Taliel: Erwachen - Sascha Schröder - E-Book

Taliel: Erwachen E-Book

Sascha Schröder

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Beschreibung

“Stelle keine Fragen, für deren Antworten du nicht bereit bist.” Cathryne Bennett ist Schülerin einer Privatschule in London. Aber sie kommt mit dem Leistungsdruck nicht klar. Auch die Tatsache, dass sie niemanden hat, mit dem sie reden kann, nagt an ihr. Das ändert sich erst, als zwei neue Schülerinnen in ihre Klasse kommen. Die beiden sind so verschieden wie Tag und Nacht, doch beide geben Cathryne das Gefühl, endlich wieder Freunde zu haben. Plötzlich wird Cathryne jedoch von Albträumen geplagt, die ihr die Zukunft zeigen, und ein gemeinsamer DVD-Abend endet in einer Geisterbeschwörung, die Cathryne das Blut in den Adern gefrieren lässt. Auf ihrer Suche nach Antworten muss sie erkennen, dass nur eine von beiden auf ihrer Seite steht, während die andere versucht, sie zu töten. Und plötzlich sieht sie sich mit der Wahrheit, nach der sie so lange gesucht hat, konfrontiert. Eine Wahrheit, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt… “Taliel: Erwachen” ist der Auftakt zu einer neuen Fantasy-Reihe, die eure Fantasie buchstäblich beflügeln wird.

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Table of Contents

Titel

Hinweis

Zitat

Teil 1

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 2

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Teil 3

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Nachwort

Charakterverzeichnis

Karte der Academy

Impressum

Claudia und Sascha Schröder

Die folgende Geschichte ist ein rein fiktives Werk. Die Autoren distanzieren sich hiermit ausdrücklich vom Versuch der Gotteslästerung.

Alle handelnden Personen sind rein fiktiv und beruhen auf Vorlagen der Bibel sowie auf eigener Inspiration. Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.

 

Wir sind alle Engel mit nur

einem Flügel - um fliegen zu können,

müssen wir uns umarmen.

Luciano De Crescenzo

Teil 1

Der Vogel im Nest der Lüge

Prolog

 

Es hatte zu regnen begonnen. Als Melissa Bennett und ihre Tochter Cathryne das Kino verlassen hatten, war es nur windig gewesen. Doch kaum erreichten sie das Auto, ging ein Wolkenbruch nieder. Schnell rissen sie die Autotüren auf und stiegen ein.

»Das war knapp«, sagte Cathryne atemlos. »Eine Sekunde später und wir wären richtig nass geworden.«

Der Regen prasselte in dicken Tropfen herunter. Die Scheibenwischer hatten Mühe, für eine klare Sicht zu sorgen, sodass sie nur langsam vorankamen.

»Mum, ich danke dir für diesen schönen Abend.«

»Gern geschehen, mein Schatz.«

Cathryne blickte durch das Seitenfenster.

»Mum, muss ich wirklich auf diese neue Schule?«

»Oh ja, da führt kein Weg dran vorbei.«

»Aber ich kenne dort doch niemanden.«

»Das kommt noch, keine Sorge.«

»Ich hoffe, du hast recht «, seufzte Cathryne.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erblickte sie in der Ferne ihr neues Zuhause.

Sie waren erst vor ein paar Monaten eingezogen, aber Cathryne hatte sich schnell eingelebt. Es war weitaus größer als ihr altes Haus, und theoretisch gesehen hatte sie eine Etage für sich alleine.

Melissa stellte den Wagen vor dem Haus ab und gemeinsam hechteten sie zur Vordertür.

»Ich lasse den Wagen mal draußen stehen«, sagte Melissa lachend, »das spart mir die Wäsche.«

Cathryne kicherte. »Was machen wir jetzt noch?«

»Wie wäre es, wenn wir uns noch eine DVD ansehen?«, schlug Melissa vor.

»Super Idee. Ich suche schon mal einen Film aus.«

»Mach das! Ich hole uns nur schnell eine Tüte Chips aus der Küche.«

Cathryne lief durch den Eingangsbereich ins Wohnzimmer, das sich links vom Eingang nahtlos anschloss. Die Dielen knarzten noch leicht, als sie in Richtung Schrank lief. Der Boden war einige Wochen vor ihrem Einzug neu verlegt worden. Edelstes Parkett, wie der Vermieter bei der Besichtigung immer wieder betonte.

Sie hockte sich vor dem massiven Buchenschrank nieder und überblickte die DVD-Sammlung, die sich links neben dem Fernseher befand. Schnell hatte sie gefunden, was sie suchte und schob die Disk in den Player. Als das erste Bild des Films aufleuchtete, stand sie auf und ging zu der Fensterfront hinüber. Mit einem Ruck zog Cathryne die weißen Baumwollvorhänge vor die bodentiefen Fenster, die den Blick in den Garten freigaben.

Kurz darauf rückte sie die terracottafarbenen Sessel zurecht, auf denen sie und ihre Mutter den Film genießen wollten.

Zu guter Letzt schob sie noch den kleinen Wohnzimmertisch zwischen den TV-Schrank und die Sessel.

Danach dimmte sie das Licht, um eine kuschelige Stimmung zu schaffen.

Sie sah sich um und war mit dem Ergebnis ihrer kurzfristigen Umbaumaßnahmen zufrieden.

»Cathryne«, hörte sie ihre Mutter rufen. »Cathryne!«

Der panische Unterton in der Stimme versetzte Cathryne in Alarmbereitschaft.

»Mum? Ist alles in Ordnung?«

Schnell eilte sie zu ihrer Mutter in die Küche.

»Was ist denn los?«, fragte sie Melissa, die wie erstarrt in der Tür stand, den Blick steif auf den Boden gerichtet.

Cathryne folgte ihrem Blick. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab.

In der u-förmigen Küche mit den Arbeitsplatten aus Nussholz waren alle Türen und Schubladen der vanillegelben Schränke aufgerissen worden. Das Besteck lag in einem seltsamen Muster, aber feinsäuberlich aufgereiht, auf dem Boden.

»Was ist hier passiert?«, fragte Cathryne tonlos.

»Ich weiß es nicht.«

»Mum, wenn hier eingebrochen wurde …«

Melissa erwachte aus ihrer Trance. »Oh Gott.« Sofort rannte sie zu dem Tresor, der sich in ihrem Büro im ersten Stock befand.

Cathryne untersuchte währenddessen das Besteck. Sie erkannte, dass aus den Messern, Gabeln und Löffeln ein gleichmäßiger Stern geformt worden war. Sie hatte etwas Derartiges schon einmal gesehen, aber ihr fiel nicht ein, wo.

Wer hat das getan, dachte sie. Plötzlich spürte sie einen kalten Hauch, der sanft ihren Nacken streifte. Sie wusste instinktiv, dass sie nicht allein im Raum war. Ein Kichern riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken drehte sie sich um und blickte in zwei smaragdgrüne Augen.

Verängstigt wich sie einen Schritt zurück. Vor ihr stand ein junges Mädchen. Ihr Haar war schwarz, zerzaust und etwas kürzer als Cathrynes braune Haare. Ihre Zähne waren ungepflegt und standen leicht schief. Sie trug ein einfaches Kleid aus Leinen, das hier und dort beschmutzt war. Außerdem war sie barfuß.

Cathryne war vor Angst wie gelähmt. Ihr Blick klebte an dem Mädchen, das ihr gegenüberstand. Ihr stockte der Atem.

»Oh, das tut mir Leid«, sagte sie mit glockenklarer Stimme. »Ich wollte euch nicht erschrecken, ich wollte nur meinen Spaß haben.«

Das Mädchen schob sich an Cathryne vorbei. Ihre kalte Haut jagte Cathryne einen Schauer über den Rücken und brachte sie wieder in die Realität.

Cathryne schnappte nach Luft. »Mum«, flüsterte sie. Erst beim zweiten Mal fand sie ihre Stimme wieder. »Mum!«, schrie sie panisch.

Sofort kam Melissa herbeigeeilt.

»Was ist los, Schatz?«

»Da ist ein …« Cathryne deutete auf die Stelle, wo eben noch das Mädchen gestanden hatte. Von einer Sekunde auf die andere war sie jedoch verschwunden.

»Ich schwöre dir, hier stand eben ein Mädchen.«

»Beruhige dich«, sagte Melissa mit zitternder Stimme.

»Hier ist niemand, außer uns beiden.«

»Mum, sie war hier. Gerade eben noch war sie hier!« Cathryne schüttelte den Kopf, als ob sie damit ihr Entsetzen abschütteln könnte.

»Dieses Mädchen … es war kalkweiß und eiskalt …«

Melissa nahm ihre Tochter in den Arm.

»Sch, es ist gut. Es war ein langer Tag …«

»Mum, sie war hier. Bitte glaube mir doch.«

»Cathryne.« Jetzt nahm sie das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände.

»Menschen verschwinden nicht einfach. Ich bin mir sicher, dass irgendein Einbrecher dieses Chaos angerichtet hat. Gott sei Dank ist nichts gestohlen worden. Aber ich werde morgen den Vermieter anrufen, damit er eine Alarmanlage installiert.«

»Mum, ich schwöre dir, es ist wahr. Da stand ein Mädchen, genau dort, wo du jetzt stehst.«

Diesmal schüttelte Melissa ihr Haupt.

»Du solltest jetzt besser schlafen gehen. Und wir schauen uns am besten keine Horrorfilme mehr im Kino an. Das nächste Mal suche ich den Film aus.«

Widerwillig stieg Cathryne die Treppe hinauf. Ihr Zimmer lag am Ende des Ganges.

»Wieso glaubt sie mir nicht?«, murrte sie leise.

Frustriert schlug Cathryne ihre Zimmertür hinter sich zu und warf sich auf ihr Bett. Sie hatte das Mädchen klar und deutlich vor sich gesehen, ihren faulen Atem gerochen. Genau da, dachte sie, lag aber das Problem. Nur sie hatte das Mädchen gesehen. Ihre Mutter war in ihrem Büro gewesen.

Sie seufzte. Oder hatte sie es sich vielleicht doch nur eingebildet? Hatte ihre Mutter recht, wenn sie sagte, dass Einbrecher die Küche verwüstet hatten? Sie verwarf diesen Gedanken. Dafür war der Stern zu perfekt geformt gewesen. Er wurde absichtlich so gelegt, da war sie sich sicher.

Sie griff nach einem Blatt Papier und einem Stift und zeichnete diesen Stern aus ihrem Gedächtnis. Dabei fiel ihr auf, dass man ihn, ohne den Stift auch nur abzusetzen, in einem Strich zeichnen konnte. Irgendwo in ihrem Kopf legte sich ein Schalter um. Sie hatte einen solchen Stern schon einmal gesehen. Er spielte in einer Dokumentation über Satanismus eine Rolle, die sie vor einigen Wochen im Fernsehen gesehen hatte. Sie wollte eigentlich einen Film schauen, war dann aber völlig fasziniert bei der Dokumentation hängen geblieben. In der Sendung wurde dieser Stern als Pentagramm bezeichnet. Mit ihm sollten sich Geister rufen lassen.

»Aber was macht dieser Stern in unserer Küche?«, murmelte sie. Wollte der oder die Einbrecher den Teufel beschwören?

Sie legte Stift und Papier zur Seite und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.

 

Sie erwachte, weil sie aus irgendeinem Grund keine Luft mehr bekam. Panisch schlug sie die Augen auf. Da war es wieder. Das Mädchen von vorhin. Sie kniete auf ihrem Bett, direkt über sie gebeugt, ihre Hände fest um Cathrynes Hals. Cathrynes Überlebensinstinkt erwachte und sie umklammerte die Handgelenke des Mädchens.

Erst nach einigen Momenten, die für Cathryne zu einer Ewigkeit wurden, ließ das Mädchen von ihr ab, sprang mit einem Salto von ihrem Bett und landete mitten in ihrem Zimmer.

»Alle Achtung«, sagte das Mädchen lachend. »Du bist die Erste, die nicht im Schlaf gestorben ist. Aber keine Sorge, dich kriege ich auch noch.«

Cathryne hustete. »Wer … wer bist du?«

»Ich heiße Samantha und du?«

»Ca … Cathryne«, stotterte sie.

»Schöner Name. Was machst du hier?«

»Ich … wohne hier.«

»Tatsächlich? Ich schätze, das wird sich bald ändern.«

Ein teuflisches Grinsen huschte über das Gesicht des Mädchens. Cathryne wusste, dass sie, was auch immer sie war, in ihrer Natur böse und hinterhältig war.

Das Mädchen drehte sich einmal um die eigene Achse.

»Und jetzt lass uns noch etwas spielen«, kicherte sie.

»Was meinst du damit?«

Das Mädchen gluckste nur.

Mit einem Fingerschnippen flog ein Bild von der einen Wand, schoss quer durchs Zimmer und landete vor Cathrynes Bett auf dem Boden. Cathryne zuckte erschrocken zusammen.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte sie. Panik drohte sie zu übermannen. Nur mit Mühe konnte Cathryne sich davon abhalten, nicht davonzulaufen.

»Kleinigkeit … für einen Geist.«

Cathryne war in ihrem Bett in die hinterste Ecke gerutscht. Nun begriff sie erst die Worte des Vermieters, der von »unerklärlichen Todesfällen« sprach. Sie hatte es auf irgendwelche natürlichen Ursachen zurückgeführt. Sie hatte nie an Geister oder andere übernatürliche Wesen geglaubt, hatte stets laut gelacht, wenn im Fernsehen irgendwelche Menschen von ihren »Erlebnissen« berichteten. Nun war sie selbst Augenzeugin. Ihr gesamtes Weltbild stand Kopf.

Ein erneuter Fingerschnipp und eine große Scherbe schwebte durch die Luft.

»War schön mit dir zu spielen. Und jetzt sag brav auf Wiedersehen!«

Das Gesicht des Mädchens verzog sich zu einer Fratze. Cathryne kniff die Augen zusammen und schrie. Es war wie in dem Horrorfilm, den sie heute im Kino gesehen hatte. Sie brauchte nicht hinzusehen, sie wusste, dass die Scherbe direkt auf sie zu flog.

»Das reicht«, hallte eine Stimme durch das Zimmer.

Cathryne blickte sich verängstigt um. Sie sah ein goldenes Leuchten an den Wänden, das den gesamten Raum erfüllte. Augenblicklich fiel die Scherbe zu Boden.

Es dauerte einen Moment, bis Cathryne begriff, dass das Leuchten von ihr ausging. Sie hob die Hände, die von einer unbeschreiblichen Aura aus purem Licht umgeben waren.

Cathryne spürte, wie etwas die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Ihre Hände wurden taub, ihre Beine hatten jegliches Gefühl verloren. Die Taubheit breitete sich in jede Faser ihres Körpers aus. Cathryne versuchte, dagegen anzukämpfen. Aber je mehr sie sich anstrengte, desto schlimmer wurde es. Cathryne hatte Angst, zu ersticken. Sie rang nach Luft. Als würden sich zwei Realitäten überlagern, sah sie sich plötzlich selbst in einem weißen Gewand, dessen Säume mit einem blauen Band mit goldenem Zickzackmuster verziert waren. Cathryne spürte ein Ziehen im Rücken, dem sie zunächst keine Beachtung schenkt. Erst als die Stelle anfing zu brennen, merkte Cathryne, was geschah. Es fühlte sich an, als würde sie von Wespen zerstochen werden. Der Schmerz verlief in zwei glatten Strichen auf Höhe der Schulterblätter. Cathryne nahm ihn jedoch nur dumpf wahr. Sie hatte die Kontrolle über ihren Körper gänzlich verloren.

»Dein irdisches Leben ist vorbei. Kehre ein in das Licht.« Wer auch immer ihren Körper nun kontrollierte, sprach durch sie. Sie konnte sogar fühlen, wie sich ihre Lippen bewegten, wie Luft aus der Lunge durch ihren Rachen strömte und die Stimmbänder in Schwingungen versetzte. Sie konnte die Wärme spüren, die ihren Körper wie eine Hülle umschloss.

»Ich will nicht«, sagte Samantha trotzig.

»Möge das Licht dir Frieden schenken.«

Das goldene Leuchten durchströmte Cathryne in Wellen, erfüllte die Luft und durchflutete schließlich Samantha.

Cathryne konnte erkennen, wie sich die Umrisse des Mädchens auflösten, bis sie schließlich gänzlich verschwunden war.

»Nonet aretum.« Cathryne wusste nicht, was sie da gerade gesagt hatte. Sie kannte die Sprache nicht. Die Worte, wenn es denn welche waren, ergaben keinen Sinn.

»Hab keine Angst«, hörte sie sich sprechen. »Ich habe die Seele dieses Mädchens ins Licht geleitet. Es ist alles in Ordnung.«

Cathryne spürte, wie sie langsam die Kontrolle über ihren Körper zurückerhielt. Das Wesen, das sich ihres Körpers bemächtigt hatte, hatte ihre Kräfte aufgebraucht, sodass Cathryne das Bewusstsein verlor.

Als sie wieder zu sich kam, war es draußen noch dunkel. Sie wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Oder hatte sie das alles nur geträumt?

»Du bist wach«, sagte eine Stimme am Fuße ihres Bettes. Cathryne zuckte zusammen. Ihre Finger bohrten sich in die Bettdecke. Nein, es war kein Traum gewesen.

Am Fußende saß die Gestalt, die Cathryne vorhin durch ihre Augen gesehen hatte. Sie erschrak. Das Wesen sah genau so aus wie sie selbst, war fast ein identischer Zwilling. Einzig die Haare waren etwas länger als Cathrynes, die Haut seidiger, makelloser.

»Wer oder was bist du?«, fragte Cathryne. »Lass mich in Ruhe.«

»Das geht nicht«, antwortete die zweite Cathryne. »Ich bin du, du bist ich. Wir sind eins, zwei Seelen untrennbar vereint.«

»Keine Chance«, sagte Cathryne. »Das ist nur ein Traum. Du bist nur ein Produkt meine Fantasie. Genauso wie …«

»Wie Laura? Deine imaginäre Freundin aus Kindertagen?« Das Mädchen lachte. »Denkst du das wirklich?«

Cathryne geriet in Panik.

»Verschwinde. Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist.«

»Hör mir zu«, sagte das Mädchen freundlich.

»Nein«, erwiderte Cathryne panisch.

»Verschwinde endlich, du sollst …« Ihr Herz schlug immer schneller.

»Beruhige dich.«

»Hau ab …« Cathryne keuchte. »Ver … schwin…«

Die Welt um sie herum drehte sich.

»Vertrau mir«, sagte das Wesen.

»Lass … mi …«

Cathryne spürte einen dumpfen Schlag an ihrem Kopf. Das goldene Licht erlosch, bis die Dunkelheit Cathryne wieder umarmte.

Sie wurde von einem gleichmäßigen Piepsen geweckt. Sie blinzelte, versuchte Details zu erkennen.

Erst nach einigen Sekunden merkte sie, dass die Töne nicht von ihrem Wecker kamen.

»Oh Schatz, du bist wach. Wie geht es dir?«

Cathryne hob ihre Hand, in der eine Infusionsnadel steckte.

»Wo bin ich?«, fragte sie. Langsam tastete sie mit ihrer Hand ihren Kopf ab. Unter ihren Fingern spürte sie einen dicken Verband.

»Was ist mit mir geschehen?«

»Oh Schatz, es tut mir leid. Ich musste dich ins Krankenhaus bringen.«

»Krankenhaus … wieso?« Cathryne war zu schwach, um in Panik zu geraten.

»Reg dich bitte nicht auf.«

»Keine Kraft«, erwiderte sie kurz.

»Ich habe mitten in der Nacht Geräusche gehört und bin aufgestanden, um nachzusehen. Als ich in dein Zimmer kam, lagst du ohnmächtig auf dem Boden mit einer Platzwunde an der Stirn.«

»Platzwunde? Was ist denn passiert?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nur so erklären: Du wolltest nachts aufstehen, hast das Gleichgewicht verloren und bist mit dem Kopf auf die Bettkante geknallt.«

Cathryne nickte nur. »Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich im Wohnzimmer alles für einen DVD-Abend vorbereitet hatte. Danach weiß ich nichts mehr. Ich habe keine Ahnung, was danach passiert ist.«

»Das wird schon wieder«, sagte Melissa und strich ihrer Tochter über die Wange. »Ruh dich jetzt aus, mein Schatz. Ich komme heute Abend nochmal, wenn ich im Laden fertig bin.«

Melissa verabschiedete sich und ließ ihre Tochter zurück. Diese schlief kurz darauf vor Erschöpfung wieder ein.

 

Kapitel 1

 

In ihrem Quartier hatte sie sich wohler gefühlt. Sie war zuversichtlich gewesen und stolz darauf, ein Teil dieser Mission zu sein. Doch jetzt, wo sie kurz davor stand, ihre erste Mission anzutreten, dachte sie nur darüber nach, abzuhauen. Was hatte sie sich dabei gedacht, als sie sich freiwillig für diese Operation meldete? Sie hatte das Gebäude, in dem sich der Besprechungsraum befand, erreicht. Vor dem großen Eingangsportal wartete bereits ihr Lehrmeister.

Seine Gestalt ließ sie ehrfürchtig erstarren. Auch wenn Sie ihn gut kannte und er trotz seiner Funktion als ihr Meister, ihr guter Freund war, fühlte sie sich in seiner Gegenwart klein und machtlos.

»Du hast dich also freiwillig gemeldet, hm?« Er lachte leise. »Hatte mich schon gefragt, wer so blöd war. Dass ausgerechnet du …« Ihr Mentor brach ab und atmete einmal tief ein. »Eigentlich habe ich ja was dagegen, unausgebildete Schüler auf derartige Mission zu entsenden. Aus meiner Sicht sind sie in ihrer Ausbildung für eine solche Aufgabe noch nicht weit genug.« Er schwieg einen Moment.

Wieder keimte in ihr diese Angst auf. War sie dieser Mission wirklich gewachsen?

»Bei dir ist es allerdings anders. Ich spüre, dass in dir etwas schlummert. Wir hatten fest damit gerechnet, dass sich niemand freiwillig melden würde. Als nach einiger Zeit immer noch keine Bewerbungen vorlagen, zog ich mich aus der Missionsleitung zurück. Du hast dich anscheinend erst danach gemeldet.«

Er trat einen Schritt auf sie zu und legte einen Arm um sie.

»Wir mussten uns auf den Fall vorbereiten, dass sich absolut niemand freiwillig melden würde. Deshalb wurden Vorschläge gesammelt, wer auf die Reise geschickt wird. Meine Wahl fiel auf dich. Auch wenn du noch nicht ausgebildet bist, denke ich, dass du schon jetzt einer solchen Aufgabe gewachsen bist. Du bekommst die einmalige Chance, ihnen zu beweisen, was ich schon längst weiß. Beweise ihnen, dass auch Schüler aus dem zweiten Jahr solchen Missionen durchaus gewachsen sein können. Ich setze all meine Hoffnungen in dich. Also gib dir Mühe und vermassele es nicht.«

Sie senkte den Kopf. »Das werde ich. Ich verspreche es dir.«

»Ich habe die anderen bereits über deine Meldung informiert. Sie erwarten dich.«

Ihr Mentor begleitete sie noch bis vor den Raum und verabschiedete sich dann, indem er sie an sich drückte. Sein Haar kitzelte ihr dabei an der Nase und sie musste an sich halten, um nicht zu niesen.

Kurz darauf ging er mit festen Schritten davon, bis er im Dunkel der Nacht verschwunden war. Ihr Herz klopfte. Sie atmete ein letztes Mal tief durch. Mit zittrigen Fingern betätigte sie die Klinke und trat ein.

Es waren nur drei Personen anwesend. Alle waren ihr vertraut, gehörten zu denen, die sie auf derartige Missionen vorbereitet hatten. Zur Begrüßung nickte sie ihnen zu und nahm dann gegenüber am Tisch Platz.

»Es freut mich, dass sich überhaupt jemand gemeldet hat. Du kannst dir sicher ausrechnen, dass es schwierig ist, Freiwillige für eine solche Mission zu finden.« Einer der Männer, kaum größer als sie mit feuerroten Haaren, schob ihr eine Aktenmappe herüber. Sie brauchte nur den Namen der Zielperson lesen, schon war sie wieder da. Ihre Angst, sie könnte der bevorstehenden Situation nicht gewachsen sein.

»Was wissen wir?«, fragte sie zögernd.

»Nicht viel«, antwortete der andere Mann. Seine Finger strichen lässig von vorn nach hinten durch sein kurzes nussbraunes Haar. »Alles, was wir wissen ist, dass wir das Mädchen unbedingt brauchen, weshalb wir diese Operation in Windeseile auf die Beine gestellt haben. Leider sind unter diesem enormen Zeitdruck einige Dinge untergegangen. Deshalb brauchen wir deine Hilfe.«

Sie schluckte schwer. »Meine Hilfe?«

»Einige Vorbereitungen konnten nicht abgeschlossen werden, sodass wir in ständigem Kontakt bleiben müssen. Verhalte dich in ihrer Gegenwart unauffällig, und versuche, ihr Vertrauen zu gewinnen. Danach sehen wir weiter«, übernahm der Braunhaarige auch das weitere Wort.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich beachten muss?«

»Es ist möglich, dass die Gegenseite ebenfalls ihre Leute in das Umfeld unserer Zielperson einschleusen wird. Wenn das geschieht, sei vorsichtig. Wir möchten ein Blutbad um jeden Preis vermeiden«, antwortete der Rothaarige nun.

Der Braunhaarige lachte verächtlich. »Mach ihr nicht so eine Angst! Es wird überhaupt nichts passieren. Sie ist kein Baby mehr. Sie wird sich zu helfen wissen. Alles, was zählt, ist, dass unsere Zielperson unbeschadet hier ankommt. Wenn du Hilfe brauchst, ruf uns einfach. Wir werden immer in eurer Nähe sein.«

Das Mädchen nickte nur. Der Gedanke daran, in einen Kampf mit den Feinden verwickelt zu werden, machte ihr Angst. Zwar hatte sie im Umgang mit Waffen einen exzellenten Lehrmeister, dennoch wünschte sie sich, dass sie nie in eine Situation käme, die einen Gebrauch ihrer Fertigkeiten erforderte.

»Da wäre noch etwas«, riss die Stimme des rothaarigen Mannes sie aus ihren Gedanken. »Sollte es dir nicht gelingen, ihre verborgenen Kräfte zu erwecken, bevor die Gegenseite sich ihrer bemächtigen kann, müssen wir sie vernichten.«

Sie seufzte. Ihr war durchaus bewusst, auf was sie sich eingelassen hatte. Die klaren Worte des Mannes nahmen ihr die letzten Hoffnungen, dass die Mission ohne größere Folgen über die Bühne gehen würde.

»Was ist mit den Angehörigen unserer Zielperson?«

»Wir haben bereits alle Vorkehrungen getroffen.«

Der Braunhaarige bemerkte ihr Unsicherheit und versuchte, sie aufzumuntern:»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Unsere Zielperson wird anfangs misstrauisch sein. Allerdings verlasse ich mich auf meinen Instinkt. Und mein Instinkt sagt mir, dass ihr euch gegenseitig unterstützen und ermutigen werdet. Wenn sie also wirklich eine von uns ist, dann wirst du dich in ihrer Gegenwart wohlfühlen.«

Diese Worte beruhigten sie ein wenig und so konnte sie sich wieder ein wenig auf den Fall konzentrieren. Der dritte Mann, welcher seine Haare blond und Raspel kurz trug, schrieb ein paar Daten auf ein Formular und überreichte es dem Mädchen.

»Du bist bis zum Ende dieses Auftrags von allen weiteren Pflichten befreit. Solltest du Probleme haben, melde dich. Wir werden bis zum Beginn der Mission in deiner Nähe unser Hauptquartier errichtet haben.«

Das Mädchen verbeugte sich und verließ den Raum.

Es war immer noch tiefste Nacht, als ihr Weg sie zurück in ihre Unterkunft führte. Bei Sonnenaufgang würde sie bereits ihre Mission begonnen haben.

Der Wind strich durch ihr langes Haar, als sie durch die Luft glitt. Sie machte sich Sorgen um die ihr auferlegte Aufgabe. Würde sie lange genug die gewöhnliche Schülerin spielen können, ohne dass ihre Zielperson Verdacht schöpfte? Sie hatte nur diesen einen Versuch. Würde sie es vermasseln, wäre ihre Zielperson an die Gegenseite verloren, oder noch schlimmer. Das durfte auf keinen Fall geschehen.

 

Kapitel 2

 

Cathryne bereitete sich auf einen weiteren todlangweiligen Schultag vor.

Sie besuchte das angesehene Princeton College, eine kostspielige Privatschule. Von Anfang an war sie nicht begeistert, doch es war der Wunsch ihrer Mutter gewesen. Was konnte sie da schon ausrichten?

Es lag nicht daran, dass sie der Stoff nicht interessierte. Nur konnte sie einfach nicht mit dem gehobenen Niveau mithalten, auf dem er präsentiert wurde.

Ihre schulterlangen braunen Haare hingen schlaff herunter. Ihr Blick war noch völlig verschlafen, als sie sich aus dem Bett schälte und langsam in Richtung Badezimmer schlich. Gähnend zog sie ihr Nachthemd aus und trat unter die Dusche. Das kalte Wasser weckte ihre Lebensgeister. Zitternd, aber hellwach, stand sie in der Kabine. Zum Schluss drehte sie noch einmal den Warmwasserhahn auf, um ihren Körper wieder aufzuwärmen.

Als sie das Wasser schließlich abdrehte und nach dem Handtuch griff, fiel ihr Blick auf den Spiegel des Badezimmerschranks. Eigentlich konnte sie sich in diesem Spiegel nur bis zu den Schultern sehen. Von der Dusche aus sah sie jedoch jetzt deutlich mehr. Mehr aus Gewohnheit als aus Scham bedeckte sie ihre Brüste mit ihren Händen, ehe sie sich das Handtuch um ihren Körper wickelte.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, murmelte sie, während sie den Spiegel vom niedergeschlagenen Wasserdampf befreite.

Ihre Haare hatten wie von Cathryne beabsichtigt ihre Naturkrause wieder angenommen. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in ihre Schuluniform und föhnte sich die Haare. Ihre Haare umspielten nun ihr Gesicht. Sie blickte auf die Uhr.

»Ich hab tatsächlich noch ein paar Minuten Zeit«, flüsterte sie sich selbst zu. Normalerweise war sie langsamer und demzufolge meistens spät dran. Deshalb kehrte sie in ihr Zimmer zurück und ließ sich auf ihr Bett fallen.

Wie so oft dachte sie darüber nach, warum sie diese Schule besuchen musste. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihr. Ihr Vater hatte die Familie kurz vor dem Umzug in dieses Haus verlassen. Er fühlte sich an der Seite seiner erfolgreichen Frau wie ein schäbiges Nichts und wurde schließlich von Minderwertigkeitskomplexen geplagt. Cathryne hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie ihn nicht wirklich vermisste. Solange sie sich erinnern konnte, war ihr Vater immer reserviert gewesen, obwohl sie seine leibliche Tochter war. Ihre Beziehung war unterkühlt. Doch so hatte Cathryne schon früh gelernt, selbstständig durchs Leben zu schreiten. Ihre Mutter war da als erfolgreiche Geschäftsfrau ein gutes Vorbild.

Sie seufzte. Neben der Tür stand ein massiver Kleiderschrank aus Ahornholz, in dem Cathryne all jene Klamotten untergebracht hatte, die an ihrer neuen Schule verboten waren. Ein Grund mehr, warum sie diese teure Privatschule hasste. Zwischen dem Kleiderschrank und dem riesigen weißen Schreibtisch stand ein Fernsehschränkchen. Seit ihre Mutter richtig gut verdiente, war der alte klobige Röhrenfernseher einem modernen Flachbildschirm gewichen, und obwohl das Schränkchen sehr groß war, überragte der Fernseher es zu beiden Seiten deutlich. Zudem biss sich in Cathrynes Augen das elegante Anthrazit des Fernsehers mit dem hellen Holz des Schränkchens. Ein dunkles Holz, etwa Erle oder Buche, würde diesem Schränkchen die nötige Würde verleihen.

Gegenüber dem Schrank stand Cathrynes Bett. Sie hatte den Standort bewusst gewählt, um bequem vom Bett aus fernsehen zu können. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es jetzt Zeit war, sich auf den Weg zur Schule zu machen.

Sie erhob sich, richtete ihre Schuluniform und verließ ihr Zimmer.

»Ich bin weg«, rief sie in den Hausflur. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter noch im Bad war und sich schminkte. Sie hatte heute einen wichtigen Termin. Cathryne hatte nicht alles mitbekommen. Sie wusste nur, dass ihre Mutter eine weitere Filiale ihres Ladens eröffnen wollte. Schnell zog sie sich ihre Schuhe an und schloss die Haustür.

Ihre Schule lag nur einige Hundert Meter entfernt, weshalb sie die kurze Distanz zu Fuß zurücklegte. Das Princeton College war eine der angesehensten Schulen Londons. Jeder, der etwas auf sich hielt oder der sein Kind in die gehobene Gesellschaft wünschte, kam um diese Institution nicht herum. Sie war der Schlüssel zu den Universitäten dieses Landes. Cathryne bildete hier die Ausnahme, denn ihre Mutter schickte sie aus einem ganz anderen Grund auf diese Einrichtung.

Schon als sie das Gelände betrat, wurde sie von zwei Männern aufgehalten. Sie gehörten zu dem Sicherheitsunternehmen, das das Grundstück bewachte. Cathryne rollte mit den Augen. Es war schon das siebte Mal in diesem Monat, dass sie aufeinandertrafen. Und Cathryne kannte den Grund.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, fragte einer der Wachmänner, ein kleiner, bulliger Typ.

Beide hatten eine Hand an den Gürtel gelegt, bereit dazu, das Pfefferspray zu ziehen, falls es notwendig werden würde.

»Cathryne Bennett«, sagte sie knapp, zog langsam ihr Portemonnaie hervor und zeigte ihren Schülerausweis. »Ich denke, Sie wissen, dass Sie Ihren Ausweis offen tragen müssen«, sagte der Dickere der beiden.

Die beiden Wachmänner ließen ihre Hände sinken und tippten an ihre Mütze. Sie stiegen zurück in ihren Dienstwagen, ein ausgemusterter Golfcaddy, und brausten davon.

»Berggorillas«, fluchte Cathryne leise. Sie setzte ihren Weg zum Schulgebäude fort. Unterwegs traf sie auf einige Schülerinnen aus dem Abschlussjahrgang. Die Themen der Gespräche, die Cathryne aufschnappte, waren stets dieselben: Jungs, Schmuck, Schminke, Partys.

Sie fragte sich, warum sie an diesen Themen nicht interessiert war.

In ihrer Klasse war das auch nicht anders. Es war Montag und das Wochenende war gerade erst vorbei. Trotzdem schlossen sich die Planungen für das kommende Wochenende nahtlos an die Konversationen über die ›vorzüglichen Aperitifs‹ an.

Zwischen Cathryne und dem Rest der Klasse herrschte eine Art Waffenruhe. Cathryne versuchte, sich aus den Angelegenheiten der Anderen herauszuhalten. Im Gegenzug dazu ließen sie Cathryne in Ruhe. Trotzdem bekam Cathryne hin und wieder Sticheleien gegen sie mit.

»Schaut mal, da ist der Sonderling. Keine Ahnung, warum sie hier ist. Sie hat keinerlei Klasse und Esprit.«

Und das war noch harmlos. Deshalb versuchte sie, so unscheinbar wie möglich zu wirken. Im unsichtbar machen war sie einsame Spitze, weshalb ihre Klassenkameraden sie meistens nicht einmal zur Kenntnis nahmen. Dieses stille Abkommen war jedoch der Grund, warum Cathryne einen Einzelplatz im hinteren Teil der Klasse hatte.

Cathryne wusste, dass sie nicht in diese Klasse gehörte. Diese gesamte Schule war ihr zuwider. Doch sie musste sich ihrem Schicksal beugen. Auch wenn es ihr schwerfiel.

 

Kapitel 3

 

Der dunkle Kombi hielt einige Meter vor dem Schultor. »Das ist dein erster Tag, gib dir Mühe es nicht sofort zu versauen«, sagte der Rothaarige. »Eine weitere letzte Anweisung habe ich noch für dich. Falls dir irgendjemand auf die Schliche kommt, falls dich irgendjemand durchschaut, sorge dafür, dass er alles vergisst, was er weiß. Du bekommst von uns die volle Rückendeckung, egal was du tust.«

»Viel Glück«, gab ihr sein Beifahrer, mit den kurzen braunen Haaren, mit auf den Weg, ehe das Auto davon rauschte.

Da war sie nun, an der Schule, an der sie das Vertrauen ihrer Zielperson erschleichen sollte.

Es fühlte sich seltsam an, wieder hier zu sein. Schon bei der Ankunft im provisorischen Hauptquartier kam es ihr merkwürdig vor, wieder Kleidung zu tragen, die schon seit Ewigkeiten nicht mehr Teil ihres Kleiderschranks war.

»Willkommen am Princeton College«, las sie das Schild.

Sie versuchte, sich an das zu erinnern, was ihr auf dem letzten Briefing mitgegeben wurde. Alle zwei Tage, sofern eine Notlage nicht etwas anderes nötig machen würde, würde sie selbstständig einen Bericht an die Missionsleitung abgeben. Sollte sie ihre Schritte nicht rechtzeitig übermitteln, würde die Mission als gescheitert erklärt. Das jedoch würde bedeuten, dass die Zielperson unrettbar an die Gegenseite verloren war.

Sie griff in ihre Hosentasche und lächelte. Wenigstens konnte sie ohne Verdacht zu erregen selbst in aller Öffentlichkeit ihren Report abliefern. Die moderne Technik in Form eines Handys machte es möglich. Sie musste schmunzeln, als ihr die Worte ihres direkten Vorgesetzten wieder einfielen.

»Meine erste Mission hing von einer einzigen Brieftaube ab. Kurz bevor sie das Hauptquartier erreichte, wurde sie abgeschossen. Glücklicherweise kam der stellvertretende Operationsleiter zufällig vorbei und fand die Taube, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht hier.«

Mit unsicheren Schritten trat sie auf den Weg, der zum Gebäude führte. Sie war keine einhundert Meter weit gekommen, als sich von links ein Fahrzeug näherte.

»Bleiben Sie stehen!«, rief eine kräftige Männerstimme. Offenbar waren diese Herren Mitarbeiter eines Wachschutzunternehmens.

Sie erhob, wie sie es gelernt hatte, die Hände und wandte sich den Männern zu.

»Wer sind Sie?«, fragte der Dickere der beiden.

»Ich bin eine neue Schülerin. Ich habe heute meinen ersten Schultag. Wenn Sie gestatten, im Rucksack sind meine Formulare.«

Einer der Männer nickte, hatte die Hand jedoch an eine kleine Dose am Gürtel geführt. Sie zitterte. Diese Männer waren ganz gewöhnliche Personen. Wenn sie jetzt schon in Panik geriet, was würde dann erst passieren, wenn es wirklich ernst wurde?

»Es ist ungewöhnlich, dass Schülerinnen mitten im Schuljahr an diese Schule wechseln.«

Er tauschte einen Blick mit seinem Kollegen. »Wieso hat uns eigentlich niemand Bescheid gegeben?«

Sein Partner zuckte nur mit den Schultern.

»Ich weiß, allerdings ging es aus gesundheitlichen Gründen nicht anders.«

Der dicke Wachmann durchsuchte ihre Tasche.

»Sind das Ihre Papiere, Miss?«

Sie nickte.

Der Mann kratzte sich am Kopf und sah zu seinem Kollegen.

»Wenn Sie erlauben, bringen wir Sie zur Schulverwaltung. Dort können wir dann Ihre Identität klären. Sollten diese Papiere der Wahrheit entsprechen, bekommen Sie auch ihren Schulausweis, damit so ein peinliches Aufeinandertreffen hoffentlich nicht noch einmal vorkommt.«

»Was das Mädchen von heute Morgen ausschließt. Die Kleine lernt es wohl nicht mehr.«

Sie wurde hellhörig.

»Passiert so etwas öfter?«

»Dass ein Schüler seinen Ausweis nicht offen trägt? Das kommt hin und wieder vor, doch bei diesem Mädchen passiert es ständig. Es ist einfacher, die Tage zu zählen, an denen sie daran denkt.«

Der andere Wachmann, ein hagerer Typ mit Hakennase ergriff das Wort.

»Wir könnten sie theoretisch durchwinken, aber wir hoffen, dass wir sie noch zur Befolgung dieser einfachen Regel erziehen können. Allerdings glaube ich, dass bei Miss Bennett jede Hoffnung zu spät kommt.«

Ihre Zielperson war schon hier. »Verdammt«, fluchte sie leise. Sie war zu spät. Ihre Gedanken schweiften ab. Was war, wenn die Gegenseite schneller war? Wenn sie bereits Kontakt zur Zielperson hatten.

Die Wachmänner wiesen ihr den Weg zum Sekretariat und verabschiedeten sich dann. Langsam erklomm sie die Stufen. Das Sekretariat lang zusammen mit dem Lehrerzimmer in einem gesonderten Stockwerk gegenüber des Eingangs. Links und rechts davon führten Treppen in die oberen Etagen der Schule, und damit zu den Unterrichtsräumen, die sich auf West- und Ostflügel erstrecken. Sie war erstaunt, wie gut sie im Briefing aufgepasst hatte. Oben angekommen stand sie direkt vor der großen Glastür. Zögerlich öffnete sie diese und trat in die Stille des Sekretariats ein.

Eine ältere Dame mit einer eckigen Brille mit Goldfassung und einer schweren Perlenkette saß dort über einige Akten gebeugt. Sie vernahm die Worte »unerhört« und »eine Frechheit« mehr als einmal.

»Entschuldigen Sie?«

Die Sekretärin blickte auf. »Ja, bitte?«, fragte sie. Ihr Gesicht wies noch eine leichte Spur von Ärger auf, hatte jedoch allmählich ein freundliches Lächeln angenommen.

»Ich bin neu an der Schule, und ich wollte mich hiermit offiziell anmelden.«

Die Sekretärin prüfte ihre Papiere und händigte ihr dann ihren Schulausweis und ihren Stundenplan aus.

»Ich habe Ihre Klassenlehrerin bereits im Vorfeld informiert. Sie müsste jeden Augenblick hier sein. Übrigens sind Sie nicht alleine. Es gibt noch eine weitere neue Schülerin in Ihrer Klasse.«

Die Sekretärin verschwand für einen Augenblick. Diesen Moment nutzte sie, ihr Handy aus der Tasche zu holen. Hastig schrieb sie eine SMS an ihre Missionsleitung.

»Möglicher Feindkontakt, Lage wird beurteilt, Bericht erfolgt später. Gegebenenfalls Unterstützung erforderlich. Mission unter Umständen in Gefahr.«

Kapitel 4

 

Cathryne hielt sich so lange wie möglich von ihrer Klasse fern. Sie wollte vermeiden, in irgendwelche unnötigen und sinnfreien Diskussionen involviert zu werden. Auf dem Gang nahm sie wieder Gesprächsfetzen auf. Wieder wurde über sie getuschelt.

»Hab gehört, sie hat nur eine Zwei Minus in der letzten Arbeit.«

»Und so eine Niete ist ernsthaft noch Schülerin hier.«

Sie sah auf die Uhr. Jeden Moment würde es zur Stunde klingeln. Wie aufs Stichwort kam Mrs. Rogers, die Klassenlehrerin, um die Ecke gebogen. Doch sie war nicht allein. Zwei junge Mädchen begleiteten sie.

Mit einer raschen Handbewegung unterband Mrs. Rogers jegliche Fragen und schloss den Klassenraum auf. Nachdem jeder seinen Platz eingenommen hatte, bat sie um Ruhe.

»Vom heutigen Tag an werden zwei weitere Schülerinnen Ihrer Gemeinschaft angehören. Ich möchte Ihnen Stella Baker und Lily Emmett vorstellen. Ich bitte Sie, sie gut in die Gruppe zu integrieren.«

Mrs. Rogers sah sich um.

»Ms. Baker, sie nehmen Bitte neben Ms. Bennett Platz, Ms. Emmett, sie gesellen sich bitte zu Mr. Waiters.«

Die beiden Mädchen folgten der Anweisung. Cathryne musterte die Neuankömmlinge.

Lily war klein und zierlich. Ihr blondes, leicht gewelltes Haar, ihre tiefblauen Augen und ihre zarte, ebenmäßige Haut ließen sie elfengleich wirken. Doch der Rest an ihr machte diesen übernatürlichen Eindruck wett. Ihr Gang war tapsig und unsicher, ihre Schuhe bereits leicht verschlissen.

Stella hingegen war auf ihre eigene Art und Weise perfekt. Im Gegensatz zum Großteil der Mädchen in dieser Klasse hatte Stella keine Modelmaße. Ihr leicht rundes Gesicht wurde umrahmt von glatten, dunklen Haaren. Das hervorstechendste Merkmal waren ihre smaragdgrünen Augen, die ihrem Aussehen die gleiche Magie verliehen, die auch Lily umgab.

Sie konnte ihren Blick nicht von den Augen abwenden. Tief in ihr rührte sich etwas, das Cathryne jedoch nicht genauer erfassen konnte.

»Hi«, sagte sie leise.

»Hi«, erwiderte Cathryne.

»Werte Damen, ich würde es schätzen, wenn Sie das Kennenlernen auf die Pause verschieben würden. Ich möchte jetzt mit dem Unterricht beginnen.« Mrs. Rogers begann, einige Kreisdiagramme an die Tafel zu zeichnen.

»Wie jedem Jahrgang, der Ende des Jahres in den Abschlussjahrgang wechselt, möchte ich auch Ihnen vor Augen führen, wie die derzeitigen Statistiken über die Erfolgs- und Fortbildungsquoten an dieser Schule aussehen.«

Sie ließ sich den Rest der Stunde darüber aus, wie wahrscheinlich es war, dass Schüler, die den Abschluss schafften, an einer der angesehensten Universitäten aufgenommen wurden. Kurz vor dem Dong, nannte sie noch Namen von ehemaligen Schülern, die nun irgendwo eine höhere Tätigkeit ausübten.

Cathryne schaltete ab. Sie langweilte sich bei solchen theoretischen Gedankenspielen zu Tode. Sie hatte ohnehin keine großen Bestrebungen, an einer der Eliteuniversitäten zu studieren. Ihr Ziel war es, einen Ausbildungsplatz zu ergattern. Ihre Mutter stand hinter dem Entschluss.

Dem Mädchen am Nachbartisch, Lily, wenn sie sich nicht irrte, ging es offenbar ähnlich. Immer wieder sackte ihr Kopf ein Stück tiefer, bevor sie aufschreckte.

Stella hingegen war ganz fasziniert davon.

»Wenn ich doch nur Zeit dazu hätte«, sagte sie leise.

»Wie bitte?«, fragte Cathryne, doch Stella schüttelte nur den Kopf.

Nach einer scheinbar endlosen Ansprache der Lehrerin über die schier unbegrenzten Möglichkeiten für die Absolventen klingelte es. Die Pause hatte begonnen.

»Hast du Lust, mir in der Pause die Schule zu zeigen?«, fragte Stella.

Cathryne überlegte kurz, willigte dann aber ein. »Darf ich auch mitkommen?«, fragte Lily, die dazu gestoßen war.

»Klar, warum nicht«, antwortete Stella.

Sie verließen das Klassenzimmer und Cathryne zeigte ihnen die wichtigsten Räume.

»Hier ist die Zentrale, das Sekretariat, aber hier wart ihr ja sicherlich schon. Dann kommen wir jetzt zum wichtigsten Raum der Schule: die Cafeteria. Ihr bekommt hier fast alles. Allerdings bin ich selten hier, weil ich nun einmal kein Fan von Kaviarsandwiches bin.«

Stella hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. »Du scheinst nicht die typische Schülerin dieser Schule zu sein. Eben im Unterricht hast du auch nicht den Eindruck gemacht, dass es dich sonderlich interessieren würde.«

Cathryne blickte zur Seite. »Vermutlich, weil ich wirklich keinen Wert darauf lege, diese Schule zu besuchen. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich hier wie ein Fremdkörper.«

Lily nickte. »Ja, mir geht es ähnlich. Was ist mit dir, Stella?«

»Ich wurde auch mehr oder weniger gezwungen, auf diese Schule zu gehen. Meine Eltern sind der Ansicht, dass eins ihrer Kinder das Familienunternehmen übernehmen sollte. Da meine Schwester aber auf ganzer Linie versagt hat und sich lieber anderen Dingen widmet, wurde ich quasi auserwählt, den Plan meiner Eltern umzusetzen. Sehr viel Lust habe ich jedoch nicht dazu.«

»Meine Eltern hoffen einfach nur, dass ich hier eine bessere Bildung erhalte, als auf einer öffentlichen Schule«, sagte Lily.

»Damit sind wir alle drei wohl hier auf einer Schule, auf der wir eigentlich gar nicht sein wollen«, stellte Cathryne fest. Lily nickte nur. Den Rest der Pause zeigte Cathryne ihnen die einzelnen Unterrichtsräume, die sie im Laufe des Tages noch besuchen würden.

Cathryne war von der Ausstrahlung der beiden Neuankömmlinge fasziniert. Auf einer Seite hatten sie vieles gemeinsam. Beide wurden sie von einer Aura umgeben, die Cathryne in ihren Bann zog und ihr Innerstes berührte. Doch auf der anderen Seite gab es Punkte, die sie deutlich voneinander unterschieden.

Stella war die Selbstbewusstere der beiden. Cathryne hatte das Gefühl, sie wusste genau, was sie wollte und dass sie bereit war, jeden Preis dafür zu zahlen.

Lily hingegen war zurückhaltend und ein wenig tollpatschig, was sie jedoch umso liebenswerter machte. Cathryne musste zugeben, dass Lily in ihr den Beschützerinstinkt geweckt hatte, so als wäre Lily ihre kleine Schwester.

Sie beschloss, die beiden Mädchen in den nächsten Tagen noch genauer kennenzulernen.

Vielleicht würde sich endlich doch noch alles zum Guten wenden.

Kapitel 5

 

In einem stillgelegten Industriegebiet am Rande der Stadt war der Kombi zum Stehen gekommen. Hier, in einem Bürogebäude hatten sie ihr Basislager aufgeschlagen. In der obersten Etage waren alle an dieser Operation Beteiligten in einem Konferenzraum versammelt.

Ein junger Mann mit schulterlangen blonden Haaren und einem Ziegenbart stand am Flipchart und sprach zu den anderen. »Uns wurde Feindkontakt gemeldet. Die Gegenseite agiert also genau so, wie wir es erwartet haben. Auch sie haben ein Mädchen geschickt, um unsere Zielperson auf ihre Seite zu ziehen. Wir haben bereits Informationen sammeln können, allerdings warten wir auch noch auf den Bericht unserer Undercoveragentin.«

»Wie wird die Wahrscheinlichkeit des Gelingens der Mission eingeschätzt?«, fragte der Rothaarige.

»Derzeit liegen uns darüber noch keine Informationen vor, wir hoffen aber, dass die Mission an sich ein voller Erfolg werden wird. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll aber die Gegenseite ebenfalls in Alarmbereitschaft sein. Wir müssen daher mit Bedacht vorgehen.«

»Verdammt!«, brüllte der rothaarige Mann jetzt. »Diese Bastarde dürfen sie auf keinen Fall in die Finger bekommen!«

»Derzeit haben wir noch keine Informationen, die irgendwelche Rückschlüsse zulassen.«, sagte der Mann am Flipchart. »Wir warten, wie bereits erwähnt, noch auf die Informationen unseres Lockvogels. Erst dann können wir die Gesamtsituation einschätzen.«

Nach dem Ende der Besprechung saßen die beiden Leiter dieser Mission an einem Tisch.

»Glaubst du, wir werden die Zielperson an den Feind verlieren?«, fragte der Mann mit den kurzen nussbraunen Haaren.

Der Rothaarige zündete eine Zigarette an und schüttelte den Kopf. »Wir werden sie in die Finger bekommen, egal wie.«

»Haben wir vielleicht eine falsche Entscheidung getroffen, einen unserer Schützlinge auf diese Mission zu schicken?«

»Nur sie kann es schaffen. Vertrau ihr. Sie wird uns den Vogel einfangen. Sollten wir versagen …«, er nahm ein Messer, das auf den Tisch lag, und schleuderte es in Richtung des Flipcharts,

»… müssen wir den Vogel töten.« Das Messer blieb im Foto stecken, das auf dem Flipchart befestigt war - einem Foto von Cathryne.

 

 

*

 

 

Der Schultag verlief unspektakulär. Sowohl Stella als auch Lily wichen Cathryne nicht von der Seite. Cathryne genoss es, endlich jemanden zum Reden zu haben. Sie hatten denselben Humor und gemeinsame Gesprächsthemen. Es würde die Situation an dieser Schule für alle drei erträglicher machen, wenn sie zusammenhielten. Wie die drei Musketiere, dachte Cathryne und musste bei diesem Gedanken schmunzeln.

Gemeinsam saßen sie in der nächsten Pause auf dem Schulhof auf einer Bank.

»Wo wohnt ihr eigentlich?«, wollte Cathryne wissen.

»Ich wohne in einem Vorort von London«, antwortete Lily.

»Und du?« Cathryne blickte Stella an.

»Ich wohne bei meinen Brüdern in einer WG in der Innenstadt. Beide arbeiten dort in einem Tattooladen. Meine Mum ist in einem Anflug von Barmherzigkeit mit ihrer Kirchengruppe nach Afrika aufgebrochen und mein Vater ist derzeit geschäftlich in den USA. Irgendwo musste ich ja unterkommen.«

»Und deine Schwester?«, fragte Lily.

Stella winkte ab. »Die kümmert sich nicht mehr wirklich um die Familie. Sie ist ständig auf Reisen rund um die Welt, aber meine Eltern sind einfach zu gutherzig, um ihr den Geldhahn zuzudrehen.«

»Ich hätte gerne Geschwister«, sagte Cathryne und wandte ihr Gesicht der Sonne zu.

»Heißt das, du bist ein Einzelkind?«, wollte Lily wissen.

»Ja, leider. Wenn ich jetzt so höre, wie toll es sein muss, Geschwister zu haben …«

»Glaub mir, so toll ist das nicht. Es gibt ständig Streit wegen irgendwelcher Kleinigkeiten.«

Stella lachte. »Als es darum ging, dass wir Mädchen ein größeres Zimmer bekommen sollten, gingen meine Brüder auf die Barrikaden. Du hättest dabei sein müssen, als am Mittagstisch sprichwörtlich die Fetzen flogen, weil die beiden auf das Vorrecht auf ein größeres Zimmer bestanden.«

Cathryne blinzelte, als sie ihr Gesicht der Sonne zuwandte. »Trotzdem, es wäre schön jemanden zu haben, mit dem man über Dinge reden kann, die man selbst seiner besten Freundin oder seiner Mutter nicht erzählt.«

Einen Moment lang schwiegen alle. Dann stand Lily auf.

»Du brauchst keine Geschwister«, meinte sie. »Du brauchst nur eine seelenverwandte Person.«

Cathryne blickte sie fragend an.

»Eine verwandte Seele ist mindestens genauso toll.«

»Seelenverwandte? So ein Blödsinn«, winkte Stella ab. »Das ist esoterischer Müll. Es gibt so etwas wie Seelenverwandte nicht. Wenn es so etwas wirklich gäbe, wie würden sie sich überhaupt finden?« Sie grinste. »Hallo, ich bin eine grüne Seele, du auch?«

Lily knurrte.

»Was macht dich da so sicher?«

»Ich weiß es einfach«, erwiderte Stella schnippisch.

»Leute, keinen Streit, ja?«, versuchte Cathryne die beiden zu beruhigen.

»Ist doch wahr«, motzte Stella. »Anstatt hier so einen Blödsinn zu erzählen, sollte sie sich auf wichtige Dinge konzentrieren. Sie ist hier nicht in der Schule um irgendwelche Hirngespinste zu verbreiten.«

»Jetzt hör aber mal auf!«, protestierte Lily. »Du hast nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wovon ich überhaupt spreche.«

»Das brauche ich auch nicht, weil es Unsinn ist. Demnächst kommst du hier noch mit einer Wünschelrute, um deinen Seelenpartner zu finden.« Stella lachte laut.

»Du bist so eine arrogante Zicke«, keifte Lily, wandte sich ab und lief davon.

»Lily!«, rief Cathryne ihr nach.

»Du brauchst sie nicht. So eine unreife Person …«

»Du hättest sie nicht so provozieren müssen«, tadelte Cathryne.

»Ach, komm schon, glaubst du etwa an so einen Blödsinn?«

»Nein, natürlich nicht … Aber …«

»Lass sie einfach. Sie wird sich schon wieder beruhigen. Du solltest dich lieber auch auf die wichtigen Dinge konzentrieren.«

Mit diesen Worten stand Stella auf. »Was meinst du damit?«, fragte Cathryne.

Doch Stella antwortete ihr nicht. Sie lief in Richtung des Schulgebäudes und war kurze Zeit später im Gewühl der anderen Schüler verschwunden.

Meinte sie etwa die Prüfungen? Aber bis dahin ist es doch noch eine Ewigkeit hin, dachte Cathryne.

Sie schüttelte ihr Haar. »Merkwürdig.«

Doch sie fand keine Gelegenheit mehr, Stella danach zu fragen, denn in diesem Moment läutete es zur letzten Stunde.

 

Kapitel 6

 

Eigentlich wollte Cathryne nach der Schule noch einmal mit Lily und Stella sprechen, doch irgendwie hatte sie die beiden aus den Augen verloren. Deshalb machte sie sich unverzüglich auf den Weg nach Hause in die luxuriöse Behausung. Ihre Mutter war ganz stolz gewesen, als sie ihr den unterschriebenen Mietvertrag zeigte. Cathryne freute sich zwar mit ihr, aber sie wusste, dass sich ihr Leben seitdem grundlegend ändern würde. Ihre Mutter wollte nur das Beste für sie, das war ihr klar. Die Frage war, wusste das auch ihre Mutter?

Melissa hatte als einfache Verkäuferin in einer Boutique angefangen. Als die Inhaberin starb, übernahm sie den Laden. Durch harte Arbeit und einige glückliche Entscheidungen hatte sich die Boutique zu einer wahren Goldgrube entwickelt. Mittlerweile waren sowohl die Auswahl der Kleidung als auch die Kundschaft exklusiver geworden. Und die Einnahmen waren derart hoch, dass Melissa sich dazu entschied, weitere Filialen ihrer Boutiquenkette ›mel choice‹ zu eröffnen. Doch mit dem großen Erfolg kamen für Melissa auch die Schattenseiten, die schließlich auch Cathryne zu spüren bekam. Aus Angst, ihrer Tochter könnte etwas passieren, schickte sie Cathryne auf das Princeton College, welches sie wegen der guten Sicherheitsvorkehrungen ausgewählt hatte.

»Ich bin wieder da«, rief Cathryne, als sie die Tür öffnete. Sie hoffte, dass ihre Mutter bereits von ihrem Termin zurück war.

Anscheinend nicht, dachte Cathryne und erklomm die Treppen ins Obergeschoss. In ihrem Zimmer zog sie sich zunächst bequemere Kleidung an, ehe sie ihre Schultasche leerte und sich an die Hausaufgaben machte. ›Englische Geschichte‹ bereitete ihr heute die meisten Probleme, doch Gott sei Dank gab es das Internet, sodass sie nach wenigen Minuten der Suche die passenden Antworten fand. Sie empfand es nicht als Schummelei, statt der Bibliothek das Internet zu benutzen. Deshalb konnte sie auch ihre Mitschüler nicht verstehen, die die Nachmittage damit verbrachten, umfangreiche Bücher zu wälzen. Sie war kein Lesemuffel, doch sie vergnügte sich lieber mit kurzweiliger Belletristik als mit ausufernden Enzyklopädien.

»Immer noch Trigonometrie!« Gelangweilt setzte sie den Stift auf das Papier ihrer Mathematikhausaufgabe. »Langsam könnte er sich mal etwas Neues einfallen lassen.«

Als sie die letzte Aufgabe gelöst hatte, legte sie ihre Schulsachen beiseite und schaltete die Schreibtischlampe aus.

Dann blieb sie regungslos sitzen. Normalerweise hätte sie jetzt den Fernseher angeschaltet und den Nachmittag auf ihrem Bett verbracht.

Aber die Ereignisse des Tages hingen ihr noch nach. Sie hatte zwei neue Mitschüler bekommen, die sich in dieser Schule genauso fehl am Platz fühlen wie sie. Jedoch verstand sie nicht, wieso sie sich in der Nähe der beiden Mädchen wohlgefühlt hatte. Stella und Lily hatten etwas an sich, dass eine unglaubliche Anziehungskraft ausübte. Ging es nur ihr so, oder würden auch andere Schüler auf die beiden Teenager aufmerksam werden?

Cathryne blinzelte. Schluss mit den Gedanken, tadelte sie sich selbst. Sie stand auf und streckte sich. Ein Druckgefühl in den Fingern ihrer rechten Hand ließ sie stutzig werden. Verblüfft stellte sie fest, dass sie einen Bleistift umklammerte. Sie Fingerkuppen waren mittlerweile blutleer, so verkrampft hielt sie den Stift.

Nanu, wunderte sie sich. Als sie auf den Schreibtisch blickte, stockte ihr der Atem.

Vor ihr lag eine Zeichnung. Sie erkannte eine weite Wiese, das Gras wog sanft im Wind. Im Hintergrund konnte sie die Sonne sehen, die auf- oder unterging.

Inmitten dieser Wiese stand ein alter Torbogen aus grob gemauerten Steinen. An dem Torbogen war ein Stück Papier befestigt, welches seltsame Symbole zeigte.

Cathryne blickte ungläubig das Bild an. Wann hatte sie es gezeichnet?

Grundsätzlich war es nicht ungewöhnlich. Sie liebte es, zu zeichnen. An ihren Wänden hingen einige Bilder, die sie selbst gezeichnet hatte. Sie zeigten Szenen aus ihren bisherigen Urlaubsorten. Meer und Strand, Berge, weite Landschaften, der Grand Canyon.

Cathryne zeichnete am liebsten Stillleben. Zwar konnte sie Personen zeichnen, doch sie tat es nur selten. Sie saß an jeder Zeichnung so lange, bis sie jedes Detail bestmöglich ausgearbeitet hatte. Das konnte manchmal Tage oder auch Wochen dauern. Hin und wieder verwarf sie ihre Zeichnungen trotzdem, um es beim zweiten Mal besser zu machen.

Aber sie hatte sich bisher immer an jedes einzelne Bild erinnert, egal wie sehr ihre Gedanken abschweiften.

Dann fiel ihr noch etwas auf. Im Gegensatz zu ihren anderen Zeichnungen zeigte dieses Bild eine Landschaft, die ihr vollkommen unbekannt war.

»Wieso zeichne ich etwas, das ich nicht kenne?« Panisch schritt sie auf und ab. »Oh mein Gott, was ist gerade mit mir passiert?«

Cathryne zuckte zusammen, als die Tür aufflog und Melissa, die zwischenzeitlich nach Hause gekommen war, mit besorgtem Gesicht nach ihrer Tochter sah.

»Alles in Ordnung? Mein Gott, du zitterst ja.«

»Mir … Mir geht’s gut, Mum.«

Melissa blieb noch einige Augenblicke in der Tür stehen.

»Alles in Ordnung, Mum, wirklich.« Langsam schloss Melissa die Tür.

Cathryne wartete, bis sie die Absätze ihrer Mutter am Fuß der Treppe hörte. Dann stürzte sie zu dem Bild.

»Warum kann ich mich nicht erinnern?«

Ein beunruhigender Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Cathryne hatte gehört, dass Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung ähnliche Symptome zeigten.

»Nein, das darf nicht wahr sein«, flüsterte sie. Verzweifelt ließ sie sich auf dem Bett nieder und schaltete den Fernseher an, um die Sache mit dem Bild vorerst zu verdrängen.

 

Kapitel 7

 

In ihrem Übergangszuhause hatte sie zunächst die seltsame Kleidung abgelegt, die sie schon so lange nicht mehr getragen hatte. Danach war sie sofort in die Badewanne gestiegen. Eigentlich hätte sie zuerst ihren Bericht übermitteln sollen, doch sie hoffte, dass man ihr diese Verzögerung nachsehen würde, da es beizeiten doch recht schwierig war, über Telepathie Kontakt aufzunehmen. Zu sehr war die Umwelt inzwischen durch Handystrahlung und WLAN-Netzen belastet, als dass ein ständiger Gedankenaustausch auf mehrere Kilometer reibungslos verlief.

»Cathryne Bennett«, murmelte sie. »Nettes Mädchen.«

Da sie auch diesmal keinen geistigen Kontakt aufbauen konnte, griff sie noch während des Badens, von Schuldgefühlen geplagt, nach ihrem Handy und wählte eine Nummer.

 

 

*

 

 

Im Konferenzraum wartete man gespannt auf den ersten Lagebericht. Ihre Agentin war spät dran, sodass die Radikalen in der Gruppe den Einsatz schon für gescheitert erklärten und am liebsten umgehend ein Sondereinsatzkommando auf den Weg geschickt hätten. Doch etwa eine Stunde nach der vereinbarten Zeit klingelte das Telefon. Sofort herrschte Stille im Raum, als der rothaarige Einsatzleiter den Anruf annahm und ihn auf den Lautsprecher legte.

»Schön, dass du dich auch mal meldest«, sagte er schnippisch.

Der braunhaarige Mann lachte.

»Tut mir Leid«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Ich konnte keine Verbindung aufbauen. Und in der Öffentlichkeit wollte ich nicht telefonieren.«

»Ist okay. Also … was kannst du berichten?«

»Wie gewünscht habe ich Kontakt zur Zielperson aufgenommen.«

»Und, was konntest du über sie in Erfahrung bringen?«

»Leider nicht sehr viel. Die Informationen, die ich bisher sammeln konnte, habe ich bereits per E-Mail an Euch weitergeleitet.«

Der Rothaarige öffnete die Nachricht und überflog den Text.

»Viel ist es nicht, ich weiß«, erklärte sich die Stimme am Telefon. »Auch den vermuteten Feindkontakt kann ich weder bestätigen noch widerlegen.«

Unruhe erfasste die Anwesenden. Wieder wurden Rufe nach Abbruch der Mission laut.

»Hast du die Lage unter Kontrolle?«, fragte der Braunhaarige durch den Tumult hindurch.

»Bisher gibt es keine Probleme. Falls die vermutete Person wirklich eine Spionin der Gegenseite ist, dann verhält sie sich äußerst unprofessionell. Erlaubt mir diese persönliche Bemerkung, sie stolpert fast über ihre eigenen Füße, wenn ihr wisst, was ich meine.«

»Behalte sie weiter im Auge. Wir können nicht riskieren, dass sie unserer Zielperson zu nahe kommt.«

»Wie soll ich mich verhalten?«, fragte die Agentin.

»Notfalls verfährst du mit ihr, wie mit unserer Zielperson.«

»Ist diese Maßnahme nicht zu drastisch?«

»Nein. Solltest du scheitern, müssen wir beide als unsere Feinde betrachten und sie töten.«

Einen Augenblick schwieg die Anruferin.

»Ich habe verstanden«, gab sie schließlich zurück.

»Noch etwas«, sagte der Einsatzleiter. »Wir haben Grund zur Annahme, dass unsere Zielperson bereits bemerkt, dass sie außergewöhnlich ist. Versuche, mehr darüber herauszubekommen, und das für dich auszunutzen.

»Verstanden«, antwortete die Agentin. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen muss?«

»Nein. Versuche, den Feindkontakt zur Zielperson zu untergraben, so gut es geht.«

»Okay. Vielen Dank.«

»Bis morgen«, sagte der Rothaarige und trennte die Verbindung.

»Ihr habt es gehört, bisher läuft alles nach Plan«, richtete er sich jetzt an die Gruppe.

»Nach Plan? Das hört sich für mich aber nicht so an!« Einer der Anwesenden aus der hinteren Reihe, ein hagerer Mann, mit blondem Haar und Ziegenbart, war aufgestanden.

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Wir haben möglichen Feindkontakt. Wir sollten die Operation sofort abbrechen und unsere Einsatztruppen in Stellung bringen.«

Der zweite Einsatzleiter, dessen braune Haare ihm wirr vom Kopf hingen, wandte sich dem Fenster zu.

»Ich sehe keinen Grund für diese Maßnahme. Unsere Agentin konnte bisher keinen Feindkontakt eindeutig bestätigen. Deshalb werden wir uns im Hintergrund halten«, gab er den übrigen zu verstehen.

»Das ist Wahnsinn. Ihr bringt alle in Gefahr!« Der hagere Mann ballte die Fäuste.

»Wir werden wie geplant fortfahren. Ende der Diskussion«, antwortete der Rothaarige.

Wütend stapfte der Blonde davon.

»Wir werden es schaffen«, murmelte der braunhaarige Mann mehr zu sich selbst, ehe er sich vom Fenster abwandte.

 

 

*

 

 

Das Gespräch hatte nicht viel Nützliches zutage gefördert. Sie hatten ihr nochmals eingeschärft, wie wichtig es war, dass diese Mission gelang. Und sie hatten ihr klar gemacht, dass sie im Notfall zu drastischen Methoden greifen und die Gegenseite sofort vernichten durfte.