Tatort Kinderheim - Hans Weiss - E-Book

Tatort Kinderheim E-Book

Hans Weiss

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Beschreibung

Folter, Vergewaltigung und Missbrauch statt liebevoller Erziehung - schockierende Vorfälle in Kinderheimen und Internaten aus der jüngeren Vergangenheit dringen langsam an die Öffentlichkeit. Jährlich wachsen in Österreich rund 11.000 Kinder in Pflegefamilien, Wohngemeinschaften, Heimen und Kinderdörfern auf. Bis Mitte der 1980er Jahre waren viele Heime wie Gefängnisse organisiert, in denen Kinder geschlagen und gefoltert wurden. Wer sich wehrte, kam in die Kinderpsychiatrie. Hans Weiss, bekannt für seine sorgfältigen Recherchen, hat konkrete Berichte und Fälle zusammengetragen und eine aufrüttelnde Reportage über ein großflächiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschrieben.

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Deuticke E-Book

Hans Weiss

Tatort Kinderheim

Ein Untersuchungsbericht

Deuticke

ISBN 978-3-552-06202-3

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Allen Heimkindern gewidmet

Inhalt

Vorwort

Im Vorzimmer der Heimgewalt

Wer Gewalt sät

Der Staat als Gewalttäter

Grausame Medizin – Ärzte gegen Heimkinder

Selektionen im SOS-Kinderdorf

Kirchengewalt

Oh, du mein Österreich

Österreich heute

Dank

Vorwort

Anfang der 1950er Jahre kam Maria S. als Baby in die Obhut des SOS-Kinderdorfes Imst. Einige Jahre später wurde sie wegen eines leicht verkürzten Fußes ausgesondert und landete schließlich im Tiroler Mädchenheim St. Martin. Dort wurde sie während einer Faschingsfeier – so wie andere Mädchen auch – von mehreren Bundesheer-Offizieren der nahe gelegenen Kaserne Absam brutal vergewaltigt. Sie war noch Jungfrau.

Auf der psychiatrischen Kinder-Beobachtungsstation Innsbruck gab es Ende der 1960er Jahre ein fünfjähriges Mädchen, dem wegen Onanierens zwei Fingerglieder amputiert worden waren. Die Leiterin, Frau Dr. Maria Nowak-Vogl, fand das ganz in Ordnung.

Im Kinderheim Rohrbach der »Schwestern vom armen Kinde Jesus« in Niederösterreich wurden kleine Kinder regelmäßig gefoltert, indem sie so lange unter kaltes Wasser getaucht wurden, bis sie fast ertranken.

Der bekannte Wiener Kinderpsychiater Prof. Andreas Rett missbrauchte mehr als tausend Kinder als medizinische Versuchskaninchen. Unter anderem testete er das berüchtigte Medikament Contergan.

Täter und Schreibtischtäter

All das geschah unter der Verantwortung österreichischer Jugendbehörden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden rund 100.000 österreichische Kinder und Jugendliche in Heime und Erziehungsanstalten gesperrt. Alle 45 ehemaligen Heimkinder, mit denen ich für dieses Buch Gespräche führte, berichten davon, dass Gewalt das vorherrschende Erziehungsmittel war: seelische Gewalt, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt.

Vor dem Gesetz zählten Kinder zu den besonders schutzwürdigen Personen. In den offiziellen Dokumenten, die von Fürsorgerinnen, Medizinern, Psychologen, Polizisten, Richtern, Pfarrern, Nonnen und Patres angefertigt wurden, liest man immer wieder von der Sorge um das Kindeswohl. Von dem, was in den Heimen wirklich geschah – den Misshandlungen, Folterungen, Demütigungen, sexuellen Missbräuchen und Vergewaltigungen –, liest man nichts. In zwei Kapiteln dieses Buches – Wer Gewalt sät und Der Staat als Gewalttäter – werden konkrete Namen und Funktionen von Tätern und Schreibtischtätern genannt.

Da und dort kommen auch Täter und Täterinnen ausführlich zu Wort, mit allen Facetten ihres Verhaltens: weinerlich und sich selbst bemitleidend; selbstkritisch und voll Reue; oder so aggressiv, dass man fast die Schläge hört, die sie austeilten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Schwester »Tarzan« von der staatlichen Erziehungsanstalt Wiener Neudorf (siehe Kapitel: Schwester »Tarzan«).

Tatorte

Zum ersten Mal liegt mit diesem Buch ein gesamtösterreichischer Überblick vor. Hier geht es um insgesamt 135 Heime und Internate – 80 weltliche und 55 geistliche. Wie viele es wirklich waren, wissen wir bis jetzt nicht. Es werden wohl etwa 200 gewesen sein. Viele Kinder wurden ununterbrochen hin- und hergeschoben, von einem Bundesland ins andere, von einem Heim zum nächsten – ein Kindergulag, der so ähnlich funktionierte wie der von Alexander Solschenyzin beschriebene »Archipel Gulag« des Josef Stalin.

Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg, die Steiermark, Wien und Tirol listen einzelne Tatorte auf, Burgenland und Oberösterreich beschränken sich auf eine Auswahl und Kärnten gibt gar nichts preis. Auch die Klasnic-Kommission verweigert Angaben zu einzelnen kirchlichen Tatorten. Man hält sich offenbar an den Wahlspruch: Zu viel Transparenz ist nicht gut!

Heime nur für Behinderte werden in diesem Buch nicht beschrieben – dazu wäre eine eigene Forschungsarbeit notwendig.

Liste der zehn schlimmsten österreichischen Heime

Die folgende Liste ist subjektiv und beruht auf den Eindrücken, die ich in den Gesprächen mit 45 ehemaligen Heimkindern gewonnen habe.

•  Martinsbühel (Tirol)

•  St. Martin (Tirol)

•  Bubenburg in Fügen (Tirol)

•  Wimmersdorf (Niederösterreich)

•  Rohrbach (Niederösterreich)

•  Gleink (Oberösterreich)

•  Wilhelminenberg (Wien)

•  Kaiser-Ebersdorf (Wien) samt Filiale in Kirchberg

•  Kinder-Beobachtungsstation von Dr. Nowak-Vogl (Tirol)

•  Caritas-Kinderdorf St. Anton in Bruck (Salzburg)

Opfer

Der Linzer Sozialhistoriker Prof. Michael John schätzt, dass es in Österreich etwa 100.000 ehemalige Heimkinder gibt und weitere 150.000, die von Jugendämtern in Pflegefamilien untergebracht wurden. Diese beiden Opfergruppen überschneiden sich jedoch, weil viele Heimkinder zeitweise auch in Pflegefamilien untergebracht waren. Pflegekinder haben oft ein noch härteres Schicksal erlitten als die Heimkinder. Besonders in ländlichen Gegenden mussten sie unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten und wurden häufig auch sexuell missbraucht.

Alle diese Kinder wurden geschädigt, in mehr oder weniger großem Ausmaß – der Großteil von ihnen für immer. Sie verloren jeden Halt, flüchteten in Alkohol- und Drogenwelten, wurden obdachlos, drifteten ab in Prostitution und Kriminalität.

Viele Geschichten in diesem Buch sind Dokumente unerhörten Muts und großer Tapferkeit: Obwohl die Kinder die mächtigsten Gruppen der Gesellschaft zu Feinden hatten, gaben sie nicht klein bei, sondern wehrten sich. Im Heimalltag gab es zahlreiche kleine, individuelle Revolten. Eine Möglichkeit, sich dem Terror zu entziehen, war die Flucht. Aber ohne Geld, ohne Unterschlupf und ohne Unterstützung blieben das meist nur kurze Ausflüge. Vereinzelt gab es auch Mordpläne und Mordversuche an besonders sadistischen Erziehern – alle waren erfolglos. Oft, wenn die Lage besonders aussichtslos schien, richteten die Kinder ihre Aggressionen gegen sich selbst. Sie sprangen aus dem Fenster oder schnitten sich die Pulsadern auf.

Auch jene ehemaligen Heimkinder, die heute ein normales Leben führen, werden immer wieder von ihren Erinnerungen geplagt. Erst seit kurzem trauen sie sich, öffentlich darüber zu reden und Zeugnis abzulegen. Die Innsbrucker Psychotherapeutin Dr. Ulrike Paul leitet mit Unterstützung des Landes Tirol seit zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Heimzöglinge und führte mit vielen von ihnen psychotherapeutische Gespräche. »Heime«, so sagt sie, »waren Orte, an denen systematisch Gewalt ausgeübt worden ist und Menschen gebrochen worden sind.«

Immer wieder stößt die Psychotherapeutin auf die Tatsache, dass nicht nur die Opfer an den Folgen leiden, sondern auch deren Kinder und Enkelkinder. Denn auf unbewusste Art und Weise wird vieles an die nächste Generation weitergegeben. Deshalb ist es wichtig, dass die Opfer nicht nur finanziell entschädigt werden, sondern dass sie Psychotherapien, möglichst ohne zeitliche Befristung, zuerkannt bekommen, in denen sie ihre Gewalterfahrungen bearbeiten können. Es wäre ein Fehler, bei Ausgaben im therapeutischen Bereich zu knausern.

Alle gegen die Kinder

Es war keine Verschwörung gegen Kinder und es gab keinen von oben verordneten Generalplan. Trotzdem waren sich alle mächtigen Gruppen der Gesellschaft einig, was mit Kindern aus zerrütteten Familien passieren sollte – die Jugendbehörde, die Justiz, die Polizei, die Medizin, die Kirche: Ab ins Heim und draufhauen!

Warum das so war? Eine gängige Erklärung für die massenhafte Gewalt gegen Kinder besagt, dass die Erziehungsmethoden des Nationalsozialismus nach Kriegsende fast bruchlos weitergeführt wurden – oft mit demselben Personal. Das stimmt zwar. Aber waren beispielsweise Kinderheime in Irland oder Holland nicht genauso brutal wie in Österreich? Sicher ist, dass es in ganz Europa bis vor kurzem eine Tradition der Härte gegen Kinder gab. In Österreich wurde das elterliche Züchtigungsrecht erst im Jahr 1975 abgeschafft. Bis dahin waren nur Misshandlungen mit körperlichen Folgeschäden strafbar. Und erst 1989 wurde es den Eltern verboten, Gewalt auszuüben oder den Kindern körperliches oder seelisches Leid zuzufügen. Kinderrechte sind erst seit 2011 in der Verfassung verankert. Aus aktuellen Meinungsumfragen geht hervor, dass die Mehrzahl österreichischer Eltern »eine Tetschn«, also eine Ohrfeige, als legitimes Erziehungsmittel betrachtet.

Wiener Schule der medizinischen Grausamkeit

Im Kapitel Grausame Medizin wird beschrieben, wie prominente österreichische Kinderpsychiater wie Hans Hoff, Walter Spiel, Andreas Rett, Hans Asperger, Erwin Ringel, Maria Nowak-Vogl oder Franz Wurst mit Kindern und speziell Heimkindern umgingen. Schon allein die Sprache dieser Mediziner erinnert an den Nationalsozialismus. In wissenschaftlichen Publikationen bis in die 1980er Jahre hinein ist fast nur die Rede von »Versuchsmaterial« und »Versuchsgut«.

Einige dieser Mediziner nahmen sogar bewusst Schädigungen und Todesfälle in Kauf – die vielgerühmte »Wiener medizinische Schule« verkam bei ihnen zur »Wiener medizinischen Schule der Grausamkeit«.

Staats-Gewalt

Das Justizministerium war bis 1974 direkt verantwortlich für zwei der schlimmsten Heime Österreichs: Kaiser-Ebersdorf für Buben und Wiener Neudorf für Mädchen. Wiener Neudorf war zwar ein staatliches Heim, segelte jedoch unter der Flagge der »Schwestern zum Guten Hirten«. Das war katholisch und klang fürsorglich. Hinter den hohen Klostermauern herrschte jedoch ein Schreckensregime von Nonnen, mit sexuellem Missbrauch, Zwangsarbeit und sadistischen Körperstrafen. Erwin Ringel war dort als beratender Psychiater tätig. Bis heute stiehlt sich der Staat erfolgreich aus der Verantwortung für dieses Heim. Entschädigungen? – Bis heute keine einzige!

Kirchen-Gewalt

Eine Folge der heftigen öffentlichen Diskussion über sexuellen Missbrauch in der Kirche war die Einrichtung einer Hotline und die Gründung der kirchenunabhängigen Institution »Plattform für Betroffene kirchlicher Gewalt«. Ihr verdanke ich die notwendigen Informationen zur Erstellung der Landkarte sexueller Kirchengewalt in Österreich.

Kurz nach Gründung der »Plattform für Betroffene kirchlicher Gewalt« wurde eine kirchennahe Organisation gegründet, die als Klasnic-Kommission bekannt wurde. Sie war bis vor kurzem die zentrale Anlaufstelle für alle Opfer kirchlicher Gewalt. Inzwischen werden diese an die zuständigen Diözesen verwiesen.

Offenbar hat die Kirche ein Problem mit der Sexualität. Opfer kirchlicher Heime berichten in 66 Prozent aller Fälle von sexueller Gewalt oder sexuellem Missbrauch. Bei Opfern weltlicher Heime ist dieser Prozentsatz wesentlich geringer. In Wien beträgt er beispielsweise »nur« 44 Prozent. Die Innsbrucker Psychotherapeutin Dr. Ulrike Paul kann das anhand ihrer vielen Gespräche mit Heimopfern bestätigen. Sie sagt, dass in kirchlichen Heimen sehr viel häufiger sexuelle Gewalt angewandt wurde als in weltlichen. Und dass das »Personal in kirchlichen Heimen besonders deformiert war – wohl nicht zuletzt auf Grund der Sozialisation, welche die Täter selbst in den kirchlichen Institutionen durchlaufen haben«. Dieses Problem sei von der Kirche lange geleugnet und bagatellisiert worden.

Offenbar ist das kein Problem der Vergangenheit. Die »Plattform für Betroffene kirchlicher Gewalt« kritisiert, dass in Österreich mehrere Dutzend pädophile Kirchenmänner und -frauen weiterhin unbehelligt im Amt sind.

Entschädigungen

Österreichweit wurden bis jetzt rund 2500 Kinder entschädigt – von den Opferstellen der Bundesländer, diversen anderen weltlichen Heimträgern und der im April 2010 gegründeten Opferschutzkommission der katholischen Kirche, die umgangssprachlich unter dem Namen der Leiterin, Waltraud Klasnic, als Klasnic-Kommission bekannt ist. Was ist mit den restlichen 100.000?

Viele von ihnen haben kein Internet, lesen keine Zeitungen, hören nicht Radio, sehen vielleicht gar nicht fern. Und wissen deshalb gar nicht, dass sie zumindest einen moralischen Anspruch auf Entschädigung haben.

Die Klasnic-Kommission hat den Opfern kirchlicher Gewalt bis zum 17. April 2012 insgesamt rund acht Millionen Euro Entschädigungen zugesprochen und zusätzlich etwa 23.500 Therapiestunden im Wert von 2,1 Millionen Euro. Insgesamt sind das also rund zehn Millionen Euro.

Wie viel Geld österreichweit bereits an weltliche Opfer bezahlt wurde, weiß man nicht, weil nur wenige Bundesländer halbwegs verlässliche Zahlen bekanntgeben. In Vorarlberg sind es 847.000 Euro für 71 Opfer und in Tirol 1.202.000 Euro für 138 Opfer.

Wenn man diese Zahlen umrechnet, bedeutet das: Jedes kirchliche Opfer erhält im Durchschnitt 9000 Euro Entschädigung. Jedes weltliche Opfer in Tirol erhält ebenfalls etwa 9000 Euro, jedes weltliche Opfer in Vorarlberg rund 12.000 Euro. Für alle anderen Bundesländer liegen keine entsprechen Zahlen vor.

Das Buch erzählt unter anderem

– von dem Tag, an dem Fritz T. beschloss, seine ehemalige Erzieherin zu töten,

– von den Grenzüberschreitungen des SOS-Kinderdorf-Gründers Hermann Gmeiner,

– von Ulrich K., der in einem Salzburger Kinderheim von zwei Franziskanerpatern und dem Dorfpfarrer jahrelang vergewaltigt wurde,

– von der benediktinischen Straflitanei im Tiroler Mädchenheim Martinsbühel

– und von den Beschimpfungen, die sich Franz Josef Stangl von Erziehern in Gleink anhören musste.

Einige bedeutsame Ergebnisse des Buches

– Weibliche Erzieherinnen waren nicht weniger grausam als männliche. Nonnen waren besonders sadistisch.

– Buben wurden genauso oft vergewaltigt wie Mädchen.

– In den Erziehungsheimen wurden die Kinder der Unterschichten geprügelt und missbraucht, in den Eliteinternaten die Kinder der Oberschicht. Die einen waren so schlimm wie die anderen – in dieser Hinsicht galt in Österreich der Gleichheitsgrundsatz.

– Die schlimmsten Foltermethoden waren: das Beinahe-Ertränken von Kindern im niederösterreichischen Klosterheim Rohrbach; die Sackerlfolter in Eggenburg; die Disziplinierungsmaßnahmen im niederösterreichischen Heim Wimmersdorf; die Vergewaltigungen durch Bundesheer-Offiziere im Mädchenheim St. Martin in Tirol; die Verprügelungen der in Zwangsjacken gesteckten Mädchen in Martinsbühel in Tirol.

– Eine furchtbare Rolle spielte die Kinderpsychiatrie in Innsbruck, in Wien und in Klagenfurt.

Was getan werden sollte

– Der Staat sollte eine zentrale Anlaufstelle für alle Heimkinder in Österreich einrichten, die für alle Heime zuständig ist, weltliche und kirchliche. Bis jetzt gibt es einen Wirrwarr an Zuständigkeiten, und viele Betroffene werden wochen- und monatelang zwischen einzelnen Stellen hin- und hergeschickt.

– Der Staat sollte seine Verantwortung wahrnehmen und eine österreichweite Untersuchungskommission oder einen Untersuchungsausschuss einrichten.

– Der Staat sollte, so wie andere Opferschutzorganisationen, an alle ehemaligen Heimkinder von Kaiser-Ebersdorf und Wiener Neudorf Entschädigungen bezahlen.

– Die Entschädigungszahlungen für ehemalige Heimkinder sollten einheitlich mit fünfzig Euro pro Heimtag festgelegt werden. Diese Kosten sollten zunächst vom Staat vorfinanziert und an die Täterorganisationen weitergereicht werden.

– Allen ehemaligen Heimkindern, die auf Anweisung von Jugendämtern zu Zwangsarbeit in Heimen oder bei Pflegeeltern verurteilt wurden, sollte für diese Zeit ein Pensionsversicherungsanspruch zuerkannt werden. Oberösterreich hat gezeigt, wie das funktioniert. Die Kosten des Nachkaufs sollten zunächst vom Staat vorfinanziert und an die Täterorganisationen weitergereicht werden. Alle ehemaligen Heimkinder sollten außerdem vom Sozialministerium darüber informiert werden, dass sie das Recht haben, bei Vorliegen von dauerhaften psychischen oder körperlichen Schäden beim Bundessozialamt einen Antrag auf eine Opferpension zu beantragen, die wesentlich höher ist als eine normale Pension.

– Die Verjährungsfristen für sexuelle, psychische und körperliche Gewalt an Kindern, die unter der Aufsicht von Jugendämtern standen, sollten verlängert werden.

– Ehemalige Heimkinder sollten das Recht haben, innerhalb von vierzehn Tagen eine Kopie aller über sie angefertigten Akten zu erhalten, einschließlich der Krankenakten.

– Entschädigungszahlungen an ehemalige Heim- oder Pflegekinder sollten unter keinen Umständen zu einer Minderung oder gar Aussetzung sozialer Leistungen wie Mindestsicherung, Notstandshilfen, Arbeitslosengeld, Pensionsbezügen und dergleichen führen und nicht auf diese angerechnet werden.

Rückgang der Zahl von Heimkindern

In den 1970er Jahren ging in Österreich die Zahl der Kinder in Erziehungsheimen stark zurück. Laut dem Wiener Frauenarzt Dr. Christian Fiala ist das vor allem darauf zurückzuführen, dass damals die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften – und damit unerwünschten Kinder – stark zurückging. Zum einen deshalb, weil seit Ende der 1960er Jahre Antibabypillen auch an unverheiratete Frauen verschrieben werden dürfen, zum anderen, weil Abtreibungen seit 1975 nicht mehr bestraft werden.

Im Vorzimmer der Heimgewalt

Ohrfeigen und Schläge waren normal. Dieses Argument wird oft verwendet, um die gewalttätigen Zustände in Heimen und Internaten zu rechtfertigen. Die Diskussion über Heime dreht sich jedoch nicht um Ohrfeigen oder Schläge, sondern um Körperverletzung, Grausamkeit, Missbrauch, Sadismus, Folter, Vergewaltigung.

Es stimmt – Ohrfeigen und Schläge galten als normal, wobei sie in den Heimen nur die allgemeine Gewaltkulisse bildeten. Aus eigener Erfahrung in Volksschule, Hauptschule, Mittelschule und Internat weiß ich aber, dass die Mehrheit der Lehrer und Erzieher nie selbst zuschlug oder prügelte – aber duldete und fast nie dagegen einschritt, wenn es andere taten.

Ich selbst blieb in der Kindheit von Ohrfeigen und Schlägen verschont. Meine Eltern prügelten nicht, und kein einziger Lehrer vergriff sich an mir. Allerdings musste ich zusehen, wie in der Hauptschule Egg im Bregenzerwald Mitschüler von manchen Lehrern blutiggeprügelt wurden. Auch ein Kaplan schlug zu, sogar bei Mädchen. Warum ich verschont blieb? Vielleicht, weil ich mich sehr angepasst verhielt.

Elternhaus, Schule und Internat bildeten nur die Vorzimmer für das, was in »Erziehungsheimen« und Eliteinternaten geschah. Oft waren all diese Orte ununterscheidbar ineinander verwoben und einer so grausam wie der andere. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt die Innsbrucker Familie B. mit ihren zwölf Kindern dar. Beide Eltern, Ludwig und Hildegard B., waren eher an Alkohol als an ihren Kindern interessiert. 1956 kam eine Frau aus Dänemark und »kaufte« die kleine Elisabeth. Einer der Buben wurde an Leute in Jenbach in Tirol »verschenkt«. Die restlichen Kinder landeten in den 1960er und 1970er Jahren alle in Kinderheimen, wo es ihnen ähnlich erging wie zu Hause: Viele Schläge gab’s und keine Liebe.

Im Folgenden zwei Beispiele von ganz »normalen« Schulen und Schulinternaten in Tirol und Salzburg.

Im heiligen Land Tirol

Roland B. (Name geändert) ist in Tirol aufgewachsen, in einem kleinen Dorf mit so wenigen Schülern, dass alle neun Schulstufen in einem einzigen Raum unterrichtet wurden. Der Lehrer war »ein fauler Mensch«, der sich während des Bastelunterrichts immer schlafen legte und den großen Buben das Kommando übergab. Dann, so erzählt Roland, habe »der Horror« begonnen. Jeweils zwei kleinen Buben sei befohlen worden, Zungenküsse auszutauschen oder sich gegenseitig am Penis zu streicheln. Oder die kleinen Buben mussten den großen den Schwanz lecken. Rolands Hände werden fahrig und er stottert, als er davon erzählt; sein Gesicht zuckt.

Die einzige Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, sah Roland darin, die Schule zu schwänzen. Er tat das mit aller Konsequenz. Wochenlang versteckte er sich Tag für Tag im Wald oder in einem der großen Kanalrohre am Straßenrand und wartete ab, bis der Unterricht zu Ende war. Irgendwann flog er auf. Die Eltern glaubten, er habe einfach nur Schulangst. Den wahren Grund erfuhren sie nie.

Es dauerte zwei Jahre, bis Roland es mit Klugheit und List schaffte, sich von den sexuellen Torturen zu befreien. Er war talentiert im Schreiben und fing an, im Auftrag seiner Peiniger Liebesbriefe an Mädchen zu schreiben, harmlose, rührende Liebesbriefe. Einige blieben erhalten, weil der Lehrer sie abfing und Rolands Mutter mit der Bemerkung übergab, ihr Sohn sei ein klassischer Fall sexueller Verwahrlosung. Als Strafe wurde er dazu verdonnert, im Winter frühmorgens Holz zu hacken und das Schulzimmer zu heizen. Anschließend begann die tägliche Schulmesse, bei der er ministrieren musste.

Im Alter von acht Jahren diagnostizierte der Arzt bei Roland eine Tuberkulose. Er wurde mit Medikamenten behandelt und durfte auf Kosten der Krankenkasse im italienischen Ferienort Cesenatico an einem Sommerlager teilnehmen. Roland träumte von seinen ersten Ferien mit Sonne und Meer und landete in einem Albtraum. Weil sich die Aufsichtspersonen um nichts kümmerten, übernahmen auch hier die größeren Buben das Kommando und organisierten in der täglichen Ruhezeit zwischen vierzehn und sechzehn Uhr »Spiele«, wie sie Roland von der Volksschule kannte, mit Onanieren, Küssen und Oralverkehr.

Der für Roland nach der vierten Klasse Volksschule vorgesehene Wechsel in die Hauptschule fand nicht statt – weil der Lehrer dem begabten Schüler keine Empfehlung schrieb. Denn ein Schüler weniger hätte für ihn eine geringere Zulage bedeutet.

Mit einem Jahr Verzögerung schaffte er es dann aber doch, an die Hauptschule zu kommen. Dort gab es zwar keinen sexuellen Missbrauch, aber brutale körperliche Strafen. Roland erinnert sich an eine Lehrerin, die ihn mit Inbrunst hasste. Bei jedem erdenklichen Anlass geschah Folgendes: Sie hielt ein kleines Haarbüschel auf seinem Kopf mit ihren Fingern fest und befahl ihm, sich so lange im Kreis zu drehen, bis sich die Haare von der Kopfhaut lösten. Zum Glück heiratete sie, wurde schwanger und hörte auf zu unterrichten.

Mit vierzehn, Anfang der 1970er Jahre, kam Roland nach Telfs ans Gymnasium und musste wochentags im Vinzenz-Gredler-Heim wohnen. Es wurde von der katholischen Arbeiterjugend geführt. Dort kam es ebenfalls zu sexuellem Missbrauch.

»Der Heimleiter hat angeordnet, wir mussten … es gab einige auserwählte Buben, die bei einem Spiel mitmachen durften oder mussten. Das war mit seiner Frau. Mit ihr mussten wir alles Mögliche machen.«

Diese »Spiele« fanden immer nachts statt. Der Heimleiter kam ins Schlafzimmer, deutete auf einige Schüler und befahl: »Raus!« Der barsche Ton war aber nur Theater und sollte gegenüber anderen Schülern den Eindruck erwecken, dass jetzt eine Strafe folgte. In Wirklichkeit wurden die Schüler von der Frau des Heimleiters in aufreizender Kleidung erwartet. Weil Roland noch relativ jung war, beschränkte sich seine Rolle darauf, sich zu verkleiden und zu posieren.

Während der »Spiele« schoss der Heimleiter Fotos von seiner Frau in sexy Unterwäsche oder von den Buben, die mit seiner Frau schlafen mussten. Roland schaute dabei nur zu. Einmal reisten der Heimleiter und dessen Frau mit fünf Schülern sogar nach Rom. Auch dort kam es zu sexuellen Spielen. Irgendwann flog alles auf und der Heimleiter wurde »wegen sexueller Verfehlung« entlassen.

Sein Nachfolger war ein Pater, der die »Tradition« des Hauses fortführte – mit weiblichen Angestellten des Heimes. Roland erinnert sich, dass der Heimleiter einer Köchin befahl, während der »Spiele« Glasscherben zu essen. Irgendwann ereilte ihn dasselbe Schicksal wie seinen Vorgänger – er wurde entlassen. Ab diesem Zeitpunkt hörte der sexuelle Missbrauch auf.

Roland ist seit langem verheiratet. Er hat drei Kinder, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und wundert sich, dass er trotz seiner Kindheit »ein normaler Mensch« wurde. »Mit einer Ausnahme«, fügt er nach einer längeren Nachdenkpause hinzu: Jedes Mal, wenn er sein Heimatdorf besuche und dem Rädelsführer des damaligen Missbrauchs begegne, werde er von unbändigem Hass überschwemmt, und er überlege sich, diesen Mann niederzuschlagen.

Ein schlagfertiger Salzburger Polizist

Mag. Rudi Leo, Jahrgang 1952, ist in Bramberg im Bundesland Salzburg zur Schule gegangen. Er erzählt, dass manche Lehrer die Schüler gerne mit Haselnussstecken schlugen.

Das war ein Ritual und ging so vor sich: Zunächst holte der Klassenlehrer einen zweiten Lehrer zu Hilfe. Dann musste sich der Schüler bäuchlings auf das Lehrerpult legen. Einer der Lehrer hielt den Schüler fest und der andere verabreichte ihm Stockhiebe, die vom Opfer laut mitgezählt werden mussten.

Zum Schlagen wurde nicht irgendein Stecken verwendet. Jeder Schüler war verpflichtet, bei Schulbeginn einen mitzubringen und das ganze Jahr in Bereitschaft zu halten. Am schlimmsten war das Zuschauen-Müssen, erinnert sich Mag. Rudi Leo. Als er Mitte der 1970er Jahre im Alter von vierzehn Jahren versuchte, Anzeige gegen einen prügelnden Lehrer zu erstatten, wurde ihm handfest demonstriert, dass Kinder in Österreich keine Rechte haben. Der Gendarm verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

Wer Gewalt sät

Zwei Geschwister, Helene und Walter K., haben als Kinder ein Verbrechen begangen, für das sie jahrelang eingesperrt, gefoltert und sexuell missbraucht wurden. Die Strafen wurden im Elternhaus und in den Heimen Rohrbach, Wilhelminenberg und Dreherstraße vollzogen. Helene und Walter Ks. Verbrechen: Sie hatten sich die falschen Eltern ausgesucht. Auch ihre Kinder und Kindeskinder wurden bestraft.

Helene K. – von Menschen und Bäumen

Sie wurde 1955 in Wien geboren, als zweites von fünf Kindern. Die Eltern – »ach!« – waren keine Eltern. Der Vater begann ein Verhältnis mit der Freundin seiner Frau und die Familie zerbrach. Helene wurde gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Walter bei der Kinderübernahmestelle Wien (KÜST) abgeliefert und kam in das Kinderheim Rohrbach in Niederösterreich, das vom Orden der »Schwestern vom armen Kinde Jesus« geführt wurde.

Reden war hier, mit wenigen Ausnahmen, streng verboten, und was Helene zu hören bekam, beschränkte sich auf Gebote, Verbote und barbarische Strafen. Kurz nach der Ankunft im Dezember 1960 wurde sie im Schlafsaal vergewaltigt: »Ich war fünf, bin in der Nacht wach geworden. Es war finster, ich hab mich überhaupt nicht ausgekannt, hatte extreme Schmerzen im Unterleib und habe geschrien. Ich habe jemand davonlaufen sehen – der Gestalt nach war es ein Mann. Dann ist eine Klosterschwester aufgetaucht und hat gesagt: Tu schön schlafen, es ist alles in Ordnung.«

Für Helene war jedoch überhaupt nichts in Ordnung. Bis heute leidet sie unter Phantomschmerzen im Unterleib. Und für die Zeit danach, bis zum Alter von sieben Jahren, fehlt ihr jede Erinnerung – alles wie ausradiert. Bis vor kurzem wusste sie nicht einmal, dass es in Rohrbach geschah. Sie erfuhr erst davon, als sie mithilfe der Kinderschutzorganisation »Weißer Ring« ihren Heimakt erhielt.

Sie hat Angst vor dem Einschlafen, denn wer weiß, was dann kommt. In der Schule hatte sie schlechte Noten in Deutsch, weil sie unfähig war, sich Geschichten auszudenken. Bei ihr zählte nur, was geschah und was getan werden musste: frühstücken, in die Schule gehen, zu Mittag essen, schlafen. In ihrer Heimwelt war kein Raum für Phantasien, und von den Klosterschwestern hörte sie ständig: »Ihr seid Verbrecher, ihr seid nichts wert!«

Helenes Erinnerung setzt erst wieder mit der Schulzeit ein. Auch dort wurde sie wie eine Verbrecherin behandelt. Wenn zu Mittag alle Kinder nach Hause essen gingen, wurde sie gezwungen, das Schulgebäude zu verlassen und die Zeit bis zum Nachmittagsunterricht auf der Straße zu verbringen, auch im Winter; die Schule wollte es so. Allen Kindern war der Kontakt zu ihr verboten. Nur ein einziges Mädchen widersetzte sich und nahm sie in der fünften Klasse manchmal mit nach Hause.

Im Himmelreich

Zur Einschüchterung der Kinder hatten sich die Klosterschwester Beatrix und deren weltliche Gehilfin Rosina eine besondere Foltermethode einfallen lassen: Jedes Kind musste einzeln das Badezimmer betreten und die mit eiskaltem Wasser gefüllte Wanne besteigen. Dann wurde es von der anwesenden Schwester oder der Gehilfin mit dem Kopf so lange unters Wasser gedrückt, bis es kurz vor dem Ertrinken war. Es folgte ein Hochreißen an den Haaren und ein erneutes Untertauchen; je nach Laune. Manche Buben erhielten gleichzeitig Schläge mit einem Bartwisch – einem kleinen Besen.

Dieses Untertauchen fand alle zwei Wochen statt, ohne erkennbaren Anlass – ein sich ständig wiederholendes Ritual wie der sonntägliche Gottesdienst oder das Kommunizieren. Helene wusste gar nicht, dass man dabei auch sterben konnte, sie wusste nichts vom Tod. Das einzige Vergnügen, das ihr vom Heimaufenthalt in Erinnerung geblieben ist, war die unbändige Lust, hinter dem Klostergebäude den Hügel hinabzurennen und sich auf einen der dort stehenden Bäume zu schwingen. Diese Bäume waren ihr Himmelreich, ihre ganz persönliche Ahnung von Freiheit; unzugänglich für jede Klosterschwester.

Das Kinderheim in Rohrbach

1927 erwarb der Orden der »Schwestern vom armen Kinde Jesus« einen Hof in Rohrbach und baute ihn zu einem Kloster und Kinderheim um. Hier werden seit 1951 auf Anordnung des Wiener Jugendamtes Kinder im Alter von drei bis fünfzehn Jahren untergebracht.

Der Orden der »Schwestern vom armen Kinde Jesus« wurde 1844 in Aachen von Clara Fey gegründet und existiert in Österreich seit 1857. Er unterhält derzeit folgende Institutionen:

– »Maria Regina« in Wien-Döbling mit Schulen und einem Kindergarten

– »Maria Frieden« in Wien-Stadlau mit Kindergarten, Volksschule, Hort und Wohngemeinschaft

– »Clara-Fey-Kinderdorf« in Wien-Kaasgraben mit Schule, Hort und Wohngruppen

– Kinderheim in Rohrbach/Gölsen mit sozialpädagogischen Wohngruppen für Kinder und Jugendliche, die von der Wiener Magistratsabteilung 11 dorthin eingewiesen werden

Auf der Homepage der »Schwestern vom armen Kinde Jesus« steht:

»Die Grundlage für unsere Arbeit finden wir im christlichen Welt- und Menschenbild. Es lässt uns Ehrfurcht haben vor dem menschlichen Leben in jeder Phase seines Seins. Es zeigt uns die Einmaligkeit und Würde jeder Person … Wir sollen … aus Liebe zu (Gott) und gedrängt von dieser Liebe, uns der armen, verlassenen Kinder annehmen.«

In einer Festschrift zum hundertsten Jahrestag des Wirkens der »Schwestern vom armen Kinde Jesus in Österreich« im Jahr 1957 schrieb der damalige ÖVP-Bundesminister für Unterricht, Heinrich Drimmel:

»In das Chaos (der letzten Jahre), das gerade für die Jugend so gefährdend ist, leuchtet letztlich nur die sorgende Liebe. Das Wirken der ehrwürdigen Schwestern vom armen Kinde Jesus in den Heimstätten ihres Erziehungsdienstes gibt vielen Kindern und Jugendlichen den notwendigen Schutz und die Kraft zur eigenpersönlichen Entwicklung.«

Zum Heim in Rohrbach heißt es in der Festschrift: »Etwa fünfzig vorschulpflichtigen Fürsorgekindern, den ärmsten der Großstadt, wird es zur sonnigen Kinderheimat … In der Liebe zum Göttlichen Kind bejahen wir das Kind, bejahen wir die Zukunft, bauen wir an der kommenden Zeit, wollen wir Gott den Menschen zurückbringen in die Zeit.«

Kinderalltag in Rohrbach

Zu den großen Mahlzeiten gab es oft Innereien – Beuschl, Leber und Nieren. Helene ekelte sich davor, aber so wie alle anderen musste sie aufessen, was in den Teller geschöpft wurde; auch Erbrochenes. Einmal wurde sie von Schwester Beatrix gezwungen, ein verschimmeltes Jausenbrot zu essen. Sie erkrankte so schwer, dass sie ins Spital eingeliefert werden musste. Weder Arzt noch Krankenschwester erkundigten sich nach der Ursache.

Aufs Klo gehen war nur zu ganz bestimmten Zeiten erlaubt – wenn es der Schwester Beatrix gerade passte. Oft sagte sie: »Du wartest jetzt!« Machte ein Kind in die Hose, musste es mit der Unterhose auf dem Kopf stundenlang in der Ecke stehen. Und während die Klosterschwestern Klopapier zur Verfügung hatten, mussten sich die Kinder mit Zeitungspapier begnügen.

Außer dem Untertauchen gab es in Rohrbach auch das berüchtigte Knien auf scharfkantigen Holzscheiten. Seither sind Helenes Knie kaputt. Am Abend vor dem Nikolaustag mussten sich alle Kinder in einem Raum versammeln, dessen Türen von Klosterschwestern bewacht wurden. Dann kam der Krampus und prügelte mit einer eisernen Kette gnadenlos auf die Kinder ein.

Ganz in Weiß

Mit elf Jahren wurde Helene aus Rohrbach entlassen und wieder nach Wien zurücktransportiert. Zunächst in die Kinderübernahmestelle (KÜST) der Gemeinde Wien und dann in ein Klosterheim in der Dreherstraße. Bei der Ankunft nahm man ihr den kleinen Fotoapparat weg, den sie von ihrem großen Bruder geschenkt bekommen hatte. Sie hat ihn nie wiedergesehen. So wie in Rohrbach war es auch in der Dreherstraße verboten zu reden. In diesem Heim bekam sie die erste Regelblutung. Weil sie nicht wusste, was los war, geriet sie in Panik. Eine Klosterschwester schimpfte: »Du bist ein schlechtes Mädchen, geh dich sofort waschen!«

Ein halbes Jahr später wurde Helene wieder in die KÜST zurückverlegt und kam im Sommer 1968 in das von der Gemeinde Wien betriebene Heim Wilhelminenberg. Dort, am Westrand der Stadt, erwartete sie der übliche Heimalltag: Sprechverbote, Demütigungen und Straforgien. Was Helene auffiel, waren Details. Wer in Rohrbach ins Bett nässte, musste das nasse Leintuch auf dem Kopf tragen. Am Wilhelminenberg zog man der Übeltäterin das nasse Leintuch über den Kopf und befahl den Kindern, auf die verhüllte Gestalt einzuprügeln.

Am Wilhelminenberg legten die Erzieherinnen Wert auf richtiges Sitzen: Der Oberkörper musste gerade und aufrecht gehalten und die Hände hinter dem Sesselrücken verschränkt werden. Geduscht wurde nur in Gruppen und wenn eine Warteschlange entstand, mussten die Mädchen Schlager singen: »Es geht eine Träne auf Reisen« von Adamo oder »Ganz in Weiß« von Roy Black. Manchmal drehten die Erzieherinnen während des Duschens das Wasser ab und ließen die Mädchen eingeseift dastehen, bis sie vor Kälte zitterten.

Als Helene während eines Sprechverbots ein Mädchen daran erinnerte, ihr das geborgte Schulheft zurückzugeben, wurde sie mit hundert Kniebeugen bestraft. Als sie zusammenbrach, erhielt sie als zusätzliche Strafe die Aufgabe, ein ganzes Buch mit vielen hundert Seiten abzuschreiben, von der ersten bis zur letzen Zeile. Weil ihr das unmöglich schien, beschloss sie, aus dem Fenster zu springen. Dann hat alle Qual ein Ende, dachte sie und wollte Gott auf die Probe stellen: »Wenn ich tot bin – gut! Wenn ich überlebe – auch gut.«

Um den Suizid als Fluchtversuch zu tarnen, knotete sie zwei Leintücher aneinander, befestigte ein Ende am Bett und ließ das andere aus dem Fenster hängen. Sie nahm ihre Melodica und ihr Poesiealbum unter den Arm, stellte sich verkehrt aufs Fensterbrett, schloss die Augen und ließ sich fallen. Die Füße streiften ein Fensterbrett, sie drehte sich in der Luft und landete am Boden. Als sie aufwachte, fiel ihr auf, dass alle Kinder aus den Fenstern starrten. Sie stand auf und brach zusammen, fühlte aber keinen Schmerz.

Endlich tauchte eine Erzieherin auf und dann die Rettung, die sie ins nahe gelegene Wilhelminenspital transportierte. Niemand fragte, was passiert war; Heimkinder wurden nie gefragt. Man verpasste ihr einen Fußgips, und mittags war sie schon wieder zurück im Heim. In ihrem Akt ist von einem Fluchtversuch die Rede.

Schwester Beatrix und Helenes Vater

Helene war sieben Jahre alt, als ihr Schwester Beatrix in Rohrbach erlaubte, die Weihnachtsferien beim Vater zu verbringen. Er wollte, dass sie in seinem Bett schläft, und da sei es passiert, erzählt sie, da sei er in sie hinein.

Nach der Rückkehr ins Heim erzählte sie Schwester Beatrix, was passiert war, und sagte, sie wolle den Vater nicht mehr besuchen. Schwester Beatrix wollte das nicht akzeptieren und erklärte Helene, sie müsse den Erwachsenen gehorchen. So wurde Helene weiterhin vergewaltigt, bei jedem ihrer Besuche, an Weihnachten, an Ostern, in den Sommerferien, Jahr für Jahr, während ihrer Heimaufenthalte in Rohrbach, in der Dreherstraße und am Wilhelminenberg, bis sie fünfzehn war und nach Hause entlassen wurde. Dann hörte der Vater damit auf – weil er inzwischen ein neues Opfer gefunden hatte: die zehnjährige Tochter seiner Lebensgefährtin.

Fortan verweigerte Helene jeden Kontakt mit dem Vater. 2011, kurz bevor er starb, erhielt sie einen Anruf: Der Vater wolle sie noch einmal sehen. Er erklärte, er sei damals zu jung gewesen, um zu begreifen, was er ihr angetan habe. Das sei eine armselige Entschuldigung gewesen, findet Helene und fügt hinzu, sie habe dann aber keinen Zorn mehr empfunden.

Wer war verantwortlich für Helene?

(Die Daten in Klammer beziehen sich auf Vermerke aus dem Heimakt von Helene K.)

– Helene R. und Friedrich K. (Eltern):

»Erklärung des Erziehungsberechtigten – ich übergebe mein Kind in Pflege und Erziehung der Stadt Wien« (5.1.1972)

– Magistratsabteilung 11 (MA 11) von Wien:

Psychologe der MA 11 Dr. Nekula: »Gutachten: … erscheint es zweckmäßig, Helene K. in einer ländlichen Umgebung unterzubringen. Vorgeschlagen wird daher Transferierung ins Kinderheim Rohrbach gemeinsam mit ihrem Bruder.« (14.12.1960); Psychologe der MA 11 Dr. Nekula (25.7.1967); Psychologe der MA 11 Dr. Haager (23.10.1967); Jugendamt, Dezernat VI, Frau Ivens (5.7.1968); Psychologe der MA 11 Dr. Steinhäuser (5.7.1968); Psychologe der MA 11 Dr. Raffelsberger (2.1.1973)

– MA 11, Kinderübernahmestelle (KÜST) in der Lustkandlgasse im neunten Wiener Gemeindebezirk:

– Amtsstellenleiter Amtsrat Neunteufl, Fürsorgerin Hartmann (30.6.1964); Anstaltsreferat, Fürsorgerin Moser (13.12.1968; 12.3.1970; 2.6.1970)

– Bezirksjugendamt vom zehnten Bezirk in Wien:

Amtsleiter Oberamtsrat Stubianek (15.11.1960); Fürsorgerin Geißler und Amtsleiter Oberamtsrat Eberl (5.2.1965); Fürsorgerin Geißler (8.2.1966); Fürsorgerin Ehgartner und Amtsleiter Tetenka VOK (14.4.1967 und 23.1.1968); Fürsorgerin Czihak und Amtsleiter Starecek VOK (21.1.1970); Bearbeiterin Tlapak (31.1.1973)

– Universitätskinderklinik Wien:

Heilpädagogische Abteilung, Dr. E. Schmuttermeier (29.5.1961)

– Kinderheim Rohrbach:

Heimleiterin Schwester Maria Pankratia Appel (23.2.1962); Heimleiterin Schwester Maria Bona Prokesch (12.7.1964); Heimleiterin Schwester Franz Sales P.I.J. (22.11.1966 und 28.6.1967); Schwester Beatrix; Heimhelferin Rosina

– Volksschule Rohrbach:

Lehrerin Eleonora Auer (1963 bis 1966); Lehrer Pfeifer (1966/67)

Politisch Verantwortliche für die Wiener Jugendämter:

– von 1949 bis 1959 SPÖ-Vizebürgermeister und Stadtrat für das Wohlfahrtswesen Karl Honay

– von 1959 bis 1973 SPÖ-Stadträtin für das Wohlfahrtswesen Maria Jacobi

Das Wiener Jugendamt