Tatsächlich Transsilvanien - Rita Klaus - E-Book

Tatsächlich Transsilvanien E-Book

Rita Klaus

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Beschreibung

GANZ WEIT IM TIEFSTEN RUMÄNIEN, im hügeligen Herzen Transsilvaniens, liegt ein kleines Dorf mit bunten Bauernhöfen, drei Storchennestern und null Kanalisation. Bei Vollmond heult hinter der Kirche ein einsamer Wolf, und manchmal heulen die Straßenhunde mit. Für den Preis eines Münchner Tiefgaragenstellplatzes kaufte sich die sechsköpfige oberbayerische Familie Klaus dort einen hundertjährigen, unrenovierten Bauernhof. Zwischen schnapsbrennenden Selbstversorgern und lebensklugen Nachbarn mit Pferdekarren versucht die Familie ein ECHTES Leben zu führen. Holz hacken, Truthahn schlachten, Spinat einkochen – hier lernt sie rumänische Alltagsskills, die wir längst verlernt haben. Ein Leben mit Kuttelsuppe, Katzenbabies, sehr viel Knoblauch – und leider so ziemlich ohne Vampire.

  • Backstage mitten im Dorfleben Rumäniens
  • Echtes, ursprüngliches Leben im Selbstversuch
  • Bayrisch-rumänischer Culture-Clash – liebevoll und irrwitzig komisch

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Seitenzahl: 292

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1. Auflage 2023

© DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

 

Dieses Buchprojekt wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

 

Lektorat: Patrick Schär

Gestaltung Umschlag und Fotostrecke: Birgit Kohlhaas

Fotos: Rita Klaus; mit Ausnahme der beiden Familienfotos Umschlag hinten und Fotostrecke S. 15 o.: Paul Buchfellner / 4x4Karpatenhilfe; Klebestreifen Umschlag und Fotostrecke © Studio 2am

Satz: Anja Linda Dicke

 

Printed in Poland

 

ISBN 978-3-616-03234-4

www.dumontreise.de

Für meine Omaria, die niemals in Rumänien war. Es hätte dir gefallen.

ACHTUNG, TRIGGERWARNUNG!

In diesem Buch fließen Blut, Schweiß, Diesel, diverse Körperflüssigkeiten, selbst gebrannter Schnaps und nochmals Blut.

In Strömen.

Es stoßen bayerisches Grantlertum auf rumänischen Rebellengeist, Milchzähne durch Unterlippen und überhaupt Menschen und Tiere an ihre Grenzen. Wer das nicht ertragen kann oder will, ist hier falsch. Der muss weiterhin brav Goodbye, Deutschland gucken, wo aus irgendwelchen mir komplett unverständlichen Gründen noch nie jemand nach Rumänien ausgewandert ist.1

Alle in diesem Buch auftretenden Personen, Tiere und Plumpsklos gibt es wirklich. Sämtliche geschilderten Begeben­heiten sind real passiert. Wir haben nichts zu verbergen und würden auch jederzeit allen Interessierten die Benutzung unserer ­mechanischen Zeitmaschine (Plumpsklo) gestatten. Damit sich aber kein Bauer-Nicolae-Fanclub bildet (obwohl Bauer ­Nicolae selbst da bestimmt sehr aufgeschlossen wäre) oder wild gewor­dene Touristen-Flashmobs die fünf verbliebenen Dorf­pferde scheu machen, habe ich die Nachnamen der Protagonistinnen und Protagonisten geändert. Bei den Vornamen hingegen liegt die beste Tarnung in der Statistik: Da sowieso gefühlte neunzig Prozent aller bis 1989 geborenen Rumänen Nicolae oder Elena und bestenfalls noch Maria oder Nicuşor heißen, habe ich das einfach mal so gelassen und nur großzügig ein paar Vlads, Vio­ricas und Radus eingestreut. Die »echten« Elenas und ­Nicolaes werden es mir verzeihen.

1Mal ehrlich, ihr Produzenten und Redakteurinnen – schämt euch! Unverzeihliche Lücke! Und falls ihr jetzt nachträglich auf Ideen ­kommen solltet und euer Versäumnis verzweifelt nachholen wollt: Nein, sorry, wir haben unsere Pleiten, Pech und Pannen schon ganz allein dokumentiert.

1

Wie man sich am besten auf ein fremdes Land vorbereitet

Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, brachte meine gleichaltrige Cousine für ein paar Tage ihren US-amerikanischen Austauschschüler mit zu uns ins oberbayerische Grainau. Ja, die bergige Schönheit meines Geburtsortes kann einen schon übermannen, wenn man aus der, sagen wir, eher unspektakulären Mitte Ohios kommt. Immerhin ragt quasi unmittelbar hinter meinem Elternhaus der höchste Gipfel Deutschlands knapp dreitausend Meter in die Höhe. Seit der Tourismus sein Medusenhaupt erhoben hat, ist das Zugspitzdorf Grainau ein Sehnsuchtsziel von Mil­lionen. Einheimische Kinder wie ich sind es gewohnt, auf dem Schulweg Slalom um fotografierende Gäste aus aller Herren Länder zu laufen und an schönen Nachmittagen besser keine Termine im Nachbarort Garmisch-Partenkirchen auszumachen, weil man es durch den Ausflüglerstau sowieso nicht rechtzeitig hinschaffen würde.

Doch James Taylor Matthew III. Rickenbacker (so ähnlich jedenfalls hieß der Knabe) verhielt sich ganz anders als erwartet. Anstatt bewundernd durch die Zähne zu pfeifen oder wenigstens irgendeine anerkennende Lautäußerung von sich zu geben, würdigte er die majestätische Bergkulisse keines Blickes. Er nickte uns zu, stellte sich kurz vor und verschwand dann vom Parkplatz direkt in unserer Wohnung, wo er mit zusammengekniffenen Augenbrauen und neutraler Miene die Dekoration auf dem Fensterbrett studierte. Er faltete die Hände hinter dem Rücken und steckte die Nase ganz tief in unser Bücherregal, bevor er die Anzahl der Kaffeetassen im Buffetschrank untersuchte und sogar in die Besteckschublade unter dem Esstisch guckte. Wie mit einer eingebauten Leselupe oder einem unsichtbaren Mikroskop nahm er sich systematisch unser Familienwohnzimmer vor, als wären wir nur die schmückende Staffage in einem Museum.

»Bestimmt will er mal Forscher werden«, kommentierte meine Mutter milde lächelnd, aber mit durchaus sarkastischem Unterton. Mein vierzehnjähriges, schwer pubertierendes Ich stand befremdet daneben und nahm sich fest vor, sich NIE, NIEMALS derart danebenzubenehmen, wenn es jemals von irgendjemandem irgendwohin eingeladen werden würde. Noch dazu im Ausland. Wie peinlich!

Später, als wir bei Tee und Keksen saßen, brach James III. endlich die awkward silence mit einer Frage, die uns gleichzeitig entsetzte und uns tiefes Mitgefühl für das US-amerikanische ­Bildungssystem empfinden ließ: »So, how many Jews do you burn a year?«

Na, wie viele Juden verbrennt ihr so im Jahr?

Dass sich auf diesem Gebiet in den vergangenen zwei Generationen zum Glück einiges geändert hat, wusste er gar nicht. Seiner Meinung nach befand er sich auf einer Studienreise ins Herz der Finsternis. Und da wollte er eben mal ganz genau hingucken, wie die so leben.

Knapp drei Jahrzehnte später hat sich das Blatt gewendet. Heute bin ich es, die in fremden Wohnzimmern herumstöbert, Traditionen missversteht und blöde Fragen stellt. Immerhin auf dem gleichen Kontinent, auch wenn man das manchmal kaum glauben möchte. Und es ist mir überhaupt nicht peinlich. Allerhöchstens meinen pubertierenden Kindern. James III., I see you! Denn du hast mich drei ganz wichtige Lektionen gelehrt:

 

1) Man kann auf eine andere Kultur sowieso nie gut genug vorbereitet sein.

2) Öfter mal (und am besten rechtzeitig) nachfragen hilft ungemein.

3) Durch Nichtbeachtung von Punkt 1 und 2 entstehen die besten Geschichten.

2

Melanie Griffith steht auf Seeräuber

Dieses Buch kam auf einem Plumpsklo zur Welt.

Nein, ehrlich. Diese Geschichte beginnt mit dem Ende des menschlichen Verdauungsvorgangs. Mit jenem Örtchen, wo selbst der Papst zu Fuß hingeht. Wobei der Papst bei der größtenteils orthodoxen Bevölkerung Rumäniens relativ wenig zu melden hat. Aber auch der Patriarch in Bukarest, der sich von seinen Schäflein ganz volksnah Daniel nennen lässt, geht bestimmt zu Fuß dorthin – wenngleich er hoffentlich über ein etwas komfortableres Örtchen verfügt als wir.

Unseres ist ein annähernd hundert Jahre altes Plumpsklo, innen rundherum mit buntem Altpapier vorwiegend der Sechziger bis frühen Neunziger richtiggehend tapeziert. In sich überlappenden, sorgfältig mit Reißzwecken befestigten Schichten finden sich Zeitungsausschnitte, Werbeprospekte, Kalenderblätter, Strumpfhosenverpackungen ebenso wie Postkarten aus aller Welt und jede Menge Plattencover. Inhaltlich deckt das Material die kapitalistischen Wunschträume des weißen Mannes ab: Über dem »Noul BMW Seria 1. Incepand cu 16’900 Euro« und dem »Dacia Logan – Alegerea potrivita familiei tale« winden sich die Spice Girls und gruseligerweise auch die Boyband Caught in the Act. Sehr musikalisch ist es sowieso. Rechter Hand überwiegen nationale Sanges-Sternchen der Swinging Sixties: Aida Moga, Sonia Crucera, Roxana Matei, Ingela Brandner … Besonders kess gleich über dem Klopapierhalter: Doina Badea und Zizi Serban. Pompilia Stoian kommt viermal vor. Wie meine Recherche ergab, gibt es sie sogar immer noch: Die Englischlehrerin, die es 1966 mit ihrem Hit »Prieten drag« – Lieber Freund – zu nationaler Berühmtheit brachte, singt heute in den Seniorenheimen von Braunschweig. 1972 verheiratete sie sich in die DDR. Das war zwar erlaubt, wurde aber dennoch von den Autoritäten als eine Art Verrat betrachtet. Auf Anordnung des persönlich beleidigten Ceauşescu nahm man ihre Lieder aus dem Umlauf und verbot ihre Musik in Radio und Staatsfern­sehen. Pompilia Stoian-Lederle sollte aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt werden. Doch die Liebe der Rumänen ist unerschütterlich: Knapp dreißig Jahre später wurde »Prieten drag« trotz oder gerade wegen des jahrzehntelangen Verbots zum Song des Jahrhunderts gewählt.

Wenn man sich auf das von drei Generationen blanker Hinterteile schön glatt gewienerte Holzbrett vor dem runden schwarzen Abgrund setzt, liest man auf Augenhöhe rechts neben dem Türriegel:

 

»EHE AM ENDE! Charles und Diana seit acht Tagen getrennt«

 

Und daneben:

»Seeräuber, Musketier und Cyrano de Bergerac? So verwegen sah Don Johnson noch nie aus! Dabei schlägt der Hollywoodstar gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens braucht er den Bart für eine neue Filmrolle. Und zweitens will Don mit dieser männ­lichen Zier seiner Gattin Melanie Griffith imponieren. Don Johnson tobte nämlich vor Eifersucht, als er erfuhr, daß seine Frau mit ihrem Filmpartner Michael Douglas mehr flirtete, als das Drehbuch erlaubte. Flugs ließ er sich einen Bart stehen. Denn Melanie steht auf Seeräuber …«

 

Leider kann man nicht mehr erkennen, in welchem Magazin und wann dieser clevere Schachzug von Don Johnson einst erschien. Auch das Foto ist schon zu verblichen, um die Attrak­tivität von Don als Seeräuber stichhaltig zu ermitteln. Ich habe recherchiert: Don Johnson, heute Anfang siebzig, war zweimal mit Melanie Griffith verheiratet. Einmal nur ein paar Monate lang im Jahr 1976, dann längere Zeit zwischen 1989 und 1996. Bei dem Film, den Melanie zusammen mit Michael Douglas drehte und bei dem die beiden angeblich so heftig flirteten, kann es sich eigentlich nur um den Thriller Wie ein Licht in dunkler Nacht von 1990 handeln. Melanie und Michael spielten die tragischen Liebenden, die am Ende heirateten und zwei Kinder bekamen. Die Schurkenrolle – der böse Wehrmachts­offizier – wurde von Liam Neeson verkörpert. Das historisch sehr frei ausgelegte Nazi-Rührstück kam bei der Kritik gar nicht gut an.

Welchen Film Don, der alte Seeräuber, währenddessen selbst drehte, konnte ich nicht herausfinden. Es wird wohl für immer ein Geheimnis meines Plumpsklos bleiben.

Jedenfalls habe ich, als ich in meinem ersten Frühling in Rumänien sehr viel Zeit dort drin verbrachte, viel über die drei nachgedacht. Ich hoffe, es geht heute allen Beteiligten gut.

Ein Plumpsklo ist überhaupt ein guter Platz, um nachzudenken. Es ist der – man verzeihe das Wortspiel – denkbar analogste Ort in unserer digitalisierten Welt. Ein Ur-Ort. Ein tiefes schwarzes Loch, aus dem betäubende Dämpfe dringen und das man nur in dringlichen Situationen aufsucht. Damit einem nichts Wich­tiges hineinfällt (Autoschlüssel, Portemonnaie, Smartphone), empfiehlt es sich, alle materiellen Besitztümer und schnöden Ablenkungen der modernen Konsumwelt draußen zu lassen.

Oh, diese vollkommene Leere bei der Entleerung. Es ist eine sehr ganzheitliche, metabolische Meditation, wenn man so will: Man lässt es laufen, unten wie oben, körperlich wie geistig.

Ich habe dort drin jedenfalls bereits einige bahnbrechende Erkenntnisse gehabt. Analogien angesammelt, sozusagen, höhö. Sachverhalte von ganz tief unten her durchdrungen. Und als ich merkte, wie gut die Gedanken auf dem Örtchen fließen, habe ich mir unter dem Klorollenhalter einen Notizblock samt Kugelschreiber bereitgelegt. Diese über die Monate gesammelten sogenannten »Plumpskloweisheiten« bildeten den Grundstock für dieses Werk.

Das Plumpsklo steht auf dem Hof einer alten Villa im Herzen Rumäniens, die wir nach langer Suche vom Fleck weg gekauft haben. Erbaut wurde sie um 1930 von dem wohlhabenden ­Mühlenbesitzer-Ehepaar Popa, deren Enkel Nicolae 2018 als kinderloser Witwer verstarb. Zum Glück für uns. Keiner der beiden Neffen Nicolaes, selbst bereits gesetztere Herren mit eigenen Anwesen, wollte sich die überfällige Sanierung antun.

Wir dagegen schon.

Wir gingen nach dem ersten Corona-Jahr mit vier kleinen Kindern nicht mehr bloß auf dem Zahnfleisch, sondern bereits auf zermalmten, zersplitterten Kieferknochen. Wir wollten – nein, wir mussten – einfach nur noch raus.

Wir brauchten einen Neuanfang.

Ein Abenteuer.

 

»Schau mal«, sagt mein Mann eines Abends Ende Januar 2021. Wieder einmal hat ihm der Suchauftrag »Casă de vânzare Sibiu« (Haus zu verkaufen Hermannstadt) ein neues Ergebnis ausgespuckt.

Schweigend blicken wir auf die Fotos des Hauses. Erst auf unseren Smartphones, dann auf dem Notebook. Schließlich sitzen wir am Esstisch und betrachten das Angebot auf dem darüber angebrachten großen Flachbildschirm, den wir sonst zur Videotelefonie mit der Frankfurter Schwiegermutter nutzen.

Es ist ein großes, altes weißes Haus an einer Straßenkreuzung, gleich unterhalb des Friedhofshügels. Darüber thront die Kirche, direkt schräg gegenüber liegt die Dorfschule. Vor der Schule steht ein Strommast aus Beton samt Storchennest.

»Halbrunde Fenster«, seufzen wir gemeinsam.

»Original-Dielenboden.«

»Sind das aufgemalte Tapeten?«

»Die Flügeltüren!«

»Die hohen Decken!«

»Eine Badewanne mit Löwentatzen!«, jauchze ich. »Und was ist das, ein Badeofen?«

»Da steht, es gibt schon Glasfaser im Dorf«, sagt Jürgen mit Sehnsucht in der Stimme.

»Es ist hundert Jahre alt«, sage ich und meine das durchaus anerkennend. Unsere Zeit. Ich bin eine Flohmarktfee und Antiquitätenjägerin, mein Mann ein Heimwerker-Allrounder mit Weltraumfimmel. Beruflich schreibe ich Wörter, er schreibt Code. Beide sind wir immer schon passionierte Selbermacher.

»Aber es hat garantiert kein Klo, sonst hätten sie es auf den Bildern ja irgendwo gezeigt«, sage ich. In dieser Hinsicht hielt sich die ansonsten recht wortreiche Beschreibung auffällig bedeckt.

Jürgen nickt. »Ich hab recherchiert. Die ganze Region hat kein fließendes Wasser. Und keine Kläranlage. Also auch kein Klo.«

Noch einmal studieren wir den Innenhof ganz genau, vergleichen das Portfolio mit dem Satellitenmodus auf Google Maps. Es gibt jede Menge Stall- und Scheunentüren, die wir zuordnen können.

Eine davon nicht. Das ganze Häuschen mit einer Grundfläche von etwa einem Quadratmeter besteht aus Holz, bis auf das etwas windschiefe Ziegeldach.

Das muss es sein. Ein klassisches Plumpsklo.

Jürgen und ich schauen uns an. Zu diesem Zeitpunkt sind wir zehn Jahre glücklich verheiratet und Eltern von vier Kindern. Als wir uns 2009 kennenlernten, schafften wir uns innerhalb eines Jahres ein Auto, eine Wohnung, Eheringe und einen Erstgeborenen an (in genau dieser Reihenfolge, wobei der Erstgeborene ja ein paar Monate Vorlaufzeit hatte und es Jürgen dadurch ermöglichte, im zarten Alter von vierunddreißig noch schnell den Führerschein nachzuholen). Um wagemutige, womöglich etwas überstürzte Entscheidungen waren wir noch nie verlegen. Was ist dagegen schon ein fehlendes Klo?

»Egal«, sagen wir beide.

Verkehrsgünstige Bestlage im Ortszentrum, nur fünfundzwanzig Kilometer nach Sibiu, auf Deutsch Hermannstadt, trotzdem ruhig. Eine Villa, aber gleichzeitig auch ein Spätjugendstil-Bauernhof. Ein dreihundert Quadratmeter großer, uneinsehbarer, vollständig ummauerter sonniger Innenhof, ein großzügiger Gewölbekeller, jede Menge Stallgebäude und ein eigener Brunnen. Ein richtig echter Ziehbrunnen mit Schwungrad zum Kurbeln und einer Eisenkette, an der ein Blecheimer hängt. Wie im Märchen. Gut erhaltene individuelle Details wie ein bunt ­verglastes Oberfenster über der Haustür, hochwertige Original­möblierung, Messinglampen, kassettierte Flügeltüren … und das Beste: trotzdem kein Denkmalschutz. All das für einen mittleren fünfstel­ligen Bereich. In unserer alten oberbayerischen Heimat wäre für solch eine geschichtsträchtige Immobilie sicherlich das Zwanzigfache fällig geworden, im Speckgürtel von München vermutlich das Dreißigfache. In München-Schwabing würde man dafür höchstens einen Tiefgaragenstellplatz kriegen.

Im Nachhinein, nachdem wir die ersten paar zehntausend Euro, Hunderte Liter Schweiß und zahllose Kilometer Nervenbahnen in die Villa versenkt haben, sind wir selbst ganz erstaunt über unseren Mut und – ja, auch die Naivität von damals. So ein Riesenvorhaben!

Aber ce să face, wie die Rumänen sagen. Was kann man machen? Nix kann man machen. Wir hatten uns nun mal unsterblich in das historische Flair des Hauses verliebt. In die Tatsache, dass es sich im unveränderten Originalzustand der frühen Dreißigerjahre befand, aber an der Straßenecke schon die Vernetzung der Zukunft lauerte: Glasfaserkabel und Plumpsklo – sozusagen die Version 2.0 des berühmten bayerischen Stoiber-Diktums von Laptop und Lederhose –, das fasst unsere Faszination ganz gut zusammen.

Im Grunde ging es uns nicht anders als dem jetzigen britischen König Charles, der heute noch als ewiger Prinz an unserer Plumpsklotür pappt und schon lange für seine Transsilvanien­liebe bekannt ist. Ich frage mich, wie sein Umfeld damals wohl auf den plötzlichen prinzlichen Wunsch nach Immobilienerwerb in Rumänien reagierte.

Uns hält man noch ein Vierteljahrhundert später für nicht ganz knusper, wenn wir über unsere Liebe zu Rumänien sprechen. Über unsere wiederholten Reisen dorthin und den Wunsch, dort ein Haus zu kaufen. Rumänien? Ernsthaft? Warum?!

Auch die Rumänen in meinem Freundeskreis verstehen uns nicht hundertprozentig.

»Warum denn so weit weg von der Grenze?«, fragt Cami aus der Nähe von Oradea. »Kauft doch was bei Arad, da musst du nur zehn Stunden Auto fahren!«

»Warum denn nicht am Schwarzen Meer?«, fragt Mircea aus Predeal, dem Wintersportort in der Nähe von Braşov (Kronstadt). »Kauft doch was bei Constanța, da wollen alle hin!«

Eben. Wir wollten aber nicht dahin, wo alle hinwollen. Wir wollten genau dieses große Haus im kleinen Dorf und kein anderes.

Nur einer meiner rumänischen Freunde in Deutschland lacht, als er von unserer Entscheidung hört. Es ist Mark, dessen deutschstämmige Eltern es nach der Revolution ins Bayerische verschlug.

»Haha«, sagt er. »So teuer! In Rumänien kann man doch auch Häuser für zehntausend Euro kaufen.«

Womit er tatsächlich recht hat. Ja, das kann man. Immer noch. Sogar bei uns im Dorf.

Aber nicht so eines.

Mit dem Verkauf ist eine auf Osteuropa spezialisierte Immobilienfirma mit Firmensitz in Österreich betraut. Zufällig kennen wir diese Firma schon, weil wir über sie im Sommer 2020 zwei Wohnungen in Hermannstadt besichtigt haben. Die eine davon war uns damals zu seelenlos neu gewesen, die andere zu seelenvoll alt: Barocke Türstockhöhen von einem Meter siebzig vertragen sich schlecht mit Söhnen, denen der Kinderarzt schon bei der U5 prophezeit hat: »Na, der wird aber garantiert mal die eins neunzig knacken!«

Aber diese Bude hier scheint genau richtig.

Elektrisiert schreiben wir dem zuständigen Makler, dass wir gerne schnellstmöglich zur Besichtigung kämen, unser Kaufinteresse sehr ausgeprägt sei und wir deshalb sogar bereit wären, eine Anzahlung zur Reservierung zu tätigen. Schließlich wollen wir nicht mitten im ersten Corona-Winter 1333 Kilometer einfache Strecke quer durch Europa fahren, um uns die Bude dann vor der Nase wegschnappen zu lassen.

Der Makler zeigt sich milde verwundert; nein, nein, keine Sorge, wir könnten in Ruhe unsere Anreise organisieren und ganz cool bleiben. Er verkaufe das Haus bis dahin garantiert an niemand anderen. Also bitten wir meine Eltern um eine Runde exzessives Babysitting, packen unsere Tochter, die Bestätigungen unserer im Dezember durchgemachten Corona-Infektion und Proviant ein und fahren nach Rumänien.

Im Nachhinein stellt sich heraus, dass unser germanisch-­entschlossener Übereifer trotzdem das richtige Auftreten war. Denn wir waren beileibe nicht die einzigen Interessenten. Die Anzeige trug den Titel »Casă de vânzare în stil săsesc«: Haus zu verkaufen im sächsischen Stil. Der sächsische – also deutsche – Stil steht in Transsilvanien nach wie vor für Qualität und guten Geschmack. Made in Germany im allerursprünglichsten Sinne sozusagen. Davon fühlten sich einige rückkehrwillige Siebenbürger Sachsen angesprochen, genauso wie mehrere gut gestellte Roma-Sippen und von der Landlust infizierte Großstadt-Yuppies.

Doch alle redeten das Haus schlecht: Unrenovierter Originalzustand? Keine Kanalisation? Nicht mal ein Klo? Na, da muss aber ja wohl noch was gehen beim Preis! Alle wollten verhandeln.

Und die Verkäufer, die zwei liebenswürdigen Brüder Popa, wollten das vom angesehenen Onkel geerbte Schmuckstück auch nicht irgendwem anvertrauen. Es sollte seine Seele behalten dürfen und wieder das werden, wofür es vor fast hundert Jahren gebaut wurde: ein respektables Zuhause für eine respektable Familie.

Ich glaube ja, den wahren Ausschlag gab dann nicht nur unser Geld, sondern unsere Tochter. Als die damals Siebenjährige in ihrer zerknautschten lila Winterjacke aus dem Auto kletterte, sich vor dem Haus aufbaute und mit der ganzen grußlosen Grazie ­einer im Nahkampf mit drei Brüdern gestählten Einzelprinzessin den Noch-Besitzer anpampte: »Und das soll es jetzt sein, oder was?«

Da war es endgültig um uns alle geschehen.

Dieses Haus hat sozusagen nur auf uns gewartet.

3

Our Gothic Novel begins

Das Erste, was wir von unserer neuen Heimat sehen, ist ein Leichenwagen. Es ist ein klirrend kalter, aber sonniger Tag Ende März, als wir das erste Mal alle sechs nach Transsilvanien fahren.

Normalerweise ziehen wir solche Distanzen möglichst am Stück mit Fahrerwechsel durch und fahren auch gerne durch die Nacht, um das Gezanke auf den billigen Plätzen zu reduzieren. Diesmal jedoch haben Käpt’n Eisenarsch und Lady Steelbehind sich dem noch Windeln tragenden Jüngsten geschlagen gegeben und eine Hotelübernachtung in der gleich hinter der ungarisch-rumänischen Grenze gelegenen Stadt Arad organisiert. Wir sind also erst vier Stunden unterwegs und in durchaus gelöster Stimmung, als uns am Ortsrand der Leichenwagen entgegenkommt. Es ist ein schöner, uralter Mercedes mit weißen Spitzenvorhängen, der in mir sofort nostalgische Gefühle weckt: Im Laderaum solch stilvoller Fahrzeuge – gerne mit Zebramuster-Plüsch, Discokugeln und kleinen Gruselpuppen dekoriert – habe ich zwanzig Jahre ­zuvor die schönsten Party-Picknicks gefeiert und auch schon mal meinen Festivalrausch ausgeschlafen. Freunde von mir fuhren ­damals für ihren idealen Traum-Leichenwagen bis nach Schweden und opferten von da an alle Ersparnisse und Wochenenden dem Umbau zum Wohnmobil. Ich alter Grufti beschließe also, den Leichenwagen als gutes Omen aufzufassen. In seligen Erinnerungen an meine wilde Jugend schwelgend, winke ich dem Fahrer des ­Totentransporters lächelnd zu. Er nickt gemessen zurück.

Herr Popa, den wir per WhatsApp über unseren Reisefortschritt auf dem Laufenden gehalten haben, steht schon rauchend vor dem Hoftor. Unsere Kinder purzeln aus dem Bus und benehmen sich gar nicht mal soo schlecht. Ein Hund jault. Neugierige Nachbarn radeln vorbei, winken und grüßen.

Seit Herr Popa unsere Tochter kennt, vertraut er uns. Er hat sogar vorgeheizt und in der Sommerküche ein prächtiges Buffett mit regionalen Köstlichkeiten aufgetischt, obwohl der Kaufvertrag noch gar nicht unterzeichnet ist: eine riesige Speckseite, eine Zwei-Kilo-Packung Kartoffelbrot, frische Hühnereier, ein Bund Frühlingszwiebeln, ein Klotz Weichkäse, zwei Sorten pikante Würste, selbst eingelegte Essiggurken, hausgemachte Marmelade und sogar mein persönliches rumänisches Lieblingsnahrungsmittel zacuscă (ein Brotaufstrich auf Auberginenbasis – dazu später mehr!). Außerdem gibt es noch ein Schraubglas mit sauer eingelegten kleinen grünschwarzen Ästchen, dicht gestopft. Es bedarf einiger Recherche, bis ich herausfinde, um was es sich handelt: tarhon in oțet, fermentierter Estragon. Wichtig als Zugabe für die beliebten ciorbe, die leicht säuerlichen dicken Eintöpfe.

»Das kommt alles von hier. Alles, sagemol, bio«, erklärt Herr Popa in seinem ausgezeichneten Deutsch, das nach siebzehn Jahren Arbeit auf einem pfälzischen Gemüsehof einen deutlichen Dialekteinschlag hat.

Am 1. April unterschreiben wir den Kaufvertrag.

Um den Hauskauf abzuschließen, braucht man eine rumänische Steuernummer. Da beißt sich ein wenig die Katze in den Schwanz, weil man zur Erlangung einer solchen eigentlich erst einen Wohnsitz benötigt, den man aber ja ohne Steuernummer noch gar nicht rechtsgültig haben kann … Egal, jedenfalls anerbot sich unser rühriger Makler, uns eine vorläufige Steuernummer zu besorgen. Er erschien zum vereinbarten Termin pünktlich mit allen korrekten Dokumenten und unserer Vollmacht auf dem Amt, nur um vom zuständigen Beamten die Bürotür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen: Feierabend.

»Aber ich habe doch einen Termin!«, empörte sich unser Makler. »Meine Kunden brauchen die Steuernummer!«

»Kann sein, aber ich brauche jetzt ein Blumengesteck für meine Frau, die hat nämlich Geburtstag«, sprach der Beamte. Bereits im Aufbruch begriffen, schilderte er noch, wie groß und prächtig er sich die Blumen vorstelle und dass er dafür natürlich rechtzeitig losmüsse. Denn eine Schachtel Pralinen wolle er auch noch besorgen, und zwar keine von der billigen Sorte, schließlich sei seine Frau ihm schon etwas wert. Er zwinkerte, und endlich verstand unser Makler.

»Ja, gute Beziehungen müssen gepflegt werden«, sagte er und schob einen Zwanzig-Euro-Schein unter die transparente Dokumentenmappe.

Drei Minuten später hatten wir unsere Steuernummer.

Innerlich sind wir mehr als bereit, unsere Zelte in Bayern abzureißen. Es fällt uns nicht besonders schwer. Man kann ja sowieso nichts Schönes machen: Skilift, Schwimmbad, Restaurants, Kindergeburtstagsfeiern, sogar die Schulen – alles dicht. Seit Monaten fauchen wir uns nur noch gegenseitig an in frustrierter Hilflosigkeit und Überforderung. Die anstehende Auswanderung ist ein wahrer Lichtstreifen am Horizont der Pandemienacht. Endlich machen wir wieder etwas! Klar, unser Vorhaben ist krass. Fühlt sich aber wirklich gut an.

Den ganzen April verbringen wir mit allen Kindern im unrenovierten Haus. Es sind Osterferien, und darum herum ist sowieso Distanzunterricht angesagt, bei uns eben mit etwas mehr Distanz. Wir kaufen eine vier Quadratmeter große Siebdruckplatte und bocken sie in der Mitte des Zimmers mit den meisten Fenstern auf: Das wird der Arbeitsplatz für mich und die Kinder, während sich Jürgen zwei Räume weiter mit seinem Notebook beschäftigt.

Neben dem nervenaufreibenden Homeschooling und Homeoffice finden wir heraus, wie das Haus und wir am besten zusammenpassen. Wer fühlt sich wo am wohlsten? Wie könnte die Raumaufteilung funktionieren? Was muss am dringlichsten renoviert oder repariert werden?

Wir lernen, Brennholz zu hacken.2 Die Kachelöfen richtig ­anzuheizen ist besonders knifflig. Zum Glück zeichnet sich der kommende Frühling schon ab.

Wir kaufen einen aragaz, einen Herd mit Gasflasche, damit wir gegen die häufigen Stromausfälle gefeit sind und ich endlich osteuropäisch korrekt Auberginen häuten kann.

Wir knüpfen erste Kontakte. Wenn ich an unseren Empfang durch die Nachbarschaft denke, an die offenherzige Natürlichkeit der Dorfbewohner, kriege ich heute noch feuchte Augen. Ich fürchte, andersherum geht es nicht immer so herzlich zu, auch wenn rumänische Gastarbeiter überall auf der Welt eine lange Tradition haben.

Rumänen sind es zwangsweise gewohnt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Es bricht sich niemand einen Zacken aus der Krone, wenn er sein Glück in der Ferne sucht. Muss ja nicht für immer sein! So hat es jedenfalls auch der Erbauer des Hauses gemacht, und vielleicht fühlen wir uns seinem Lebenswerk deshalb so verbunden.

Denn die Entstehungsgeschichte unseres neuen Zuhauses ist ebenso märchenhaft wie die Geschichte seiner Wiedererweckung aus dem Dornröschenschlaf. Ich bin glücklich, dass ich dieses Stück dramatischer Zeitgeschichte zwischen zwei Kontinenten nicht nur erzählen, sondern auch bewohnen darf.

2Leidgeplagte Holzöfenbesitzer wissen: Das eigentliche Problem am Brennholz ist gar nicht so sehr das Hacken, sondern das Beschaffen. Es sollte noch ein paar Monate dauern, bis wir die richtigen Connections hatten. Bis dahin kauften wir tatsächlich Brennholz im Baumarkt – wie peinlich!

4

Der Onkel aus Amerika

Im Jahr 1906, noch zu Zeiten des Habsburgerreiches, machte sich ein dreizehnjähriger Junge aus dem tiefsten Transsilvanien auf nach Amerika. Ilie Popa hieß der Bursche, er hatte zwölf Geschwister, die Mutter war im Jahr zuvor gestorben. Sein älterer Cousin Moise lebte schon länger in Cleveland am Rande des Eriesees und hatte nach Rumänien geschrieben, dass es in der Region genug Erwerbsmöglichkeiten für überzählige, unerschrockene kleine Brüder gebe. Also kratzte die arme Familie auch für diesen Sohn noch das Geld für die Überfahrt in der billigsten Klasse zusammen, und Ilie nahm die Herausforderung gerne an. Er wollte etwas erreichen, er wollte etwas verändern, und vor allem wollte er sich beweisen! In Detroit, Cleveland und Chicago sollte er seine Aufstiegsmöglichkeiten bald finden. Man munkelt, sein schneller Erfolg habe etwas mit der Prohibition, mit Alkoholschmuggel über die kanadische Grenze und sogar mit Al Capone persönlich zu tun gehabt. Ilie sprach später nicht gern darüber. Jedenfalls – wie genau auch immer – kam er auf der Karriereleiter vom Tellerwäscher zum Millionär ziemlich weit nach oben.

Um zu zeigen, dass es ihnen in der Ferne gut ging, sandten Ilie und seine Cousins immer wieder Fotobeweise in die alte Heimat, die von den zurückgebliebenen stolzen Verwandten sorgfältig aufbewahrt wurden. Und den abgebildeten, unbewegt dreinblickenden Kerlen mit den modischen Krawatten und den scharf ausrasierten Schläfen möchte man wirklich nicht im Dunkeln begegnen. Auch über hundert Jahre später verströmt der junge Ilie Popa in Trenchcoat, Melone und schwarzen Lederhandschuhen noch wahre Der-Pate-Vibes.

Nach fünfzehn Jahren in den USA hatte Ilie es bereits zu zwei schönen, eigenen Häusern gebracht, als zwei Dinge gleichzeitig passierten: Erstens packte ihn doch das Heimweh, zweitens wurde ihm der Boden zu heiß. Beziehungsweise zu kalt, denn mit dem Ende der Prohibition ging für seine wie auch immer gearteten Geschäfte offenbar der Ofen aus. Mit achtundzwanzig Jahren verkaufte er alles und reiste zurück nach Rumänien. Diesmal natürlich nicht in der Holzklasse, sondern ganz luxuriös mit dem noblen Passagierdampfer RMS Aquitania, die von den Medien nur »The Ship Beautiful« genannt wurde.

Ilie Popa war jetzt ein gemachter Mann. Die Zeit der dunklen Machenschaften lag hinter ihm, in seiner Heimat wollte er ein ­anständiges Mitglied der Gesellschaft sein. Er heiratete Elisaveta, die beste Partie des Dorfes, gründete eine moderne Mühle mit ­Maschinen aus Deutschland und baute sich eine standesgemäße Villa dazu. Alles nur vom Feinsten, versteht sich. Fünfzig Zentimeter dicke Mauern aus den besten Ziegeln, ein bombenfester Dachboden aus puren Balken mit einer Betonschicht drauf, auf dem man tonnenweise Getreide lagern konnte. Und im vornehm erhöhten Erdgeschoss gab es etwas ganz Besonderes, das der junge Unternehmer in Amerika kennen und schätzen gelernt hatte: ein Badezimmer! Das erste im ganzen Dorf, wenn nicht sogar im Umkreis von einigen Kilometern.

Normale Leute badeten damals in Zinkwannen, die man am Badetag in der Waschküche aufstellte. Oder gleich in den Holz­zubern, in denen man auch die Wäsche wusch. Wenn man überhaupt badete – der Waschtisch mit der praktischen Schüssel zum Auskippen war die bewährte, sparsame Alternative für den Alltag. Dass jemand einen eigenen Raum speziell für den Zweck der Körperpflege einrichtete, muss für diese Zeit geradezu revolutionär dekadent erschienen sein.

Ein ausgeklügeltes System pumpte das Regenwasser aus der Zisterne im Keller sieben Meter weit hinauf bis in einen temporären Speicher, aus dem wiederum der Boiler des Badeofens befüllt werden konnte. Und wenn das Dienstmädchen den Ofen richtig befeuert und das Wasser auf die gewünschte Temperatur gebracht hatte, dann durfte sich der Hausherr endlich in seine Emailwanne mit den Löwentatzen legen und in Erinnerungen schwelgen …

Nicht einmal mit seinen beiden Söhnen Ilie und Nicolae, geboren Mitte der Dreißigerjahre schon im neuen Haus, sprach Ilie Senior über die Details seiner Karriere in den USA. Doch die amerikanische Episode schlug sich noch fünfzig Jahre später nieder: Als Sohn Nicolae Anfang der Neunzigerjahre zum ersten Mal eine Urlaubsreise ins Ausland antreten wollte, berief er sich bei der amerikanischen Botschaft in Bukarest auf die Staatsbürgerschaft seines Vaters und erhielt problemlos einen US-Pass – ohne selbst auch nur ein Wort Englisch zu sprechen. Das machte aber nichts, denn mit dem amerikanischen Pass konnte er endlich unbehelligt nach Deutschland einreisen und dort die entfernte Verwandtschaft besuchen, ohne an der Grenze gefilzt und des Schmuggels oder sonstiger Untaten verdächtigt zu werden.

Nicht so wie wir heute, die wir ein rumänisches Nummernschild haben und auch sonst durch unseren ungewöhnlichen ­Aufenthaltsort automatisch auf Misstrauen stoßen …

5

Der ewige Kreislauf

Während unsere Villa also den Glanz des aufstrebenden Bür­gertums atmet, herrscht draußen ganz selbstverständlich das Selbstversorgerparadies. Über den mit Flusskieseln gepflasterten Innenhof geht es zur Sommerküche mit dem angeschlossenen Backhaus. Beide sind deshalb so großzügig dimensioniert, weil dort jeden Mittag zehn hungrige Müllerburschen verköstigt wurden. Auf der anderen Hofseite folgen große Scheune, kleine Scheune, Kuhstall, Misthaufen, Schweinestall, Plumpsklo. Und eben der Brunnen, dem ich dieses Buch verdanke.

Warum das? Der Brunnen ist ein anachronistisches, tief in das kulturelle Kollektivgedächtnis eingespeichertes Symbol: ein Quell der Weisheit. Aus dem Brunnen kommt das Element des Lebens. Der Schoß der Mutter Erde. Und so wie Geburt und Tod mehr oder weniger fließend ineinander übergehen, trennen auch meinen märchenhaften Ziehbrunnen nur wenige Meter von meinem Plumpsklo. Eventuell zu wenige Meter. Ein ewiger Kreislauf!

Natürlich wusste ich, dass man das Brunnenwasser nicht trinken darf. Dass der märchenhafte Ziehbrunnen mit dem Blech­eimer nach jahrelanger Nichtbenutzung nicht mit unserem heimischen Bergquellwasser mithalten konnte, war ja klar. Auch der Verkäufer Herr Popa klärte uns in seinem gebrochenen Pfälzisch über die fehlende Trinkwasser-Eignung auf, gleich bei der ersten Besichtigung im Februar. »Muss man, sagemol, abkochen.«

Logisch. Erstens hat das gesamte Dorf keine Kanalisation, allein im Umkreis von hundert Metern befinden sich geschätzt zwanzig Sickergruben. Zweitens wurde das Anwesen zuletzt vor drei Jahren bewohnt, und auch da nur jeweils für ein paar Wochen im Sommer. Selbstverständlich kann man seit Jahren dumm herumstehendes Brunnenwasser aus einem sandigen Boden voller Kacklöcher nicht trinken. Das sagt auch einer Akademikerin aus gutem süddeutschem Hause der gesunde Menschenverstand.

Aber zum Zähneputzen wird es ja wohl reichen, dachte ich mir in meiner Unvernunft an unserem zweiten Tag. Es ist ein so schöner Abend, und Zähneputzen im Hof, das wäre doch praktisch! Ich trinke das Zeug ja nicht. Ich bin schließlich nicht doof. Ich spucke es ja gleich wieder aus.

Falsch gedacht! Es reichte nicht. Ich bin offenbar doch doof. Der kurze Kontakt mit meiner Mundschleimhaut genügte dem fiesesten Keim aller Zeiten, um sich in mir einzunisten. Obwohl ich das Wasser nach dem Gurgeln sofort wieder ausgespuckt hatte, überwältigte mich das unsichtbare Böse aus dem Brunnen. Am Tag danach fühlte ich mich schlecht, zwei Tage danach lag ich flach. Eine Woche lang konnte ich kaum aufstehen und überhaupt nichts bei mir behalten. Ich besuchte das Plumpsklo erst sehr häufig und dann vor lauter Schwäche kaum mehr. Weil ich mich nicht traute, mehr als ein Schlückchen (Supermarkt-)Wasser zu trinken, dehydrierte ich richtiggehend. Einen ganzen Tag und eine Nacht stand ich überhaupt nicht auf, lag teilnahmslos auf der Matratze und döste vor mich hin. Wenigstens ging es nur mir so schlecht: Meinen Mann und die Kinder erwischte es zwar auch, aber viel weniger schlimm (die hatten sich ja auch nicht die Zähne geputzt).

Trotzdem war das alles schon ganz gut so. Ohne die geschenkten Mußestunden auf dem Plumpsklo hätte ich dieses Buch womöglich nie geschrieben, hätte ich keine Zeit für den zündenden Anfangsgedanken gefunden. Auf meinem Plumpsklo ist die Welt noch in Ordnung. Auf meinem Plumpsklo habe ich nichts zu tun, außer auf meinen Bauch zu hören, und zwar im Wortsinne. Ein »stilles Örtchen« dagegen ist es nicht, vielmehr ein Zwischensta­dium, ein merkwürdig aus Zeit und Raum gefallener Nicht-Ort: Man ist hier und gleichzeitig auch wieder nicht, abgespalten von der Gesellschaft und dennoch anwesend, wie im Schlaf. Ein abgetrennter, abgesicherter Raum, der trotzdem Teil der Außenwelt bleibt, ein vergessenes Stiefkind der Realität. Man befindet sich in einem Übergangsbereich zwischen den verschiedenen Lebensstadien: Draußen toben die Kinder über den Hof, spielen Verstecken im Kuhstall. Der Klapperstorch von gegenüber klappert, doch aus der ewigen Dunkelheit unter mir zieht der Hauch des Todes he­rauf. Ein olfaktorisches Memento Mori. Der April-Sonnenschein fällt durch die Ritzen im Holz auf die stockfleckigen Gesichter längst vergessener rumänischer Popstars. Sie lächeln lasziv zu mir herab. Ob sie auch mit Plumpsklos aufgewachsen sind?

Der Geruch ist recht befremdlich. Gar nicht so sehr wegen dem, was da aus den Tiefen des Abortschachtes heraufdünstet. Nein, eher wegen der Zehnerpackung Klopapier, die Teil unseres Willkommenspakets war. Es ist nämlich kein normales Klopapier. Es ist parfümiert! Und zwar mit »Peach«. Jedes Mal, wenn ich die Tür öffne, ist da dieser Aha-Moment: Hallöchen, Geruchsrezeptoren! Sobald sich dann der Pfirsichpopo wieder vom Holz erhebt, folgt Aha-Moment Nummer zwei: Ach, ich bin ja schon fertig! Händewaschen ist nur unter Einschränkungen im Haupthaus möglich, Spülen fällt sowieso aus. Das Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben, verfolgt uns verwöhnte Wasserklosett-Wichte noch wochenlang.

Trotzdem freut mich der penetrante Geruch: Es bedeutet, dass ich nach der glimpflich überstandenen Corona-Infektion endlich wieder meine sechs Sinne zusammenhabe. Monatelang konnte ich nicht richtig schmecken oder riechen.

In meinem ganzen achtunddreißigjährigen Leben hat mir noch nie etwas so gut gemundet wie die erste warme Mahlzeit nach einer Woche Plumpsklo-Exil: leicht verdauliche ciorbă de burtă im Autobahnrestaurant. Die berühmte saure Kuttelsuppe, an die ich mich bei meinem ersten Rumänien-Besuch fünfzehn Jahre zuvor nicht herangetraut hatte und der ich seit meiner Genesung verfallen bin.

Als ich endlich wieder ohne Schwindelgefühle aufstehen und in den Spiegel gucken kann, bin ich ein halbes Skelett geworden. Meine Schlupflider haben sich in tief in den Schädel eingesun­kene Marlene-Dietrich-Schlafaugen verwandelt. Blass bin ich natürlich auch, es ist schließlich Anfang April. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass das eigentlich ganz schick aussieht. Moment, eine bleiche magere Gestalt, die durch eine modrige alte Villa im tiefsten Transsilvanien schleicht?

Vielleicht ist dies die richtige Gelegenheit, um einen kleinen Exkurs in die Geschichte des Vampirismus einzuschieben. Schließlich habe ich bereits meine Deutsch-Facharbeit auf dem Erzbischöflichen St.-Irmengard-Gymnasium Garmisch-Partenkirchen über die Gothic-Szene Deutschland: Lyrik einer Subkultur geschrieben. An der LMU München beschäftigte ich mich neun Semester lang bis zum Magistertitel in Allgemeiner und vergleichender Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Schauer­roman/Gothic Novel. Zu irgendwas muss mein Studium ja auch mal gut gewesen sein.

Achtung, jetzt kommt deshalb eine …

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Kleine Geschichte der Vampire (und wieso es sie hier, wo alle Welt sie vermutet, gar nicht gibt)

Wer hat’s erfunden? Nein, nicht die Schweizer, aber nahe dran. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe war es, der sich im Jahr 1797 mit dem epischen Gedicht Die Braut von Korinth hervortat. Darin geht es um ein verliebtes junges Paar, dessen weiblicher Part ausgerechnet am Hochzeitstag das Zeitliche ­segnet – und später dennoch weiß gekleidet ins Schlafgemach schleicht, um den versprochenen Ehegatten auszusaugen. Das war schon ein ziemlicher Horrorschocker für die damalige Leserschaft. Und ein großer Erfolg bei den abendlichen Kaminrunden der besseren Gesellschaft. Der Mix aus Leidenschaft und Lebenssaft, der brachte es.