Tatort Oslo - Unehrlich währt am längsten - Knut Krüger - E-Book

Tatort Oslo - Unehrlich währt am längsten E-Book

Knut Krüger

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Beschreibung

Astrid Lindgren meets Henning Mankell

Eine geheimnisvolle Einbruchserie erschüttert Oslo! Kommissar Ohlsen und sein Team haben alle Hände voll zu tun. Was hingegen kaum einer weiß: Sein Sohn Alexander unterstützt ihn dabei mit seiner guten Beobachtungsgabe und seinem scharfen Verstand. Und der wird gerade doppelt beansprucht, haben ihn doch seine beiden neuen Freunde, Lukas und Franziska, um Hilfe gebeten, den neuen, zwielichtigen Freund ihrer Mutter unter die Lupe zu nehmen. Als eben der auf einmal verschwindet und Franziska nicht aufzufinden ist, steht das Ohlsen-Team vor seinem ersten großen Fall.

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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random HouseGesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2013© 2013 cbj, MünchenAlle Rechte vorbehaltenUmschlagkonzeption: init.Büro für Gestaltung, Bielefeld,unter Verwendung folgender Abbildungen:© Plainpicture (Aurora Photos / Fredrik Solstad, Etsa / Ivar Hargren, Pictorium / Sari PoijärviOslokarte: Peter Palm, BerlinMP · Herstellung: AWSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07359-6

www.cbj-verlag.de

Prolog

Oslo im April

Als das Diensttelefon von Hauptkommissar Ohlsen klingelte, war dieser wieder mal nicht erreichbar. Mit kräftigen Paddelschlägen trieb er sein Seekajak über die schäumenden Wellen des Oslofjords, während die Gischt wie eine weiße Maske um sein Gesicht stand. Immer höher türmten sich die Wellenberge auf, hoben sein Boot in die Höhe und ließen es wieder ins Tal schießen. Stürmischer Wind brüllte in seinen Ohren, riss den Schaum von den Kronen und jagte die Fetzen quer durch die Luft. Der peitschende Regen zog einen dichten, graugrünen Vorhang über das Wasser, der sich nicht durchdringen ließ. Wie hätte er da telefonieren sollen?

Sein Sohn Alexander hingegen drückte den grünen Knopf des Handys, machte routiniert eine Aktennotiz und beruhigte den erzürnten Gustavsen. Denn der Kollege seines Vaters hatte »die Schnauze gestrichen voll«, wie er Alexander unverblümt mitteilte. »Sag deinem Herrn Vater, es gäbe wichtige Neuigkeiten beruflicher Art, die ihn unter Umständen interessieren könnten.«

»Soll er heute noch zurückrufen?«, fragte Alexander scheinheilig.

»Wenn es vor Weihnachten noch ginge, wäre ich überaus dankbar«, antwortete Gustavsen, der zunehmend gereizt klang. Dann legte er grußlos auf.

Alexander kannte dieses Spiel zur Genüge, und es gefiel ihm, daran teilzuhaben. Vermutlich war es auch kein Zufall, dachte er sich, dass man seinem Vater, der erst kürzlich zum Hauptkommissar befördert worden war, ausgerechnet den über alle Maßen pflichtbewussten und peniblen Magnus Gustavsen zur Seite gestellt hatte. Zwar hätte niemand seinem Vater mangelndes Pflichtbewusstsein vorwerfen können, doch achtete er stets darauf, dass Arbeit und Freizeit in einem gesunden Verhältnis zueinander standen, wie er sich ausdrückte. Er nutzte, mit anderen Worten, jede sich bietende Gelegenheit, um seiner Sportleidenschaft zu frönen, im Meer zu schwimmen, auf Langlaufskiern durch die Wälder zu gleiten, in Joggingschuhen durch die halbe Stadt zu traben oder in seinem Kajak die Weiten des Oslofjords zu erkunden. So wie jetzt.

Alexander trat ans Fenster und blickte besorgt über den aufgewühlten Fjord, der eine giftgrüne Farbe angenommen hatte. Normalerweise konnte er von hier aus die umliegenden Inseln Hovedøya, Lindøya und Nakholmen sowie die Landspitze der Halbinsel Nesodden erkennen, doch nun hatten Land, Himmel und Meer ihre Konturen verloren und waren zu einem diffusen, brodelnden Gemisch verschmolzen. So in etwa stellte er sich die Ursuppe vor, die sie in Bio durchgenommen hatten und aus der vor 15 Milliarden Jahren das Universum entstanden war. Irgendwo da draußen, in der Unendlichkeit des brodelnden Ur-Universums, war sein Vater in einem winzigen Boot den entfesselten Naturgewalten preisgegeben. Für Alexander eine vertraute und dennoch beklemmende Vorstellung.

Er steckte das Handy in die Hosentasche, stapfte die Treppe hinunter und ging in die Küche, um sich ein Brot mit Krabbencreme zu machen. Er hatte gerade die Kühlschranktür geöffnet, als ein Brummen an sein Ohr drang, gefolgt vom Knirschen der Reifen auf dem groben Kies. Mit einem Anflug von Erleichterung nahm er Butter, Krabbencreme und Milch aus dem Kühlschrank, hielt dann inne und lauschte.

Rums! Die Haustür.

»Ach, ist das herrlich!« Die Stimme seines Vaters.

»Hallo, Papa.«

»Hallo, Alex!« Eine kompakte, durchtrainierte Gestalt, der man ansah, dass sie eben noch klatschnass gewesen war, erschien im Türrahmen. »Großartiges Paddelwetter, ich hätte bis nach Drøbak fahren können!«, rief Ohlsen begeistert. Sein Gesicht leuchtete vor Freude und guter Durchblutung. Seine dichten schwarzen Haare standen struppig in alle Richtungen ab, was sie im Übrigen immer taten, ob nass oder trocken. »Da fühlt man sich wirklich wie neugeboren! Vielleicht sollte ich mir gleich meine Joggingschuhe schnappen und noch eine kleine Runde ums Haus …«

»Magnus hat angerufen«, unterbrach ihn Alexander.

»Ach wirklich?«

»Schon zwei Mal. Er sagte, es ist dringend.«

»Wahrscheinlich sind ihm die Büroklammern ausgegangen und er will wissen, wann wir Nachschub bekommen.«

»Er klang ziemlich aufgeregt.«

»Hm, hat er noch was gesagt?«

»Dass er die Schnauze voll hat.«

»Das hat er gesagt?«

»Das hat er gesagt.«

»Ich ruf ihn morgen an.«

»Papa, bitte!«

»War‘n Scherz. Gib her.«

Alexander reichte ihm das Handy, doch noch ehe sein Vater die Kurzwahlnummer seines Kollegen eintippen konnte, erwachte der Apparat in seiner Hand zum Leben und schmetterte das Vereinslied des Osloer Fußballklubs Vålerenga IF.

»Hallo, Magnus, was gibt’s?«

Ohlsens eben noch so gut durchblutetes Gesicht verlor die Farbe. »Franziska … bist du sicher?«

Das war zunächst alles, was ihm über die Lippen kam. Es hatte ihm, was selten geschah, die Sprache verschlagen. Als er schließlich »Okay, bin gleich da« murmelte, war er kreidebleich. Wie in Zeitlupe wandte er den Kopf. Alexander erschrak, als er einen Blick auffing, den er so noch nie gesehen hatte. Etwas zutiefst Besorgtes und Mitleidiges lag darin. Alexander wusste sofort, dass dieser Ausdruck etwas mit ihm zu tun hatte.

Kapitel 1

Acht Monate zuvor

»Ich hoffe, ihr habt alle schöne und erholsame Ferien verbracht«, begann Gunnar Mørk, »sodass ihr euch nun mit frischen Kräften den Herausforderungen der achten Klasse … hallo … würdet ihr mir bitte zuhören … das gilt auch für euch, Truls und Svein!«

Das neue Schuljahr an der Elisenbergschule begann so, wie das alte aufgehört hatte. Mørk kämpfte verzweifelt um Aufmerksamkeit. Dabei hatte sich der Lehrer fest vorgenommen, gegenüber den beiden Neulingen in der Klasse eine gewisse Autorität vorzutäuschen.

»Ich möchte euch bitten, unsere neuen Schüler aus Deutschland recht herzlich willkommen zu heißen. Sofie, nimm den Kaugummi aus dem Mund, danke!« Mit einem Ruck zog Mørk seinen Hosenbund nach oben. Das war eine unglückselige Angewohnheit, die er nicht kontrollieren konnte, wenn er nervös war. Ein kaum unterdrücktes Kichern lief durch die Bankreihen. »Ihre Gesichter dürften euch ja bekannt sein. Lukas und Franziska haben bereits ein halbes Jahr in der Förderklasse verbracht, um ihre Norwegischkenntnisse zu verbessern. Glücklicherweise haben wir in Alexander ja einen deutschsprachigen Mitschüler, der ihnen bestimmt mit Rat und Tat zur Seite stehen wird, nicht wahr, Alexander?«

»Na logo«, antwortete Alexander auf Deutsch und lächelte den beiden Zwillingen, die immer noch wie bestellt und nicht abgeholt vor der Tafel standen, kurz zu. Mørk, der die Antwort nicht verstanden hatte, lächelte ebenfalls. »Dann schlage ich vor, dass sich Franziska und Lukas neben Alexander setzen. Linnea, du könntest dafür neben Nora ans Fenster, und wenn Elias so freundlich wäre, einen Platz nach rechts zu rutschen, dann könnte Daniel …« Mørk dirigierte mit beiden Händen, während ein so wilder Tumult losbrach, als wäre gerade Feueralarm ausgelöst worden. Nach minutenlangem Stühlerücken und Palavern hatte ungefähr die Hälfte der Schüler einen neuen Platz gefunden. Franziska saß zwischen Alexander und ihrem Bruder, der wiederum den strohblonden Elias an seiner Seite hatte.

»Wie lange bleiben die denn, die Deutschen?«, krähte ein Mädchen in der letzten Reihe. Für einen Moment herrschte absolute Stille.

»Die Deutschen«, wiederholte Mørk gedehnt, »heißen Lukas und Franziska, falls jemand von euch unter Gedächtnisschwund leiden sollte. Sie sind vor einem halben Jahr mit ihrer Mutter nach Oslo gezogen, befinden sich also nicht im Urlaub, sondern sind gekommen, um zu bleiben. Es sieht ganz so aus, Solveig, als müssten sie dich noch ein bisschen länger ertragen.« Solveig zog einen Flunsch.

War das jetzt ihr gemeinsamer Spitzname?, fragte sich Franziska beklommen. Den man ihnen verpasst hatte, um sich nicht persönlich mit ihnen abgeben zu müssen? Auf Norwegisch hatte das Wort einen fast aggressiven Klang: Tyskerne – die Deutschen.

✶ ✶ ✶

»Macht euch nichts draus«, sagte Alexander, als sie auf dem Heimweg die Løvenskiolds gate entlangschlenderten. »Solveig hat eine große Klappe, aber sie meint es nicht so. Sie ist es nur nicht gewohnt, ihr Gehirn einzuschalten, bevor sie den Mund aufmacht.«

Lukas grinste. »Woher kannst du eigentlich so gut Deutsch?«, fragte er.

»Meine Mutter kommt aus Lübeck«, antwortete Alexander. »Sie hat meinen Vater damals im Urlaub kennengelernt und ist schon ein halbes Jahr später zu ihm in den hohen Norden gezogen. Vermutlich, weil ich bereits unterwegs war.«

»Wie unterwegs?«, fragte Lukas.

»Na, im Bauch.«

»Du meinst, deine Eltern haben sich im Urlaub kennengelernt und schon …?«

»War wohl Liebe auf den ersten Blick. Außerdem sagt mein Vater immer, er musste sie rumkriegen, bevor sie merkt, dass er ein Bulle ist. Sonst hätte sich meine Mutter bestimmt nicht mit ihm eingelassen.«

»Dein Vater ist bei der Polizei?«, fragte Franziska.

»Kripo.«

»Wow!«

Was Franziska vor allem auffiel, war Alexanders lässige Sprechweise. Die Worte schienen ihm wie zufällig aus dem Mund zu purzeln. Als führe er ein entspanntes Selbstgespräch, während er neben ihnen her schlurfte und seinen abgewetzten Lederbeutel, der ihm als Schultasche diente, am Zeigefinger über der Schulter trug. Hin und wieder strich er sich mit einer beiläufigen Bewegung die halblangen braunen Haare aus der Stirn.

»Und ihr?«, fragte Alexander, als sie im milden Nachmittagslicht in die Gyldenløves gate einbogen. »Ich meine, wieso seid ihr eigentlich hierher gezogen?«

»Meine Mutter … also unsere Mutter«, begann Lukas. »Sie ist Augenärztin«, fuhr Franziska fort und nickte dann einfach, als wäre das eine ausreichende Erklärung. Alexander blickte sie fragend an.

»Sie arbeitet hier in einem Ärztehaus und findet alles viel besser als in Deutschland, auch die Schule«, erklärte Lukas.

»Ja, so brillante Lehrer wie Mørk gibt’s bestimmt nur hier«, entgegnete Alexander trocken.

»Na ja, sie meint, dass wir hier alle weniger Stress hätten«, sagte Lukas. »Also eigentlich wollte sie schon immer nach Norwegen«, fügte er hinzu.

»Und – wolltet ihr das auch?«, fragte Alexander.

Lukas zuckte die Schultern. Franziska biss sich auf die Lippe. Dann sagte sie mit plötzlicher Heftigkeit: »Also ich geb ihr noch ein halbes Jahr, dann ziehen wir wieder zurück!«

»Wohin?«

»Nach München«, antworteten beide wie aus einem Mund.

Alexander hätte sich gern erkundigt, wo denn ihr Vater sei, doch vielleicht war das eine heikle Frage, also ließ er es bleiben. Mittlerweile waren sie in der Odins gate vor einem viergeschossigen Backsteinbau mit hohen Fenstern und prachtvoll verzierten Balkongittern stehen geblieben. »Also hier wohnen wir«, sagte Lukas und legte den Kopf in den Nacken. »Im dritten Stock.«

»Schicke Hütte«, bemerkte Alexander.

»Ja, ist ganz okay«, entgegnete Franziska.

»Tja dann … nehme ich jetzt den Bus auf die Insel. Gleich da vorne ist die Haltestelle«, sagte Alexander und zeigte in Richtung Bygdøy allé.

»Du wohnst auf einer Insel?«, wunderte sich Lukas.

»Halbinsel, um genau zu sein. Aber eigentlich kommt einem Bygdøy wie eine richtige Insel vor. Wenn ihr mich mal besuchen kommt, dann zeige ich euch das Strandbad und die Paradiesbucht. Das ist der schönste Strand der Welt, nur die Palmen muss man sich dazudenken.«

Franziska warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Hier muss man sich fast alles dazudenken, dachte sie grimmig, bevor sie von einem sonderbaren Gefühl der Erleichterung ergriffen wurde. Der Gedanke, der seit Wochen in ihr Gestalt angenommen hatte, war nach diesem ersten Schultag zum festen Vorsatz geworden: Sie würden wieder nach Hause zurückziehen, koste es, was es wolle.

»Aloha!«, sagte sie und hob die Hand zum Gruß, ehe sie die Tür aufschloss und im Hauseingang verschwand. Lukas schlurfte hinter ihr her. »Mach’s gut, Alexander!« Dann wurde auch er vom Dunkel des Treppenhauses verschluckt.

Kapitel 2

»Ich verstehe einfach nicht, wie die Leute so leichtsinnig sein können«, sagte Ohlsen, während er sich eine Handvoll Krabben auf den Teller schaufelte. »Die hängen ihre Adressaufkleber offen an die Gepäckstücke, bevor sie in Urlaub fliegen. Und wenn sie wiederkommen, wundern sie sich, dass ihnen jemand die Bude ausgeräumt hat.«

»Vielleicht solltet ihr mal eine Warnung an die Bevölkerung rausgeben«, schlug seine Frau Katja vor, nippte an ihrem Weißwein und blinzelte in die Abendsonne, die ihre Tafel auf der Veranda in sanftes Licht tauchte.

»Alles längst passiert, nützt aber nichts.« Ohlsen befreite die ersten Krabben im Handumdrehen von ihrer Schale. »Erst gestern hat eine Familie, die aus Teneriffa zurückkam, den Schock ihres Lebens bekommen. Alle elektrischen Geräte waren verschwunden, Musikanlage, Fernseher, Espressomaschine und so weiter. Dafür haben die Einbrecher in der Küche eine Tafel Schokolade und einen Computerausdruck hinterlassen, auf dem stand: Willkommen zu Hause! Ist das nicht eine unglaubliche Frechheit?«

»Ziemlich teurer Urlaub«, bemerkte Alexander und beträufelte sein Krabbenbrot mit Zitronensaft.

»So kann man’s auch sehen. Aber irgendwann kriegen wir die beiden. Gibst du mir mal die Mayonnaise?«

»Wieso die beiden?«, wollte Katja wissen.

»Weil solche Einbrüche in der Regel zu zweit verübt werden. Man will die Beute ja nicht mit mehr Leuten teilen als unbedingt nötig. Andererseits ist es ganz praktisch, wenn einer Schmiere stehen kann.«

»Und wieso bist du so sicher, dass sie euch irgendwann ins Netz gehen?«

»Weil sie ziemlich übermütig sind. Sieht man ja an der Nachricht und der Schokolade. Das waren keine eiskalten Profis, sondern irgendwelche Typen, die sich wahnsinnig witzig vorkommen und das Ganze gewissermaßen als persönliche Herausforderung betrachten. Manche erhöhen mit der Zeit sogar das Risiko bei ihren Einbrüchen, um sich selbst etwas zu beweisen. Könnten zum Beispiel irgendwelche geltungsbedürftigen Halbstarken aus Grønland sein, die sich in der Therapiegruppe wie die Klosterschüler benehmen, aber in Wahrheit …«

»Ausgeschlossen!«, fiel ihm Katja ins Wort. »Für meine Jungs und Mädels lege ich die Hand ins Feuer.«

Vater und Sohn Ohlsen waren es gewohnt, dass Katja die Jugendlichen, für die sie sich verantwortlich fühlte, mit Zähnen und Klauen verteidigte. Seit mehreren Jahren arbeitete sie nun schon als Streetworkerin in dem Osloer Problemviertel Grønland. Gemeinsam mit ihren Kollegen sorgte sie dafür, dass viele Teenager, denen das Leben übel mitgespielt hatte, wieder mit ein bisschen Optimismus in die Zukunft blicken konnten. Dass sie einen Ausbildungsplatz erhielten, von den Drogen wegkamen oder von einer Pflegefamilie aufgenommen wurden. In den Therapiegruppen lernten sie, ihre Frustration in produktive Bahnen zu lenken, statt ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen. Katja stand ihnen mit so unerschütterlicher Loyalität zur Seite, als wären es ihre eigenen Kinder. »Wenn wir uns nicht um sie kümmern, tut es niemand. Und ich werde es nicht zulassen, dass sie vor die Hunde gehen«, pflegte sie zu sagen.

»Dein Engagement in allen Ehren, Katja, aber du kannst aus den Kids keine Heiligen machen«, erwiderte Ohlsen. »Und du bist schon gar nicht dafür verantwortlich, wenn sie die Hand, die du ihnen entgegenstreckst, nicht ergreifen.«

Katja wusste, dass er recht hatte, und Ohlsen wusste, dass sie ihm niemals zustimmen würde. Denn sie identifizierte sich mit jedem einzelnen ihrer Schützlinge und empfand es als persönliche Niederlage, wenn diese sich etwas zuschulden kommen ließen. »Das tun sie aber«, entgegnete sie. »Alle ziehen wunderbar mit. Selbst Mia kriegt ihre Aggressionen immer besser in den Griff, und Petter hat sich enorm stabilisiert, seit er seine Ausbildung in der Druckerei angefangen hat.«

Alexander stöhnte innerlich. Wenn seine Mutter erst mal von den jüngsten Erfolgen, Durchbrüchen und Heldentaten ihrer Zöglinge zu erzählen begann, würde sie so schnell nicht wieder damit aufhören. Höchste Zeit also für einen eleganten Themenwechsel.

»Wir haben zwei Neue in der Klasse!«

Allgemeines Schweigen.

Ein paar Möwen kreisten schreiend hoch über ihren Köpfen. In der Ferne tutete eine Fähre.

Seine Mutter schien mit den Gedanken noch in Grønland zu sein, während sein Vater sich ganz darauf konzentrierte, eine Weißbrotscheibe mit Krabbenberg und Mayonnaisehaube in Richtung Mund zu balancieren.

Alexander gab seinen Eltern Zeit. Er wusste, dass das menschliche Gehirn ab einem gewissen Alter länger braucht, um jähe Themenwechsel zu verarbeiten, also versuchte er es mit einer Wiederholung der Nachricht.

»Wir haben zwei Neue in der Klasse!«

»Ach wirklich?«, nuschelte Ohlsen mit vollem Mund.

Bingo!

»Aus München«, fügte Alexander effektvoll hinzu.

Jetzt schien auch Katja aus ihrer Trance zu erwachen. »Aus München? Wie interessant. Dann kannst du ja endlich mal mit jemand anderem deutsch reden als mit mir.«

»Wenn ich um eine kurze Personenbeschreibung bitten dürfte«, sagte Ohlsen mit seiner förmlichsten Hauptkommissarstimme. »Persönlicher Hintergrund, äußere Merkmale und besondere Kennzeichen.«

Dies war ein beliebtes Spiel zwischen Vater und Sohn, das eine genaue Beobachtungsgabe sowie eine präzise Ausdrucksweise erforderte. Beides Dinge, die einem im Alltag von großem Nutzen sein konnten, wie Ohlsen stets betonte.

»Es handelt sich um Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen«, begann Alexander und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sie heißen Lukas und Franziska. Ihr exaktes Alter muss noch ermittelt werden, ich tippe auf dreizehn Jahre. Mørk zufolge sind sie vor cirka einem halben Jahr mit ihrer Mutter, einer Augenärztin, von München nach Oslo gezogen. Über den Verbleib des Vaters ist nichts bekannt. Da er bis jetzt von niemand erwähnt wurde, steht zu vermuten, dass der Umzug ohne ihn stattfand.« Alexander trank einen Schluck Wasser. Ohlsen nickte zufrieden.

»Franziska ist schlank und etwa so groß wie ich, hat schulterlange dunkelbraune Haare und grüne Augen. Ihr markantes Kinn und ihr durchdringender Blick lassen auf eine Persönlichkeit mit starkem Willen schließen.« Katja warf ihrem Sohn einen halb beeindruckten, halb belustigten Blick zu. »Ihr Bruder ist einen halben Kopf kleiner«, fuhr Alexander fort, »hat kurze blonde Haare, blaue Augen und ziemlich viele Sommersprossen, vor allem um die Nase herum. Beim Sprechen stößt er ein klein wenig mit der Zunge an, aber das hört man kaum. Hat sein Hemd schief zugeknöpft und trägt verschiedenfarbige Socken, wahrscheinlich aus Schusseligkeit. Wohnhaft in der Odins gate 17, dritter Stock – das war’s.«

»Ich muss schon sagen, du wirst immer besser«, sagte Ohlsen voller Stolz. »Wenn wir doch nur so gute Täterbeschreibungen bekommen würden, dann hätten wir eine viel höhere Aufklärungsquote.«

»Ich finde, wir sollten die Ermittlungen bei einer persönlichen Gegenüberstellung fortsetzen«, sagte Katja vergnügt. »Lad sie doch mal zu uns ein, Alexander.«

»Ich hab ihnen schon gesagt, dass ich ihnen die Paradiesbucht zeige«, entgegnete er.

»Dann solltest du das möglichst bald tut«, erwiderte Ohlsen. »Ich fürchte, der Sommer wird auch in diesem Jahr irgendwann zu Ende gehen, und jetzt ist die Paradiesbucht schließlich am schönsten. Lasst uns doch gleich die ganze Familie einladen. Vielleicht könnten wir dort zusammen grillen.«

»Und wenn sie nicht gern grillen?«, wandte Katja ein.

»Lass das nur meine Sorge sein, Liebes, ich habe schon eine Idee …«, sagte Ohlsen und blickte versonnen in die Ferne. »Mir schweben da marinierte Lammkoteletts mit gebackenen Kartoffeln vor. Oder mit wildem Fenchel gefüllte Doraden … oder vielleicht beides?«

Katja gab ein nachsichtiges Seufzen von sich und fragte sich bestimmt zum hundertsten Mal, wie sie nur an diesen sport- und genusssüchtigen Kriminalkommissar geraten war.

Und während am Fredriksborgveien auf Bygdøy noch eingehend darüber diskutiert wurde, ob man eine wildfremde Familie erst zum Grillen an den Strand oder doch lieber zu sich nach Hause einladen sollte, senkte sich langsam die Dämmerung über den Oslofjord, der jetzt so still und friedlich dalag, als wollte er für heute nicht mehr gestört werden.

Kapitel 3

Es war der seltsamste Park, den Lukas je gesehen hatte, und er lag nur einen Katzensprung von der Odins gate entfernt. Lukas kam sich inmitten der über zweihundert nackten Figuren aus Granit und Bronze wie in einem unwirklichen Traum vor. Denn die Figuren waren nicht nur nackt, sondern teils zu einem eigentümlichen Wirrwarr von Armen und Beinen verschlungen, bei dessen Anblick ihm schwindelig wurde. Das hatte ihm gerade noch gefehlt; er hatte ohnehin Mühe genug, seine Gedanken zu ordnen.

In sich gekehrt schlurfte er zwischen den starren und doch so lebendig wirkenden Babys, Kindern, Erwachsenen und Greisen hindurch, die in den verschiedensten Situationen des Lebens dargestellt waren: liebend, zankend und schlagend, lachend und weinend, sich in den Arm nehmend, scheinbar in Gespräche vertieft oder artistische Verrenkungen machend.

Der Star des Parks, das hatte ihm seine Mutter erzählt, war der »Sinnataggen«. Ein kleiner Junge, dessen Skulptur auf einer Brücke stand. Er hatte ein wutverzerrtes Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf. Sinnataggen heißt auf Deutsch Trotzkopf.

Lukas konnte ihn gut verstehen, denn eigentlich war er genauso wütend wie dieser Junge. Doch ließ er sich seine Gefühle im Gegensatz zu Franziska nicht so leicht anmerken. Ob er nun Freude, Trauer, Heiterkeit oder Wut empfand – er prüfte diese Gefühle erst mal in seinem Inneren, versuchte ihnen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, ob sie stärker oder schwächer wurden. Erst danach entschied er, ob er diese Gefühle zeigte oder eben nicht. Aus irgendeinem Grund brauchte Lukas diese Art der Kontrolle, um im Gleichgewicht zu bleiben.

Und im Moment wollte er seine Wut lieber für sich behalten. Vor allem seiner Mutter gegenüber, weil er sie nicht enttäuschen wollte. Sie hatte sich so auf Oslo gefreut und war so glücklich hier; jedenfalls sagte sie das ständig. Und Franziska sprach ihm gegenüber immer öfter und eindringlicher davon, dass sie wieder zurück nach München wollte. Wenn er sie jetzt auch noch anfeuerte, würde sie hochgehen wie eine Rakete, und Lukas hasste solche Explosionen.

»Lukas, schau mal, sieht das nicht lustig aus?«

Seine Mutter stand auf einem Bein und hielt sich an der Statue eines muskulösen Bronzemanns fest, der ebenfalls auf einem Bein stand und vier Säuglinge in die Luft hielt, als würde er mit ihnen jonglieren. Sie strahlte mit der Sonne um die Wette, während ihre blonden Haare im Wind flatterten.

»Sehr lustig«, sagte Lukas und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft.

✶ ✶ ✶

Als sie später auf Franziskas Zimmer waren, erstellten sie eine Liste. Das war ihre Idee gewesen. Eine Pro-und-contra-Liste sollte es werden, die schwarz auf weiß ans Tageslicht bringen würde, dass München hundert, wenn nicht tausend Mal besser war als Oslo.

»Englischer Garten«, sagte Franziska träumerisch und machte mit ihrer schnörkeligen Schrift den ersten Eintrag. Als i-Punkt malte sie ein kleines rosafarbenes Herz.

»Oktoberfest«, ergänzte Lukas. »Top Spin, Magic, Freefall …«

»Soll ich das alles aufschreiben?«

»Quatsch, ich hab nur gerade überlegt, was meine Lieblingsfahrgeschäfte sind.«

»Vom Freefall wird dir doch immer total schlecht.«

»Nur das eine Mal, weil ich vorher zu viel Eis gegessen hatte.«

»Hm, was noch?«, fragte Franziska.

»Das Mathäser, da laufen die besten Filme«, schlug Lukas vor. »Außerdem gibt’s dort das leckerste Popcorn.«

Mathäser, notierte Franziska und fügte in Klammern Popcorn hinzu.

»Bayern München«, legte Lucas nach. »Kannst die AllianzArena gleich dazusetzen. Die Samstage sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

»Stimmt, samstags war ich mit Mama immer auf dem Viktualienmarkt.«

»Also schreib auf!«

Franziska setzte erneut den Stift an. Viktualienmarkt. Mit zwei rosa Herzen.

Je länger sie nachdachten, desto mehr Vorzüge und Pluspunkte Münchens fielen ihnen ein, die keinesfalls auf der Liste fehlen durften. Franziska schrieb und schrieb, während ihre Buchstaben immer kleiner wurden. Als Letztes quetschte sie noch den Namen ihrer Lieblingseisdiele in Schwabing unten auf die Seite. Adria.

Gegenüber, in der rechten Spalte, herrschte gähnende Leere.

»Was machen wir eigentlich mit der Liste, wenn wir fertig sind?«, wollte Lukas wissen.

»Die schieben wir morgen früh unter Mamas Tür durch oder legen sie auf den Küchentisch.«

»Bist du verrückt?«

»Warum denn? Wenn sie die Liste sieht, wird Sie einsehen, dass wir zurückziehen müssen«, sagte Franziska.

»Dann lass uns aber auch irgendwas aufschreiben, was für Oslo spricht, sonst glaubt sie noch, wir wären nicht objektiv.«

»Hm … na gut … fällt dir denn was ein?«

»Nö.«

»Mir auch nicht.«

»Das Skolebrød bei der Bäckerei Samson in der Frederik Stangs gate schmeckt eigentlich ganz gut«, sagte Lukas nach längerem Nachdenken.

»Du meinst, diese Hefedinger mit Vanillecreme und Kokosflocken?«

»Genau die.«

»Ja, kann man essen«, räumte Franziska ein.

»Wird einem jedenfalls nicht gleich schlecht von«, ergänzte Lukas.

»Also gut.« Franziska griff seufzend zu einem stumpfen Bleistift und kritzelte Skolebrød in die linke Spalte. »Noch weitere Backwaren, die du aufnehmen möchtest?«

»Wie wär’s mit dieser Keksschokolade in der gestreiften Verpackung?«

»Hä?«

»Na, die so ähnlich schmeckt wie KitKat.«

»Kvikklunsj?«

»Ja, Kvikklunsj.«

»Meinetwegen, aber das reicht jetzt«, entschied Franziska. »Für Oslo spricht also Skolebrød und Kvikklunsj, für München der ganze Rest.«

Am Ende beschlossen die beiden dann doch, die Liste erst mal unter Verschluss zu halten. Außerdem wollten sie noch eine zweite Liste mit den Namen all ihrer Freunde und Freundinnen anfertigen, denn die vermissten sie schließlich am allermeisten. Bei Facebook tippten sie sich täglich die Finger wund, aber irgendwie kam ihnen das eher wie ein Computerspiel vor, mit dem sie ihr altes Leben weiterspielten. Mit ihrem neuen Leben hatte das nichts zu tun. Irgendwann würde ihre Mutter schon von selbst darauf kommen, dass der Umzug nach Oslo eine Riesenschnapsidee gewesen war, und wieder mit ihnen nach München zurückgehen.

Nur eines, darin waren sie sich einig, konnte das verhindern. Wenn ihre Mutter sich vorher verliebte. Das durfte unter keinen Umständen passieren. Der Haken an der Sache war, dass sie sich ziemlich schnell verliebte. Im Allgemeinen.

Natürlich war das nicht immer so gewesen. Erst in den letzten Jahren. Erst nach dem schrecklichen Unfall, über den sie eigentlich niemals sprachen, auch jetzt nicht.

Kapitel 4

Das Haus war wie geschaffen für sie. Es stand am südlichen Rand eines kleinen Waldstücks, das Husebyskogen genannt wurde und eine der vielen grünen Lungen der Stadt war. Hier herrschte ein großzügiger Abstand zwischen den Einfamilienhäusern, die zudem so freundlich waren, ihre Rückseiten dem Wald zuzukehren. Eine solche Einladung konnten sie einfach nicht ausschlagen.