Tausend Schichten Sommerland - Lu Bonauer - E-Book

Tausend Schichten Sommerland E-Book

Lu Bonauer

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Beschreibung

In tiefer Liebe beschließen zwei Menschen, das Alltägliche hinter sich zu lassen und sich auf eine Insel zurückzuziehen – weit weg von der Zivilisation. Nur sie beide, einfach so, wie sie sind. Nur ihre Zweisamkeit soll ihnen genügen. Auf das Lieben und Sein wollen sie sich konzentrieren. Sie kommen an, richten und leben sich in ihrem neuen Zuhause ein und lassen sich in der sommerlichen Inselidylle treiben. Doch schon nach kurzer Zeit nehmen sie eigenartige Dinge wahr. Die grimmigen Blicke der Alten, der Nachbarsfrau, die wippend in ihrem Schaukelstuhl herüber starrt. Ein Olivenbaum, der von unsichtbaren Kräften entwurzelt, vor ihren Mietwagen fällt. Ein Flüstern, das bei Neumond durch die Olivenhaine zieht. Ist es die Fantasie der beiden Protagonisten? Was ist real? Und wohin dehnt sich die Realität Schicht um Schicht? In dieser Umgebung, in der immer unheimlichere Ereignisse geschehen, droht die Sphäre dieser Abgeschiedenheit die Liebenden allmählich zwischen Licht und Schatten zu verschlingen und dabei stellen sich eine Menge Fragen. Wie in seiner Novelle Die Liebenden bei den Dünen schreibt Lu Bonauer über die Liebe. In diesem Buch über das Gefühl des Soges einer wahrhaftig empfundenen Liebe. Aber auch, wie dieser wunderbare Sog dazu führen kann, dass sich die Liebenden in sich selbst und in ihrer intensiven Beziehung auflösen.

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Seitenzahl: 135

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Lu Bonauer

Tausend Schichten Sommerland

1. Auflage

© 2023 Kommode Verlag, Zürich

Alle Rechte vorbehalten.

Text: Lu Bonauer

Lektorat: Patrick Schär/torat.ch

Korrektorat: Verena Simon/torat.ch

Titelbild, Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

Druck: Beltz Graphische Betriebe

978-3-905574-21-0

eISBN 978-3-905574-23-4

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

Lu Bonauer

Tausend Schichten Sommerland

Novelle

»Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«

– Goethe, Faust 1, V. 382 f.

für meine Larissa

INHALT

HYLE

HYDOR

AER

PYR

APEIRON

EPILOG

DANK

Wenn in einer Sekunde alles zu entstehen vermag, was die Liebe an Leidenschaft und Verlangen geben kann; wenn sich Worte berühren, als gäbe es das Leben nicht, wie es ist; wenn zwei Menschen sich finden, hungrig, aufschreiend, als wären sie endlich zusammengeführt worden; wenn der Atem eines Momentes aus der Ewigkeit zu kommen scheint und eine Stimme zittrig sagt: Es ist hier.

Etwas greift nach uns, sagte Astrid.

Ja, sagte Tom. Ich fühle es auch.

HYLE

Das Taxi hatte gewendet und fuhr zum fernen Hafen zurück, während sie nur schauten. Einzelne Wörter funkelten wie Diamanten: Wahnsinn. Göttlich.

Früh am Morgen waren Astrid und Tom ins Flugzeug gestiegen, hatten dann die Fähre genommen, begleitet von Möwen in der salzigen Luft, die See still und klar. Nach wenigen Stunden hatten sie Dörfer mit weißen Fassaden an der Küste auftauchen und näher kommen sehen, Rauchfahnen aus den Hügeln und blinkende Olivenhaine. Astrid und Tom hatten geseufzt und ebenso geleuchtet.

Mindestens bis ins neue Jahr hatten sie vor, hier auf diesem losgelösten Untergrund zu bleiben, nicht als eigentliches Sabbatical, als Auszeit vom Alltag – schon gar nicht als Ferien; kein Fernbleiben nach dem Arbeitsrecht. Sie ließen ihre Verpflichtungen zurück, blendeten virale Inszenierungen, mediale Debatten, politische Reizthemen aus. Sie wollten eine lange Lebensgerade nur für sich. Nichts durfte ihre Zweisamkeit stehlen. Die Liebe ist ein empfindliches Phänomen.

Die Koffer, insgesamt vier Stück, hatten sie taumelnd vom Genuss der ersten Eindrücke an Land gebracht. Die Fähre hatte gehornt, und ein paar Katzen hatten schläfrig aus dem Schatten aufgeschaut, wie sich der Platz füllte und wieder leerte, wie Astrid und Tom an der übersichtlichen Hafenanlage, bei heißen Julitemperaturen, in eines der wenigen Taxis stiegen.

Bald der Fahrtwind am offenen Fenster und tausenderlei neue Gerüche, die nach dem Verlassen der Hafenstadt auf sie einströmten, Farben, von denen sie geblendet wurden. Die Straße führte höher und höher, vorbei an einem kleinen Dorf, kaum mehr als ein Weiler mit Dorfladen. Das Meer unter ihnen war tiefblau, und ihre Gesichter schwiegen bei all dem Empfinden, bei all der Lieblichkeit ringsum, die ihre Augen tranken. Augen, die unerschrocken und bange zugleich wirkten – als erfrage etwas in ihnen, wie die Insel in den folgenden Wochen und Monaten zu ihnen sein würde, zu zweien, die vom Festland entbunden waren, zu zweien, die, ohne es zu ahnen, zur Stille hinflohen.

Gibt es eine Welt nur für sie beide? Finden sie zu ihr hin? Mit diesen Fragen waren sie aufgebrochen – und nun, als sie endlich ankamen, überwältigte sie der Anblick der Landschaften und der Ausblick, der sich ihnen beim Haus bot. Noch nie hatten sie von so hoch oben, mit den Füßen fest am Boden, Land und Meer betrachtet – und schon jetzt entdeckten sie neue Kräfte in sich.

Sie bemerkten die Ankunft von Giorgos, ihrem Vermieter, erst, als er sich in ihrem Rücken räusperte. Er hatte seinen offenen Geländewagen in der Einfahrt geparkt und streckte ihnen zur Begrüßung stoisch seine Pranke hin. Ein stämmiger kleiner Mann mit kantigem Kinn, der nicht viel redete beim Herumführen. Sein Englisch war dürftig, sein Grinsen beständig. Er zeigte hie und da auf etwas, und Astrid und Tom bemühten sich, in all den Eindrücken Giorgos‘ Informationen aufzunehmen.

Dann schritten sie das Grundstück ab. Es lag an einem Hang und war in drei unterschiedliche Ebenen terrassiert. Das Haus bildete mit seiner großen Terrasse die oberste Ebene, die mittlere wurde von einem Swimmingpool eingenommen, und die unterste war von Olivenbäumen bewachsen. Astrid und Tom staunten, wie riesig das Gelände war. Doch am meisten beeindruckte sie noch immer die unverbaute Aussicht. Sie erkannten die winzigen Dächer des kleinen Dorfes, an dem sie vorbeigefahren waren. Und während des Rundgangs tauchten immer weitere Landschaften auf, ferne Hügelzüge, wie in diesigen Farben gemalte, ins Panorama geschobene Kulissen.

Das Haus strahlte etwas Geruhsames aus mit seinen Natursteinmauern, die geduldig auf die beiden Überwältigten warteten. Bestimmt hatte es schon vielen Unwettern getrotzt und viele epochale Stürme überstanden, doch es war in gutem Zustand und durch diverse Optimierungen auch an moderne Anforderungen angepasst. Gelassen ließ es Giorgos, Astrid und Tom eintreten, ungestört in seiner Schläfrigkeit, während sie umhergingen. Über den kühlen Tonplatten am Boden summten Fliegen. Giorgos fing eine mit der linken Hand, behielt sie in der Faust und schüttelte sie später draußen den Hang hinunter. Dazu grinste er und sagte, er werde alle zwei bis drei Wochen vorbeischauen, dann machte er sich in seinem Geländewagen davon.

Endlich waren sie allein. Mit Indianergeschrei und Freudengrimassen stürmten sie durch die zwei Zimmer auf der unteren Etage, von denen sie eines als Schlafzimmer und eines als Abstellraum nutzten, und sie drehten sich und tanzten auf der oberen Etage durch die offene Küche, den Wohnraum mit dem rußgeschwärzten Kamin, bevor sie das durch einen Vorhang abtrennbare Arbeitszimmer begutachteten.

Vom Balkon aus, der das ganze Obergeschoss umgab, bestaunten sie erneut die Landschaft, die von ihnen wegfloss, sich bis hin zum Meer erstreckte, die so vielfältig war und so eins und nur für sie. Sie umklammerten mit ihren Augen diese Weite, sie waren auf dem Thron – sie waren die Götter, die über die Insel herrschten. Sie überflogen die Terrasse unter ihnen, schwärmten aus, sausten einmal um die Sonne, und nichts würde sie mehr daran hindern, das anzutreffen und zu leben, was schon jetzt gewiss war – hier wartete für sie diese andere Welt.

In diesem Moment zog ein Lüftchen in die Stoffbahnen, die die Terrasse überspannten. Ein winziger Applaus flatterte aus ihnen heraus, was ihnen den Impuls für weiteres Auskundschaften gab. Sie probierten alle Türen, alle Fenster aus, kugelten sich vor Lachen auf der Matratze, lagen das erste Mal nackt beieinander und verhedderten sich im Moskitonetz, das über dem Bett angebracht war.

Bis weit in den nächsten Morgen hinein lagen sie im verdunkelten Schlafzimmer, wie Kokons unter dem Moskitonetz, und erholten sich von den Strapazen der Reise, vom Geldverdienen der letzten Monate; sie schliefen und erwachten beieinander, schlüpften aus; ihre entrückten Gesichter schwitzten unter dem Ventilator, ihre Küsse erschufen eine andere Hitze – eine Hitze, die von Zeit und Raum erzählte.

Gegen Mittag wurde der bestellte Mietwagen gebracht, und sie schwebten das erste Mal talwärts. Sie fuhren an den Abfallcontainern vorbei, bei denen Inselkatzen in Verpackungen und Essensresten wühlten. Im Dorf kauften sie den Laden beinahe leer, dann fuhren sie runter bis zum Meer, die Küste entlang, sprachen nicht viel, mussten sich erst an die Inselhitze gewöhnen, die durchs offene Wagenfenster drang. Die Zikaden zirpten, sie kratzten, sie schabten, nein, sie schrien aus den Kronen der Olivenbäume, ein immerwährendes lautes Orchester.

Am Abend schüttelten sie die Tageshitze auf der großen Terrasse mit Süßwein und Likör ab, beobachteten, wie das Blaudunkelmeer in das Mondmeer überging, und bestaunten schließlich das Spektakel in der Morgendämmerung, wenn der noch schwach sichtbare Mond das Wasser bewegte, wenn er die Meeresoberfläche, die in diesem Augenblick wie ein zerfurchtes Laken aussah, in den Himmel zog. Das fanden Astrid und Tom wunderbar, dass etwas Riesiges wie der Ozean als eine einzige Bewegung erschien.

Als die Sonne den Mond ablöste, die Erde sich zum Licht umstülpte und der Inselradau von vorne anfing, schlossen Astrid und Tom die Fensterläden und gaben sich ihren Berührungen hin, ehe sie entkräftet einschliefen. Für ein paar Stunden geschah das Schreien der Zikaden ohne sie, und als es schließlich wieder hineindrang in ihre Schlafwelt, war es für die beiden, als wären sie gar nie weg gewesen, als hätten die Insekten den Rhythmus sämtlicher Beschäftigungen übernommen.

Astrid und Tom wechselten die durchgeschwitzten T-Shirts und fuhren erneut aus. Sie stimmten in den Lärm der Zikaden mit ein, versuchten, ihr Konzert nachzuahmen, bis einzelne Zikaden eine andere Kadenz anschlugen, sich gegen den allgemeinen Rhythmus auflehnten, sodass das Orchester für Sekundenbruchteile ins Stolpern geriet, ehe es in allen Bäumen im Gleichtakt weiterging.

Davon bekamen die Inselgäste an den vielen Stränden und Buchten, an denen Astrid und Tom vorbeifuhren, nichts mit. Wenn sich die Wellen nachmittags aufbäumten, krochen sie unter den Sonnenschirmen hervor oder flüchteten aus dem windigen Liegestuhl zur Snackbar. Astrid verglich die Strandgeschöpfe lachend mit panierten Schnitzeln. Die beiden waren froh, sich auf einer weitaus längeren Strecke zu befinden als auf jener, die nach zwei Wochen wieder zum Arbeitsplatz zurückführte.

Vielleicht dürfen Ferien nicht zu lange sein, weil der Mensch sonst auf gefährliche Ideen kommen würde, meinte Tom, während er lässig die nächste Kurve ansteuerte.

Überall wehten nun gelbe Flaggen, was die Surfer auf den Plan rief. Astrid und Tom hielten an einem felsigen Küstenabschnitt an und beobachteten den bunten Tanz mit den Wellen. Später wagten sie sich selbst in die Fluten, doch nur bis zu den Knien.

Am Strand stand ein schwarzes abgemagertes Pferd, angebunden an einem Pfahl, und blickte müde auf die ungezähmte See.

Eine Woche nach der Ankunft auf der Insel hatte Astrid Geburtstag. Sie befuhren eine neue Küstenstrecke bis zum nördlichen Inselzipfel, schauten übers Geländer der Aussichtsplattform auf den Klippen zu den kleinen Motorbooten hinunter, die beladen mit Touristen vor den vielen Höhlen umhermanövrierten.

Im Garten der nahen Taverne bestellten Astrid und Tom den Hauswein. Sie genossen den Schwips und das im Abendlicht lila gewordene Meer.

Astrid erzählte mit schwebender Stimme von dem Buch, das sie am Vorabend beendet hatte: Die Geschichte handelt von einem Priester und einem Mädchen. Mit ernsten Sommersprossen fuhr sie fort: Wir sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Du musst dir diese Welt so vorstellen, Tomchen: Königreiche, Diözesen, Exorzisten. Auch die Hauptfigur, das zwölfjährige Mädchen, kämpft gegen die Mächte des Teufels an. Und während der Priester das Mädchen heilen soll, verliebt er sich in sie. Für ihn ist die Liebe der wahre Dämon.

Ach Quatsch!, unterbrach Tom sie. Für mich ist die Liebe pures Licht. Du weißt ja, was Goethe vor seinem Tod – seine letzten Worte auf dem Sterbebett –

Mehr Licht.

Mehr Licht.

Sie schauten einander an, lange und ernst. Plötzlich machte Tom ein Monstergesicht und schnarrte: Wir werden ja sehen, was die Liebe an Dämonischem hervorbringen kann.

Astrid verzog ihr Gesicht ebenfalls. Genau deshalb nenne ich dich nicht Tom, sondern Tomchen – sonst entpuppst du dich noch als Tom Riddle.

Die Nacht beim Zurückkehren war leuchtend. Sie hielten auf einem Feldweg an, vergaßen, was sie umgab, während sie ineinandergeglitten, mit feuchten Stößen die Hitze zurückholten. Der Olivenbaum, an den sie sich abwechselnd lehnten, war Jahrtausende alt. Verschlungen pressten sie sich gegen das knöchrige Holz. Leise stöhnten sie ins Erdige der Rindenhaut, an den Rillen, den Zeitlinien entlang. Wie eine leise tickende Uhr antwortete der Baum in den Wurzeln.

Am nächsten Tag erkundeten Astrid und Tom erneut die Insellandschaft. Olivenbäume wuchsen überall am Wegrand, ein Crescendo an knorrigen Formen. Spontan hatten sie den Wagen an Ort und Stelle geparkt und waren losgelaufen, tiefer in den Hain; rotgolden glitzerte das Harz in der Sonne, jeder Baum ein Ereignis. Sie lauschten, sie staunten. Sie spuckten die Kerne gepflückter, aber noch unreifer Oliven in die Luft. Der Himmel war kaum zu sehen unter dem Geflecht der Äste. Sie stolperten über Wurzelwerk, tauchten mit erhitzten Gesichtern wieder auf.

Astri?

Ja, Tomchen?

Olivenbäume haben starke Wurzeln. Deshalb leben sie sehr lange.

So wie unsere Liebe.

Genau so, ja.

Auf der Rückfahrt kauften sie am Wegrand einen Kanister Olivenöl bei einem Bauern – ein auf einem Holzschemel sitzendes Kerlchen mit einer riesigen Zahlücke, umgeben von seinem letztjährigen Ertrag. Sie probierten das Öl im Auto direkt aus dem Kanister; schwere Tropfen schaukelten zwischen ihren Wangen.

Nach der Rückkehr stürzten sie aus den wenigen Kleidern, waren selbst ganz ölig; aufgezogen hantierten sie in der Küche herum, schnitten Gurken, mischten Fetakäse und Oliven darunter und tröpfelten vom frisch gekauften Öl darüber. Noch nie hatten sie einen so guten Salat gegessen. Überall hörten sie das Olivenöl tropfen. Ums Haus, aus den Kronen, von den Blättern. Sie wetteiferten, wer von ihnen mehr über Olivenbäume wusste, über ihre Geschichten, Mythen und Legenden.

Die Bäume sind Symbole des Friedens, der Unsterblichkeit, der Weisheit, der dualen Verzweigung.

Sie sind Lieblinge der Poeten.

Zeitzeugen der Antike.

Um sie ranken sich Erzählungen über den menschlichen Ursprung, von den Göttern aus Bäumen erschaffen.

Wälder dienten als erste religiöse Stätten, um Gottheiten zu huldigen.

Wer den beiden zugehört und zugeschaut hätte, dem wäre ein leichter Anflug von Fieber in ihren Gesichtern aufgefallen. Sie begannen, laut zu diskutieren – was heute wäre, wenn die Menschen die Olivenbäume nicht kultiviert hätten. Sie steigerten sich in immer mehr Übertreibungen hinein.

Womöglich wäre die Erde nie erobert und unterworfen worden.

Vielleicht wäre das Rad nie erfunden worden.

Keine Schiffe, keine Entdeckungsfahrten, keine Dampfkraft, Elektrizität, kein Computer, kein Handy, keine künstliche Intelligenz, die so gesehen eigentlich auf der Kultivierung von Bäumen basierte, auf etwas Natürlichem – auf Wurzeln, die bis weit unter die Erde reichten.

Sie waren so vertieft in ihr Gespräch, dass das Festland noch etwas mehr entrückte.

Tagsüber brannte der Sommer auf die Baumkronen und Grashalme nieder, und wenn Astrid und Tom jemanden auf der Insel antrafen, dann schien er sich wie auf einer Theaterbühne zu bewegen – und genau so verhielt es sich auch umgekehrt. Sie mussten laut rufen, damit sie an der Tankstelle bedient oder im Dorfladen bemerkt wurden. Doch es kümmerte sie nicht, sie blieben umso mehr in ihrer eigenen Blase, sonnten sich in einsamen Buchten, die sie auf ihren Fahrten erspäht hatten. Sie schwammen im sanften Wellengang und schauten den vorbeiziehenden Möwen und den noch höher fliegenden Flugzeugen hinterher.

Nach ihren Ausflügen ans Meer sanken sie hinter geschlossenen Läden ineinander – vor und nach der Dusche, mit salziger oder süßer Haut. Zikaden schrien aus ihren Körperöffnungen, und ihre aufgewühlten Zungen waren Zungen von Fabelwesen, rauschend wie das Meer.

In lautloser Gemeinsamkeit tranken sie Likör auf der großen Terrasse. Die Gläser, durch die sie schauten, zeigten eine verrückte Sonne, die gerade fiel, und übrig blieb der Horizont, dessen Strich sich allmählich auflöste. Nach einem weiteren Glas schien auch das Meer zu fallen. Die Sterne traten hervor, eine Vielzahl von Punkten, und sie hatten das vibrierende Gefühl einer Umkehrung.

Von den Sternen aus gesehen sind wir auch zwei Punkte, meinte Tom.

Wenn überhaupt, entgegnete Astrid.

Noch ein Glas später schauten sie sich tief in die Augen.

Tomchen?

Ja?

Vergänglichkeit und zerbrechliches Glück darf es nicht geben.

Auch kein Ende.

Sie rollten sich auf dem Terrassenboden zusammen; sie waren eine Kugel und träumten denselben Traum.

Am nächsten Tag hatten beide Kopfschmerzen und fütterten sich gegenseitig mit Aspirin, tuckerten durch den Morgen und sahen am Mittag ein, dass heute nicht viel zu unternehmen war. Hinter Sonnenbrillen saßen sie zuerst am Rand des Swimmingpools, in gemeinsamem Selbstmitleid, theatralisch und notwendig, alles war ein Akt ihrer Liebe. Sie waren zusammen angebunden an Windrädern, warteten auf Linderung von ihrem Kater, litten auf Wachtelbeinen zurück ins Haus, hoffend, alles möge morgen wieder von Neuem erstrahlen und ihre Anwesenheit auf der Insel begrüßen. Die Zikaden schrien mit so viel rhythmischer Inbrunst für sie, hinauf und hinab, über das trockene und dennoch umblühte Anwesen, die Hügel und die von Zypressen besäumten Abhänge – schrien bis zum Meer. Die Welt dahinter, hinter dem Horizont, durfte irrsinnig bleiben, denn hier, hier hatten die beiden Liebenden ihr Gebiet. Hier durften sie geschehen und ihre Liebe geschehen lassen, sich verirren und von Neuem wiederfinden.

Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben. Tom rezitierte den Satz aus dem Goethe-Büchlein, das er mitgebracht hatte. Er blätterte die Seite um.

Gib her! Astrid riss es ihm lachend aus den Händen. Glücklich, rief sie, glücklich allein ist die Seele, die liebt –

Die Sommersprossen rollten ihr wie kleine Sonnen übers Gesicht, und ihre weit geöffneten Augen schrien nach weiteren solchen Tagen.

An diesem perfekten Augustabend stießen sie auf der Terrasse mit einem Likör an, der nur langsam in ihrem Blick versickerte.

Wer sind wir nun? Tom holte sich das Büchlein zurück und schwenkte es, als wollte er Goethe zur Entscheidungsfindung herbeiziehen.