Taschengeld - Frank Habbe - E-Book

Taschengeld E-Book

Frank Habbe

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Beschreibung

Die atemlose Jagd nach einer Tasche voller Geld. Begleite Malik auf seiner Flucht aus Berlin quer durch Norddeutschland bis zu ihrem blutigen Finale auf Sylt... Durch Zufall ist Malik bei einem seiner dubiosen Jobs an einen Koffer, prall gefüllt mit Geldbündeln gekommen. Doch anstatt ihn bei seinem halbseidenen Auftraggeber Schlosser abzuliefern, beschließt er spontan, mit der Kohle zu verschwinden. Um das Geld zurückzubekommen, beauftragt Schlosser einen altgedienten Profi, der bei seiner Jagd auch vor Mord nicht zurückschreckt. Er soll nicht der Einzige sein, der sich an die Fersen des Jungen heftet, denn auch die Polizei hat es auf Malik abgesehen. Es entwickelt sich ein rasanter Wettlauf quer durch Norddeutschland, bei dem die Verfolger Malik stetig näher kommen. Ein Glück nur, dass er mit einem Mal Kristina an seiner Seite hat...

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Frank Habbe

Taschengeld

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

noch 04 Tage, 11 Stunden, 44 Minuten

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Impressum neobooks

noch 04 Tage, 11 Stunden, 44 Minuten

Konzentrier dich!

Mit starrem Blick fixierte Krauser die Hand, die das randvoll mit Wasser gefüllte Glas am ausgestreckten Arm fest umklammert hielt. Dabei zählte er leise vor sich hin - 26, 27, 28, 29, 30, 31. Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das Glas behutsam auf den Rand des Waschbeckens zurückstellte.Eine halbe Minute und keinen Tropfen verschüttet!

Das war jetzt der dritte Tag in Folge, an dem ihm das Kunststück gelang. Morgen würde er versuchen, sich auf vierzig Sekunden zu steigern. Vor vier Monaten, zu Beginn der Therapie, war es ihm nicht einmal gelungen, das Glas vom Tisch anzuheben, ohne gleich etwas zu verschütten. Sicher, da war er auf Entzug gewesen und all das Zucken und Zittern seines Körpers war ihm über Wochen ein abstoßend treuer Begleiter gewesen. Viele Male hatte er aufgegeben und es nur dank des quälend guten Zuredens der Betreuer immer wieder erneut versucht.

Krauser konnte sich noch genau daran erinnern, als er das Glas das erste Mal unfallfrei am ausgestreckten Arm gehalten und sein Mantra aufsagen konnte, bevor ihn ein unkontrollierbares Zittern im Handgelenk zur Aufgabe gezwungen hatte. Das Mantra?Fuck! Streng dich an, du Penner!Der Spruch dauerte gerade mal drei Sekunden - während der Tests stets wie eine Ewigkeit. Aber jetzt? Wieder ein kleiner Schritt.

Krauser streckte sich, um Kälte und Müdigkeit aus seinem Körper zu vertreiben. Mit dem Handrücken fuhr er über den neben dem Waschbecken angebrachten Heizkörper. Lauwarm. Er regelte die Temperatur hoch und hoffte, noch etwas von der Wärme abzubekommen. Dann nahm er die Zahnbürste und putzte sich die Zähne. Er sah auf die Uhr. Kurz nach sechs. Wie viele Jahre war er um diese Zeit von seinen nächtlichen Einsätzen zurück und auf dem WeginsBett statt daraus heraus gewesen? Er zuckte mit den Schultern. Das war vorbei. Nachdem er die Zähne geputzt hatte, zog er sich aus, stieg fröstelnd unter die Dusche und dann:Heißwasser marsch!

04:09:44

Angestrengt visierte der Mann über den Lauf der Pistole hinweg die Zielscheibe. Er kniff die Augen zusammen und verharrte einen Moment regungslos. Dann schüttelte er den Kopf und ließ resigniert die Waffe sinken. Er schaute auf sie herab. Wie ein Fremdkörper lastete sie schwer in seiner Hand. Warum bloß lieh er sich immer eine Waffe von Schlosser und nahm nie seine eigene Glock? Er biss sich auf die Lippen und setzte erneut an.Reiß dich zusammen!Keine Dreißig Meter lagen zwischen ihm und dem Bogen Papier. Trotzdem konnte er die darauf gezeichnete Figur samt der sich zum Brustkorb verjüngenden konzentrischen Kreise nur schemenhaft erkennen. Er zielte einfach auf die Mitte. In schneller Folge verschoss er das Magazin, ließ die Pistole wieder sinken. Trotz der Ohropax dröhnte der Lärm der Schüsse in seinen Ohren nach. Der schmale, unverputzt gemauerte Stall hatte mit seiner niedrigen Decke den Schall vervielfacht. Beißender Pulvergeruch stieg dem Mann in die Nase, als er die Ceska sicherte und über den staubigen Boden zur Stirnseite schritt. Dort betrachtete er stirnrunzelnd das Ergebnis seiner Bemühungen. Ein wüstes durcheinander von Einschusslöchern hatte die dünne Pappe perforiert. Immerhin befanden sich ein paar von ihnen innerhalb des gezeichneten Körpers. Der Mann schüttelte betrübt den Kopf. Er brauchte dringend mehr Training.

Wenn nur die ewige Fahrerei nicht wäre!Warum hatte Schlosser die Anlage nicht in der Nähe Berlins angelegt? Bloß damit ab und an ein paar Polen herumballern konnten, musste er bis fast an die Grenze, um zu dem abgelegenen Gehöft zu gelangen.

Der Mann riss die Pappe von dem strohgefüllten Sack und griff nach einer weiteren Zielscheiben, um sie an den Stoff zu pinnen. Dabei fuhr sein Blick über ein auf den Mauersteinen verteiltes, wirres Muster dunkel gesprenkelter Punkte. Blut, das nicht abgewaschen worden war. Schlosser hatte ihm erzählt, dass die Polen manchmal Tiere mitbrachten, um mit beweglichen Objekten zu trainieren. Zuerst hatten sie Kaninchen genommen. Die aber hatten bloß zu Tode erschreckt in der Ecke gehockt und ein zu leichtes Ziel abgegeben. Danach waren sie zu Katzen übergegangen. Die rannten wohl, wie gewünscht. Und wenn nicht, bekamen sie eine mit Schrauben gefüllte Dose an den Schwanz gebunden. Die Dinger schepperten bei jeder Bewegung, was den Viechern jedes Mal Beine machte. Die durchlöcherten Kadaver schmissen die Polen danach auf ein hinter dem Hof angrenzendes Feld. Auf den Gedanken, im Stall sauber zu machen, kamen sie nie. Daher der stechende Geruch.

Der Mann ging zurück und schoss zwei weitere Magazine leer. Viel besser sah das Trefferbild auch danach nicht aus. Ein paar Mal noch übte er mit einem Messer an den Strohpuppen, bevor er sich wieder auf den Rückweg nach Berlin machte.

Keine zwei Stunden später, er war gerade in seine Wohnung zurückgekehrt und im Begriff, eine Blechpizza in der altersschwachen Mikrowelle aufzuwärmen, klingelte sein Telefon.

04:08:19

Ungläubig starrte Malik auf seine ausgestreckt in der Luft neben Ranias Kopf verharrende Hand. Dann sah er auf den sich in ihrem Mundwinkel sammelnden Blutstropfen. Er ließ die Hand sinken, schaute betreten zu Boden.Was war bitte das jetzt gewesen?

Immerhin hatte Rania, über einen Kopf kleiner als er und von schmaler Statur, seinen plump ausgeführten Schlag frühzeitig erkannt. So hatte sie ihm ansatzweise ausweichen können. Jetzt funkelte sie ihn aus ihren dunklen Augen an. Zuerst las Malik in ihrem Blick noch Überraschung. Als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und das Blut bemerkte, folgte ungläubiges Staunen. Ihre eben noch weit geöffneten Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, sie atmete ein paar Mal heftig ein und aus. Dann strich sie sich ihre langen, ebenholzfarbenen Haare aus dem Gesicht und ging mit geballten Fäusten einen Schritt auf Malik zu. Statt ihn jedoch zu schlagen, schürzte sie die Lippen und spuckte ihm eine Mischung aus Speichel und Blut ins Gesicht. Dabei schüttelte sie angewidert den Kopf und griff nach ihrem Handy. Sie starrte Malik hasserfüllt an, während sie mit zitternden Fingern eine Kurzwahlnummer antippte. „Verschwinde lieber!“

Mit ihrer freien Hand schubste sie ihn Richtung Tür. Malik wollte zu einer Entschuldigung ansetzten, als Rania auf persisch einen ihrer Brüder begrüßte. Jetzt verstand er dasVerschwindelieber, er kannte Ranias Brüder, kannte ihre aufbrausende Art. Sie wohnten nur wenige Straßenzüge entfernt und Malik würde sich beeilen müssen, wenn er ihnen aus dem Weg gehen wollte.

Mit hängendem Kopf wandte er sich zur Tür. Dabei fiel sein Blick auf die Anrichte und die beiden dort liegenden Geldbündel. Sollte er sie wieder mitnehmen? Vielleicht beruhigte Rania sich ja. Sie, die ansonsten personifizierte Sanftmut, verhielt doch sonst nicht so. Allerdings war ihm auch nie zuvor die Hand ausgerutscht. Mit einem resignierten Kopfschütteln schlich er an ihr vorbei aus der Wohnung. Das Geld ließ er liegen.

Krachend fiel hinter ihm die Tür ins Schloss.Der Besuch war so was von schiefgelaufen.

04:08:15

„Wie siehst du denn aus?“ Entgeistert starrte Andy in Maliks Gesicht, auf dem Ranias Spuckattacke ein Muster dunkelroter Punkte hinterlassen hatte.

Gedankenverloren wischte sich Malik über die halb getrockneten Spritzer und ging zur Fahrertür, an welche Andy gelehnt stand. „Ich frage mich eher, wasduhier machst.“

„Na, Zuhause warst du nicht. Blieb ja bloß Rania.“ Als Malik an ihm vorbei zur Tür ging, packte Andy ihn energisch an der Schulter. „He, Malik. Warte! Wir müssen zu Schlosser, ihm alles erklären. Wir geben das Geld ab und dann ist gut.“

Ungerührt zückte Malik den Autoschlüssel und schob Andy beiseite.

„Bist du verrückt? So kannst du nicht fahren!“

„Wieso?“ Malik schaute auf die Uhr, dachte an Ranias Brüder. Die Zeit lief.

„Bei dieser Visage? Da hält uns der erste Bulle an. Außerdem, wo ist überhaupt der Koffer?“ Andy ging wieder einen Schritt in Richtung Autotür.

Uns? Der Koffer?Unruhig blickte Malik die Straße hinab. Dann zeigte er auf die halbvolle Cola-Flasche auf der Rückbank und zog sein T-Shirt unter der Jacke hervor. „Ich schmier mir das Zeug damit weg. Mach jetzt Platz.“ Damit schob er Andy von der Tür und stieg ein. Er öffnete die Flasche, kippte die klebrige Flüssigkeit über das Shirt und wischte sich mit kreisenden Bewegungen das Gesicht ab.

Andy stand gestikulierend an der Beifahrertür. „Mach schon auf! Ich komm mit.“ Im Rückspiegel überzeugte Malik sich davon, dass die gröbsten Spuren aus seinem Gesicht verschwunden waren. Er erschrak. Unter seinem gebräunten Teint sah er aschfahl aus. Aus der Ablage kramte er eine Packung Marlboro, nahm eine Zigarette und zündete sie an. Er nahm einen tiefen Zug, schloss die Augen und atmete den Rauch langsam aus. Dann startete er den Wagen, schaute dabei auf die Straße. Noch keine Spur von den Brüdern. Sie kannten Andy und er wollte ihm ersparen, sie in ihrer gegenwärtigen Stimmung zu treffen. Also lehnte er sich zur Beifahrertür und schob den Knopf hoch. Mit einem Seufzen ließ Andy sich in die Polster sinken und hatte die Tür noch nicht geschlossen, als Malik schon aus der Parkbucht scherte und den Wagen mit quietschenden Reifen davonschießen ließ.

04:08:11

„Was hast du da oben eigentlich bei Rania angestellt?“ Andy unterbrach als erster das Schweigen, das sie begleitete, seit sie fünf Minuten zuvor losgefahren waren.

„Mist!“

„Das sieht man.“ Kopfschüttelnd blickte Andy auf die Straße und zuckte zusammen, als Malik bei einem abrupten Spurwechsel einen wild hupenden Kleinlaster schnitt. „Wegen dem Geld. Ich hab noch mal nachgedacht. Das mit gestern Abend können wir doch erklären. Ich meine, schließlich standen da überall Bullen rum. Ist doch logisch, dass wir dann nicht zu ihm auf den Hof fahren und die Kohle rüber schieben. Wir müssen nur jetzt unbedingt zu ihm. Sonst sitzen wir wirklich in der Scheiße!“

„Zweihundertfünfundachtzigtausend.“

„Was?“

„Zweihundertfünfundachtzigtausend! Ich hab‘s gestern gezählt. Hat über eine Stunde gedauert.“

„Bitte? Du hast in den Koffer geschaut?“ Ungläubig starrte Andy zu ihm herüber.

„Warum nicht? Er war offen.“

„Wow! Ich meine, wieso so viel Geld? Sonst waren es doch nie mehr als zehn, zwanzigtausend.“

„Keine Ahnung. Will’s auch gar nicht wissen.“

„Aber umso wichtiger, gleich zu ihm zu fahren. Mann, der wird verrückt vor Wut sein. Scheiße, da läuft es mal schief, und dann so richtig! Wo ist denn die Kohle?“ Ohne den Blick von der Straße zu wenden deutete Malik mit dem Daumen nach hinten, in den Kofferraum seines 3er Touring.

„Du fährst das ganze Geld in deiner Schrottschüssel spazieren? Stell dir mal irgend so nen Junkie-Freak vor, der hier auf der Suche nach dem Radio oder einer abgefuckten Ray Ban einbricht.“

„Hat aber keiner.“

„Es reicht, Malik! Halt sofort an! Ich nehm jetzt das Ding und gehe damit zu Schlosser. Irgendwie biege ich das hin.“

„Geht nicht.“

„Warum?“

„Zehntausend fehlen.“ Das er das Geld freiwillig liegengelassen hatte, behielt Malik lieber für sich.

04:07:51

Nach dem Telefonat ging der Mann zu der Mikrowelle. Matschig und lauwarm lag die Pizza auf dem Teller. Er warf sie in den Mülleimer. Das Gespräch hatte nicht lange gedauert. Schon als der Mann die Stimme Schlossers erkannt hatte, wusste er, dass es Arbeit gab. Sein Auftraggeber war einfach nicht der Typ, der eine offene Rechnung stehen ließ. Auch wenn es die letzte war. In einer Stunde sollte er bei ihm sein.

Der Mann duschte, zog ein weißes Hemd und eine dunkle Baumwollhose über. Dann ging er in den Flur zu seinen Schuhen, die dort sorgfältig geputzt auf einem kleinen Brett standen. Er entschied sich für ein Paar schwarzer Halbschuhe mit bequem dämpfender Sohle. Im Hinausgehen griff er nach dem am einzigen Haken hängenden grauen Mantel und einer Mütze. Er sah auf die Uhr. Mit dem Bus sollte er es pünktlich nach Charlottenburg schaffen. Sorgsam zog er die Wohnungstür zu, schloss ab und ging die Stufen in dem dunklen, feuchtklammen Treppenhaus hinunter auf die Straße.

Ein kühler, nach moderndem Herbstlaub stinkender Wind schlug ihm entgegen. Es hatte zu nieseln begonnen. Mit einer raschen Bewegung schlug er den Kragen hoch und ging zügigen Schrittes in Richtung Bushaltestelle. Eine nach den missratenen Schießübungen vom Morgen nicht zu erwarten gewesene Ruhe erfasste ihn.

Nun war es also soweit. Schlossers letzter Auftrag stand an.

04:07:30

Das Wageninnere war mit bis zur Decke mit Equipment zur Observation vollgestopft. Neben all den Bildschirmen, Funkempfängern und Kameras war nur wenig Platz für die zwei lehnenlosen Stühle, auf denen sie seit dem frühen Morgen eng beieinander hockten. Seitdem beobachtete Krauser den flimmernden Monitor, der das Bild der auf Schlossers Büroeingang gerichteten Kamera einfing. Seit über drei Stunden tat sich nichts. Neben ihm schniefte Laarsen und rieb sich müde die Augen. Krauser unterdrückte ein Gähnen. Er nahm einen Schluck Kaffee und fragte sich, wie er diese Schicht annähernd wach überstehen sollte.

* * *

Natürlich war er nach den Monaten des therapeutischen Nichtstuns froh darüber gewesen, überhaupt bei der Truppe bleiben zu dürfen. Das sie ihn aus Hamburg versetzten, war ihm sogar gelegen gekommen. Mit seiner Personalakte ein Angebot für den Innendienstjob beim Berliner LKA zu bekommen, hatte glatt an einen Lottogewinn gegrenzt. Es hatte für ihn nach Großstadt, bequem, ohne Nachtschichten und kalte Füße geklungen. Seine Vorstellung von dem Job sollte sich mehr als bewahrheiten.

In den vier Monaten, die seit seinem Einstieg vergangen waren, hatte er ausreichend Gelegenheit gehabt, die Kantine und all die umliegenden Lokale mit ihren preiswerten Mittagstischen genauestens kennenzulernen. Dazu bestimmt sämtliche Kaffeeautomaten des Präsidiums. Darüber hinaus war er mit all den pensionsreifen Beamten in der Disposition per du, da er dort andauernd Akten, Stifte oder CD-Rohlinge für Kollegen abzuholen hatte, die dazu keine Lust hatten. Innerlich hatte Krauser sich gefragt, warum sie ihn nicht auf die andere Seite des Tresens versetzt hatten. An richtige Fälle ließen sie ihn nicht und er bezweifelte, ob sich das jemals ändern würde. Ihm konnte es so nur recht sein. Pünktlich um halb fünf verließ er jeden Tag nach acht Stunden seinen Schreibtisch und fuhr in seine kleine Schöneberger Wohnung. Dort schmierte er sich ein paar Brote oder wärmte etwas in der Mikrowelle auf. Dann sah er fern, bis er müde wurde und ins Bett ging. Restaurantbesuche oder Freunde? Fehlanzeige. Davon hatte er in seiner Vergangenheit mehr als genug gehabt. Außerdem hatten ihm die Ärzte eindringlich geraten, es langsam angehen zu lassen. Genau das tat er, fand sogar Gefallen daran.

Dann war der September extrem feucht und kalt dahergekommen und mit ihm die Krankmeldungen der Kollegen sprunghaft angestiegen. Mit einem Mal herrschte an allen Ecken Mangel und Bedarf. Für die Strippenzieher in der Verwaltung war Krauser mit seiner Erfahrung in Fahndung und Außendienst eine willkommene Verschiebungsmasse. So hatte sich er ein paar Tage später von seinem Sessel im Präsidium auf die ungepolsterten Hocker eines VW-Busses versetzt gesehen. Nur so lange, bis sich die Personalsituation wieder entspannte, wie ihm sein Chef wiederholt versichert hatte. Da war sich Krauser nicht so sicher.

04:07:20

Bei Aral tankte Malik den Wagen voll und deckte sich mit Red Bull, Snickers und einem welk aussehenden Käsesandwich ein. Dazu vier Packungen Marlboro Red. Er war zum Kofferraum gegangen und hatte einen Packen Fünfziger gegriffen. Es war ihm egal, dass er seine Bilanz so mit weiteren tausend Euro belastete. Den misstrauischen Blick des Tankwartes registrierte er nicht, als er beim Bezahlen die Scheine aus dem Bündel zog. Er war hundemüde, hatte er von den letzten fünfunddreißig Stunden vielleicht drei schlafend verbracht. Ihm war klar, dass er unbedingt einen Platz zum ausruhen brauchte. Aber vorher musste er aus Berlin verschwinden.

Achtlos warf er die leere Hülle des ersten Snickers’ auf den leeren Beifahrersitz, als er in Richtung Stadtautobahn bog.

* * *

Nachdem er Andy von dem fehlenden Geld erzählt hatte, war der die ersten Minuten absolut still gewesen. Malik hatte sich bereits gefragt, wie lange der Schockzustand seines Mitfahrers andauern würde, als der sich an einer roten Ampel aus seiner Starre befreit und mit einem Ruck die Handbremse gezogen hatte. Verbunden mit einem „Du bist vollkommen durchgeknallt! Ich regle das jetzt!“hatte er sich aus dem Auto geschwungen und war zur Heckklappe gegangen. Wie versteinert war Malik am Steuer sitzengeblieben, bis die Ampel auf grün umgesprungen war. Die Autos hinter ihm hatten zu hupen begonnen, aber Andy hatte die Heckklappe noch immer nicht aufbekommen. Sie hatte gehakt, mal wieder. Laut fluchend hatte Andy sich abgemüht, als Malik reflexartig die Handbremse gelöst und vehement aufs Gaspedal getreten hatte. Im Rückspiegel war der überraschte und wild gestikulierende Andy, der in seiner Wut gegen den Kotflügel des hinter ihnen wartenden Autos getreten hatte, immer kleiner geworden. Den weiteren Fortgang dieser Szene konnte Malik nicht mehr sehen. Er war bereits zu weit weg gewesen.

04:07:00

Genau eine Stunde nach dem Telefonat erreichte der Mann Schlossers Geschäft. Es befand sich im Erdgeschoss eines schmutzig grau verputzten Nachkriegsbaus und erschien an diesem herbstlichen Nachmittag abweisend und dunkel. Augenscheinlich war das Geschäft nicht dazu gedacht, Kundschaft in seine Räume zu ziehen. Kein Schild wies werbend auf Sinn und Zweck der Unternehmung hin, was offensichtlich ganz im Sinne des Betreibers war.

Der dichter gewordene Regen tropfte beständig herab und trotz Schutz durch Mütze und Mantel durchdrang den Mann eine unangenehm kühle Nässe. Ohne an der Tür zu halten, ging er an dem Geschäft vorbei und bog rechts in die nächste Querstraße ein. Nach hundert Metern war zu seiner Rechten eine Toreinfahrt, in der er nach einem prüfendem Blick über die Schulter verschwand. Sie öffnete sich zu einem großen, mit alten Bäumen bestandenen Innenhof, der von tristen Wohnhäusern aus den Sechzigern umrahmt wurde. Zügig durchschritt der Mann den Hof, an dessen rechter Diagonalseite ein unscheinbarer, durch Abfallcontainer verdeckter weiterer Durchgang sichtbar wurde. Dieser war mit einem Stahlgitter versehen, welches der Mann unverschlossen vorfand. Nachdem er hindurch geschlüpft war, stand er in einem kleineren, dunklen Hof, der fast gänzlich mit älteren Autos zugeparkt war. Bis auf das Gurren der Tauben war es totenstill. Der Mann bahnte sich einen Weg durch das Autolabyrinth und stand schließlich vor einer gusseisernen, halb geöffneten Tür. Leise trat er hinein, ging durch einen kurzen, mit dunklem, abgewetztem Linoleum ausgelegten Flur. Von dort aus gelangte er in Schlossers Geschäft, an dem er vor wenigen Minuten draußen vorbeigegangen war.

Der Raum war übersichtlich, maß vielleicht drei mal fünf Meter und beherbergte außer einem schweren Holzschreibtisch nur zwei altersschwache Bürostühle. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein im Laufe der Jahre und unter Einfluss unzähliger Zigaretten vergilbtes Plakat mit technischen Zeichnungen von Automotoren.

Ein untersetzter, pausbäckiger Mann mit breitem Schnauzbart und Mönchsglatze erhob sich von einem der Stühle. Sein azurblaues Hemd spannte ich über einen imposanten Bauch. Mit einer Geschwindigkeit, die zu seiner gewichtigen Statur scheinbar im Widerspruch stand, kam Schlosser auf den Mann zugeschossen und begrüßte ihn mit einem markanten Händedruck. Viele der so Beehrten waren schon unter dieser Kraft in die Knie gegangen, er aber war aus Erfahrung vorbereitet. Ruhig blickte er zu Schlosser hinunter.

„Und?“ Im Austausch von Small Talk war er ungeübt, es lag ihm auch nichts daran. Er wolle die Sache hinter sich bringen. Anerkennend tippte ihm Schlosser mit dem Zeigefinger auf die Brust.

„Das mag ich an dir. Gleich zum Wesentlichen kommen. Lass uns nach oben gehen.“ Dabei deutete er auf die neben der Tür befindliche Treppe. Der Mann ließ Schlosser den Vortritt, der rasch die Stufen in den ersten Stock erklomm. Es herrschte allgemeine Unordnung, überall lagen Papiere und zerfledderte Ordner auf dem Boden verstreut.

„Entschuldige das Chaos, aber die Herren haben es leider nicht für nötig befunden, nach ihrem Besuch aufzuräumen.“ Schlosser drehte sich zu dem auf einer Kommode stehenden Radio und mit einem Mal wurde der Raum mit wummernder, trompetengesättigter Musik beschallt. Schlosser hob nur entschuldigend die Schultern und zeigte augenzwinkernd auf ein neben dem Radio stehendes Plastkfigürchen. Ein Playmobil-Polizist. Dann winkte er den Mann zu sich und begann ihm ins Ohr zu flüstern. „Bei Marschmusik sollen sie angeblich am wenigsten verstehen. Naja, glaube ich das mal.“ Belustigt zuckte er mit den Schultern.

Der Mann beugte sich etwas weiter herunter. Bei der lauten Musik war es schwer, den betont leise sprechenden Schlosser zu verstehen.

„Mir ist gestern eine meiner Sendungen abhanden gekommen. Sie ist irgendwo da draußen.“ Er machte eine Pause, verbunden mit einer unbestimmten Armbewegung in Richtung Fenster. „Also habe ich dich gerufen. Schließlich lieferst du immer zuverlässig.“

„Zum letzten Mal.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber das ist es wert. Es geht um fast dreihunderttausend Euro!“ Nachdenklich schaute Schlosser durch das Fenster hinauf in den wolkenverhangenen Himmel, fuhr sich mit der Hand über die Glatze „Dabei konnte ich mich bisher immer auf die beiden verlassen. Gut, wir hatten gestern ein paar Probleme mit den Männern in Grün. Vielleicht sind sie deshalb nicht gekommen. Aber, seitdem sind die Jungs verschwunden. Nicht auffindbar!“ Schlosser seufzte. „Es gibt da allerdings eine Möglichkeit. Malik, einer der beiden, hat eine Freundin, in die er ganz vernarrt ist. Jedenfalls hat er immer erzählt, was für tolle Sachen er ihr kauft von dem Geld, das er beimirverdient.“ Bedeutungsvoll sah Schlosser zu dem Mann hinauf.

„Sie heißt Rania.“ Schlosser ging zu seinem Schreibtisch und schrieb die Adresse auf einen Notizzettel, riss diesen vom Block und schob ihn herüber. Der Mann nahm das Blatt, warf einen kurzen Blick darauf, faltete es sorgsam zu einem Viertel und steckte es in die Brusttasche seines Mantels.

„Nimm einen von meinen Wagen. Piet wird Dir die Papiere fertigmachen. Und, ruf hier nicht an. Ich warte noch auf ein neues Telefon. Mit der neuen Nummer melde ich mich dann bei dir.“

Der Mann nickte und ging zur Tür. Er war schon fast draußen, als ihm Schlosser noch hinterher rief.

„Bin froh, dass du den Job machst!“

Dieses eine Mal noch, dachte der Mann. Ein lächeln umspielte seine Lippen. Zum ersten Mal seit dem Anruf.

Piet stand bereits am Fuße der Treppe und schaute ernst zu dem Mann herauf. Von der kleinen und breiten Statur her ähnelte er seinem Chef. In seinem ölverschmierten Arbeitsoverall und der speckigen Rollrandmütze sah er allerdings eher wie ein Mechaniker aus. „Der Wagen steht auf dem Hof. Ein gebrauchter Mondeo. Nichts Besonderes. So wie du es magst. Die Papiere liegen in der Ablage.“ Damit überreichte er ihm die Schlüssel und trat beiseite, um ihn vorbei zu lassen. Wortlos nahm der Mann den Schlüssel und ging hinaus. Es regnete noch immer.

Der Ford sah gut aus. Ein älteres Modell, dunkelblaue Farbe, kein Metallic und nicht frisch gewaschen. Ein Wagen, an den sich später niemand würde erinnern können. Perfekt.

04:06:29

Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass auch vermeintlich einfache Jobs ihre Komplikationen mit sich bringen konnten. Also steckte der Mann für den Besuch bei Maliks Freundin Messer und Schlagring ein.

Schon an ihrer Tür erkannte der Mann, dass sich seine Vorsicht auszahlen sollte. Auf sein Klingeln hin trat ihm ein breitschultriger Mann entgegen und starrte ihn misstrauisch an. Unwillkürlich umfasste der Mann den in der Manteltasche verborgenen Schlagring fester. Doch Faris, Ranias älterer Bruder, überhaupt etwas sagen konnte, hatte sich der Mann bereits wendig an ihm vorbei in Ranias Wohnung gedrückt. Mit wenigen Schritten gelangte durch den Flur in die Wohnküche. Dort saß ein weiterer, etwas jüngerer, dafür aber umso muskulöserer Mann am Tisch und blickte überrascht von einem Magazin zu ihm auf. Erdan, Bruder Nummer zwei

In Anbetracht der beiden Schwergewichte verlor der Mann keine Zeit. Ehe Erdan zu dem vor ihm liegenden Brotmesser greifen konnte, war der Mann mit einem kurzen Satz bei ihm. Kurz blitze im Schein der hell leuchtenden Deckenlampe der Schlagring auf, bevor er krachend in Erdans linker Gesichtshälfte sein Ziel fand. Ein kurzes knirschen erklang, als die Faust Erdans Jochbein zertrümmerte. Der Getroffene heulte laut auf und stieß mit dem Kopf rücklings gegen die Wand. Faris, der ebenfalls in den Raum getreten war, hob beschwichtigend die Hände, als sich der Mann sich geschmeidig zu ihm wendete. Sein nächster Schlag erfolgte ebenfalls blitzschnell und schon krümmte sich auch Faris mit schmerzverzerrtem Gesicht. Hilflos keuchend schnappte er nach Luft, als der Mann ihm wortlos bedeutete, sich neben seinen Bruder an den Tisch zu setzen. Mit einem sorgenvollen Seitenblick auf das verletzte Gesicht seines Bruders folgte er der Aufforderung schwerfällig. Erdan schien durch den Schlag in einen Schockzustand versetzt worden zu sein, er gab keinen Laut von sich. Immerhin atmete er. Als sich jeder an seinem vorgesehenen Platz befand, schaute sich der Mann neugierig in dem Raum um. Es sah so anders als bei ihm aus. So bunt. Die Wände schimmerten in einer Mischung aus Orange- und Grüntönen, dazu hingen an jeder freien Stelle buntbemalte Seidentücher. Es hatte die Anmutung eines Korallenriffs.

„Hol sie her.“ Zur Unterstreichung seiner Worte tätschelte der Mann Erdans rechte Wange.

Widerstand schien Faris aussichtslos und so deutete er mit gesenktem Kopf in Richtung einer vom Flur abgehenden Tür. „Sie ist im Badezimmer.“

Reglos blieb der Mann neben Erdan stehen. Dessen immer lauter erklingendes Wimmern zeugte allerdings davon, dass sein Peiniger den Druck seiner Hand auf die Wange verstärkt haben musste.

Fügsam humpelte Faris der verschlossenen Badezimmertür. Noch vor Minuten hätte er jeden verlacht oder zu Boden geschlagen, der ihm ein derart demütiges Verhalten prophezeit hätte. Die Durchschlagskraft des Unbekannten hatte ihn jedoch eines Besseren belehrt und so leistete er stumm der Aufforderung des Eindringlings Folge.

„Wohin ist er gefahren?“

Verängstigt blickte Rania vom Sofa aus zu dem Mann hinüber. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf Erdans blutendes Gesicht werfen können, als der Fremde die beiden Brüder in das Badezimmer geschlossen hatte. Rücken an Rücken hatte er sie auf den Fliesenboden gesetzt und mit Kabelbindern ihre Daumen zusammengebunden. Erdan hatte schlimm ausgesehen und sie war sicher, dass er rasch einen Arzt brauchte. Was hatte Malik nur wieder angestellt, dass ein derartiger Racheengel über sie hergefallen war? Sofort musste sie an das Geld denken, dass er bei sich gehabt hatte. Unbewusst huschte ihr Blick zu der Kommode, in die sie die beiden Bündel gestopft hatte, um sie vor ihren Brüdern zu verstecken. Einen kurzen Moment nur verweilte sie mit ihren Augen auf der obersten Schublade. Er reichte jedoch aus, denn ihr Gegenüber drehte sich, ihren Blick auffangend und verlängernd in Richtung Tür. Ruhig stand er auf und trat an die Kommode. Er fand die Scheine sofort.

Nachdenklich wog er die Bündel in der Hand. Fünf bis zehntausend Euro, schätzte er. Leider ein deutliches Zeichen, dass es sich nicht mehr um eine bloße Verkettung unglücklicher Zufälle handelte. Dieser Malik schien das Geld tatsächlich an sich genommen zu haben. Was ihn wiederum zu seinem Kunden machte.

Der Mann schob das Geld in die Tasche seines Mantels Er strich sich nachdenklich über das Kinn, als er sich wieder dem Mädchen zuwandte. Rania drehte sich von ihm weg, aber er hatte die bläuliche Verfärbung an ihrer Lippe bereits bemerkt. Er beugte sich zu ihr hinunter und zog ihren Kopf mit einem Ruck zu sich. Keine zwanzig Zentimeter trennten sie mehr von seinen eisgrauen Augen. „Dein Freund Malik hat ein Problem. Und“, vage deutete er dabei auf die Badezimmertür hinter sich, „je schneller du mir sagst, wo er ist, desto besser für deinen Bruder.“ Ruhig kamen ihm die Worte von den Lippen, dabei hielt er ihr Kinn fest zwischen Zeigefinger und Daumen.

Das Leder seines Handschuhs verströmte einen eigentümlichen, altmodischen Geruch, der Rania an ihre Kindheit in Izmir denken ließ. Sein stechender Blick verdrängte die Erinnerung jedoch schnell. Es hatte keinen Sinn, zu lügen. Außerdem machte sie sich Sorgen um Erdan. „Ich weiß nicht, wohin er wollte. Er ist in den Wagen gestiegen und weggefahren.“

Mit unbewegtem Gesichtsausdruck schaute ihr der Mann in die Augen. Seine Finger verstärkten den Druck auf ihr Kinn. „Deine Lippe sieht böse aus. Aber,“ und dabei nickte er in Richtung Bad, „du siehst ja, was noch alles passieren kann. Ich würde ungern wiederkommen.“

Mit angsterfüllt aufgerissenen Augen schüttelte Rania den Kopf.

„Okay. Welchen Wagen hat er genommen?“

„Irgendeinen Kombi.“

„War er allein?“

Nach kurzem Zögern antwortete sie. „Andy war bei ihm.“

„Siehst du, geht doch.“ Der Mann ließ sie los und ging zur Tür, wo er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Sag den beiden da, dass sie die Sache vergessen sollen. Sie würden mich nur stören.“

Damit verließ er die Wohnung.

04:06:03

Als der Mann auf die Straße trat empfing ihn ein kräftiger Windstoß, der Reste welker Blätter von den Ästen riss. Er schaute zum Himmel empor. Ein einziges, regenschweres grau hing über der Stadt. Fast wäre er mit dem Obdachlosen zusammengestoßen, der sich neben ihm von seinem Lager aufrappelte und mit einer über Kopf und Schultern gehüllten Plastikdecke schutzsuchend nach einem trockeneren Platz umschaute. Sein Geruch ließ den Mann abrupt ausweichen. Eilig ging er zu seinem Wagen.

Das Geld beunruhigte ihn. Nicht, weil er die vor ihm liegende Arbeit scheute oder Furcht verspürte. Er hatte nur gehofft, dass es sich bei dem letzten Einsatz um einen einfacheren Job handeln würde. Schlosser würde nicht erfreut über die Neuigkeiten sein, dachte der Mann, als er in den Ford stieg.

04:05:40

Die Geschichte hatte von Beginn an unter keinem guten Stern gestanden, aber bei Rania waren die Dinge endgültig aus dem Ruder gelaufen. Dabei hatte Andys Anruf am Montagabend ganz harmlos geklungen. Nur eine weitere Übergabe, die sie am nächsten Tag für Schlosser organisieren sollten. Ein einfacher Job, der jedes Mal nach dem gleichen Muster ablief: Sie bekamen von Piet die Schlüssel und Papiere eines Autos, das sie irgendwo im westlichen Stadtgebiet abzuholen hatten. Mit diesem fuhr dann einer von über die B1 achtzig Kilometer in die Gegend von Seelow. Der andere folgte in einem ihrer eigenem Wagen bis zum Ziel, den verwaisten Ruinen einer aufgegebenen LPG. Es waren keine besonderen Fahrzeuge, die sie durch die Landschaft chauffierten. Mittelklasse, niemals neu. Das außergewöhnlichste war einmal ein Jaguar gewesen, der allerdings im Innenraum penetrant nach nassem Hund gestunken hatte. Ihre Kontaktleute kamen meist etwas später. Es waren fast immer dieselben Männer, und so hatte sich während ihrer wiederholten Treffen eine professionelle Routine gebildet. Geredet wurde nie viel. Sie stiegen aus dem Wagen, wo sie Schlüssel und Papiere zurück ließen. Einer der Männer übergab ihnen daraufhin einen verschlossenen Umschlag oder ein kleines Paket, setzte sich in den überbrachten Wagen und fuhr los. Seine Partner folgten. Danach hatten Andy und Malik die Sendung unverzüglich nach Berlin zu Schlosser ins Büro zu bringen. Natürlich erzählte er ihnen nie, was sie da außer dem Fahrzeug in Seelow ablieferten. Um was genau es bei den Deals ging, blieb im Dunklen und Malik hatte es längst aufgegeben, darüber nachzugrübeln.

Und auch an diesem Dienstag hatten sie sich mit Piet getroffen und die Schlüssel in Empfang genommen. Fahrt und Übergabe waren wie gewohnt verlaufen, allerdings mit einer Ausnahme: statt des üblichen Päckchens hatten sie dieses Mal einen schweren Aktenkoffer erhalten.

Die Probleme hatten begonnen, als sie in Berlin auf die Kantstraße gebogen waren. Schon aus einiger Entfernung waren die vor Schlossers Geschäft wild auf dem Gehweg geparkten Polizeiwagen zu sehen gewesen. Natürlich war Andy am Laden vorbeigefahren und hatte erst zwei Straßen später geparkt. Malik erinnerte sich, wie er die Augen geschlossen und sich seufzend die Schläfen massiert hatte. Für einen Moment hatten sie schweigend dagesessen, bis Andy neben ihm hektisch begonnen hatte, mit seinem Handy zu hantieren. Aus halb geöffneten Lidern hatte sich Malik das angeschaut und seinem Freund dann energisch in den Arm gegriffen. „Wen willst du denn anrufen?“

Andy hatte das Telefon sinken lassen. „Keine Ahnung. Schlosser. Oder Piet.“ Malik hatte daraufhin resigniert die Augen verdrehte. „Jetzt? Bist dusoblöd? Sollen die Bullen gleich mithören?“

„Was sollen wir denn sonst machen? Siehst du den Koffer da?“ Hektisch hatte er auf das Gepäckstück gezeigt, das zwischen seinen Füßen im Fußraum des BMW stand. Natürlich hatte Andy recht. Warum hatten sie bloß gerade heute diesen Koffer bekommen. Nach einigem nachdenken beschlossen sie, den Koffer am nächsten Tag vorbeizubringen. Malik würde ihn solange bei sich verstecken.

Nachdem er Andy abgesetzt hatte, war er sofort zu Rania gefahren. Sie war verreist und wollte erst am nächsten Tag von ihrer Tante zurückkommen. Bei ihr schien es ihm sicherer. Da vermutete ihn niemand. Später hatte er einen Pizzaservice kommen lassen und erst nach dessen Abfahrt genervt bemerkt, dass er nicht an Bier gedacht hatte. Zwei, drei Flaschen hätten bestimmt geholfen, seine Nervosität zu lindern. Auf die Straße hatte er sich nicht mehr blicken lassen wollen.

Den Abend hatte er zappend auf dem Bett verbracht, den Koffer dabei immer dicht neben sich. Eins ums andere Mal war sein Blick dabei gedankenverloren darüber gestrichen und irgendwann hatte seine Neugier gesiegt. Zu seinem Erstaunen fand er heraus, dass er nicht verriegelt gewesen war. Überrascht von so viel Nachlässigkeit seitens seiner Auftraggeber hatte Malik den Deckel angehoben.

Der Anblick der säuberlich aufgereihten Bündel Fünfziger und Hunderter hatte ihn zusammenzucken lassen. Zögernd hatte er einen Packen hervorgezogen, ihn in der Hand gewogen und mit den Fingern darin herumgeblättert. Sie schienen echt zu sein. Er hatte sich ein Wasser geholt und dann mit großen Augen vor dem Koffer gesessen. Es musste sich um ein Vermögen handeln, das da offen vor ihm gelegen hatte. Um in Ruhe nachdenken zu können, hatte Malik den Koffer wieder zugeklappt. Der Anblick all des Geldes war zu verlockend gewesen.

Ihm war klar, war, dass er sich dringend bei Schlosser melden musste, wenn er nicht ernste Probleme riskieren wollte. Wie aber konnte er ihn erreichen, wenn das Telefon ausfiel? Und mit dem Koffer zu ihm? Was, wenn die Polizei ihn vor Schlossers Büro durchsuchen würde? Den Koffer unbeaufsichtigt in Ranias Wohnung lassen und Schlosser ohne das Geld suchen?Bestimmt nicht!Dass Geld würde er nicht aus den Augen lassen, soviel war sicher. Am Ende war ihm nichts anderes eingefallen, als nichts zu tun und zu warten.

Mehr aus Langeweile hatte er dann begonnen, die Geldbündel zu zählen. Sie waren ungleichmäßig gepackt und enthielten mal fünftausend, mal bis zu zehntausend Euro. Schnell war er neugierig geworden und hatte sich daran gemacht, jeden Packen einzeln durchzuzählen. Als er nach fünfundvierzig Stapeln durch war, hatte er sich erschöpft auf das Bett zurücksinken lassen und benommen an die Decke gestarrt.

Zweihundertfünfundachtzigtausend Euro!

Das Undenkbare hatte so nah wie die Euroscheine vor ihm gelegen und Malik mit einer stetig wachsenden Versuchung gepackt. Um sich abzulenken war er aufgestanden und unruhig durch Ranias Wohnung gelaufen. Irgendwann hatte er mit brummendem Schädel zum bestimmt zehnten Mal geprüft, ob die Wohnungstür richtig verschlossen war, sich ausgezogen und aufs Bett gelegt. Den Koffer hatte er dabei fest im Griff gehalten.

Die Nacht war unruhig gewesen, an Schlaf nicht zu denken gewesen. Was hätte er für ein Sixpack Bier gegeben. Als er Morgens aus dem leichten Schlummer hochgeschreckt war, hatte sein erster Gedanke dem Koffer gegolten, der noch immer sicher neben ihm gelegen hatte. Dann hatte er auf seinem Handy die eingegangenen Nachrichten gecheckt. Fünf Anrufe - allesamt von Andy. Als er allerdings zurückrief, war die Leitung tot gewesen.Bestimmt schlief er noch.

Nachdem er aufgestanden war, hatte Malik eilig geduscht, die Kleidung vom Vortag angezogen und die Wohnung verlassen. Er war in ein kleines, schräg gegenüber liegendes Café gegangen, hatte doppelten Espresso und einen Bagel bestellt. Mit beidem hatte er sich an einen der hinteren Tische gesetzt. Von hier aus hatte er Eingang und Straße im Blick, ohne dabei selbst von draußen gesehen zu werden. Es grenzte an Paranoia, aber er blieb lieber vorsichtig. Den Koffer hatte er zwischen seinen Beinen auf den Boden gestellt. Während er einen Schluck des heißen Kaffees nahm, hatte er nachgedacht. An die dreihunderttausend Euro, handlich verpackt -direkt vor ihm. Und welche Konsequenzen hatte er zu befürchten? Sicher, aus Berlin würde er verschwinden müssen War das ein Problem? Malik war nicht viel eingefallen, was dagegen sprach.

Seine Eltern? Sie berührten ihn nicht weiter. Als Produkt einer verkorksten Beziehung war sein Stand in der Familie von Anfang an nicht der Beste gewesen. Ein Wunschkind? Nein, das nun wirklich nicht. Seine Mutter, damals gerade achtzehn, hatte seinen Vater Jonathan, einen zehn Jahre älteren Studenten aus Mosambik an der Berliner Universität kennengelernt, wo sie in der Wohnheim-Verwaltung gearbeitet hatte. Gerade erst der häuslichen Enge ihres Elternhauses in Spreewald entflohen, hatte der für sie so exotische Mann eine bisher nicht gekannte Leidenschaft in ihr entfacht, die auf direktem Wege zu ihrer Schwangerschaft mit Malik geführt hatte. Nach Maliks Geburt waren sie in eine kleine Wohnung in Uni-Nähe gezogen. Die ungewohnte Verbindung von Elternschaft, beengten Wohnverhältnissen und geballten Vorurteilen ihrer Umgebung wurde jedoch schon nach kurzer Zeitz zu einem schwer zu ertragenden Ballast. Endlose Streitereien zwischen den beiden folgten. Dazu kam für alle unerwartet eine zweite Schwangerschaft, die schließlich für das Scheitern ihrer kurzen Ehe sorgte. Ganze drei Monate nach Janas Geburt war Jonathan zurück nach Mosambik gegangen und überließ es der Mutter, für den Unterhalt der Kleinfamilie zu sorgen. Seine einzigen Zuwenden bestanden aus Postkarten, die er Malik zu den Geburtstagen schickte. Nachdem sie allerdings zweimal umgezogen waren, erreichten ihn auch diese nicht mehr. Ausgesprochen traurig war er nicht darüber gewesen. Was hatte er außer dem leicht dunklen Teint und der großen, schlaksigen Figur schon von ihm?

Die markanten Gesichtszüge leider nicht. Stattdessen hatten die Kinder den zarten Ausdruck von ihrer Mutter geerbt. In Kombination mit den langen Haaren, die Malik als kleiner Junge tragen musste, hatte ihn das zum bevorzugten Gespött seiner Mitschüler gemacht.Mädchen