen. Sie wagte es nicht zu blinzeln. Ihr Vater stand keine zehn Schritte von ihr entfernt.

»Taavi«, flüsterte sie. Der Hund drückte sich gegen ihre Beine und sie vergrub ihre Finger in seinem dicken Fell, dankbar für die Stütze. Ihre Beine fühlten sich schwach und wackelig an. Taavis Haltung war wachsam, aber nicht ängstlich oder angriffsbereit. Er sah von Inari zu Aleksi, als würde er auf die Erlaubnis warten, seinen alten Herrn zu begrüßen. Aleksi rührte sich nicht vom Fleck.

Er sah so lebendig aus. Nicht so blass und steif wie bei der Totenwache. Ohne sein rotes Haar wirkten seine Ohren größer und sein Gesicht länger, aber Inari hatte ihn trotzdem sofort erkannt. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen war vertraut. So hatte er einen Baum betrachtet, den er fällen wollte, oder ein Wespennest unter dem ausgekragten Dach des Saunahäuschens.

»Papa …?« Inari musste mehrmals schlucken, um das Wort hervorzubringen. Es rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie Angst hatte, seine Antwort nicht zu verstehen.

Aber Aleksi sagte kein Wort. Falls er sie gehört hatte, gab er es durch nichts zu erkennen. Seine braunen Augen, zu Lebzeiten warm und oft gedankenversunken, wanderten ziellos über die Bäume hinter Inari. Sein Gesicht war seltsam schlaff und ausdruckslos.

Die Erinnerung daran, wie die Männer aus dem Dorf Aleksis Leichnam nach Hause gebracht hatten, der Hinterkopf eine einzige blutige Masse, traf Inari mit der Wucht eines Steinschlags. Sie krümmte sich vornüber und kniff die Augen zusammen. Übelkeit trieb ihr kalten Schweiß aus den Poren. Taavis stinkender Atem traf ihre Wange. Seine warme Nähe half ihr, sich wieder auf die Gegenwart zu besinnen.

Langsam stieß Inari den angehaltenen Atem aus. Sie rieb sich mit der Hand über die Brust, wie um ihr rasendes Herz zu besänftigen.

»Er ist es nicht«, sagte sie, eher zu sich selbst als zu Taavi. Es half, ihre Stimme in dieser drückenden Stille zu hören, auch wenn sie dünn und fremd klang. »Es ist nur sein Körper. Papa ist tot, Taavi.«

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und stupste sie mit seiner Schnauze an. Zögernd sah Inari auf. Aleksis leerer Blick traf ihren und sie erstarrte.

Es war nur ein kurzer Moment, in dem sie einander ansahen. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Dann drehte er sich um und verschwand wieder im Totenhain.

Inaris Beine wollten nicht aufhören zu zittern. Sie fiel auf die Knie und grub ihre Hände in die feuchte Erde, als könnte sie daraus neue Kraft ziehen. Alles schien sich um sie herum zu drehen.

»Nur seine Leiche«, murmelte sie und presste ihr Gesicht gegen Taavis warme Flanke. Er leckte ihr über die Stirn.

Inaris Gedanken nahmen taumelnd wieder an Fahrt auf. Sie sog tief Luft in ihre Lungen und drängte die Übelkeit zurück.

Seit wann wanderten die Toten durch den Wald? Die Schamanen teilten sie eigentlich alle auf die drei Pässe und andere kleinere Zugänge ins Tal auf, wo sie dann unermüdlich Wache hielten. Inari hatte noch nie davon gehört, dass einer von ihnen seinen Posten verließ oder gar den Totenhain betrat.

Ihr Blick fiel wieder auf die Schneeschellen, die das Gras vor den Birken tupften. Ein neuer Schauder lief ihren Rücken herab.

War der Tote bei ihrem Haus gewesen?

»Nein«, sagte sie halblaut. Sie nahm Taavis Schnauze in ihre Hände und sah ihm entschlossen in die gelben Augen. »Es ist ein Zufall, stimmt’s? Du hast ihn nicht bei unserem Haus gesehen?«

Er bellte, froh, dass sie wieder halbwegs normal klang. Ungebeten kam Inari der Gedanke, dass er sie genauso unbekümmert zum Hain geführt hatte. Hätte er bei dem Toten, der einmal Aleksi gewesen war, überhaupt Alarm geschlagen oder ihn schwanzwedelnd begrüßt?

Die Übelkeit lief in Wellen durch Inaris Körper. Sie fuhr sich über das Gesicht und wischte den kalten Schweiß ab. Ihre Tasche fühlte sich auf einmal an wie mit Steinen gefüllt.

»Keine Hirsche heute«, sagte sie schließlich und stand auf, immer noch auf Taavi gestützt. »Was hältst du von Lachs?«

***

Niska fragte nicht nach, warum Inari mit Fischen nach Hause kam statt mit Wild. Sie machte sich ans Ausnehmen, während Inari sich für den Besuch im Dorf eine selten getragene langärmelige Tunika anzog – die dunkelblaue, die ihre Augen betonte, wie Niska jedes Mal sagte.

Aleksi hatte die hellen Leinenkleider getragen, die Inari ihm eigenhändig für die Totenwache angezogen hatte. Sie konnte nicht aufhören, die Begegnung mit ihm in ihrem Kopf durchzuspielen.

»Du warst doch gut mit dieser Schamanin befreundet«, sagte sie schließlich, nachdem sie ihre Haare gebürstet und zu einem neuen Zopf geflochten hatte. »Hat sie dir je etwas über den Totenhain erzählt?«

Niskas Messer flog nur so, während sie den Lachs entschuppte. Ihr Gesicht war konzentriert, ihre Lippen bewegten sich – sie zählte, wie oft sie mit der Klinge über den Fischleib fuhr. Erst nachdem sie fertig war, sah sie zu Inari auf.

»Das ist lange her. Wir waren als Mädchen befreundet, ja, aber nachdem Suvi ihre Pflichten als Schamanin übernommen hatte, war sie zu beschäftigt für mich. Und damals hatten wir ja noch keinen Totenhain. Vor dem Ausbruch der Seuche haben wir unsere Toten verbrannt und begraben. Bevor wir ins Tal gekommen sind, sind wir doch durchs Land gezogen wie die Vivaara – erinnerst du dich gar nicht mehr daran?«

»Ein wenig.« Inaris vage Erinnerungen an das Leben vor dem Tal kamen ihr eher wie Bruchstücke eines Traums vor. Sie war sechs gewesen, als die Fleckenseuche angefangen hatte um sich zu greifen – zehn, als ihr Vater gestorben war. Nun, mit achtzehn Jahren, fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, dass ihr Leben je anders ausgesehen hatte.

»Es war schön.« Niska seufzte. »Ich vermisse es, übers Land sehen zu können, ohne sofort auf Berge zu stoßen.«

Ihr Blick drohte sich in Erinnerungen zu verlieren und Inari hakte schnell nach.

»Suvi …?«

»Ah, ja. Wie gesagt, wir hatten nur noch wenig Kontakt vor ihrem Tod. Sie ist kurz nach deinem Vater gestorben – ich habe nie erfahren woran. Sie hatte eine Tochter in deinem Alter, aber ich habe sie nie kennengelernt. Aleksi konnte sie nicht leiden. Und nachdem sie sich geweigert hat zu kommen, als ich so krank war …«

Niskas Gesicht verzerrte sich. Sie klopfte mit ihren Fingerknöcheln gegen den kleinen Tisch, an dem sie stand, zuerst mit der einen, dann mit der anderen Hand. An einem schlechten Tag wäre es damit nicht getan und sie hätte geklopft, bis ihre Finger wund wären. Heute war ein guter Tag.

Inari lenkte das Gespräch hastig von der Seuche weg, bevor ihre Mutter ihr wieder entglitt.

»Aber du hast doch zumindest mal mit ihr gesprochen. Hat sie dir erzählt, ob die Toten den Hain betreten können?«, fragte sie.

Niska zuckte mit den Schultern und widmete sich dem nächsten Fisch.

»Warum sollten sie? Sie bewachen das Tal – warum sollten sie ihren Posten verlassen?«

»Ich weiß nicht. Um ihre Seelenbäume zu besuchen?«

»Inari.« Niska schaute sie stirnrunzelnd an. »Die Toten denken nicht, sie empfinden nicht. Sie erinnern sich nicht einmal daran, wer sie waren, geschweige denn daran, wo ihre Seelenbäume stehen. Es sind nur Körper, das weißt du doch, leere Hüllen. Ihre Seelen sind längst ins Land eingegangen.«

Inari sah auf ihre Hände herunter. Aleksi war tot. Sie wusste das.

Aber wieso hatte er dann die Schneeschellen vor ihr Haus gelegt?

Niska beobachtete sie immer noch, der Fisch für einen Moment vergessen.

»Ich vermisse ihn auch«, sagte sie sanft.

Inari drehte sich abrupt um und machte sich daran, ihre Stiefel anzuziehen. Ihre Hände zitterten.

***

Auf dem Weg herunter in die Siedlung wählte Inari den Pfad, der in großen Schleifen am südlichsten Pass vorbeiführte. An dieser Stelle trafen zwei Bergflanken aufeinander, die mit niedrigen Büschen bewachsen waren, zwischen denen sich ein verwachsener Weg entlangwand. Hier oben schien der Himmel zum Greifen nah und der Wind drückte das Gras dicht an den Boden.

Jenseits des Passes wurde das Land flacher und fiel bis zum Meer herab, aber Genaueres wusste Inari nicht. Sie versuchte sich nicht mit Dingen zu befassen, die außerhalb ihrer Reichweite lagen und es für immer bleiben würden. Zwischen ihr und dem Rest der Welt standen die Berge und die Wut der Vivaara. Und die Toten, die Tag und Nacht Wache standen, damit niemand ins Tal eindrang und die Lumi endgültig ausrottete.

Inari wollte dem Pass nicht zu nahe kommen, aber auch von weitem sah sie die reglosen Gestalten auf dem Weg stehen. Männer, Frauen, Jugendliche – alle, die in den letzten elf Jahren im Tal gestorben waren, fanden ihren Weg an einen der Pässe und traten dort ihren Dienst an.

Es war schwer sich vorzustellen, dass es nötig war, diesen kargen Landstrich zu bewachen. Doch Inari wusste, dass die Schamanen damals einen guten Grund gehabt hatten, das Tal abzuschotten. Der mit den Lumi verfeindete Vivaara-Clan hatte den Ausbruch der Fleckenseuche dazu genutzt, die Überlebenden aus ihrem angestammten Land zu vertreiben und möglichst viele von ihnen zu töten. Das Tal sollte die letzte Grabstätte der Lumi werden. Stattdessen hatten die Schamanen, vor denen die Vivaara sich immer am meisten gefürchtet hatten, das Tal zu ihrer Zuflucht gemacht.

In den ersten Jahren nach der Besiedlung des Tals hatten die Vivaara immer wieder Vorstöße an den Pässen unternommen, doch die Toten waren unermüdliche Kämpfer, die sich von jeder Verletzung erholten. Irgendwann mussten die Vivaara die Sinnlosigkeit solcher Angriffe eingesehen haben. Seitdem lagen die Zugänge zum Tal in trügerischer Ruhe da. Aber wann immer Lumi es gewagt hatten, die Reihe der toten Wächter hinter sich zu lassen, fand man am nächsten Tag ihren abgetrennten Kopf an der Grenze – nicht genug, um den Toten wieder auferstehen zu lassen, doch mehr als ausreichend für eine Warnung. Die Zuflucht war zum Gefängnis geworden.

Obwohl die Totenmagie ein Teil des Lebens im Tal war, durchfuhr Inari bei dem Anblick der toten Wächter ein Schauder. Sie kannte die meisten der Toten, hatte sie zumindest mal in der Siedlung getroffen und war bei ihrer Totenwache dabei gewesen. Es war schwer, sie jetzt wieder zu sehen und sich daran zu erinnern, dass sich hinter den vertrauten Gesichtern nichts Bekanntes mehr verbarg.

Aleksi war nicht unter ihnen.

Inari blieb einen Moment lang auf dem Pfad stehen und kaute unentschlossen auf einer Ecke ihres Schals herum. Was bedeutete es, dass ihr Vater nicht an seinem Posten war? Bewachte er jetzt den Totenhain? Sollte sie im Wald nach ihm suchen?

Sie seufzte und rückte den Schal wieder zurecht. Das war nicht ihr Vater, egal ob er nun Blumen vor die Haustür legte oder nicht. Was erwartete sie – dass sie mit ihm sprechen konnte? Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.

Resolut drehte sie dem Pass den Rücken zu und setzte ihren Weg fort.

***

Alle drei Siedlungen im Tal waren um den großen See herum entstanden, der nach Westen hin in ein Moorgebiet überging. Zu Fuß dauerte es eine halbe Tagesreise, von einem Dorf ins nächste zu kommen, aber wenn es nicht gerade etwas zu feiern oder zu tauschen gab, nahmen die Menschen den Weg selten auf sich. Auch Inari war nur ein paarmal in Alyaheim und Mirhausen gewesen, da sie es nicht wagte, ihre Mutter lange allein zu lassen.

Savholt, benannt nach dem Dorfvorsteher Savo, war die erste Siedlung, die die Lumi im Tal gegründet hatten. Aus den Zelten und Feuerstellen vor elf Jahren waren inzwischen feste Bauten aus Kiefernstämmen geworden – Wohnhäuser, Saunahütten, Werkstätten. Felder, auf denen Roggen angebaut wurde oder Ziegen herumliefen, fächerten sich um die Häuser herum auf. Auf Holzgestellen am Seeufer trockneten Fische. Es gab eine einzige Straße, die sich parallel zum Ufer bis zum großen Haus des Dorfvorstehers zog – das einzige Gebäude, das von einem Wall umgeben war. Zwischen den Häusern wuchsen duftende Sandnelken, Sanddornbüsche und Beerensträucher.

Im Sommer, wenn die Nächte kurz und hell waren, schliefen alle draußen auf dem Marktplatz und ließen Gesänge hin- und herwandern. Manchmal stieg Inari dann vom Berg herab und schloss sich den Feierlichkeiten zum Mittsommer an. Jetzt im späten Herbst war an Tänze unter freiem Himmel jedoch nicht mehr zu denken. Neben den Häusern stapelten sich Holzscheite für die Öfen und die Menschen legten dicke Westen aus Rentierfell an.

Als Inari auf das Haus des Dorfvorstehers zuging, versuchte sie die Blicke zu ignorieren, die an ihr hängen blieben. In einem Hundertseelendorf gab es nur bekannte Gesichter. Alle wussten, wer sie war – die Tochter des toten Jägers und der verrückten Frau. An manchen Tagen nahm Inari die Blicke gern auf sich, um der Einsamkeit zu entkommen, die sie so oft zu ersticken drohte. An anderen krochen sie ihr wie Spinnenbeine über die Haut. Im Wald fühlte sie sich einfach wohler. Vielleicht hatte sie die Distanziertheit gegenüber anderen Menschen von ihrem Vater geerbt.

Zumindest Ronna freute sich, Inari zu sehen. Sie war die beste Freundin von Inaris Mutter gewesen, als Niska noch für Savo gearbeitet hatte, auch wenn ihre Besuche in der Hütte inzwischen selten geworden waren. Ihr breites braunes Gesicht leuchtete auf, als sie Inari entdeckte, wie sie sich einen Weg zwischen den Gänsen auf dem Hof bahnte.

»Ah, Liebes, wie gut, dich zu sehen!« Sie drückte Inari mit ihren mehlbedeckten Händen an sich. Die Wärme des Lehmofens, an dem sie in einem Unterstand neben dem Haupthaus arbeitete, schien sich in ihrer Haut und ihren angegrauten Haaren festgesetzt zu haben. »Du stinkst nach Hund!«, rief sie aus und Inari konnte sich bildlich vorstellen, wie sie die Nase kräuselte. »Wie geht es Niska?«

»Gut.« Inari hatte keine Eile, sich aus ihrer Umarmung zu lösen. Ronnas kräftige Arme schienen etwas in ihr wieder zurechtzurücken, was unaufhaltsam auseinanderdriftete, seit ihre Mutter sie nicht mehr berührte. »Sie bittet um einen Krug Bier, falls du einen übrig hast.«

»Aber natürlich!« Ronna fasste sie an den Schultern und musterte sie stirnrunzelnd. Sie musste zu Inari aufsehen, aber das änderte nichts an ihrem kritischen Gesichtsausdruck. »Wie geht es denn dir, Liebes? Es ist nicht gut, dass du immer nur dort oben im Wald hockst und nie eine Menschenseele siehst! Dein treues Tochterherz in allen Ehren, aber du kannst nicht die ganze Zeit nur an Niska denken! Wann willst du eine eigene Familie gründen?«

Inari genoss den Redeschwall wie einen unerwarteten Sommerregen. Es war jedes Mal das Gleiche und doch war Ronnas Sorge immer wieder tröstlich.

»Ich habe schon eine Familie«, sagte sie, wie jedes Mal. »Taavi und meine Mutter reichen mir.«

Ronna schnaubte und ließ sie los. Inari hielt sich gerade noch davon ab, sich wieder an sie zu drängen wie Taavi, wenn er gekrault werden wollte.

»Du kommst wirklich ganz nach deinem Vater.« Bei ihr war es schwer zu sagen, ob das etwas Gutes oder Schlechtes war. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder dem hohen Tisch zu, an dem sie den Teig für die Piroggen ausrollte. »Hat Savo dich gerufen?«

»Ja. Weißt du, was er von mir will?«

»Hm, vielleicht hat es irgendetwas mit dem Schamanen zu tun. Ich habe kein gutes Gefühl, seit er hierhergekommen ist. Er hat uns verboten, nachts das Haus zu verlassen, kannst du das glauben?«

Inari zögerte. Sie konnte Ronna nicht sagen, dass sie ihren Vater gesehen hatte – dann würde es bis zum Abend ganz Savholt wissen. Aber wenn es Neuigkeiten gab, erfuhr Ronna als Erste davon.

»Besucht er eigentlich mal die Toten?«, fragte Inari wie beiläufig.

»Savo?«

»Nein, der Schamane.«

Ronna pustete sich eine Haarsträhne aus den Augen, ohne beim Ausrollen innezuhalten. Ihre hochgekrempelten Ärmel entblößten kräftige Unterarme, die von wulstigen Narben gezeichnet waren. Sie hatte schwer mit der Seuche zu kämpfen gehabt.

»Ab und zu geht er hoch zum Pass. Aber ich würde es nicht Besuch nennen – da kann man ja genauso gut einen Stein besuchen!«

»Warst du mal da?« Um von der Frage abzulenken, machte Inari sich daran, den Schal von ihrem Hals zu wickeln.

»Aber nein, was soll ich denn da?« Sie machte sich daran, den Teig in kleinere Stücke zu schneiden und Steckrübenmus darauf zu verteilen. »Mir läuft ein Schauder über den Rücken, wenn ich nur daran denke … Hat schon gereicht, Leevi nach der Totenwache von der Bahre aufstehen zu sehen, mit diesen leeren Augen.« Sie schüttelte sich.

Inari senkte den Blick. Die Wärme, die sie eben noch so angenehm und sicher umhüllt hatte, fühlte sich auf einmal drückend an. Unwillkürlich rieb sie sich über die Brust.

»Ich gehe dann mal und finde heraus, was Savo von mir will«, sagte sie, ohne aufzusehen.

»Vergiss nicht, das Bier mitzunehmen, wenn du gehst!«

***

Der Dorfvorsteher war gerade im Stall und redete leise auf eine schöne braune Stute ein.

»Das Fohlen hat es nicht geschafft«, sagte er zu Inari, bevor diese auch nur ein Grußwort herausbringen konnte. Sein graues Gesicht verriet, dass er die ganze Nacht wach geblieben war. »Eine Schande. Das ist schon das dritte in diesem Jahr.«

»Das tut mir leid.« Inari blieb neben ihm stehen und streichelte die weiche braune Nase. Die Stute schnaubte, ebenso müde wie ihr Herr. Savo seufzte.

»Deinem Hund geht es gut?«, fragte er.

»Ja, ich habe ihn bei meiner Mutter gelassen.«

»Pass gut auf ihn auf. Beim Rudel in Mirhausen sieht es gar nicht gut aus, sie wissen nicht, ob es im nächsten Jahr überhaupt noch Nachwuchs geben wird. Jedes Tier ist kostbar.«

Inari nickte. Sie hatte Ronna gegenüber die Wahrheit gesagt, als sie Taavi als Mitglied ihrer Familie bezeichnet hatte.

»Du wolltest mich sehen?«, fragte sie.

»Lass uns ein Stück gehen.« Nach einem letzten Klopfen gegen die geschmeidige Flanke wandte Savo sich ab und verließ den Stall. Das Sonnenlicht gab seinen Wangen wieder etwas Farbe zurück, betonte aber die tiefen Falten in seinem Gesicht und das graue Haar an seinen Schläfen. Als er Inari endlich seine volle Aufmerksamkeit widmete, straffte sie unwillkürlich die Schultern unter seinem durchdringenden Blick. Sie war größer als er. »Ich weiß, du bist nicht meine Waldhüterin, Inari, aber niemand verbringt so viel Zeit da oben wie du. Ist dir in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Vor ihrem inneren Auge sah sie blitzartig die Schneeschellen vor ihrem Haus, die Gestalt ihres Vaters zwischen den Birkenstämmen, Taavis wedelnden Schwanz.

»Was genau meinst du?«, fragte sie vorsichtig.

Er strich sich über seinen Vollbart und ließ seinen Blick über den Hof wandern, wo zwei Halbwüchsige gerade damit anfingen, Körner für die Gänse zu streuen. Das Geschnatter der Vögel war so laut, dass Savo die Stimme heben musste.

»Ich mache mir Sorgen, dass eine Krankheit unter dem Wild grassiert. Oder vielleicht stimmt mit dem Wasser etwas nicht. Wir fangen weniger Fische als sonst.«

Inari gab ein nachdenkliches »Hm« von sich. Ihre Haltung entspannte sich etwas. Das war vertrautes Terrain.

»Es wird dieses Jahr früher kalt. Die Wildgänse sind auch schon nach Süden gezogen«, gab sie zu bedenken.

»Wir haben gestern eine tote Hirschkuh in der Nähe des Dorfes gefunden – jung, gesund, ohne äußere Verletzungen. Es sieht aus, als wäre sie einfach tot umgefallen.«

Inari runzelte die Stirn. Savo musste ihr die Sorge in seinem Tonfall nicht erst erklären. Falls sich im Tal tatsächlich eine Krankheit unter den Tieren ausbreitete, könnten sie hier nicht mehr überleben.

»Ich schaue mir den Kadaver mal an«, sagte sie. Er nickte. Dann richtete sich sein scharfer Blick wieder auf sie und er senkte die Stimme.

»Vielleicht ist es auch Gift.«

Inaris Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Gift? Hast du jemand Bestimmten in Verdacht?«

Er spuckte aus und verzog das Gesicht.

»Die verdammten Vivaara, wen denn sonst? Sie wollen das Tal für sich! Sie warten schon seit Jahren darauf, dass wir endlich krepieren!«

Inari musste sich sehr beherrschen, um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck zu wahren. Wenn er von den Vivaara sprach, meinte er Mikael und Kerttu – sie waren die einzigen Vivaara in Savholt, vermutlich die einzigen im ganzen Tal.

»Mikael und Kerttu leben schon seit ihrer Geburt bei uns«, sagte Inari mit Nachdruck. »Ihre Familie wurde zusammen mit unserem Clan hierher getrieben. Warum sollten sie uns jetzt verraten?«

Savo musterte sie forschend, bevor er schließlich den Kopf schüttelte und wegsah.

»Du kannst es nicht sehen, Inari. Aber hör auf meinen Rat – halte dich von ihnen fern. Wenn unsere Toten nicht das Tal bewachen würden, hätten die Vivaara uns längst überrannt. Und deine … Freunde würden ihnen helfen, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Die Art, wie er Freunde aussprach, schien sich um Inaris Hals zu schließen und ihr die Luft abzudrücken. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder Worte herauspressen konnte.

»Ich werde mir die Hirschkuh ansehen«, sagte sie flach. »Falls ich etwas finde, sage ich es dir.«

Er nickte. Seine Aufmerksamkeit war wieder woanders – zwei Fischer hatten den Hof betreten, mit ihrem Fang über den Schultern, und winkten Savo herüber. Er marschierte zu ihnen, ohne sich von Inari zu verabschieden.

Sie wickelte sich langsam wieder den Schal um den Hals, den Kerttu ihr gestrickt hatte.

Nea

Ronna drückte ihr nicht nur das versprochene Bier in die Hand, sondern auch eine süß duftende Pirogge. Statt sofort in den Wald zu gehen, um den Kadaver zu untersuchen, wanderte Inari durch Savholt und drehte die Teigtasche in ihren Fingern. Es war lange her, dass sie eine gegessen hatte, aber der Gedanke an Niska ließ sie zögern. Sollte sie die Pirogge nicht ihrer Mutter mitbringen? Die Wärme der Teigtasche zog sich verführerisch von ihren Händen durch ihren ganzen Körper. Wie lange war es her, dass sie sich etwas gegönnt hatte, etwas nur für sich allein?

Schließlich biss sie hinein, schuldbewusst, aber umso gieriger. Die Süße der Steckrübenfüllung explodierte in ihrem Mund, die Stückchen knirschten befriedigend zwischen ihren Zähnen. Inari schlang die Pirogge hinunter wie Taavi Hirschfleisch, als könnte ihr jeden Moment jemand ihre Beute wegnehmen. Schließlich leckte sie sich über die Lippen und seufzte. Die klebrige süße Zufriedenheit mischte sich schon wieder mit Reue.

Bevor sie Savholt verließ, führten ihre Beine sie wie von selbst zu einem vertrauten Haus am Dorfrand. Es unterschied sich auf den ersten Blick kaum von seinen Nachbarn, aber Inari wusste, worauf sie achten musste: die Holzschindeln auf dem Dach, wo die anderen Häuser mit Reet gedeckt waren, das kunstvoll verzierte Bündel schwarzer Federn, das sich über der Tür im Wind drehte, die gelbe Farbe, die auf der Innenseite der Fensterläden zum Vorschein kam. Spuren einer Kultur, die es im Tal sonst nirgendwo gab.

Mikael und Kerttu hatten zwar ihr ganzes Leben unter den Lumi verbracht, aber Kerttu klammerte sich hartnäckig an allen Vivaara-Bräuchen fest, die sie kannte – sie hängte Krähenfedern auf, um Unglück abzuwehren, trank keinen Alkohol, außer zur Wintersonnenwende, und trug ihre Haare immer offen. Sie waren die Letzten ihrer Familie, beide Überlebende der Seuche, und Kerttu ließ sich auch durch gelegentliche Feindseligkeiten von den anderen Dorfbewohnern nicht davon abhalten, dieses Erbe zu ehren.

Dieser sture Stolz war es, der Inari zuerst zu ihr hingezogen hatte, doch jetzt gingen ihr Savos hasserfüllte Worte nicht mehr aus dem Kopf. War das nur Gerede oder schwebten die Geschwister tatsächlich in Gefahr?

Ohne dass sie es bemerkt hatte, waren ihre Schritte langsamer geworden und sie war vor dem Haus stehen geblieben. Das Fischerboot war nicht da, also musste Mikael draußen auf dem See sein. Kerttu wälzte sich wahrscheinlich noch im Bett herum – wenn es keinen Notfall gab, der ihre heilkundigen Hände erforderte, schlief sie gern in den Tag hinein.

Inari könnte zur Tür gehen und klopfen – oder wie im Sommer durchs Fenster direkt in Kerttus Schlafzimmer klettern, unter ihre Bettdecke gleiten, ihr schlafwarmes Gesicht küssen …

Inari leckte sich den Rest Süße aus dem Mundwinkel und wandte sich abrupt ab. Sie würde nicht wieder angekrochen kommen, nur weil sie sich einsam fühlte. Kerttu wollte heiraten – irgendeine Verehrerin aus dem Dorf. Oder zumindest hatte sie das bei ihrem letzten Streit behauptet. Vielleicht war das auch nur eine Lüge gewesen, um Inaris Gefühle auf die Probe zu stellen. Es wäre nicht das erste Mal. Aber diesmal war Inaris Geduld am Ende. Sollte Kerttu doch heiraten oder auch nicht. Sie tat ohnehin immer nur das, was sie wollte.

Die Gedanken waren bitter, resigniert. Inari beschleunigte ihre Schritte, um sie hinter sich zu lassen.

***

Savo hatte ihr beschrieben, wo sie die Hirschkuh gefunden hatten. Die Stelle war nicht weit von Savholt entfernt, gleich an dem ersten der Bergflüsse, die östlich des Dorfes im See mündeten. Ein guter Ort, um Gift zu streuen, falls Savo Recht hatte.

Inari machte viel Lärm, damit Bären ihr ausweichen konnten, wenn sie sie hörten. Sie wünschte sich, Taavi dabeizuhaben oder zumindest ihren Bogen. Ihr Jagdmesser war zwar scharf, aber keine Hilfe gegen große Raubtiere. Aber der Wald war ruhig um sie herum – fast schon zu ruhig. Als hielte er den Atem an.

Als Inari jemanden am Fluss knien sah, war sie nicht überrascht. Aber sie hatte mit einem anderen Jäger gerechnet, vielleicht mit einem von Savos Männern, nicht mit einem Mädchen in ihrem Alter.

»Hallo«, sagte sie vorsichtig. »Ist alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?«

Das Mädchen sah langsam auf, als wäre es nicht überrascht von Inaris Ankunft. Es hatte ein rundes, ernstes Gesicht und einen zierlichen Körperbau. Die aschblonden Haare wirkten im Schatten der Bäume grau und fielen ihr nur bis zum Kinn. Geschnitzte Knochenringe hingen an ihren Ohren und um ihren Hals.

Nachdem sie Inari einen langen Moment betrachtet hatte, ohne ihren Gruß zu erwidern, senkte sie ihren Blick wieder. Jetzt erst entdeckte Inari den Kadaver zu ihren Füßen – die Hirschkuh, wegen der sie hier war. Auf den ersten Blick hatte Savo recht: Es gab keine äußeren Verletzungen, das Tier wirkte jung und gut genährt. Es war noch nicht lange tot.

»Fass es lieber nicht an«, sagte Inari zu dem Mädchen, nachdem sie neben ihm in die Hocke gegangen war. »Es könnte krank sein.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf und bewegte seine Hände in einer schnellen Abfolge von Fingerzeichen. Inari blinzelte überrascht.

»Kannst du das etwas langsamer wiederholen?«, bat sie. »Ich bin ein wenig aus der Übung.«

Diesmal sah sie genauer hin und verstand die Bedeutung.

»Es ist nicht krank«, sagte das Mädchen mit seinen Händen. »Sonst hätten die anderen Tiere es nicht angerührt.«

Inari folgte ihrem Kopfnicken und sah die aufgerissenen Stellen im Bauchbereich, wo sich offenbar ein Fuchs oder ein Wolf schon an dem Kadaver gütlich getan hatte. Die Wunden wirkten frisch. Vielleicht hatte das Mädchen die Tiere von ihrer Beute vertrieben.

»Nicht jede Krankheit wird von anderen Tieren erkannt«, gab Inari zu bedenken.

Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen.

»Und was machst du dann hier? Hast du keine Angst, dich anzustecken?«

»Savo hat mich gebeten, mir den Kadaver anzuschauen.« Inari begleitete ihre Worte zögernd mit den Händen. Viele Überlebende der Seuche hatten ihr Gehör verloren, manche auch ihr Augenlicht. Mit Mikael hatte Inari auch nur in der Gebärdensprache reden können, aber wegen ihres Streits mit Kerttu war es eine Weile her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Ihre Hände bewegten sich langsam, als müssten sie erst aus dem Winterschlaf erwachen.

»Das brauchst du nicht.« Das Mädchen machte eine ungeduldige Handbewegung, als würde es Inaris ungeübte Gebärden abwehren. »Ich kann dich hören.«

Inari hob die Augenbrauen, aber das Mädchen führte nicht aus, wie es seine Stimme verloren hatte.

»Ich heiße Inari«, sagte sie schließlich. »Ich wohne oben auf dem Berg, in der Nähe des südlichen Passes.«

»Ich bin Nea.« Der Name war ein elegantes Flattern ihrer Finger. Auch am linken Handgelenk trug sie einen Knochenreif, der so eng anlag, dass Inari sich fragte, wie sie ihn je abnahm. Keine Narben, zumindest nicht dort, wo man sie sehen könnte. Neas Hände waren so weich und glatt, dass Inari sich fragte, ob sie jünger war, als sie sie eingeschätzt hatte.

»Ich habe dich noch nie im Dorf gesehen«, sagte Inari.

Nea zuckte mit den Schultern.

»Ich bin viel unterwegs.«

Bevor Inari sie davon abhalten konnte, berührte Nea die Schnauze der Hirschkuh und strich ihr in einer zarten Liebkosung über die Nase. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, sie wirkte gequält. Vielleicht hatte sie noch nie zuvor ein totes Tier aus solcher Nähe gesehen.