Tante Inge haut ab - Dora Heldt - E-Book
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Tante Inge haut ab E-Book

Dora Heldt

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Beschreibung

Für einen Neuanfang ist man nie zu alt.  »Die Frau am Ende des Bahnsteigs trug einen roten Hut und sah aus wie Tante Inge. Nur dass die niemals Hüte und schon gar nicht ihr Gepäck tragen würde.« Urlaub auf Sylt! Selig begrüßt Christine (46) am Bahnhof ihren Johann, da tippt das Unheil ihr auf die Schulter: Die Frau mit dem roten Hut ist tatsächlich Tante Inge (64), Papas jüngere Schwester. Aber was macht sie allein auf Sylt? Noch dazu mit so vielen Koffern? Für Papa Heinz kann dies nur eines bedeuten: Inge will Walter, den pensionierten Finanzbeamten, samt gemeinsamem Reihenhaus verlassen. Als dann auch noch Inges divenhafte Freundin Renate mit ihrem Faible für (nicht nur alleinstehende) ältere Männer auftaucht, platzt Mama Charlotte der Kragen: Walter muss her, und zwar sofort! Christine stimmt Inges unbändige Lebenslust unterdessen nachdenklich. Mit Mitte 60 wagt ihre Patentante einen Neuanfang – und sie selbst?  

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Seitenzahl: 423

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Dora Heldt

Tante Inge haut ab

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Anika und Till,

mit dem festen Vorsatz,

als Patentante nie anstrengend zu werden.

Hoffentlich klappt es!

Die Frau am Ende des Bahnsteigs trug einen roten Hut und sah aus wie Tante Inge. Nur dass die nie Hüte und nur im äußersten Notfall ihr Gepäck tragen würde. Christine kniff die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Aber es konnte nicht sein. Schließlich stand sie hier in Westerland.

Christine verlor die Frau aus dem Blick und konzentrierte sich auf die Zugtüren. In einer von ihnen würde er auftauchen, Johann, der wunderbarste Mann überhaupt. Sie hatten sich in letzter Zeit viel zu selten gesehen. Aber heute war der erste Tag ihres gemeinsamen Urlaubs. Zwei Wochen Sylt im Mai, es war einfach grandios. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Immer mehr Menschen bevölkerten den Bahnsteig, der Zug musste brechend voll gewesen sein. Endlich sah sie ihn. Er stieg aus einem der hinteren Wagen. Christine versuchte, ihm entgegenzulaufen. Die Menschenmassen machten das Vorhaben fast unmöglich, zumal Johann aus irgendeinem Grund stehen geblieben war. Christine hatte ihn fast erreicht, als sie sah, dass sich der Strom um ein Hindernis teilte. Mitten auf dem Bahnsteig stand ein voll beladener Gepäckwagen. Die Frau mit dem roten Hut saß darauf und ignorierte die Flüche und irritierten Gesichter derjenigen, die plötzlich ausweichen mussten oder gleich dagegengerannt waren. Sie lächelte einfach alles weg.

Johann rieb sich schmerzverzerrt das Schienbein. Christine hatte nur Augen für ihn, kam endlich bei ihm an, fasste nach seiner Schulter, er drehte sich um, sie sah sein Lächeln, fühlte plötzlich seine Hände und Arme, roch sein Rasierwasser und schloss die Augen beim Kuss. Die Welt versank, das Leben war großartig.

Bis sich jemand hinter ihr räusperte. Und eine Stimme, die wie Tante Inge klang, sagte: »Na? Ist das dein neuer Freund?«

Christine zuckte zusammen, löste sich von Johann und sah die Frau auf dem Gepäckwagen an. Es war Tante Inge. Nur mit Hut. Und ohne Onkel Walter. Aber bestens gelaunt und mit sehr viel Gepäck. Sie legte den Kopf schief und musterte den verblüfften Johann.

»Sehen Sie, man sollte immer so freundlich wie möglich pöbeln, man weiß nie, wen man vor sich hat. Ich bin Christines Patentante. Ich halte den Westerländer Bahnhof zwar nicht für den idealen Ort, um sich kennenzulernen, aber bitte. Seid ihr nicht etwas zu alt, um hier öffentlich zu knutschen? Na ja, müsst ihr wissen.« Sie drehte sich wieder zum Gepäckwagen. »Habt ihr eine Ahnung, wie man dieses Monstrum in Bewegung setzt?«

Johann reagierte endlich. »Sie müssen den Griff drücken, sonst bremst er. Ich habe auch nicht gepöbelt, das war ein Schmerzensschrei. Kommen Sie, ich schiebe den Wagen, wo wollen Sie denn hin?«

Christine starrte ihre Tante noch immer an. Sie war dünner geworden, trug einen engen Rock, eine helle Bluse und einen vermutlich teuren Mantel. Die Handtasche passte zum Hut. Inge wirkte irgendwie verändert. Sie nahm die Handtasche vom Wagen.

»Ach, so einfach? Na, dann mal los. Was ist? Kommst du, Christine?«

Christine musste zweimal tief Luft holen, bevor sie sprechen konnte. »Was machst du denn hier? Papa hat gar nicht erzählt, dass du kommst. Sonst hätten wir uns doch gar nicht in der Dachwohnung einquartiert. Das ist viel zu eng, zu dritt. Und wo ist Onkel Walter?«

Tante Inge lächelte ihre Nichte an. »Reg dich nicht auf. Ich schlafe nicht bei euch auf der Ritze, ich habe mir bei Petra eine Ferienwohnung gemietet. Mein Bruder weiß gar nicht, dass ich komme. Und Onkel Walter ist zu Hause, wo sonst. Ich habe aber nicht die geringste Lust, über ihn zu sprechen. Ich denke, es ist an der Zeit, mein Leben zu verändern. Und jetzt kommt, ihr könnt mich zu Petra fahren, diese Taxipreise finde ich sowieso übertrieben.«

Sie rückte den ungewohnten Hut zurecht, sie hatte ihn viel zu tief ins Gesicht gezogen, und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang.

Christine sah ihr mit offenem Mund hinterher, während Johann seine Reisetasche schulterte und sich mit dem voll beladenen Gepäckwagen in Bewegung setzte.

 

Sie hatte Tante Inge vor einem knappen Jahr das letzte Mal gesehen, bei einem Familienfest in Dortmund, als Onkel Walter seinen 65. Geburtstag gefeiert hatte. Das Lokal hieß »Eichenhof«, es gab gemischten Braten mit Gemüseplatte und Kroketten, hinterher Schnaps, und alles war in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass Tante Inge in ihrer Rede sagte, dass sie Walters Rentnerdasein in die Gefahr bringen würde, ihn irgendwann einmal auf dem Sofa zu erschlagen. Es sei denn, er suche sich endlich ein vernünftiges Hobby. Und damit wären nicht die Bundesliga und seine Kegelrunde gemeint, das reiche ihr nicht aus. Onkel Walter guckte zwar etwas beleidigt, doch keiner hatte es ernst genommen. Tante Inge war noch nie diplomatisch gewesen.

Christine hatte für einen kurzen Moment das Bild des erschlagenen Walters auf dem blutgetränkten Sofa vor Augen, zwang sich aber sofort, es wegzublinzeln und stattdessen Tante Inge anzusehen, die neben dem Auto stand und beobachtete, wie Johann ihre Gepäckstücke im Kofferraum verstaute.

»Was heißt, es ist an der Zeit, dein Leben zu verändern? Was ist denn mit Onkel Walter?«

»Hm?« Ihre Tante betrachtete konzentriert Johanns Packkünste. »Wenn Sie die rote Tasche längs legen, geht es vielleicht besser. Oder erst den großen Koffer und dann die Tasche.«

»Ich habe gefragt, was mit Onkel Walter ist.«

»Ich sagte es doch bereits, ich will nicht darüber reden. So, na bitte, geht doch. Jetzt den Deckel zu und ab. Ihr könnt mich direkt zu Petra nach Kampen fahren, keine Umwege bitte, ich muss ganz dringend zur Toilette.«

Johann schlug den Kofferraumdeckel mit Schwung zu und wischte sich über die Stirn. »Wollen Sie vielleicht hier noch mal …? Also, wir haben ja Zeit.«

»Nein, schönen Dank.« Inge setzte sich auf den Beifahrersitz und knöpfte ihren Mantel auf. »Ich gehe nicht auf fremde Toiletten. Man weiß ja nie … Können wir jetzt fahren?«

Christine sah Johann fragend an, er nickte und stieg hinten ein. Mit einem Blick auf die vier fast fünf Meter hohen Skulpturen auf dem Bahnhofsvorplatz öffnete Christine die Fahrertür. »Reisende Riesen im Wind« hieß dieses Kunstwerk, vier grüne Gestalten, die sich gegen den Wind stemmten. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen.

Während sie an der Post vorbeifuhren und in den Bahnweg bogen, drehte sich Inge um und musterte Johann nachdenklich. Dann lächelte sie freundlich.

»Sie sind also Johann. Wohnen Sie noch in Bremen, oder haben Sie sich schon bei Christine eingenistet?«

Johann suchte Christines Blick im Rückspiegel. Sie nickte ihm beruhigend zu.

»Ich wohne in Bremen, ich habe da meinen Job. Es war nie die Rede davon, mich bei Christine einzunisten.«

Tante Inge sah wieder auf die Straße. »Dann ist ja gut. Christine hat da nämlich ein Händchen für, sie sucht sich gern Männer aus, die sie durchbringen muss.«

»Tante Inge!«

Sie lächelte. »Komm, du bist schon mal geschieden. Und jetzt kannst du dein Geld allein ausgeben. Das geht überhaupt nicht gegen Sie, Johann, verstehen Sie das bloß nicht falsch, Sie sind mir ja ganz sympathisch. Ich halte nur nichts davon, sich in so jungen Jahren zu binden. Wer weiß, was noch alles passiert.«

Johann antwortete sehr höflich. »Ich bin 48. Und Christine ist zwei Jahre jünger. So jung sind die Jahre ja nun auch nicht mehr.«

»Stimmt.« Tante Inge nickte. »Ich vergesse das immer. Meine Güte, Christine, 46 bist du schon?«

Christine hielt vor einer roten Ampel. Tante Inge deutete nach links.

»Du musst hier abbiegen, List, Kampen, Wenningstedt. Hast du gesehen, oder?«

»Tante Inge …«, die Ampel schaltete auf Grün, Christine bog links ab, »darf ich dich daran erinnern, dass ich mich auf der Insel auskenne? Guck mal, Johann, dort drüben ist der Flughafen und dahinter der Marine-Golfplatz.«

»Ah ja.« Johann blickte zum Heckfenster hinaus. Tante Inge beobachtete ihn dabei. »Falls Sie einen Golfplatz sehen wollen, müssen Sie sich den Hals nicht so verrenken. Da kommt gleich noch einer. Der Golfclub Sylt. Sagen Sie bloß, Sie spielen Golf? So alt sind Sie doch noch gar nicht. Oder machen Sie dabei windige Geschäfte?«

Christine stöhnte leise auf. »Tante Inge, bitte!«

Inge klappte die Sonnenblende runter und kontrollierte ihre Frisur. »Wie auch immer. Jedenfalls gibt es hier genug Golfplätze. Vier insgesamt. Da können Sie sich richtig austoben.«

Johann blieb gelassen. »Ich spiele kein Golf. Ich jogge.«

»Macht ja nichts«, antwortete Inge.

Mittlerweile hatten sie Kampen erreicht. Christine fuhr auf der Hauptstraße, vorbei an hübschen Reetdachhäusern, und bog in den Braderuper Weg ein. Sie sah ihre Tante an, die versonnen aus dem Fenster guckte.

»Wie heißt die Straße noch mal, in der Petra wohnt?«

»Wuldeschlucht. Die fünfte links. Ich denke, du kennst dich aus?«

Ihre Nichte gab keine Antwort. Johann verbiss sich ein Grinsen. Sie hielten vor einem Reetdachhaus mit blauen Gauben. Auf dem Schild stand »Uns to Hus«. Inge öffnete die Autotür, bevor Christine den Motor abgestellt hatte.

»Danke fürs Herbringen. Johann, tragen Sie mir das Gepäck bitte rein? Christine, du kannst im Wagen sitzen bleiben, du parkst so blöd. Ich komme später bei euch vorbei, bis dann.«

Tante Inge eilte mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Johann folgte ihr in gebührendem Abstand mit ihrem vielen Gepäck. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.

 

Christine hatte Johann unter etwas schwierigen Umständen kennengelernt. Im letzten Sommer hatte sie ihren Vater mit nach Norderney nehmen müssen, wo sie einer Freundin bei der Renovierung einer Kneipe helfen wollte. Sie konnte sich nicht wehren, ihre Mutter bekam ein neues Knie und hatte einfach beschlossen, dass Töchter sich im Notfall um ihre Väter zu kümmern hatten. Auf der Insel angekommen, vergaß Heinz leider, dass Christine 45 war, und verfiel in alte Muster. Anfangs behielt Christine noch die Nerven, aber als Heinz begann, die vorsichtige Annährung zwischen seiner Tochter und dem Pensionsgast Johann zu torpedieren, nur weil der seiner Meinung nach »tückische Augen« hatte, reichte es ihr. Heinz leider nicht. Er steigerte sich in die Vorstellung hinein, Johann wäre ein Heiratsschwindler, und setzte – angefeuert von seinem Jugendfreund Kalli und einem ziemlich durchgeknallten Inselreporter – alles daran, ihn auffliegen zu lassen.

Es kam zu erheblichen Komplikationen.

Es hatte sich zwar alles geklärt, aber Christine befürchtete, Johanns Meinung über ihren Vater sei durch die Norderneyer Eskapaden maßgeblich beeinflusst. Der zweiwöchige Urlaub im Haus ihrer Eltern sollte Johann davon überzeugen, dass sie aus einer durchaus zivilisierten, eigentlich reizenden und vor allen Dingen völlig normalen Familie stammte und dass das Verhalten von Heinz ein Ausrutscher gewesen war. Dass Tante Inge nun plötzlich auftauchte, war dabei nicht eben hilfreich.

Johann kam langsam zurück, setzte sich auf den Beifahrersitz. Christine legte ihre Hand auf sein Knie.

»Tante Inge ist die Schwester von Heinz. Und meine Patentante. Sie ist sehr nett.«

»Ja. Klar.« Er schnallte sich umständlich an. »Ein bisschen direkt vielleicht.«

Christine startete den Motor. »Wollen wir noch etwas trinken, oder fahren wir direkt zu meinen Eltern?«

»Lass uns erst mal irgendwo etwas trinken. Bitte.«

Während Christine losfuhr, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich hatte Tante Inge sich einfach nur entschlossen, bei der Tochter einer Freundin ein paar Tage friedlich auszuspannen.

 

Eine halbe Stunde später saßen sie auf der Terrasse von »Wonnemeyer« in Wenningstedt und blickten aufs Meer. Wasser beruhigt, Christine hoffte, dass es auch bei Johann wirkte. Er trank stumm ein Weizenbier, während sie in ihrem Kaffee rührte. Runde um Runde. Schweigend. Endlich hob er den Kopf.

»Es ist ja wirklich albern, dass ich mich in meinem Alter noch nervös machen lasse, nur weil ich mit dir für zwei Wochen zu deinen Eltern fahre.«

Christine fand nicht, dass es albern war, schließlich hatte ihr Vater ihn bereits auf Norderney Blut und Wasser schwitzen lassen. Das konnte sie aber nicht zugeben.

»Johann, mein Vater ist in Wirklichkeit ganz anders. Er hat sich nur ein bisschen verrückt machen lassen. Das war alles. Wenn du ihn erst besser kennst, wirst du das merken. Er neigt sonst nie zu irgendwelchen wilden Aktionen. Eigentlich hat er überhaupt keine Fantasie. Er ist ganz friedlich.«

Johanns Blick blieb skeptisch. Aber das Meer schien ihn zu beruhigen. Wenigstens gab er sich Mühe.

»Vermutlich. Und deine Tante Inge? Ist die sonst auch ganz anders?«

»Ja. Sie ist ganz reizend. Sie ist seit 45 Jahren mit Onkel Walter verheiratet, sie haben eine Tochter, Pia, die in Berlin lebt und gerade vierzig geworden ist. Mein Onkel war Steuerinspektor, er ist vielleicht ein bisschen dröge, aber auch sehr lieb. Inge ist auf Sylt aufgewachsen, sie kommt ein paarmal im Jahr her und besucht ihre alten Bekannten, das ist ganz normal.«

Christine plapperte sich selbst ruhig. Inge kam nie ohne Onkel Walter. Erneut tauchte in ihrem Kopf das Bild des blutgetränkten Sofas auf, das sie sofort verscheuchte.

»Und warum will deine reizende Tante jetzt ihr Leben verändern?«

»Ach, das war doch nur so ein Spruch. Vermutlich meinte sie damit nur, dass sie ohne Onkel Walter verreist ist. Das hat sie seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht.«

Christine graute bei dem Gedanken, was für eine Aufregung Inges Auftauchen ohne Walter bei der übrigen Familie auslösen würde. Vor allen Dingen bei Heinz.

»Hm …« Johann musterte Christine. »Ich habe dich schon besser lügen hören. Wie auch immer: Ich habe auf Norderney Heinz überlebt, da werde ich auch mit dem Rest deiner Familie fertig.« Er beugte sich vor, um ihre Hand zu nehmen. »Wir können ja mal mit deinen Eltern essen gehen, meinetwegen auch mit deiner Tante … aber ich hoffe doch, dass wir die meiste Zeit für uns haben.«

»Bestimmt.« Christines Antwort kam ganz schnell. »Tante Inge will sicher nur ein paar Tage Urlaub machen. Und dann wird ihr Bruder sich auch um sie kümmern, wir werden die beiden also kaum zu Gesicht bekommen. Und außerdem sind wir in der Dachwohnung sowieso ganz für uns.«

Was um alles in der Welt, fragte Christine sich, meinte Inge nur damit, dass sie ihr Leben verändern wollte?

 

Heinz schoss sofort aus der Haustür, als das Auto in der Auffahrt hielt.

»Christine, du stehst mit den Vorderreifen auf der Rasenkante, du machst die ganz platt, setz mal ein Stück zurück.«

»Hallo Papa, schön, dich zu sehen, danke, wir hatten eine gute Fahrt und …«

»Ja, ja, aber fahr ein Stück zurück, ich gucke sonst den ganzen Sommer lang auf gelben Rasen.«

Johann hustete, und Christine legte den Rückwärtsgang ein. Als sie die richtige Parkposition hatte, riss ihr Vater die Beifahrertür auf und zerrte Johann beim Händeschütteln regelrecht aus dem Auto.

»Mensch, Johann, das ist ja nett, dich wiederzusehen, geht es dir gut? Siehst auch gut aus. Ja, sieh dich um, das ist jetzt Sylt, was ganz anderes als Norderney, aber es wird dir garantiert gefallen. Dann kommt mal rein, wo bleibt meine Frau denn? Charlotte, die Kinder sind da!«

Er umrundete das Auto, um seine Tochter in den Arm zu nehmen, nicht ohne einen prüfenden Blick auf die Vorderreifen zu werfen.

»Komm her, Kind, das ist ja schön, du warst so lange nicht zu Hause.«

Über seine Schulter beobachtete Christine Johann, der sich den Unterarm rieb und von ihrer Mutter herzlich begrüßt wurde. Heinz hob Christines Kinn mit dem Zeigefinger und sah sie abschätzend an.

»Und? Bist du glücklich? Ist er nett zu dir?« Wenigstens hatte er leise gesprochen.

»Ja, Papa, alles wunderbar. Du, wir wollen … ach, ist egal, ich freue mich auch auf die Tage hier. Johann muss sich mal erholen, er hatte viel Stress, er braucht einfach nur Ruhe, okay?«

Ihr Vater breitete seine Arme aus. »Das kann er haben. Wieso sagst du das so komisch? Ihr könnt euch das doch schön machen, ihr habt oben eure Ruhe. Ihr seid dort ganz allein.«

»Ich weiß, Papa. Wir können ja auch mal zusammen essen gehen. Mal einen Abend oder so.«

»Wieso? Mama kocht sowieso, da könnt ihr doch auch immer mit uns essen.«

»Papa! Ich sagte gerade, mal einen Abend oder so. Nicht jeden Tag. Wir wollen euch auch nicht stören.«

»Das sehen wir dann. So, dann kommt, Mama hat Suppe gekocht. Und hinterher gibt’s Kaffee und Butterkuchen.«

 

Nach dem Kaffeetrinken musste Johann telefonieren, Heinz ging in den Garten und Christine half ihrer Mutter beim Abwaschen. Sie hatten das gute Geschirr genommen, das durfte nicht in die Spülmaschine.

»Und?« Charlotte polierte die Kaffeelöffel. »Wie geht es dir? Ich meine, so mit Johann und der Liebe?«

Christine hatte überlegt, wann der richtige Zeitpunkt wäre, ihr von der Begegnung am Bahnhof zu erzählen.

»Gut. Weißt du, dass Tante Inge auf Sylt ist?« Alles war besser als ein Mutter-Tochter-Gespräch über Christines Liebesleben.

»Unsinn. Tante Inge ist zur Kur. Zum Fasten in Bad Oeynhausen. Das macht sie doch jedes Jahr.«

»Wir haben sie vorhin am Bahnhof getroffen. Sie trug einen roten Hut und hatte jede Menge Gepäck dabei. Sie sah irgendwie anders aus.«

»Du hast sie verwechselt. Papa hat heute Morgen mit Onkel Walter telefoniert, wegen der Steuer, er hätte sicher was gesagt.«

»Wir haben aber mit ihr gesprochen und sie zu Petra gefahren.«

Charlotte ließ ihr Geschirrtuch sinken und sah ihre Tochter stirnrunzelnd an. »Welche Petra?«

Christine nahm ihr das Tuch aus der Hand und polierte weiter. »Na, die Tochter ihrer ältesten Freundin Hanne. Sie vermietet in Kampen Ferienwohnungen.«

Ihre Mutter schnaubte. »Das weiß ich auch. Aber was will Inge da? Sie wohnt doch immer bei uns.«

»Wir sind doch hier. Das wusste sie vielleicht.«

»Woher denn? Walter hat gesagt, dass sie noch zur Kur ist. Er hätte doch wissen müssen, dass sie nach Sylt fährt. Vielleicht hat er einfach was durcheinandergebracht. Komisch. Er wird doch hoffentlich nicht senil.«

Christine warf den letzten Löffel in die Schublade und hängte das Handtuch weg. »Sie kommt jedenfalls später vorbei, dann kannst du sie selbst fragen.«

»Da stimmt irgendwas nicht.« Nachdenklich verrieb Charlotte einen kleinen Wasserfleck auf der Spüle. »Hoffentlich ist da nichts passiert.«

In diesem Moment kam Johann die Treppe runter. Es war einfach perfekt, dachte Christine, sie hatte mit diesem wunderbaren Mann zwei Wochen Urlaub. Sie beide, ganz alleine. Bei dem Gedanken daran bekam sie weiche Knie und ein rotes Gesicht. Als er vor ihr stand, küsste sie ihn und flüsterte: »Komm, ich zeige dir den Strand. Lass uns fahren.«

Wenn sie gewusst hätte, was noch alles auf sie zukommen sollte, wäre sie mit ihm zwei Wochen am Strand geblieben. Egal, wie das Wetter gewesen wäre.

Kampen, im Mai

Liebe Renate,

Du glaubst nicht, was ich getan habe!

Du hattest ja so recht: Walter hat sich während meiner Kur natürlich überhaupt nicht verändert. Von wegen, er hätte sich vier Wochen selbst versorgt und alles allein geregelt. Montag, Mittwoch und Freitag hat er bei den Nachbarn rechts von uns gegessen, Dienstag und Donnerstag bei Pias Schulfreundin Jutta, und am Wochenende hat er sich im Fußballstadion eine Wurst gekauft. Dafür macht er jetzt alle Steuererklärungen umsonst und kommt gar nicht mehr von der Rechenmaschine weg. Und das als Rentner.

Der Gipfel passierte dann am letzten Donnerstag. Da kam er an und sagte, ich wollte doch immer mal zu Lesungen oder ins Theater, er hätte jetzt Karten besorgt für einen sehr interessanten Vortrag. Ich sollte mich schick machen, er würde mich hinterher noch zu einem Drink (das hat er wirklich gesagt! Drink!) ausführen. Das passte mir gut, ich wollte ja unbedingt etwas Wichtiges mit ihm besprechen, und das schien eine sehr gute Gelegenheit. (Um was es dabei genau geht, erzähle ich Dir mal in aller Ruhe, das lässt sich schlecht schreiben.)

Aber zurück zu diesem Abend, Renate, ich schwöre Dir, wenn nicht so viele Zeugen im Raum gewesen wären, ich hätte ihn umgebracht. Wir waren nämlich bei der AOK, bei einem Vortrag über Diabetes! Walter sagte, er hätte immer so einen stechenden Durst, garantiert würde er an Altersdiabetes leiden. Ich sollte mal genau zuhören, er wäre sich da ganz sicher. Anschließend gab es belegte Brötchen, da hat sich mein Diabetiker viermal welche mit Heringssalat geholt. Er mochte nämlich mein Abendessen nicht. (Ich hatte diesen tollen Salat mit Avocados und Sprossen gemacht. Das war ja klar, ich stehe zwei Stunden in der Küche und probiere was Neues, und der Herr haut sich anschließend Heringssalatbrötchen rein.)

Und dann der »Drink«! Zwei Pils in Jürgens Eckkneipe, der hat nämlich Premiere-Fernsehen, und da gab es eine Zusammenfassung vom englischen Fußball. Ich war vielleicht sauer! Und Walter hat das noch nicht mal mitbekommen!

Am nächsten Morgen habe ich nicht mit ihm geredet, das hat er, glaube ich, auch nicht gemerkt. Dafür ist er zum Arzt gegangen. Er hätte immer so schwere Beine, und sein Freund Günther hatte eine Thrombose. Na ja, er ist Privatpatient, deswegen bleibt unser Hausarzt wohl so freundlich.

Als Walter zurückkam, hat er nur von Günther und seiner Thrombose erzählt und dass der Arzt sich irren muss (er hat natürlich nichts gefunden). Ich habe geantwortet, dass die schweren Beine ja vielleicht auch von seinem Altersdiabetes kommen könnten, da war er ganz begeistert. Er will nun einen Zuckertest machen lassen.

Und da platzte mir der Kragen. Ich habe ihm gesagt, dass ich so nicht weiter leben will. Und dass ich eine Zeitlang verreisen werde, um über alles nachzudenken. Und weißt Du, was er geantwortet hat? »Aber Inge, Zucker ist doch keine Geisteskrankheit. So schlimm ist das doch nicht.«

Ich habe ihm gesagt, er wäre bereits geisteskrank, und habe meine Koffer gepackt. Und weil ich keine Lust habe, diese privaten Dinge mit meinem Bruder Heinz zu besprechen, also vom Regen in die Traufe zu kommen, habe ich mir bei Petra, der Tochter einer alten Freundin, für die nächsten Wochen auf Sylt eine Ferienwohnung gemietet. Ich bekomme einen Sonderpreis.

So, meine Liebe, ich sehe Dich lachen. Ich bin richtig froh, dass wir uns in der Kur getroffen haben und Du mir die Augen geöffnet hast. Wie ich Dir geschworen habe: Ich sitze nicht die nächsten zwanzig Jahre neben Walter auf dem Sofa, gucke Sportschau und Volksmusik und esse Leberwurstschnittchen mit Gürkchen. Ich nicht!

Stattdessen spaziere ich jetzt in die »Sturmhaube« und bestelle mir ein feines Mittagessen. Das brauche ich auch, bevor ich zu meinem Bruder und meiner Schwägerin fahre.

Übrigens habe ich meine Patentochter Christine hier getroffen. Sie hat einen neuen Freund. Beide Mitte Vierzig und knutschen auf dem Bahnsteig. Man muss sich wundern, jetzt fängt die wieder mit dem Blödsinn an. Sie war doch so glücklich geschieden.

Also, liebe Renate, ich halte Dich auf dem Laufenden.

Mit fröhlichen Grüßen,

Deine Inge

 

PS: Ach ja, ich habe auf der Fahrt den Hut getragen, den Du mir geschenkt hast, der soll mir Glück bringen.

Inge überflog den Brief ein letztes Mal, bevor sie ihn faltete und in den adressierten Umschlag schob. Sie nickte zufrieden und schraubte ihren Füllfederhalter zu. Er war ein Geschenk von Walter zu ihrem sechzigsten Geburtstag, ein sehr elegantes Stück, mit Gravur. Damals hatte sie sich sehr darüber gefreut, aber da hatte sie Walter auch noch nicht richtig durchschaut. Renate war entsetzt, als sie ihn ihr gezeigt hatte.

»Ein Füllfederhalter. Na, großartig! Das ist Bürobedarf, und dein Mann hat ihn garantiert von der Steuer abgesetzt. Du hättest einen Ring bekommen sollen. Oder eine schöne Reise. Aber Bürobedarf? Nein, meine Liebe, da hast du was Besseres verdient.«

Inge schrieb aber furchtbar gern mit diesem Füller, deswegen fand sie das Geschenk auch nach vier Jahren noch schön. Seufzend hatte Renate erwidert, dass sie wenigstens nicht vergessen sollte, welche Demütigung er darstellte.

Renate. Inge klebte eine Briefmarke auf den Brief und kontrollierte die Adresse. Sie waren Zimmernachbarinnen im Kurhotel in Bad Oeynhausen gewesen. Gleich am ersten Tag waren sie ins Gespräch gekommen, auf dem Parkplatz, wo Inge Walter nachwinkte, der darauf bestanden hatte, sie hinzubringen.

Ihr war schon klar, dass Walters Fürsorglichkeit auch damit zusammenhing, dass Pia ihren Audi TT bei ihren Eltern abgestellt hatte, bevor sie mit ihrem Freund in den Urlaub flog. Walter hatte seine Tochter darauf aufmerksam gemacht, dass so ein Wagen auch mal bewegt werden müsse. Pia hatte ihm etwas zögernd die Schlüssel und die Papiere überlassen. »Aber nicht so weit, Papa, und nicht so ruppig schalten, okay? Und kein Diesel tanken, das ist ein Benziner.« Natürlich hatte er ihr daraufhin einen Vortrag über irgendwelche Steuernachteile gehalten, aber das war Pia gewohnt.

Während Inge ihrem Mann hinterhersah, der auch noch das Verdeck geöffnet hatte und sein graues Haar im Fahrtwind wehen ließ, hatte sich Renate neben sie gestellt.

»Schöner Wagen.«

»Ja«, antwortete Inge höflich, während sie zusammenzuckte, weil sie mehrmals das Krachen des Getriebes hörte, »ein Audi.«

Sie drehte sich zu Renate und vergaß sofort, was sie noch sagen wollte. Renate war stattlich. Zumindest war das der Ausdruck, der Inge als Erstes einfiel. Sie war groß (mindestens 1,80 Meter), sehr weiblich (80 Kilo, großer Busen), rothaarig (sicherlich gefärbt, guter Friseur), hatte ihre langen Haare kunstvoll hochgesteckt (sehr unordentlich, war aber beabsichtigt), trug ein dunkelrotes Kleid mit silbernen Applikationen (mehr ein überdimensionaler Kaftan) und glitzerte in der Sonne (Indianerschmuck).

Sprachlos starrte Inge sie eine Weile an, riss sich dann zusammen und streckte ihr die Hand entgegen.

»Guten Tag, mein Name ist Inge Müller. Wohnen Sie auch in diesem Hotel? Ich mache wie jedes Jahr hier eine Fastenkur. Wird auch wieder Zeit.« Verlegen lachend kniff sie sich beim letzten Satz in den Hüftspeck, ließ aber sofort wieder los, weil ihr auffiel, dass Renate ungefähr das Doppelte an derselben Stelle hatte. »Also, ich meine …«

Mit einem letzten Blick auf den abfahrenden Walter beugte sich Renate zu Inge.

»Das war wohl Ihr Gatte, oder? Ich bin Renate von Graf, aber sagen Sie ruhig Renate zu mir. Ich komme auch jedes Jahr hierher. Ein bisschen Yoga, ein bisschen Sauna, was frau halt so macht, um die Seele zum Klingen zu bringen. Im Einklang mit Geist und Körper, um der Welt und den Männern zu trotzen.«

Inges Blick wurde unsicher. »Trotzen? Den Männern?«

Ein Lächeln breitete sich über Renates gepudertes Gesicht. »Ich sehe schon, Sie haben auch Ihr Päckchen zu tragen.« Sie hakte sich bei Inge unter und schob sie in Richtung Hoteleingang. »Meine Liebe, ich glaube, das ist kein Zufall, dass wir uns hier getroffen haben. Ich spüre eine gewisse Seelenverwandtschaft, wir beide werden in den nächsten Wochen viel Spaß haben. Jetzt packen Sie erst mal in Ruhe aus, und wenn Sie fertig sind, klopfen Sie einfach an meine Tür, und wir trinken ein kleines Begrüßungsschlückchen.«

Das Schlückchen hatte aus einer ganzen Flasche Sekt bestanden. Inge war beeindruckt gewesen, in welcher Geschwindigkeit ihre neue Freundin reden und schlucken konnte. Sie war zehn Jahre jünger als Inge, hatte keine Kinder und war geschiedene Zahnarztgattin.

»Wissen Sie, ich habe zwei Tage pro Woche in Werners Praxis den Empfang gemacht, habe das Haus und den Garten in Schuss gehalten, habe seine Golffreunde bekocht, unsere Urlaube organisiert, und was ist der Dank? Werner geht mit unserer Sprechstundenhilfe ins Bett.«

Inge hatte mitleidig Renates Hand genommen. »Das ist ja schrecklich. Und wie sind Sie damit fertig geworden?«

Renate hatte lässig eine Haarsträhne zurückgesteckt. »Ich habe das Haus und das Auto bekommen, und der Herr Doktor zahlt ordentlich. Das soll er auch tun, schließlich ist alles seine Schuld. Tja, der blutet, der Junge.«

Zufrieden hatte sie gelächelt und sich Sekt nachgeschenkt.

Entschlossen klebte Inge den Briefumschlag zu und steckte das Kuvert in ihre Handtasche. Statt sich in Erinnerungen zu verlieren, sollte sie sich jetzt mal umziehen. Die Kleinigkeiten, die es in der »Sturmhaube« zu essen gab, kosteten bestimmt einiges mehr als Currywurst mit Pommes in Jürgens Eckkneipe. Walter würde einen Anfall kriegen, wenn er das wüsste. Inge streckte ihren Rücken durch und betrachtete sich im Spiegel. Sie stellte sich Walters Gesicht vor.

»Tja, mein Lieber. Dann krieg du mal deinen Anfall, ich bestelle mir nämlich gleich etwas sehr Feines für mindestens dreißig Euro.«

Wenn sie danach noch einen Espresso trank, hätte sie fast 35 Euro auf den Kopf gehauen, sie lachte leise, es fühlte sich gut an. Leider würde Walter das nicht mitbekommen. Sie könnte es aber ihrem Bruder Heinz erzählen. Der regte sich auch immer gern über solche Dinge auf.

Heinz. Er war nicht so schlimm wie Walter, wenn es um Geld ging, aber im Restaurant bekam er es nicht übers Herz, die Rechnung anzugucken. Er ließ sie kommen, steckte dann Charlotte oder seinen Kindern die Brieftasche zu und ging zur Toilette. Man durfte ihm nie sagen, wie viel man bezahlt hatte, sonst bekam er schlechte Laune. Trotzdem ging er gern essen.

Walter hingegen rechnete jede Position nach, kontrollierte die Steuernummer auf dem Beleg und fragte Inge anschließend, was es gekostet hätte, wenn sie selbst gekocht hätten. »Nur so ungefähr, nicht auf den Cent. Unter zwanzig Euro?« Wenn sie nickte, stellte er zufrieden fest: »Na, wir können uns auch mal was leisten. Ich nehme noch ein Pils.«

Wenn sie alle zusammen essen gingen, blieb Heinz immer so lange auf der Toilette, bis Walter den Beleg ordentlich zusammengefaltet in seiner Brieftasche hatte.

Beim Gedanken an Heinz fiel ihr Christine ein. Sie war ihre Lieblingsnichte, auch wenn das Kind langsam Gefahr lief, ihrem Vater immer ähnlicher zu werden. Wie sie sie angeguckt hatte, völlig entsetzt. Aber dieser Johann war nicht unflott, ein bisschen grauhaarig vielleicht, aber was will man mit Ende vierzig schon erwarten? Christine hatte ziemlich abgespannt gewirkt, eine Fernbeziehung in ihrem Alter war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Zwei Haushalte, dauernd diese Fahrten, auch wenn es nur Hamburg – Bremen war. Aber vermutlich war sie froh, doch noch einen Mann gefunden zu haben, nach ihrer Ehepleite. Inge hatte diesen Bernd von Anfang an unpassend gefunden, aber es hatte sie ja keiner gefragt. Er hatte so große Hände gehabt, sah irgendwie komisch aus, redete auch viel dummes Zeug. Und das dauernd. Dieser Johann Sander hatte wenigstens schöne Augen. Und schöne Hände. Außerdem wirkte er sehr gelassen, das war gut, das würde er brauchen, Christine regte sich so schnell auf, das hatte sie von ihrem Vater. Sie hatten beide keine starken Nerven.

Inge hatte ihre neue weiße Hose angezogen und knöpfte sich den obersten Knopf der roten Bluse wieder auf.

»Du brauchst Farbe, meine Liebe«, hatte Renate in der Boutique in Bad Oeynhausen gesagt, »mach dein Leben bunt.«

Das Haarspray wirbelte durch die Luft und ließ die Frisur glänzen. Inge setzte den roten Hut auf und musterte sich im Spiegel. »Perfekt«, sagte sie laut, »Inge, für dein Alter siehst du wirklich grandios aus. Und das ist erst der Anfang. Ihr werdet euch noch alle wundern.«

Johann und Christine bürsteten sich auf der Haustreppe gerade den Sand von den Füßen, als das Taxi vor der Auffahrt hielt. Heinz stand in der Haustür und beugte sich nun nach vorn.

»Tatsächlich. Inge. Was hat sie denn da auf dem Kopf?«

»Einen Hut, Heinz.« Charlotte drückte sich an Heinz vorbei und ging dem Taxi entgegen. »Nun komm.«

Heinz stieg langsam die Treppe nach unten.

»Einen Hut. Wozu das denn? Ist sie jetzt vornehm, oder was?«

Angestrengt verbiss sich Johann das Lachen, Christine stieß ihn an.

»Los, beweise ihr, dass du nicht mein Geld willst, sei charmant!«

»Ich werde mich bemühen.« Er küsste ihren Nacken, was ihnen einen belustigten Blick von Tante Inge einbrachte, und lief mit großen Schritten zum Taxi, wo er seine Geldbörse aus der Jeans zog, um zu bezahlen. Tante Inge nickte ihrer Nichte zufrieden zu.

»Gar nicht so schlecht, dein junger Mann.«

»Tante Inge!«

»Hüte dich vor kleinlichen Männern. Ich kann ein Lied davon singen. Gehen wir in den Garten? Am besten kommt ihr gleich mit, dann muss ich die Geschichte nicht dreimal erzählen.«

Sie ging schwungvoll voraus, die anderen folgten dem roten Hut.

 

Sie warteten geduldig ab, bis Tante Inge auf dem dritten Gartenstuhl, den sie ausprobierte, sitzen blieb.

»So«, prüfend hob sie das Gesicht, »hier ist es gut. Ab einem bestimmten Alter sollte man vorsichtig mit der Sonne sein. Zur Strafe kriegt man Falten.«

Charlotte, die sich gerade setzen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne und schob ihren Stuhl etwas zur Seite.

»Ach ja? Seit wann machst du dir darüber Gedanken? Früher hast du stundenlang in der Sonne gelegen.«

»Leider. Na ja, dafür finanziere ich jetzt ganze Kosmetikkonzerne. Christine, ich meinte auch dich.«

Mit geschlossenen Augen ließ Christine sich die Sonne ins Gesicht scheinen. »Ach, Tante Inge, wenn wir mehr als drei Tage schönes Wetter haben, leihe ich mir deine teure Creme.«

Johann, der sich neben sie auf die Bank gesetzt hatte, drückte seinen Oberschenkel an ihren. Nach einem Räuspern ihres Vaters rutschte er ein Stück zur Seite.

»Wolltest du auf die Bank?«

»Eigentlich ist das mein Platz.« Heinz klang ein bisschen beleidigt. »Aber egal. Ich muss mir sowieso meine Mütze holen. Inge hat recht mit der Sonne. Ich bringe etwas zu trinken mit. Johann, komm, du kannst tragen helfen.«

Christine hielt die Augen geschlossen. Sie sagte sich, dass Johann ein erwachsener Mann war und ihr Vater 74. Es gab keinen Grund, sich einzumischen. Kaum waren die beiden weg, setzte sie jedoch ihre Sonnenbrille auf und beugte sich zu Inge.

»So, Tante Inge, jetzt erzähl. Was ist mit Onkel Walter?«

»Also …«

Sie wurde von ihrer Schwägerin unterbrochen: »Willst du nicht warten, bis Heinz wieder da ist? Sonst musst du es ja doppelt erzählen.«

»Ach, Heinz. Ich kann mir schon denken, wie der reagiert, Männer sind doch alle gleich. Er kriegt die verkürzte Version. Also, ich war doch in Bad Oeynhausen zur Kur. Und da habe ich eine sehr kluge Frau kennengelernt, Renate. Sie hat mir die Augen geöffnet. Ich bin nämlich in den besten Jahren, was man von Walter nicht behaupten kann. Ständig hat er eine neue Krankheit. Mal ist er kurz vor einem Herzinfarkt, dann hat er das Gefühl, seine Niere arbeitet nicht mehr, im Moment sind Diabetes und Thrombose seine Favoriten. Er ist unerträglich. Außer er macht für irgendeinen seiner Freunde die Steuern, dann ist er kerngesund. Aber wie es in mir aussieht, das interessiert ihn überhaupt nicht. Andere Frauen werden zum Essen ausgeführt, machen Reisen, gehen in Konzerte, bekommen Blumen und Aufmerksamkeiten, nur ich sitze neben Walter auf dem Sofa, höre mir seine neuesten Krankengeschichten an, schmiere Schnittchen und gucke Bundesliga und Tagesschau. Es reicht. Es ist so langweilig. Ich will meine besten Jahre nicht mit so was verplempern. Deshalb habe ich beschlossen, mein Leben zu verändern.«

»Du bist ja verrückt«, Charlotte ignorierte den stolzen Ton, in dem Tante Inge den letzten Satz gesagt hatte, »total verrückt. War das die Idee von dieser Renate?«

»Was heißt hier diese Renate? Sie ist eine gute Freundin von mir, sehr lebenserfahren und klug. Sie war fassungslos, dass ich mich mit so wenig zufriedengebe. Sie hat gesagt, ich hätte ja wohl etwas Besseres verdient.«

Charlotte schnaubte, aber Christine kam ihr zuvor. »Und was willst du verändern? Also, ich meine, suchst du dir jetzt einen Liebhaber? Oder machst du mit Renate eine WG auf? Oder gehst du auf eine Weltumsegelung? Was hast du vor?«

Tante Inge faltete die Hände, lehnte sich zurück und lächelte vergnügt. »Vielleicht von allem ein bisschen. Ihr werdet es rechtzeitig erfahren. Da kommen die Jungs zurück.«

 

Heinz warf einen kurzen Blick auf Johann, der mit einem Flaschenträger hinter ihm ging, und beschleunigte seine Schritte. Nachdem er sich neben Christine auf die Bank gesetzt hatte, deutete er auf den Stuhl neben seiner Frau.

»Guck mal, Johann, das ist der beste Platz im ganzen Garten. Und, Inge? Was gibt es Neues?«

»Deine Schwester ist verrückt geworden.« Charlotte griff nach einer Bierflasche und hebelte den Kronkorken weg. »Sie will sich verändern.« Sie sprach das Wort aus, als handele es sich um eine besonders widerliche Kakerlakenart.

»Wie, verändern? Inge ist 64.« Heinz warf erst einen irritierten Blick auf seine Ehefrau, die aus der Flasche trank, dann auf seine Schwester, die ihn freundlich ansah. »Bist du für so was nicht ein bisschen zu alt? Und was sagt Walter dazu?«

»Charlotte, nimm dir doch ein Glas.« Inge musterte stirnrunzelnd ihre Schwägerin. »Du bist doch kein Bauarbeiter. Walter? Der hat das noch nicht begriffen. Aber das wird er schon noch. Jedenfalls bleibe ich erst mal eine Zeitlang bei Petra.«

»Aber du willst ihn nicht verlassen, oder?«, fragte Heinz beunruhigt.

Johann zuliebe beschloss Christine, die Wogen etwas zu glätten. »Papa, lass doch. Sie macht jetzt erst mal Ferien.«

»Aber sie ist mit Walter verheiratet. Inge, ihr habt doch in fünf Jahren goldene Hochzeit. Das wollen wir doch feiern.«

»Heinz, ich will mein Leben ändern. Mir langt es. Ich bin zu jung, um in unserem Reihenhaus zu versauern. Und ich habe auch nicht mehr alle Zeit der Welt.«

Johann wand sich in seinem Stuhl. Christine bekam ein schlechtes Gewissen und stand auf.

»Tante Inge, du bist nachher doch bestimmt noch hier. Wir gehen mal eine Runde spazieren.«

Keiner beachtete sie. Stattdessen beugte sich ihre Mutter vor und sagte: »Zu jung, um im Reihenhaus zu versauern? Sag mal, was hast du denn in der Kur für Anwendungen gehabt? Und was sagt Pia zu dem Blödsinn?«

»Was hat denn meine Tochter damit zu tun? Die hat ja wohl ihr eigenes Leben in Berlin, das störe ich doch nicht.« Inge sah ihre Schwägerin durchdringend an. »Und du hast doch nur Angst, dass Veränderungen anstecken.«

»Wie bitte?«

Jetzt wurde Charlotte sauer und bekam frostige Augen.

Heinz guckte hilflos von einer zur anderen, öffnet den Mund, schloss ihn wieder und sah Christine unsicher an. Die legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter.

»Keinen Streit, bitte. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

An Johanns Gesicht und dem zufriedenen Nicken von Heinz merkte sie, dass sie den schwachsinnigsten Satz des Tages gesagt hatte.

»Jedenfalls gehen wir jetzt spazieren. Komm, Johann, bis später dann.«

Kaum waren sie um die Ecke, flüsterte Johann: »Die kriegen sich gleich in die Haare, sollen wir sie wirklich allein lassen?«

»Och«, Christine beschleunigte ihre Schritte, »wenn Erwachsene was besprechen, sollten Töchter schweigen.«

In Gedanken versunken liefen Johann und Christine durch den Lister Koog dem Sommerdeich entgegen. Auf den Seen, die sich hier bildeten, war Tante Inge früher mit Pia und Christine Schlittschuh gelaufen. Sie konnte einen kleinen Sprung und fabelhafte Pirouetten, die Mädchen waren immer furchtbar um sie beneidet worden. Außerdem hatte sie im Gegensatz zu den anderen Müttern und Tanten nie vernünftige Wintersachen getragen, sondern war immer in einem schwingenden halblangen roten Rock gelaufen. Sie war sehr elegant gewesen.

Zu Christines Konfirmation hatte Tante Inge ihr ein Medaillon und einen gelben Minirock geschenkt. Den Rock fand Heinz unmöglich, aber Inge war nun einmal seine Schwester und setzte sich durch. Im Medaillon war ein Foto von Sean Connery, in den Inge damals ein bisschen verknallt war. Christine überlegte, ob sie dieses Bild jemals ausgetauscht hatte, sie musste dringend in ihrer Schmuckdose nachsehen. Onkel Walter sah so ganz anders aus als der brustbehaarte James Bond, trotzdem war sie seit 45 Jahren mit ihm verheiratet. Und bestimmt würde sie es auch bleiben. Wie lange Frauen wohl mit Hormonschwankungen zu tun hatten? Es konnte ja gut sein, dass sich bei ihrer Tante noch wilde biochemische Prozesse abspielten, ausgelöst von ihrer Fastenkur und den Saunagängen.

Renate war wahrscheinlich eine dieser beleidigten Exfrauen, die von ihren reichen Gatten wegen einer jungen blonden Sekretärin verlassen worden waren und deshalb einen Kreuzzug gegen Ehemänner führten. Nur weil sie frustriert waren. Christine konnte sich so richtig vorstellen, wie Inge nach diversen Massagen und Fangopackungen dieser Furie in die Hände gefallen war. Als ob Inge ihr Leben tatsächlich verändern wollte. So ein Unsinn! Sie hatte doch alles und wirkte immer sehr zufrieden. Christine war sich sicher, dass Onkel Walter spätestens in drei Tagen auf der Matte stehen würde. Wenn er klug war, mit Blumen und irgendwelchen Konzertkarten.

Christine blieb stehen, als sie den Sommerdeich erreichten und Johann sie fragend ansah.

»Nach links, Richtung Ellenbogen.« Sie schob ihre Hand in seine und lächelte ihn an. »Schön hier, nicht?«

Der Liebste lächelte nicht. Stattdessen ließ er seine Augen über den Deich wandern und atmete tief durch. Christine wurde unruhig. Wenn das so weiterging, würde er ihr die reizende, völlig normale Familie nie abnehmen.

»Was denkst du gerade?«, fragte sie betont harmlos.

Eine der schlimmsten Fragen, die Frauen Männern stellen können.

»Nichts Besonderes.«

Und eine der typischen Antworten auf diese dämliche Frage. Selbst schuld.

Sie liefen schweigend weiter, und Christine versank wieder in Gedanken. Sie wunderte sich über die Reaktion ihrer Mutter. Sie trank nie Bier aus der Flasche. Eigentlich mochte sie ihre Schwägerin. Anstrengend wurde es für sie nur, wenn sich Heinz daran erinnerte, dass er Inges großer Bruder war. Inge war fast zehn Jahre jünger. Sie war ein niedliches kleines Mädchen gewesen und von ihrem Bruder vergöttert worden. Sie war schon als Kind mutig, laut, verrückt und albern, Heinz hingegen war ernst, ängstlich und schüchtern und hatte über dieses Wesen gestaunt, das so gar nichts mit ihm zu tun zu haben schien. Also hatte er beschlossen, sie zu beschützen. Und das versuchte er bis heute. Soweit Christine sich erinnern konnte, hatte Charlotte es immer schon nervig gefunden, wenn ihr Mann sich Inges Probleme zu eigen machte und dann noch versuchte, sie zu lösen. Zum Glück mochte er Onkel Walter und der ihn, sonst hätten die gut gemeinten Ratschläge für den Umgang mit seiner Schwester schon lange zu einem Familienzerwürfnis geführt. Vermutlich rief Heinz seinen Schwager heute noch an, um ihm selbst den Tipp mit den Blumen und den Konzertkarten zu geben. Ganz sicher würde sich alles wieder ordnen.

Johann fasste sie am Arm und deutete auf eine Schafherde, in der es vor Lämmern nur so wimmelte. Christine blieb stehen.

»Süß, nicht wahr? Tante Inge hat als Zehnjährige mal eines geklaut und im Garten versteckt. Sie wollte nicht, dass es gegessen wird. Es flog natürlich auf, und sie musste zur Strafe sämtliche Unterstände der Schafe streichen. Hat sie auch gemacht, aber alle knallbunt. Das gab dann erneut Ärger. Seit ich die Geschichte kenne, esse ich kein Lamm mehr.«

»Deine Tante ist schon erstaunlich. Davon abgesehen, dass sie noch toll aussieht.«

»Findest du?« Überrascht sah Christine ihn an. »Ja, sie sieht gut aus. Und was ist erstaunlich?«

»Erstaunlich ist, dass sie sich in ihrem Alter vorgenommen hat, einen Neuanfang zu wagen. Das traut sich nicht jeder.«

Etwas zu schnell winkte Christine ab. »Da warten wir mal ab. Ich glaube nicht, dass das wirklich passiert. Diese komische Renate hat sie nur kirre gemacht. Meine Tante war schon immer schnell zu begeistern. Das heißt noch nichts.«

Johann legte seinen Arm um ihre Schulter und setzte sich langsam wieder in Bewegung. »Ich glaube, sie meint es ernst. Sie sah sehr entschlossen aus. Und sie wirkte auch nicht kirre. Außerdem kennst du Renate doch gar nicht, wieso sagst du, sie wäre komisch?«

»Ach, man kennt doch diesen frustrierten, missmutigen Frauentyp, der keiner anderen ein intaktes Liebesleben gönnt. Ich kann sie mir richtig gut vorstellen. Gibt das Geld ihres Exmannes in irgendwelchen Schönheitstempeln aus und …«

»Meine Güte, Christine, du hast ja genauso viele Vorurteile wie Heinz. Vielleicht ist Renate ja auch charmant, gebildet, liest Bücher, hört gute Musik, kümmert sich mit Hingabe um ihre Patenkinder und …«

»Blödsinn! Dann würde sie sich nicht in andere Ehen einmischen. Und im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass man in Inges Alter niemals ohne triftigen Grund sein gewohntes Leben aufgibt. Und Onkel Walters eingebildete Krankheiten, die Bundesliga und irgendwelche Schnittchen sind nun mal kein Grund. Außerdem ist mein Onkel auch noch sehr nett.«

Johann grinste. »Reg dich doch nicht auf. Vielleicht hat sie ja einen Grund. Hast du schon mal was von Kurschatten gehört? Die große Liebe, die einen ereilt, wenn man gar nicht mehr damit rechnet? Die einem den Boden unter den Füßen wegzieht, auch wenn man nicht mehr jung ist? Die letzte große Chance, um wirklich glücklich zu werden?«

Beunruhigt blieb Christine stehen. »Sag mal, du Romantiker, liest du ›Brigitte woman‹, oder woher hast du solche Weisheiten? Das sind doch alles Klischees. Tante Inge und ein Kurschatten! Dass ich nicht lache!«

Der Romantiker zog sie weiter, kopfschüttelnd folgte sie ihm. Ein Kurschatten: So etwas kam nur in schlechten Romanen oder Fernsehfilmen vor. Nicht in ihrer reizenden und völlig normalen Familie.

Der Parkplatz in der Kapitän-Christiansen-Straße war voll, Christine musste gefühlte fünf Stunden die Runde fahren, bevor sie eine Frau entdeckte, die sich in einem Cayenne zentimeterweise aus ihrer Parklücke zitterte.

»Kauf dir ein Fahrrad, wenn du mit so einer Karre nicht fahren kannst.«

Als hätte sie sie gehört, sah die Fahrerin Christine plötzlich über ihre Schulter forschend an. Dann fuhr sie langsam wieder vor, riss das Lenkrad herum und setzte danach noch langsamer zurück. Bremste.

»Herrgott, soll ich ausparken? Da komm ich ja mit einem Bus rein.«

Die Autotür öffnete sich, die Cayenne-Besitzerin stieg aus. Sie war ungefähr sechzig, sehr schlank, trug viel Gold, weiße enge Klamotten, roten Lippenstift und hatte getöntes Haar und einen faltigen Hals. So musste Renate aussehen. Mit schnellen Schritten kam sie auf Christine zu.

»Entschuldigung«, sie beugte sich zu dem geöffneten Fenster, »es ist wahrscheinlich doch was dran, dass Frauen nicht einparken können. Würden Sie mich rauswinken? Ich sehe nicht genug. Nicht, dass ich noch eine Beule in den Wagen fahre.«

»Ich kann einparken.« Christine hatte leise gesprochen.

»Bitte?«

»Natürlich winke ich Sie raus. Gerne.«

Und kauf dir ein kleineres Auto, fügte Christine im Stillen hinzu. Sie fuhr ihr Auto ein Stück zurück und stellte sich hinter den Cayenne. Der Renate-Typ legte den Rückwärtsgang ein, Christine winkte, sie bremste. Christine winkte übertriebener, sie fuhr zwei Zentimeter und bremste wieder. Das Spielchen wiederholten sie ein paar Minuten, der Cayenne hatte unverändert über einen Meter Platz nach hinten.

Da riss Christine der Geduldsfaden. Mit zuckersüßem Gesichtsausdruck ging sie zur Autotür. »Entweder Sie gucken mich an, wenn ich winke, und fahren. Oder Sie lassen mich Ihr Auto rausfahren, damit ich endlich Ihren Parkplatz bekomme. Oder Sie versuchen es alleine noch für den Rest Ihres Urlaubs. Sie müssen sich nur entscheiden. Ich bin seit zehn Minuten verabredet und habe leider keine Zeit mehr.«

Augenbrauen schossen in die Höhe, Mundwinkel gingen nach unten.

»Was soll das denn? Ich habe Sie nur um einen kleinen Gefallen gebeten, meine Güte! Wenn es zu viel verlangt ist, dass Frauen sich untereinander helfen … Suchen Sie sich doch einen anderen Parkplatz, na los, worauf warten Sie noch?«

Jetzt wurde ihre Stimme auch noch schrill. Christines Halsschlagader fing an zu pochen, sie war drauf und dran, gegen das Auto zu treten. Blöde Nuss. Aber sie riss sich zusammen. Als ob sie Lust hätte, sich auf einem öffentlichen Parkplatz mit so einem Huhn zu prügeln. Im Leben nicht!

»Dann weiterhin viel Spaß und einen schönen Tag noch.«

Hoch erhobenen Kopfes ging Christine zu ihrem Auto. Der liebe Gott belohnte sie für ihre Selbstbeherrschung, denn in dem Moment wurden zwei Parklücken frei. Sie parkte komplikationslos ein.

Renate zwei saß immer noch bei laufendem Motor in ihrem Schlachtschiff. Fast bekam Christine ein schlechtes Gewissen, aber dann sah sie, dass die Dame sich in aller Ruhe die Lippen nachzog. Was war sie froh, dass sie mit solchen Weibern nichts zu tun hatte.

 

Mit fünfzehn Minuten Verspätung hetzte Christine über die Treppen zum Strandaufgang, zeigte kurz ihre Kurkarte und lief der »Badezeit« entgegen, einem Lokal, das an der Westerländer Promenade lag.

Sie hatte sich mit Luise verabredet, einer Freundin, die gerade für zwei Tage auf Sylt war. Sie hatten morgens telefoniert, und Luise hatte vorgeschlagen, sich am frühen Abend zu treffen, ihr Mann hätte berufliche Termine auf der Insel, er würde später dazustoßen. Sie sei so gespannt, was Johann für ein Typ sei. Christine hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt, weil sie sich gerade die Fußnägel lackierte, so dass Johann mithören konnte. Danach erklärte er, er komme ebenfalls später. »Weißt du, mit den alten Freundinnen, die einen unter die Lupe nehmen, ist das so eine Sache … also, ich komme gegen halb acht dazu, da ist Luises Mann ja dann auch da, oder?«

»Du kannst gern schon früher kommen.«

Er küsste sie und nickte. »Mal sehen.«

Luise war noch nicht da, trotz der Verspätung. Nachdem Christine sich im Lokal umgesehen hatte, setzte sie sich auf die Terrasse, von wo aus sie den Strand und gleichzeitig jeden ankommenden Gast im Blick hatte.

Eine unglaublich hübsche Kellnerin kam an den Tisch. Sie sah aus wie ein Model, hatte ihre langen Haare hochgesteckt und lächelte. Sie trug ein Namensschild: Anika. Auch noch ein schöner Name.

Bevor Christine etwas bestellen konnte, klingelte jedoch ihr Handy. Luise.

»Hallo, ich habe die Zeit vertrödelt, ich beeile mich, bis gleich.«

»Wollen Sie mit dem Bestellen noch warten?«

»Äh, nein, ich möchte einen Milchkaffee und ein Wasser.«

Versonnen starrte Christine ihr nach. Wieso waren manche Menschen nur so schön, hatten so eine Figur und einen solchen Gang?

Drei Minuten später kam Anika mit der Bestellung und einer Zeitung zurück.

»Die ›Sylter Rundschau‹ von heute. Falls Ihnen das Warten langweilig wird.«

Nett war sie auch noch. Während Christine ihren Kaffee trank, überflog sie die Schlagzeilen und hob zwischendurch immer mal wieder den Blick, um Luise nicht zu verpassen. Und plötzlich entdeckte sie auf der Promenade Tante Inge, die einen roten Hosenanzug trug und auf die »Badezeit« zusteuerte. Christine hatte sich schon halb erhoben, um sie zu rufen, als Inge auf einmal stehen blieb und sich umdrehte. Offensichtlich wartete sie auf jemanden. Vermutlich hatte sie Heinz im Gefolge, der mit seinen kurzen Beinen nicht hinterherkam. Hoffentlich blieben sie nicht zum Essen, Johann sollte eigentlich in Ruhe Luise kennenlernen.

Christine beugte sich über das Geländer. Doch es war nicht ihr Vater, der Inge folgte. Es war noch nicht mal jemand, den Christine kannte. Tante Inge lächelte den Mann entrückt an, der ihr den Vortritt an der Treppe ließ und ihr dann mit lässigem Gang folgte. Graumeliertes Haar, sportliche Figur, teurer Anzug und höchstens Anfang fünfzig. Also locker zehn Jahre jünger als Tante Inge.

Sie betraten zusammen das Lokal, Tante Inge hatte ihre Nichte anscheinend nicht entdeckt, obwohl sie sich konzentriert nach einem Tisch umgesehen hatte. Christine lehnte sich vorsichtig zurück und spähte in das Restaurant, wo sich ihre Tante mit dem Rücken zum Fenster auf den vierten Stuhl, den sie ausprobiert hatte, setzte. Ihr Begleiter war höflich stehen geblieben und nahm nun ihr gegenüber Platz. Er sah ausgesprochen gut aus. Und er lächelte Tante Inge an.

Christine kniff die Augen zusammen. Sah so jemand aus, dem die späte Liebe gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hatte? Wobei … eigentlich interessierte es sie viel mehr, wie Tante Inge im Moment schaute. Aber ihr Gesicht konnte sie von der Terrasse aus nicht erkennen, und ihr Rücken wirkte wie immer.

Der Unbekannte zog jetzt einige zusammengerollte Papiere aus seiner Anzugtasche, strich sie glatt und schob sie Inge hin. Christine beugte sich mitsamt dem Stuhl vor, um mitzukriegen, wie Inge reagierte. Anscheinend redete sie weiter, legte dabei aber eine Hand auf seinen Unterarm.

»Wen observierst du gerade?«

Fast hätte Christine das Gleichgewicht verloren, im letzten Moment knallte der Stuhl auf alle vier Beine zurück. Aufgeschreckt durch den Krach hoben die anderen Gäste auf der Terrasse die Köpfe.

»Oh. Nichts. Hallo Luise. Da bist du ja endlich.«

Mit einem schnellen Blick vergewisserte Christine sich, dass Tante Inge und ihr Galan sich in der Zwischenzeit nicht nähergekommen waren. Waren sie nicht. Inzwischen redete er, und ihre Hand lag auf den Papieren.