Teirish Dominion Whenua - A. Kaiden - E-Book

Teirish Dominion Whenua E-Book

A. Kaiden

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Beschreibung

In Whenua herrscht Krieg. Seit die Teirish Dominion vor einem Jahr in die Luft gesprengt wurde, setzt ihnen das Nachbarland gewaltig zu. Auch im Landesinneren haben sich viele Banditen und Schurken breit gemacht und peinigen das Volk. Eine denkbar schlechte Zeit für Shikku, eine junge Beran, die das Dorf Linaf endlich verlassen möchte, um die Welt zu entdecken und der Ausgrenzung der Bewohner zu entgehen. Dennoch ist sie fest entschlossen und als die Göttin Kiandra sie als Auserwählte bestimmt und ihr drei Anderwelter aus ihren Träumen schickt, gibt es für sie kein Halten mehr. Gemeinsam mit den Fremden macht sie sich auf, um das Schicksal Whenuas zu ändern und sowohl den Gefahren des Krieges als auch den Göttern zu trotzen. Eine gefährliche und abenteuerliche Reise beginnt.

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Seitenzahl: 662

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Teirish Dominion

-

Whenua

von A. Kaiden

1. Auflage: Juli 2022

Copyright by A. Kaiden, Alexandra Kraus

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung durch Rundfunk, Internet und Fernsehen, auch einzelner Teile Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autorin A. Kaiden

Impressum

Texte: © Copyright by A. Cayden Cover-/Umschlag: © Copyright by BUCHGEWAND Coverdesign |www.buch-gewand.de

Fotos/ Grafiken: stock.adobe.com: © hamara, © Михаил Гута,

© kichigin19, © PawelG Photo,

© mputsylodepositphotos.com:

© Wavebreakmedia, © piolka,

© Dewinsshutterstock.com: © Andrey_Kuzmin

Verlag: A. Cayden

[email protected]

www.a-kaiden.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Inhaltswarnung mit Details:

Dieses Werk enthält Inhalte, die einige Menschen triggern oder für anstößig halten könnten. Die Inhalte beziehen sich auf folgende Themen:

Achtung, mögliche Spoiler!

- Überfälle und Mord

- Mobbing

Widmung

Für meine Eltern, denen ich eine wundervolle Kindheit zu verdanken habe. Sie haben wohl über mich gewacht und mir ermöglicht zu werden, wer ich heute bin. Für ihre Kinder haben sie alles getan und uns somit eine bessere Zukunft ermöglich. Ich hätte mir keine besseren Eltern wünschen können.

Ich danke euch von ganzem Herzen.

In Liebe

eure Tochter

Kapitel 01

Whenua, Linaf – Dienstag, 13:00 Uhr

„Shikku, wir haben kaum noch Wasser!“

„Ich bin schon unterwegs!“ Die junge Frau zögerte keine Sekunde, sprang auf und schnappte sich eilig die leeren Kübel.

„Und dass du bloß nicht nur mit halbvollen Eimern zurückkommst, du nutzloses Ding einer Beran!“, schrie ihr der muskulöse Wirt drohend hinterher und obwohl sie sich nicht umdrehte, wusste sie, dass er wild mit den Armen ruderte. Shikku ignorierte ihn und stürmte nach draußen. Die Freiheit empfing sie mit frischer Luft und warmen Sonnenstrahlen. Sie atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Vogelgezwitscher hüllte sie ein. In der Ferne konnte sie das Rauschen des Meeres hören. Wunderschön. Die ausgelassenen Stimmen und das lallende Stimmengewirr aus der Herberge kamen ihr weit entfernt vor. Wahrlich kostbare Sekunden. Dafür schleppte sie gerne freiwillig das Wasser vom Brunnen zur Schenke.

Die junge Frau öffnete die Lider und sprang vor sich hin summend durch das beschauliche Dorf. Das sie dabei von ein paar anderen tuschelnden Bewohnern argwöhnisch angestarrt wurde, störte sie nicht. An Vorurteile war sie gewöhnt. Seit ihrer Kindheit hatte sie damit zu kämpfen. Das brachte das Leben einer Beran mit sich, vor allen Dingen, weil sie eine Waise war. Shikku bemitleidete sie sich nicht. So was kam vor und gehörte zum Schicksal dazu. Dennoch war sie traurig, dass sie ihre Eltern nie kennengelernt hatte und wohl nie etwas über sie erfahren würde. Auch nicht über ihr Volk. Alles, was sie von ihrer Rasse wusste, hatte sie aus Büchern. Einen anderen ihrer Art hatte sie nie gesehen. Ob es da draußen, außerhalb Linaf weitere ihrer Art gab? Sie würde es auf jeden Fall herausfinden. Nicht mehr lange und sie würde dieses verschlafene Nest endlich verlassen. Es war nur eine Frage von ein paar Wochen, bis sie genug gespart hatte, um die Reise anzutreten und ihre Landsleute zu suchen. Sie konnte es kaum erwarten. Die Vorfreude sandte erwartungsvolle Schauer über ihre Haut.

Die Beran blieb vor dem runden Steingebilde stehen, stellte die Eimer ab, begann den vollen Brunnenkübel hinaufzuziehen und ließ dabei ihren Gedanken freien Lauf. Eigentlich hatte sie bereits vor einem Jahr Linaf verlassen wollen, doch dann hatte es auf dem Meer eine laute Explosion gegeben. Noch immer jagte ihr die Erinnerung einen Schauer über den Rücken. Wie viele andere im Dorf war sie zu den Klippen geeilt, um hinunter zu sehen. In der Ferne war eine riesige Rauchwolke aufgestiegen. Die Teirish Dominion, ein gigantisches Ngwenya der Luxusklasse, war auf den Grund des Meeres gesunken und das mitsamt seinen Passagieren. Die höchsten Herrscher Whenuas und der Nachbarreiche waren an Board gewesen. Bis heute war nicht klar, wer das Unglück beschworen hatte. So kam es, wie es kommen musste. Es herrschte Krieg. Zwischen den Ländern, aber auch in Whenua selbst. Keine gute Ausgangslage, um pflüge zu werden. Je länger sie jedoch wartete, desto schlimmer und gefährlicher wurde die Lage. Anstatt, dass die derzeitigen Oberhäupter die Situation in den Griff bekamen, eskalierte sie. Mittlerweile regierte das Gesetz des Stärkeren. Die Kluft zwischen Arm und Reich war dramatisch. Überfälle standen an der Tagesordnung. Plünderer zogen umher und stahlen die wenigen Energiesteine, die sie noch besaßen. Auch Linaf war nicht verschont geblieben, obwohl es sich auf der Spitze der Klippen befand, weit ab von jeglicher Zivilisation. Nun sah das Dorf nicht nur rückständig aus, sondern war es auch tatsächlich.

Sie schüttete das Wasser in die Eimer und machte sich auf den Rückweg. Dabei ließ sie sich extra viel Zeit. Ärger würde sie so oder so bekommen. Wieso also nicht noch ein paar Minuten hinauszögern und die Einsamkeit genießen? Seit die Frau des grummeligen Wirtes vor elf Monaten gestorben war, mutierte er zum wahren Troll. Er war schon vorher nicht gut auf sie zu sprechen gewesen, doch nun wurde er unerträglich. Ein Grund mehr, Linaf und seinen engstirnigen Bewohnern endlich den Rücken zu kehren. Es gab nichts, was sie länger hier hielt.

„Au!“ Ein Stein traf sie an der Schulter und ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.

„Hab ich dich etwa getroffen? Du solltest echt aufpassen, wo du rumtrampelst, Hörnchen!“

Shikku verdrehte die Augen. Die Stimme gehörte Silia, der eingebildeten Dorfzicke. Dummerweise hatte diese stets eine Schar schnatternder Gänse um sich herum. Das Beste war, ihnen aus dem Weg zu gehen. Auf eine Konfrontation hatte sie keine Lust und abgesehen davon wartete der aufbrausende Wirt auf das Wasser.

Die junge Frau ignorierte den kichernden Mob und stapfte mit erhobenem Haupt vorüber. Leider kam sie nicht weit, denn Silia stellte sich ihr mit ihrem Schatten namens Liliana in den Weg und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich mag es gar nicht, wenn man mir nicht antwortet, Hörnchen.“

„Warum wunderst du dich? Berane haben nun mal keine Manieren“, gackerte ihre Freundin und die anderen stimmten in das Gelächter mit ein.

„Da ist eine Entschuldigung fällig, findest du nicht?“

Shikku zog argwöhnisch eine Braue nach oben. Es war offensichtlich, dass die Clique auf Streit aus war. Nicht verwunderlich, geriet sie bereits seit Kindheitstagen mit den Gleichaltrigen aneinander.

„Wenn sich hier jemand entschuldigen sollte, dann du. Und jetzt schieb dich, ich habe zu tun!“

Selbstbewusst wollte sie sich an ihrer Rivalin vorbeidrängen, doch die fuhr herum und schlug ihr mit voller Wucht den Eimer aus der Hand. Entsetzt sah Shikku dabei zu, wie der Kübel durch die Luft segelte und seinen gesamten Inhalt über den Boden verteilte. Mit einem Knall landete das Gefäß vor Lilianas Füßen, die ihm keckernd einen Tritt verpasste, sodass er kullernd davon rollte.

„Oh… hoppla. Das tut mir jetzt aber furchtbar leid. Wobei … nein, eher nicht.“ Auf Silias Gesicht breitete sich ein fieses Grinsen aus wie ein Ausschlag. Gehässiges und schrilles Gelächter füllte die Luft und stach auf die junge Beran ein wie tausend Nadelstiche. In ihr brodelte es. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schluckte den Ärger hinunter. Wie gerne würde sie ihnen eine Lektion erteilen, doch war sie schlau genug, um zu wissen, dass sie gegen fünf auf einmal nicht ankam. Der Versuch wäre nichts weiter als verlorene Kraft und Zeit.

„Du wirst doch jetzt hoffentlich nicht anfangen zu weinen, Hörnchen? Ich kann weinende Weiber nämlich nicht ausstehen.“

Ihr Gesicht versteinerte zu einer Maske. Scheinbar ungerührt lief sie zum Eimer und hob ihn auf. Bevor sie zurück zum Brunnen ging, drehte sie sich noch einmal zu ihren Peinigerinnen um.

„Keine Sorge, ich weine nicht. Denn wisst ihr, schlechtes Karma kommt immer zur Quelle des Ursprungs zurück.“

Silias Augen weiteten sich und funkelten vor Zorn. Wie konnte dieses Ding es wagen, ihr mit oberklugen Sprüchen zu widersprechen?! Niemand hatte ihr zu kontern, schon gar nicht eine stinkende Beran!

„Ich würde sagen, Hörnchen, geh du lieber zurück in den Ziegenstall, wo du hingehörst!“

„Wenn du zurück in den Schweinestall gehst, werde ich es mir überlegen.“

„Du …?!“ Silia und Liliana kamen drohend auf sie zu. Die junge Frau machte sich zur Verteidigung bereit. Wegrennen kam nicht in Frage. Das war keine Option für sie. Zwar hatte sie einer direkten Konfrontation aus dem Weg gehen wollen, jedoch würde sie sich auch nicht jagen lassen wie Freiwild.

„Das nimmst du sofort zurück, du Mistbiest! Knie nieder und entschuldige dich gefälligst!“

„Für den Fall, dass du es vergessen haben solltest: du bist diejenige, die um Verzeihung bitten sollte, nicht ich.“

„Das wars! Jetzt bist du fällig!“, keifte die Cliquenanführerin und setzte abermals einen Schritt auf sie zu, als eine erboste Stimme die Luft zerriss.

„Was zum göttlichen Nimnus ist hier los?!“

Die jungen Frauen wirbelten herum und blickten dem erzürnten Dorfarzt entgegen, der in seinem Türrahmen stand und die Situation unzufrieden beäugte.

„Diese Beranschnepfe hat uns provoziert!“, bellte Liliana und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Shikku.

„Und weiter? Wollt ihr immer gleich zuschlagen, wenn ihr Kommentare bekommt, die euch nicht gefallen?! Seid ihr nicht fähig, Diskussionen verbal zu führen? Vielleicht sollte ich eure Eltern bitten, sich diesem Problem anzunehmen.“

„Nein, schon gut“, murmelte Silia und erntete zustimmendes Gemurmel ihrer Mitläuferinnen. „Lassen sie gut sein, wir haben ohnehin besseres zu tun, als uns an der die Finger schmutzig zu machen.“

Mit einem gackernden Lachen wandte sich die Gruppe ab und zog lästernd von dannen. Auch Shikku verharrte nicht länger, sondern machte sich auf zum Brunnen. Den Augenkontakt mit dem Arzt vermied sie allerdings. Sie konnte seinen brennenden Blick auf ihrem Rücken spüren, doch wozu umdrehen? Die junge Frau wusste ohnehin, was er sagen würde. Die Belehrung konnte er sich sparen. Sie alle.

Schnell schöpfte sie abermals Wasser aus der unterirdischen Quelle und beeilte sich, zurück zur Herberge zu kommen. Der Wirt wartete bereits ungeduldig. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck riss er ihr die Wassereimer aus der Hand und sie sprang zur Seite, um außer Reichweite zu gelangen. Dieses Mal konnte sie seinen Groll sogar ein Stück weit nachvollziehen, denn durch den Zusatzmarsch hatte sie wirklich lange gebraucht.

„Wo warst du nur, du Nichtsnutz einer Beran?! Die Gäste liegen mir seit einer Ewigkeit in den Ohren. Jetzt mach dich an die Arbeit oder ich streiche dir für die nächsten Wochen den Lohn!“

Shikku hörte lediglich den ersten Satz, da sie bereits auf dem Weg zu den Tischen war, um sich um die Gäste und deren Bestellungen zu kümmern. Die Drohungen und das Geschimpfe war sie schon gewohnt. Immerhin hatte sie jahrelang Zeit dafür gehabt. Und letzten Endes war es ohnehin nur eine Frage von ein paar Wochen, bis sie Linaf und seinen Bewohnern endlich den Rücken kehren würde. Egal welche Gefahren sie trotzen müsste, nichts konnte schlimmer sein, als hier zu versauern.

Kapitel 02

Erde, Köln – Dienstag, 13:00 Uhr

POCH TACK POCH

Tailor murrte und drehte sich in seinem Bett auf die andere Seite. Er war gerade wieder dabei, einzuschlummern, als ein penetrantes Klappern ihn aus den verführerischen Fäden des Schlafes zerrte und diese erbarmungslos zerriss.

„Warum? Was zum …?!“, murrte er und quälte sich aus dem Bett. Als er die Schlafzimmertür öffnete, begrüßte ihn der einnehmende Duft frisch aufgebrühten Kaffees. Schnüffelnd bahnte er sich den Weg durch den Flur in die Küche, wo seine Schwester gerade den Tisch deckte. Als sie ihn entdeckte, umspielte ein Lächeln ihre Lippen.

„Hi Bruderherz, auch schon wach? Gut geschlafen?“

„Morgen, ja, denke schon.“ Er setzte sich und ließ sich in die Lehne des Stuhls zurückfallen.

„Es ist bereits mittags und du schläfst immer wie ein Stein. Da könnte jemand neben dir erstochen werden und du bekommst es nicht mit“, witzelte seine Freundin Maddy, die gerade die Rühreier vom Herd nahm. Verwundert starrte er sie an.

„Wieso bist du hier? Musst du nicht arbeiten?“

„Na, das ist mal ein herzliche Begrüßung.“ Maddy seufzte und stich sich eine lose Strähne ihrer kirschroten Haare hinters Ohr.

„Nein, so meinte ich das nicht …“

„Der männliche Charme heutzutage. Aber was soll ich machen? Dummerweise stehe ich auf Männer.“ Sie zwinkerte Melisse zu und übersah geflissentlich Tailors ratloses Gesicht.

„Ich freue mich ja, dass du hier bist, aber was ist mit deinem Job?“

„Ich hatte heute Schule, doch zwei Stunden sind ausgefallen und deshalb bin ich hier.“

„Musst du bei Stundenausfall nicht in den Betrieb?“

„Mensch, Tailor! Freu dich einfach, dass ich da bin und dir Frühstück mache, und hör auf, mich mit belehrenden Fragen zu nerven, okay?“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und verteilte die Eier auf den Tellern. Tailor schluckte den Rest seiner Bedenken mit dem bereitgestellten Orangensaft hinunter. Er wusste, dass sie den Job hasste. Doch viel Möglichkeiten waren ihr nach dem abgebrochenen Abitur nicht übrig geblieben. Nun machte seine Freundin eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau in einem Supermarkt. Zwar konnte er sie verstehen, aber die Arbeit war immerhin besser als nichts. Seine Schwester kämpfte momentan darum einen Ausbildungsplatz zu finden, was mit ihren abfallenden Noten nicht einfach war. Und er? Sein Ausbildungsbetrieb hatte leider keine Kapazitäten frei gehabt, um Auszubildende zu übernehmen. So hatte er sich eine neue Stelle suchen müssen und die war, was die Kollegen und Bedingungen anbetraf, beschissen. Zumindest hatte er endlich mal eine Woche Urlaub ergattern können, doch richtig genießen konnte er diese nicht.

„Und was hast du noch so vor, Langschläfer?“, neckte ihn Maddy zuzwinkernd.

„Ich nehme an, dass ich ausgiebig frühstücke und … Moment mal“, er hielt in seiner Antwort inne und schaute zu seiner Schwester, die augenblicklich kleiner zu werden schien. „Was ist eigentlich mit dir? Hast du nicht Dienstags Schule bis um vier?“

„Ich, ähm, also …“ Sie rutschte unsicher auf ihrem Stuhl hin und her, auf der Suche nach den richtigen Worten. Maddy eilte ihr zu Hilfe.

„Ihr war schlecht, also ist sie früher gegangen.“

Melisse nickte, sah jedoch nicht auf. Tailor seufzte. Seine Schwester war schon immer eine furchtbar schlechte Lügnerin gewesen. Allerdings wusste er nicht, was schlimmer war: dass sie es überhaupt versuchte oder dass Maddy ihr dabei half.

„Und dein Weg führte dich nicht zufällig an einer Bibliothek und irgendwelchen Okkult- und Antiquitätenläden vorbei?“, hakte er nach und schenkte sich Kaffee ein.

„Ich … ähm … zufällig schon“, gestand sie zögernd, richtete sich auf und zog aus einer Stofftasche ein schweres, abgenutztes Buch hervor. Er nahm einen großen Schluck von der Plörre, die ihre beruhigende Wirkung leider verfehlte.

„Da ist vielleicht ein Hinweis drin, wie wir mit Kiandra Kontakt aufnehmen können.“

„Und etwas über die Teirish Dominion erfahren“, ergänzte Maddy, woraufhin Tailor sie ungläubig ansah.

„Die Teirish Dominion ist explodiert. Wir haben versagt …“, murmelte er und dachte an damals zurück. Die Göttin Kiandra aus der Anderwelt war ihnen erschienen und hatte sie um Hilfe gebeten. Sie sollten einen Attentäter finden, der das Unterwasserschiff mitsamt den Insassen in die Luft sprengen wollte. Sie hatten alles versucht und waren kläglich gescheitert. Der Luxusdampfer war explodiert und sie waren in ihrer eigenen Welt erwacht. Es war vorbei. Seine Schwester wollte das jedoch nicht wahrhaben. Warum hatte sie sich ausgerechnet in diesen reichen Lackaffen auf der Teirish Dominion verlieben müssen? Deswegen konnte sie nicht mit der Sache abschließen und litt darunter. Wie er diesen Geldsack verfluchte!

„Schon, aber ich kann nicht glauben, dass es das gewesen sein soll“, unterbrach Maddy seine düsteren Gedanken. „Das kann einfach nicht alles sein. Glaubst ihr nicht auch?“

„Ja“, Melisse nickte. „Soda, Pete und Lance … ganz bestimmt sind sie noch am Leben. Ich spüre es einfach.“

Tailor biss sich auf die Zunge. Vor einem Jahr war er sich der Sache auch noch sicher gewesen, doch nun? Mit jedem weiteren Monat, der ohne einen Hinweis verstrich, wirkte der ganze Vorfall immer mehr wie ein ziemlich verrückter Traum. Allerdings hatte er sich vorgenommen, die beiden bei ihren Nachforschungen und ihrer Suche zu unterstützen, solange es nötig war. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre nicht fair.

„Und was schlägt das Buch vor? Ihr habt doch bestimmt schon einen Blick hinein geworfen.“

„Ja, haben wir“, Melisse stockte und sah hilfesuchend Maddy an. Die nickte und übernahm das Gespräch.

„Also in dem einen Kapitel wird beschrieben, dass man sich mit einem Mittel, das man schon früher im Mittelalter aus Kräutern gebraut hat, in eine Art Rauschzustand versetzen kann. Wir können diese Pflanze getrocknet im …“

„Stopp!“, unterbrach er seine Freundin schockiert. Seine Haut wurde aschfahl. „Ist das euer Ernst? Ihr wollt euch unter Drogen setzen?!“ Tailor starrte von Melisse zu Maddy. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Hatten die beiden nun tatsächlich den Verstand verloren?

„Es wäre ja nur einmal als Versuch“, rechtfertigte sich seine Schwester kleinlaut, woraufhin er nur den Kopf schüttelte.

„Was soll denn schon passieren? Im schlimmsten Fall wirkt es nicht“, ergänzte Maddy.

„Schon mal etwas von Suchtverhalten gehört? Oder Überdosis? Langzeitschäden?!“ Tailor hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Er leerte seinen Kaffee in einem Zug. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass die beiden eine solche Dummheit begingen.

„Zugegeben birgt die Sache bestimmt ein Risiko, doch ich denke, es ist relativ gering“, versuchte es seine Freundin erneut und griff nach seiner Hand. Er ließ es wortlos geschehen. „Schon im Mittelalter wurde das Kraut benutzt. Es ist nicht einmal verboten, nur etwas schwer zu bekommen, also … so lange es legal ist, kann es nicht sehr gefährlich oder gar tödlich sein, meinst du nicht?“

Tailor seufzte, schüttelte erneut den Kopf und entzog sich ihrer Berührung.

„Ich kann euch verstehen, wirklich. Doch glaubt ihr nicht, dass wir die Sache langsam ruhen lassen sollten? Immerhin ist es bereits ein Jahr her und auch Nakago hat damit abgeschlossen und es geht ihm mit der Entscheidung gut. Ich meine … klar ist es traurig. Wir haben versagt, aber vielleicht musste es so kommen. Nakago lebt sein Leben auf jeden Fall weiter und ich denke, wir sollten das auch tun.“

Melisse biss sich auf die Unterlippe und starrte mit verschleiertem Blick auf die Tischplatte, während Maddy seine Worte einige Sekunden abwägte.

„Er studiert nun in Japan, oder nicht?“, dachte sie laut nach. Tailor nickte und zog sein Handy hervor.

„Korrekt. Er schreibt, dass er sich dort wie Zuhause fühlt und eine Freundin hat er mittlerweile auch gefunden. Ich glaube sie heißt Yukia.“

Er reichte den Mädchen eine Nachricht, in der Nakago ihm ein Bild von sich und seiner Flamme geschickt hatte.

„Sieht nett aus. Passen irgendwie zusammen“, kommentierte Maddy und sah Melisse auffordernd an.

„Ja, ich freue mich für ihn. Sie … sehen glücklich aus.“ Sie stockte, starrte verbissen auf die Aufnahme und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie meinte es ernst und wünschte ihm, dass er zufrieden war, dennoch: Wie konnte er so einfach mit dem Vorfall abschließen? Besonders Nakago hatte nach ihrem Versagen und ihrer Rückkehr am verbissensten nachgeforscht, wie sie einen Weg finden konnten, mit Kiandra zu kommunizieren und nun? Hatte er tatsächlich aufgegeben und vergaß das Ganze? Das konnte sie nicht. Niemals! Eine Träne entwischte aus ihren Augen und bahnte sich den Weg über ihre blasse Wange. Schnell wischte sie sie mit dem Ärmel weg. Tailor und Maddy verstummten und stocherten im Essen herum.

„Ich freue mich wirklich für ihn“, wiederholte sie mit zitternder Stimme. „Aber wie kann er das Erlebte einfach von jetzt auf nachher abhaken? Die Teirish Dominion, unsere Reise, das Abenteuer, Pete, Lance und … Soda? Ich verstehe nicht, wie er sich mit dem schlechten Ende zufrieden geben kann. Die Explosion, der laute Knall, das viele Wasser … all die Toten! Wie kann ihm das auf einmal egal sein?!“

„Melisse, ich glaube nicht, dass es ihm egal ist“, wandte sich Maddy an ihre Freundin und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Doch ich denke, das ist seine Art, damit klar zu kommen. Jeder geht anders damit um. Und wir sollten das akzeptieren, findest du nicht auch?“

Melisse schluckte schwer. Sie wusste, dass Maddy recht hatte, dennoch hatte sich die Verbitterung tief in ihr Herz gefressen.

„Das tue ich, aber … ich kann mich nicht mit der Explosion abfinden. Es darf einfach nicht das Ende sein! Das darf es nicht, es ist … zu traurig. Sie dürfen nicht tot sein.“

„Das musst du nicht und ich tue das auch nicht!“, beschwichtigte Maddy sie und blickte ihr fest in die Augen. „Wir werden weiter nach einem Weg suchen, bis wir erfolgreich sind. So schnell geben wir nicht auf, okay?“

Auf Melisses Gesicht schlich sich ein hoffnungsvolles Lächeln.

„Danke.“

„Ach was“, Maddy winkte ab. „Mir geht es genauso wie dir. Und ich denke, Tailor auch, nicht wahr?“

Tailor seufzte, als beide Augenpaare sich auf ihn richteten. Er würde sie nicht davon abbringen können, ihre Nachforschungen weiter zu betreiben. Da war er sich sicher. Also gab es für ihn nur eins zu tun: Er würde sie bei der Sache unterstützen.

„Nun gut, ich bin weiterhin dabei, aber nur unter der Bedingung, dass alle die Finger von Drogen lassen. Verstanden?“

„Okay, geht klar“, stimmte Maddy zu und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. „Du bist der Beste.“

„Danke, Bruderherz.“

„Verprecht mir, keine Dummheiten zu machen und euch keine Drogen oder so etwas in der Art einzuschmeißen“, wiederholte er eindringlich und beide nickten.

„Versprochen.“ Kam es zeitgleich zurück, sodass die Mädchen zu kichern begannen. Tailor atmete auf und schenkte sich einen Orangensaft nach. Wenngleich er selbst nicht mehr Hoffnung auf einen Erfolg hegte, so wollte er dennoch seine Schwester und auch seine Freundin dabei unterstützen, um auf sie aufzupassen. Und vielleicht hatten sie ja tatsächlich Glück und Melisse würde endlich ihr Lachen wiederfinden. Nichts wünschte er sich sehnlicher als das.

Kapitel 03

Whenua, Linaf – Mittwoch, 07:40 Uhr

Die Straßen und Gebäude waren mit Fahnen und üppigen Blumensträußen für das Fest geschmückt. Eine feierliche Stimmung lag in der Luft. Die Bewohner lachten und tanzten. Shikku war mitten unter ihnen, doch sie konnte sich nicht freuen. Zwischen all der Musik, dem Gesang, dem Tanz lag etwas Bedrohliches. Die anderen konnten es offensichtlich nicht wahrnehmen, aber irgendetwas stimmte nicht. Sie spürte es eindeutig, jedoch konnte sie sich niemandem anvertrauen. Plötzlich brach Jubel aus. Die Bewohner bildeten eine Gasse und begannen zu winken. Shikku stieg auf das Gestein des Brunnens, um über ihre Köpfe hinweg zu sehen. Ihre Augen weiteten sich, als sie eine Gruppe Männer auf Synkupen das Dorf hereinreiten sah. Die Garde von Whenua war eingetroffen, um den Feierlichkeiten beizuwohnen. Alle hatten es gehofft, doch keiner hatte damit gerechnet. Linaf war einfach zu unbedeutend und klein, als dass es jemals dazu gekommen wäre. Vielleicht hatten die Bewohner den Besuch der Wachen den Unruhen und dem Krieg zu verdanken …

Ein junger Gardist erregte in seiner Lederrüstung ihre Aufmerksamkeit und riss sie aus der Grübelei. Sein platinblondes Haar leuchtete in der Sonne und fiel ihm auf die Schulter. Durch seine beigebraune Haut stachen seine schmalen, apfelgrünen Augen eindrucksvoll hervor. Er war der Einzige der Ankömmlinge, der den Bewohnern nicht lächelnd zurück winkte. Fast teilnahmslos starrte er in Leere und dirigierte seinen Synkup hinter den anderen her. Shikku wollte sich abwenden, doch sie konnte es nicht. Im nächsten Moment wandte der blonde Krieger seinen Kopf und sah sie an. Ihre Blicke trafen sich und seine unergründlichen Augen ließen sie erschauern. Eine Explosion zerstörte den magischen Augenblick. Die junge Beran schrak zusammen und wirbelte um die eigene Achse. Flimmernde Magiegeschosse durchschnitten die Luft und Gebäude gingen in lodernden Flammen auf. Die Leute begannen zu schreien und unkoordiniert umher zu rennen, während die Gardisten versuchten, das Chaos zu bändigen. Aus allen Ecken und Winkeln schnellten maskierte Männer hervor, plünderten und zerstörten, was sie unter die Finger bekamen. Shikku wollte weglaufen, aber sie wusste nicht, wohin. Überall wo sie hinsah, herrschte Panik und Zerstörung. Ihre Beine verweigerten ihr den Dienst und schienen mit dem Erdboden verwurzelt zu sein. Sie war unfähig, sich vom Fleck zu bewegen. Ein Schrei bahnte sich den Weg durch ihre Kehle, doch er brach nicht aus. Verzweifelt und wütend schaute sie sich um. Ihre Sicht verdunkelte sich mit jeder verstreichenden Sekunde. Der Lärm um sie herum schwoll zu einer vernichtenden Kakophonie an und verursachte einen betäubenden Schmerz. Shikku hob sich die Ohren zu, während die Dunkelheit alles auffraß. Sie blinzelte, aber sie konnte die Finsternis nicht vertreiben. Mit einem Mal verstummte der Lärm. Schneeflocken fielen vom rabenschwarzen Himmel und bedeckten den Boden langsam mit unheilvollem Schnee. Ihr Atem manifestierte sich als weiße Wolke. Schlotternd schlang sie die Arme wärmend um ihren Körper. In der Ferne entdeckte sie drei Menschen, die sie nicht kannte. Das leuchtende, kirschrote Haar der Frau in der Mitte nahm sie für einen Moment gefangen, doch bereits in der nächsten Sekunde waren sie verschwunden.

„Es ist soweit.“ Die monotone Stimme erklang direkt hinter ihr. Erschrocken wirbelte sie herum. Eine vermummte Gestalt in der Größe eines siebenjährigen Kindes stand vor ihr. Die Kapuze weit ins Gesicht gezogen. Shikku hatte das Mädchen noch nie zuvor gesehen und dennoch wusste sie, um wen es sich handelte. Ehrfurchtsvoll schnappte sie nach Luft.

„Kiandra? Göttin der Vorsehung?“

Ihre gewisperte Frage wurde ignoriert.

„Du bist auserwählt. Bist du bereit, Shikku? Es ist soweit.“

„Auserwählt? Bereit wofür?“

Kiandra antwortete nicht und verharrte in ihrer Bewegung. Zögernd und mit einem unguten Gefühl griff sie nach der Kapuze. Mit zittrigen Fingern zog sie den Stoff hinunter und blickte in ein unnatürlich blasses Gesicht gleich Porzellan. Feine Fäden zogen sich über ihre Haut. Die junge Beran kniff die Augen zusammen. Waren das etwa Risse?

„Es ist an der Zeit. Entscheide dich für oder gegen dein Schicksal“, flüsterte Kiandra aus unbewegten Lippen und hob leicht den Kopf. Shikku fuhr erschrocken zurück, als sie in die ausdruckslosen, leeren Augen der Kindgöttin sah. Ein Knacken ging durch ihren Körper und ihre kalte, puppenhafte Haut begann in sekundenschnelle zu reißen. Bevor sie reagieren konnte, verwandelte sich das kleine Wesen in Eis und zersplitterte in tausend Einzelteile.

Mit einem entsetzten Schrei wachte Shikku schweißgebadet in ihrem Bett auf.

*

Sie hatte sich nach dem Albtraum fast zwanzig Minuten ruhelos im Bett gewälzt, doch nicht mehr in den Schlaf gefunden. Obwohl sie bis drei Uhr nachts gearbeitet hatte, hielt sie es nicht länger aus. Kurzerhand entschlossen stand sie auf, zog sich etwas über und zerrte unter dem Bett ihren Kampfstab hervor. Einer der Räuber hatte ihn beim Überfall damals liegen lassen. Natürlich wollte der Wirt die Waffe nicht in seinem Heim haben. Die junge Beran verstand ihn in der Hinsicht. Hatte er doch seine Frau bei dem hinterhältigen Angriff verloren. Deswegen war es umso wichtiger, dass sie ihn versteckte. Auf keinen Fall würde sie unbewaffnet und hilflos durch die Gegend streifen. Zwar war sie nicht ausgebildet, sie musste sich alles selbst beibringen, aber sie würde jedenfalls nicht wehrlos sein. Dafür sorgte ihr heimliches Training.

Auf leisen Sohlen stahl sie sich die quietschende Holztreppe hinunter und hinaus. Noch war sie nicht sicher. Shikku achtete strikt darauf, dass sie niemandem auf ihrem Weg begegnete. Die Dorfbewohner würden sie ohnehin nur beschimpfen, sich über sie lustig machen und es dem Wirt erzählen. Dann wäre sie ihren Kampfstab zweifelsfrei los. Das durfte auf keinen Fall passieren.

Sie nahm den hinteren Pfad, der an der Abgrenzungsmauer von Lina, der aus dem Dorf führte und so gut wie nie benutzt wurde. Üppige Pflanzen und Gestrüpp überwucherte den Weg und erschwerte das Vorankommen. Ungesehen gelangte sie hinaus und begann sofort ihr Training, ihr Ziel fest vor Augen.

Als die Sonne hoch am Zenit stand, beendete sie ihre Übungen und schlich sich zurück. Vor der Herberge wartete jedoch eine unschöne Überraschung auf sie. Sharif und sein jüngerer Bruder Pradeep lungerten davor herum. Ungesehen würde sie nicht hineingelangen können und die beiden machten keinerlei Anstalten, demnächst aufzubrechen. Sie warf einen nervösen Blick auf eines der Fenster. Es konnte sich nur noch um wenige Minuten handeln, bis der Wirt nach ihr suchen würde, um sie zur Arbeit zu drängen. Shikku blieb keine andere Wahl, sie musste an ihnen vorbei, doch sie durften ihren Kampfstab nicht sehen. Eilig sah sie sich um und versteckte ihre Waffe in einem etwas abseits stehenden, überwucherten Busch. Das sollte genügen. Sie nickte zufrieden, atmete tief durch, straffte ihre Schultern und stapfte hoch erhobenen Hauptes auf den Eingang zu. Die Brüder gafften sie perplex an. Leider hielt der Verblüffungsmoment nicht lange an. Gerade als sie die Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, packte sie Sharif am Unterarm und wirbelte sie brutal zu sich herum.

„Hat man dir nicht beigebracht, seine Gäste zu grüßen, du stinkende Beran?!“

„Noch haben wir geschlossen. Von Gästen kann daher keine Rede sein“, antwortete sie kühl und befreite sich mit einem Ruck von seinem Griff. Allerdings stellte sich ihr Pradeep in den Weg.

„So hast du nicht mit uns zu sprechen, ist das klar? Der Wirt hat dir wohl keine Manieren beigebracht!“ Der Jüngere von beiden begann breit zu Grinsen wie ein Frosch. Seine Augen blitzten böse auf. „Was meinst du, Bruder? Sollen wir der dreckigen Beran ihren Platz in unserer Gesellschaft zeigen?“

„Darauf kannst du einen lassen“, krakeelte Sharif und setzte einen Schritt auf sie zu. Shikku reagierte blitzschnell. Anstatt zu fliehen, sprang sie einen Satz rückwärts und direkt in den älteren Bruder hinein. Sie traf mit ihrem Ellenbogen seine Seite und er schnappte mit schmerzverzerrtem Gesicht nach Luft. Darauf ließ sie es jedoch nicht bewenden. Sie wirbelte zu ihm herum und kratzte mit ihren Fingernägeln quer über seine kantige Fratze. Sein qualvoller Schrei löste die Starre seines Bruders. Mit einem wütenden Ausruf schnellte er auf sie zu. Er durchbrach mühelos ihre Abwehr, umschloss ihre Kehle mit seinen Händen und drückte erbarmungslos zu. Reflexartig zog sie das Kinn zurück und nach unten, um ihm das Würgen zu erschweren. In der nächsten Sekunde schoss ihre Hand auf ihn zu. Ihre Nägel kratzten haarscharf an seinem Auge vorbei und hinterließen tiefe rote Striemen. Ein fester Schlag erwischte sie von hinten und traf ihre Schulter. Sie japste auf. Durch die Wucht des Treffers verlor sie ihr Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Sie biss die Zähne zusammen und sprang wieder auf die Beine, doch Sharif und Pradeep hatten sie bereits umzingelt wie Raubtiere. Hass brannte in ihren Augen und drohte sie zu verschlingen. Sie würden sie zerfetzen, da war sie sich gewiss. Dennoch würde sie nicht kampflos aufgeben. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Blessuren ihrer Angreifer sah. Dir würden nicht die Einzigen bleiben. Kampfbereit hob sie die Arme zur Deckung.

„Du vermaledeite Mistziege!“, schrie Sharif, aber bevor er attackieren konnte, ließ ein schriller Schrei die Streitenden innezuhalten.

„Was in Nimnus Namen tut ihr da?! Lasst sofort die Frau in Ruhe, verstanden? Immer dasselbe mit euch nutzlosen Männern!“

Sie drehten sich zu Kira um, deren schwarze lange Locken emsig auf und ab wippten, während sie auf das Trio zu gerannt kam. Pradeep und Sharif verzogen missmutig ihre Gesichter.

„Die Alte hat uns gerade noch gefehlt“, murmelte der Jüngere, allerdings so laut, dass auch Kira die Worte mitbekam.

„Wie hast du mich genannt?! Ich bin in der Blüte meines Lebens!“, beschwerte sie sich und zog den ungehobelten Mann an den Haaren. „Ich bin gerade mal zehn Jahre älter als du, Freundchen. Weiß eure Mutter, dass ihr jungen Frauen auflauert und sie angreift?!“

„Au! Lass los!“

„Wir wollten der Beran nur eine Lektion für ihr loses Mundwerk erteilen!“, presste Sharif unter zusammengepressten Zähnen hervor. Shikku funkelte ihn an, erwiderte jedoch nichts. Kira seufzte.

„Hier erteilt niemand jemandem eine Lektion, außer mir. Wenn ihr noch einmal aufmuckt und euch zu zweit an einer Frau vergreifen wollt, dann bekommt ihr es auch mit mir zu tun!“

„Oh, jetzt haben wir aber Angst“, johlte Pradeep.

„So?“ Die Schwarzhaarige zerrte an seinen Haaren, sodass der junge Mann gepeinigt aufschrie.

„Ist gut, ist gut. Wir gehen. Immerhin haben wir besseres zu tun, als unsere Zeit damit zu vergeuden und mit Weibern zu streiten“, keifte Sharif, worauf Kira ihren Griff wieder lockerte, seinen Bruder jedoch nicht losließ.

„Habt ihr nicht noch was vergessen?“

„Können wir jetzt endlich gehen?“

„Das meine ich nicht. Es ist eine Entschuldigung fällig.“

„Wir entschuldigen uns nicht bei einer Gehörnten!“

Kira und Sharif lieferten sich ein stummes Blickduell. Die Luft knisterte. Keiner war gewillt, nachzugeben, bis Shikku sich schließlich einschaltete.

„Ist schon gut. Ich muss jetzt wirklich rein. Es müssen noch einige Vorbereitungen getroffen werden, bevor wir öffnen. Vielen Dank für ihre Hilfe.“

Sie nickte der gelockten Dorfbewohnerin zu und schob sich vorbei ins Innere des Hauses. Die junge Beran war ihr dankbar, dass sie ihr geholfen hatte und dass es tatsächlich Menschen gab, die die Gesellschaft nicht in Klassen einteilten, dennoch würde eine erzwungene Entschuldigung der beiden Rüpel nichts bringen außer einen enormen Zeitverlust. Trotzdem gab ihr der Vorfall Hoffnung. Es musste noch mehr solcher Menschen da draußen geben, die tolerant und offen waren. Für die sie nicht nur eine „stinkende Beran“ war. Ein verzagtes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Sie machte sich auf dem Weg in die Küche und murmelte ein aufrichtiges „Danke, Kira.“

Verdrossen schaute die schwarzhaarige Dorfbewohnerin hinter ihr her. Die beiden ungehobelten Männer lachten siegessicher auf.

„Was gibt es da zu lachen, ihr Nichtsnutze?! Glaubt ja nicht, dass ihr gewonnen habt.“

„Wir hätten gewonnen“, beharrte Pradeep und jetzt war es die Frau, die lächelte.

„So? Denkt ihr? Dann schaut euch mal im Spiegel an.“

Mit diesen Worten ließ sie sie stehen und trat den Rückweg an. Sie konnte die irritierten Blicke der zwei Halunken in ihrem Rücken spüren und kicherte. Im nächsten Moment verstummte sie jedoch wieder. Es war ungerecht, welche Unterschiede allein wegen des Äußeren gemacht wurden. War es schon immer derart schlimm gewesen oder war es seit dem Unglück vor einem Jahr extremer geworden? Reichte es nicht, dass alle anderen Rassen in Whenua vertrieben beziehungsweise fast vollends ausgelöscht worden waren? Hatten sie nicht genug gelitten? Warum mussten sie nun auch noch schikaniert und diskriminiert werden? Sie konnte es nicht sagen, sie wusste nur eins: wenn die Götter wenigstens einen kleinen Funken von Gerechtigkeit in sich trugen, dann musste das endlich enden.

Kapitel 04

Erde, Köln – Mittwoch, 19:00 Uhr

Der kräftige Geruch von Fichtenharz und Weihrauch nahm das Wohnzimmer der Geschwister ein. Sie hatten den Raum abgedunkelt und nur der Schein weniger Kerzen, durchbrach die Dunkelheit. Melisse, Maddy und Tailor saßen im Schneidersitz auf dem Boden und versuchten, seit drei Stunden zu meditieren. So richtig gelingen wollte es ihnen nicht.

Maddy war viel zu zappelig und aufgeregt. Wie sollte Mediation funktionieren? Die Leute, die behaupteten das zu können, waren doch alles Lügner. Für sie war es nicht machbar, den Kopf zu klären und an nichts zu denken. Immer wieder probierte sie, sich wenigstens an die Teirish Dominion zu erinnern. Auf die Räumlichkeiten des Luxusdampfers. Die Gäste. Ihr Zimmer. Jedoch vergebens. Es ging einfach nicht.

Melisse erging es ähnlich. Sie konnte sich nicht auf eine bestimmte Umgebung konzentrieren. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Soda. Wie sie mit ihm auf dem Ball des Luxusunterwasserbootes getanzt hatte. Das Misstrauen. Die Aussprache. Seine einnehmenden, meeresblauen Augen, die ihr so viel Sicherheit gegeben hatten. Sie seufzte. So würde das nie etwas werden. Die Szenerie musste gewechselt werden. Melisse dachte an den Traum zurück, in welchem sie Kiandra begegnet war. Das feuchte Gras unter ihrer Haut. Das nahende Donnergrollen. Langsam aber sicher bildete sich vor ihrem geistigen Auge die Klosterruine ab. Sie hastete die Trümmer entlang, wie sie es damals getan hatte, doch die Kindgöttin war nicht da. Immer wieder lief sie die Landschaft ab, jedoch blieb das Resultat dasselbe. Hatte sie etwas vergessen? Fehlte ihr ein Detail? Melisse runzelte ihre Stirn. Sie durfte nicht aufgeben. Auf keinen Fall würde sie …

SCHNARCH

Verdattert schlug sie zeitgleich mit Maddy die Augen auf und starrte auf ihren Bruder, dessen Kopf nach vorne gekippt war. Insgesamt wirkte seine Körperhaltung sehr unbequem und ungesund.

„Tailor?“

Ein hörbares Schnarchen war die Antwort. Perplex sah sie ihn an, während Maddy zu kichern begann.

„Er ist tatsächlich eingeschlafen“, murmelte Melisse entsetzt und konnte es kaum glauben.

„Wenigstens einer, der tiefenentspannt an die Sache rangegangen ist.“

„Du findest das wirklich lustig?“

„Ja, ein bisschen schon“, gab Maddy zu und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Du nicht?“

„Nein, ich … bin eher enttäuscht. Ich habe wirklich gedacht, dass es dieses Mal funktionieren könnte.“

Geknickt blickte Melisse zu Boden. Ihre Freundin trat neben sie und legte ihr die Hand aufmunternd auf die Schulter.

„Hey, lass den Kopf nicht hängen. Es hat heute nicht geklappt, aber bestimmt funktioniert es das nächste Mal. Wir dürfen nur nicht aufgeben.“

„Ja, du hast Recht.“ Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Maddy nahm sie kurz in den Arm.

„Das wird schon, du wirst sehen. Jetzt wecke ich erstmal unseren Schlaftiger. Lass uns hier aufräumen und durchlüften. Danach wäre es Zeit fürs Abendessen. Was hältst du von Pizza?“

„Klingt gut.“

„Supi. Dann mal los.“ Sie zwinkerte ihr zu und schritt zur Tat. Melisse beobachtete sie, wie sie Tailor weckte, und knabberte traurig an ihrer Unterlippe. Sie konnte ihre Verbitterung nur schwer zurückhalten und jeder weitere Tag, der erfolglos verstrich, nährte ihre Verzweiflung. Was war, wenn sie es nicht schaffen würden? Es war bereits ein ganzes Jahr vergangen und all ihre Bemühungen waren im Sand verlaufen. War das wirklich das Ende? Nein, das konnte und wollte sie einfach nicht akzeptieren. Schnell wandte sie sich von ihrem gähnenden Bruder ab, der sich räkelte und streckte. Sie eilte zum Fenster, zog die Rollläden hoch und ließ frische Luft ins Zimmer, um den schweren Duft der Räucherstäbchen zu vertreiben. Tief einatmend schloss sie die Augen und bettete zu Gott und gleichsam zu Kiandra, dass es Soda, Pete und Lance gutgehen möge. Die Ungewissheit machte sie verrückt. Wenn sie doch nur ein Zeichen bekäme. Ein winzig kleines Zeichen, mehr wollte sie nicht. Vorerst.

*

Dicke Tropfen klatschten auf den regendurchtränkten Boden und auf die schlafende junge Frau herab. Irritiert öffnete sie die Augen. Erst langsam, dann ruckartig. Konnte das tatsächlich sein? Aufgeregt sprang sie auf und wirbelte um die eigene Achse. Ihr Herz vollführte wilde Freudensprünge. Zögernd kniff sie sich in den Arm und zuckte zusammen, als ihre Haut an der Stelle zu brennen begann. Gleichzeitig sammelten sich Freudentränen in ihren Augen. Es war alles real. Melisse stand inmitten der Klosterruine. Ein Donnergrollen ließ die Erde erbeben und sie erschauerte. Irgendetwas war anders als damals. Es war …

„Melisse! Du bist auch hier!“

Überrascht drehte sie sich zu Maddy um, die ihr mit Tailor eilig entgegenkam. Wie war das möglich?

„Befinden wir uns alle drei im selben Traum?“, sprach ihr Bruder ihren Gedanken aus und kratzte sich am Hinterkopf.

„Sieht so aus. Wer hätte gedacht, dass es einfach irgendwann passiert, wenn wir einschlafen?“, meinte Maddy. „Also echt, hätten wir das vorher gewusst, hätten wir uns das ganze Theater sparen können.“

„Aber zum Glück hat es funktioniert. Ich bereue nichts“, äußerte Melisse erleichtert, allerdings dennoch nervös und sah sich suchend um. „Doch wo ist Kiandra?“

„Lasst uns die Ruine absuchen. Bestimmt wartet sie irgendwo auf uns!“ Maddy klatschte voller Tatendrang in die Hände.

„Sie hätte uns ja auch gleich vor sich erscheinen lassen können“, meckerte Tailor missmutig und kassierte von seiner Freundin einen Stoß in die Seite.

„Freu dich lieber, dass wir es endlich geschafft haben!“

„Ja, schon. Aber … wieso jetzt auf einmal? Warum nicht früher? Mir kommt das alles sehr seltsam vor.“

„Mensch, Tailor, jetzt sei kein Miesmuffel, sondern freue dich einfach mal!“, ermahnte ihn Maddy, woraufhin er ergeben seufzte.

„Das tue ich doch …“

„Er hat recht. Irgendwas stimmt hier nicht“, schaltete sich Melisse ein. „Der Donner … die ganze Erde bebt. Fühlt ihr das auch? Es liegt etwas Bedrohliches in der Luft. Damals wirkte alles viel mehr melancholisch, doch nun … gefährlich. Die Stimmung ist völlig anders.“

Die jungen Erwachsenen schwiegen für einige Minuten, starrten in den wolkenverhangenen Himmel, und nahmen das Zittern des Bodens unter ihnen in sich auf. Es fühlte sich an, als wollte die Erde entzweibrechen.

„Wir … wir sollten schnell Kiandra suchen“, murmelte Melisse, die die ganze Sache zunehmend ängstigte.

Maddy nickte und blickte sie auffordernd an.

„Einverstanden. Beeilen wir uns besser.“

Sie wollten den Weg ablaufen, so wie sie es beim ersten Mal vor einem Jahr getan hatten. Der durchtränkte Boden schmatzte unter ihren Füßen auf wie ein gefräßiges und schlingendes Tier. Die Umgebung schien unverändert. Die großen, porösen Grabsteine. Eine eingravierte Schrift in fremder Sprache. Rissige, grauschwarze Mauern rahmen ein grünes Meer mit vereinzelten, alten Ruhestätten ein.

„Hier! Daran kann ich mich erinnern!“, rief Maddy aufgeregt und deutete auf ein kreuzähnliches Gebilde an der rechten Gesteinswand. Auch Melisse nickte und ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen.

„Ja, das hatte ich fast vergessen.“

Tailor starrte irritiert von seiner Schwester zu seiner Freundin. So genau hatte er sich damals nicht umgesehen. Um ehrlich zu sein, konnte er sich kaum an ein Detail der klosterähnlichen Ruine erinnern. Wer merkte sich schon Einzelheiten von aneinander gereihten, kaputten Steinen? Na ja, die Mädchen anscheinend. Er zog es vor, zu schweigen.

„Aber es ist nicht richtig.“ Die Worte seiner Schwester schreckten ihn aus seinen Gedanken.

„Was meinst du damit?“

„An dieser Stelle vernahm ich Kiandras Rufen und ich hörte …“

„Das Rauschen des Meeres“, beendete Maddy ihren Satz. „Wieso ist es so still? Warum können wir das Geräusch der schlagenden Wellen nicht hören?“

Sie schluckten schwer und beschlossen, lieber weiterzugehen. Mit jedem Schritt wuchsen ihre Zweifel und ein ungutes Gefühl machte sich in ihnen breit wie ein hungriger Parasit.

Sie erklommen gemeinsam die fünf Stufen zu ihrer linken Seite, sodass sie sich auf einer höher gelegenen Ebene befanden. Ihr Weg führte sie abermals nach links, zehn weitere halb zerfallene Treppenstufen hinauf. Suchend sah sich das Trio um, doch sie konnten die Kindgöttin nirgends entdecken. Ein schmaler Weg wand sich nach rechts über die unteren Ebenen. Melisse schluckte. Schon damals hatte sie ihre Höhenangst überwinden müssen und es war ihr schwergefallen, sehr schwer sogar. Sie atmete tief durch. Dieses Mal war es anders: Sie war nicht allein. Ihr Bruder und ihre Freundin gaben ihr Kraft, sprachen ihr gut zu und gegenseitig halfen sie sich über den unebenen, moosbewachsenen Steinpfad. Der viele Regen machte den Weg zum reinsten Hindernislauf. Tief durchatmend gönnten sie sich danach eine kleine Pause, bis ein heller, laut krachender Blitz die Luft spaltete und nicht unweit von ihnen einschlug. Graue Steinsplitter flogen durch den Himmel wie unzählige Gewehrkugeln. Eilig machten sie sich an die Weiterreise. Tailor steuerte die riesigen Rundbögen an, doch seine Freundin hielt ihn zurück.

„Du hast jetzt nicht ernsthaft vor, da rauf zu klettern?“ Maddy schaute ihn mit einem schiefen Grinsen an.

„Ich … bin für den Umweg“, schlug Melisse kleinlaut vor und ihre Freundin stimmte ihr zu.

„Dito. Tja, Tailor, du bist überstimmt.“

„Da muss ich mich wohl beugen“, witzelte er und zwinkerte ihnen aufmunternd zu. Gemeinsam liefen sie mit großen Schritten an den Rundbögen entlang, bogen nach rechts um die Kurve am Ende des ehemaligen Ganges und erklommen weitere Treppenstufen, die sie um eine halbe Schleife führten. Allen drei schlug das Herz bis zum Anschlag. Die Erinnerungen holten sie ein. Es kam ihnen vor, als wären sie erst gestern von Kiandra gerufen und auf die Teirish Dominion geschickt worden.

Auf der anderen Seite der Kreisbögen angekommen steuerten sie den letzten davon an. Ehrfurchtsvoll blieben sie stehen und starrten auf die kleine, vermummte Gestalt. Sie war da. Die Kindgöttin war tatsächlich hier!

Melisse fand als Erste ihre Sprache wieder.

„Kiandra? Wir wollten dich unbedingt treffen.“

Die Göttin antwortete nicht. Unsicher versuchte sie es weiter.

„Es tut uns leid, wir … haben versagt und die Teirish Dominion … sie ist explodiert, aber ich muss es einfach wissen. Was ist aus Soda, Lance und Pete geworden? Gibt es Überlebende? Bitte, das lässt mir keine Ruhe.“

Sie wartete auf eine Reaktion, doch vergebens. Die kleine Gestalt stand unverändert da und schwieg eisern. Angespannt beobachtete Melisse die Kindgöttin und kämpfte mit den Tränen. Tailor packte die Wut, aber Maddy hielt ihn zurück und versuchte ihr Glück.

„Bitte, Kiandra. Wir können verstehen, wenn du enttäuscht bist. Immerhin konnten wir nicht helfen. Uns geht die Sache sehr nach. Was ist aus deiner Welt geworden? Herrscht Krieg oder konnte dieser abgewendet werden? Gibt es vielleicht überlebende Passagiere der Teirish Dominion?“

Endlich reagierte die kindliche Göttin und hob den Kopf. Dennoch konnten sie ihr Gesicht nicht erkennen, denn die Kapuze ihrer Kutte war zu tief nach unten gezogen.

„Ich habe es euch damals gesagt. Explodiert die Teirish Dominion werden Krieg und Chaos über mein Land herinbrechen. Nun, so ist es.“

„Und was ist mit Soda und den anderen Passagieren? Gibt es Überlebende?“ Melisses Augen brannten sich flehend in Kiandra. Die deutete lediglich ein gleichgültiges Schulterzucken an.

„Das ist für mich nicht von Belang.“

„Für uns aber!“, herrschte Tailor sie an, griff nach ihrer Kutte, überlegte es sich dann jedoch anders und ließ von ihr ab.

„Du bist doch die Göttin der Vorsehung? Kannst du deine Kräfte nicht einsetzen und uns sagen, ob einige Passagiere entkommen konnten?“, bat Maddy, faltete ihre Hände und warf ihr einen Bettelblick zu. Allerdings verfehlte ihre Geste die Wirkung.

„Ich wüsste nicht, warum ich das tun sollte“, antwortete Kiandra mit gleichgültiger Stimme, was wiederum Tailors Zorn anstachelte.

„Weil wir dich darum bitten! Ein Jahr ist der Vorfall bereits her und dennoch haben wir nicht damit abschließen können! Besonders Melisse und Maddy haben unermüdlich nach einem Weg gesucht, dich wiederzutreffen. Und nun, da dies endlich funktioniert hat, willst du uns nicht einmal eine Auskunft geben?! Wie arrogant und teilnahmslos seid ihr verfluchten Götter eigentlich?!“

„Tailor, bitte, beruhige dich“, flüsterte Melisse entmutigt, doch ihr Bruder dachte gar nicht daran.

„Wozu?! Alles was wir wollen ist eine Auskunft! Das sollte für eine Göttin wohl machbar sein!“

„Nicht ganz …“

Irritiert starrte er seine Schwester an. Nicht ganz? Was meinte sie damit?

„Wenn nur die geringste Chance besteht, dass es Überlebende gibt, dann bitte, Kiandra, schicke mich auf die Teirish Dominion.“

Fassungslos sah er sie an. War das ihr Ernst? Das würde er auf keinen Fall zulassen. Das war der reinste Selbstmord!

„Melisse, drehst du jetzt völlig durch? Du kannst nicht auf die Teirish Dominion zurück! Erinnerst du dich? Es gab eine Explosion! Wenn nicht alles in Kleinteile zerstreut ist, dann sind die Überreste des Dampfers auf den Meeresgrund gesunken!“

„Die Teirish Dominion ist nicht gesunken. Nicht so, wie ihr denkt“, meldete sich Kiandra mit noch immer monotoner Stimme zu Wort und lenkte damit alle Blicke auf sich. „In meiner Welt gelten andere Regeln und Gesetze.“

„Dann gibt es also eine Chance, dass es Überlebende gibt?“, hakte nun auch Maddy hoffnungsvoll nach, woraufhin Tailor entmutigt den Kopf schüttelte. Das war vollkommen verrückt und unmöglich, doch zu seinem Entsetzen entgegnete die Göttin:

„Ja, natürlich.“

„Dann bitte“, Melisse sank vor ihr auf die Knie, „bitte, schick mich auf die Teirish Dominion.“

„Mo…“, versuchte ihr Bruder einzulenken, aber Maddy war schneller und ließ sich neben sie auf die Knie sinken.

„Mich auch. Ich möchte auch in die Anderwelt.“

„Jetzt wartet doch mal!“, rief Tailor entrüstet und raufte sich verzweifelt die Haare. „Überdenkt das Ganze nochmal!“

„Er hat recht“, stimmte Kiandra ausdruckslos zu. „Denn ich kann euch zwar nach Whenua schicken, aber nicht direkt auf die Teirish Dominion.“

„Was ist Whenua?“, fragten Melisse und Maddy zeitgleich.

„Mein Land.“

„Dann bringe uns bitte nach Whenua. Wir werden die Teirish Dominion bestimmt finden“, antwortete Maddy begeistert und ignorierte das empörte Schnaufen ihres Freundes. Es tat ihr leid, doch in dieser Sache hatte er kein Mitspracherecht. Und sie war sich sicher, dass er mit ihnen mitkommen würde, egal wohin.

„Ihr wünscht es euch so sehr? Ohne zu wissen, was euch erwartet? Das Festland ist mit dem Ngwenya nicht zu vergleichen.“

„Das ist uns egal. Wir müssen unbedingt dorthin, bitte …“ Melisse ballte ihre Hände zu Fäusten und ihre Fingernägel bohrten sich tief in ihre Haut, doch sie spürte keinen Schmerz. Sie musste Soda finden. Kostete es, was es wollte.

„Verstehe, aber nehmt zur Kenntnis, dass ich euch nach Whenua, jedoch nicht mehr zurück in eure Welt bringen kann. Beschützen werde ich euch auch nicht können. Wenn ihr euch für die Reise entscheidet, so kehrt ihr womöglich nie wieder in eure Welt zurück. Ihr werdet auf euch allein gestellt sein. Wollt ihr noch immer nach Whenua?“

„Ja, bitte.“

„Unbedingt“, stimmte auch Maddy zu. Als keine weitere Antwort ertönte, wandten sich die jungen Frauen dem einzigen Mann in der Runde zu, der verdrossen nach einem faustgroßen Trümmerstein kickte.

„Tailor, ich kann verstehen, wenn du sauer bist, aber überleg mal. Was hält uns denn noch in unserer Welt? Wir haben alle nicht den besten Kontakt zu unserer Familie, wir hassen unseren Job oder in deinem Fall Arbeitgeber … das ist die Gelegenheit. Und außerdem …“, sie nickte in Richtung Melisse, „wünscht es sich deine Schwester so sehr. Wir wären ja nicht allein, wir bleiben zusammen, oder nicht?“

Er seufzte missmutig und schielte zu Melisse, die ihn flehend ansah. Natürlich hatte ihn seine Freundin längst durchschaut. Niemals würde er sie alleine gehen lassen. Weder seine Schwester noch sie. Trotzdem schmeckte ihm das Ganze nicht, auch wenn sie mit ihren Argumenten voll ins Schwarze getroffen hatte. Außerdem war es eine schwerwiegende Entscheidung und dass man einfach von ihm erwartete, dass er sich ihnen anschloss, verletzte ihn. Er fühlte sich hintergangen. Das konnte er nicht verbergen.

„Na schön, ich bin dabei. Einer muss ja auf euch aufpassen“, murmelte er enttäuscht und mied Augenkontakt. Maddy setzte einen Schritt auf ihn zu, doch schon ergriff die Kindgöttin wieder das Wort.

„So sei es. Ich schicke euch nach Whenua!“

Um die drei Freunde wurde es im nächsten Moment schwarz und still. Dann waren sie vollständig aus ihrer Welt verschwunden.

Kapitel 05

Whenua, Linaf – Donnerstag, 06:30 Uhr

Ihr Herz überschlug sich. Die junge Beran wachte auf und schaute sich orientierungssuchend in dem dunklen Schlafzimmer um. Ihr Puls raste und sie holte tief Luft. Schon wieder derselbe Traum. Was wollte ihr Kiandra damit sagen? Sie glaubte fest darin, dass die Göttin über den Schlaf mit ihr kommunizierte, doch wie sollte sie die Vorsehung deuten? Der Überfall. Die Fremden. Das Eis. Die Teirish Dominion. Und schließlich: der Tod.

Shikku rollte aus dem Bett und huschte auf Zehenspitzen ins Bad. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, dann wollte sie wenigstens mit ihrem Kampftraining fortfahren. In wenigen Minuten hatte sie sich fertig gemacht und aus dem Haus geschlichen. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass ihr Kampfstab noch immer im Busch versteckt lag. Sie nahm den überwucherten Pfad an der Dorfmauer und gelangte schließlich zu ihrem Übungsplatz. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Traum einfach nicht vergessen. Die junge Beran wurde das ungute Gefühl nicht los, dass das Ereignis kurz bevorstand. Immerhin fand morgen das Fest zur Gründung Linafs statt. Die Straßen und Häuser würden in gleicher Weise geschmückt sein wie in ihrem Traum. Würde das Dorf tatsächlich überfallen werden? Was sollte sie tun? Normalerweise müsste sie den Dorfältesten davon berichten, aber die Option verwarf sie sogleich wieder und schlug frustriert mit dem Stab auf einen Baum ein. Sie würden ihr ohnehin keinen Glauben schenken. Im Gegenteil: Sie würde geschlagen und für ihre angeblich erdachten Lügengeschichten beschimpft werden, so wie sie es oftmals in ihrer Kindheit mit ihr getan hatten. Bereits als kleines Mädchen hatte sie immer wieder Vorahnungen gehabt. Sie hatte mit anderen darüber gesprochen und was hatte es ihr eingebracht? Nichts als blaue Flecken, Blutergüsse und wüste Beschimpfungen plus Drohungen. Einige Narben an ihrem Körper zeugten von der schweren Zeit.

Noch einmal schlug sie auf den Baum ein, als wäre dieser schuld an ihrer Situation. Auf keinen Fall konnte sie es jemanden erzählen. Sie musste schweigen, so sehr ihr das auch widerstrebte. Wenn sie sich nur einen Reim auf das Ganze machen könnte. Wer waren die Fremden? Was hatten die Soldaten hier zu suchen? Natürlich war es damals üblich gewesen, dass die Gardisten Whenuas an Feierlichkeiten beiwohnten, um das Dorf zu beschützen und sich gleichsam zu amüsieren. Doch seit dem Unglück vor einem Jahr hatten sie keinen Schutz mehr genossen. Es war unwahrscheinlich, dass die königlichen Krieger an Linaf vorbeikamen. Dafür war das Dorf zu klein, zu abgeschieden und unwichtig. Aber mussten wirklich alle Aspekte aus dem Traum zutreffen? Wahrscheinlich nicht. Doch welche waren wichtig?

„Argh, verdammt! Das macht mich noch ganz kirre!“, fluchte Shikku vor sich hin und ließ sich ins Gras fallen, das vom Morgentau feucht war. Tief durchatmend starrte sie in den dämmrigen Himmel. Was konnte sie nur tun? Und was genau meinte Kiandra damit, dass sie auserwählt sei? Was war denn ihr Schicksal? War sie wirklich für Größeres bestimmt? Sie, Shikku, eine einzelne, ungewollte Beran?

Die Wolken, die langsam vorbeizogen, wirkten beruhigend. Sie spürte, wie die Anspannung mit jeder weiteren Sekunde von ihr abfiel und der Ruhe Platz machte. Mit einem langen Gähnen wollte sie gerade die Augen für einen kleinen Schlummer zuschlagen, als ein grelles Licht die Landschaft in ein blendendes Weiß tauchte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann war es vorbei. Schlagartig verschwand die wohlige Gelassenheit und die Anspannung kehrte zurück. Nervös sprang sie auf und sah sich um. Das Blut in ihren Adern stockte gleichzeitig mit ihrem Atem. Konnte das sein? Ungläubig rieb sie sich die Augen, doch das Bild blieb dasselbe. In ungefähr hundertfünfzig Meter Entfernung den Hügel hinunter standen drei Fremde. Die kirschroten, langen Haare der jungen Frau in der Mitte fielen ihr sofort auf. Keine Frage: Das waren die Unbekannten aus ihrem Traum! Ihr Herz schlug bis zum Anschlag und ihr wurde unglaublich heiß. Ihr Puls rauschte unnatürlich laut in den Ohren wider. Aufgeregt schnappte sie nach Luft. Es begann! Die Vorsehung nahm ihren Lauf! Doch was spielten die Fremden für eine Rolle? Konnte sie ihnen trauen? Das galt es herauszufinden. Entschlossen versteckte sie sich hinter dem nächst gelegenen Baum.

*

„Oh mein Gott! Wir sind wirklich in Whenua! Kneif mich mal einer“, forderte Maddy, woraufhin ihr Tailor den Gefallen tat. Empört fuhr sie zu ihm herum und rieb sich den Arm.

„Au! Geht es auch etwas sanfter?“

„Dir kann man es auch nicht recht machen“, gab er grinsend zurück, worauf sie ihm kurz die Zunge herausstreckte.

„Und genau dafür liebst du mich doch.“

„Also das muss ich mir erst nochmal genauer überlegen.“

„Hei! Melisse, dein Bruder ist gemein zu mir!“

Doch die Angesprochene antwortete nicht. Sie war viel zu fasziniert von der Landschaft, die sie umgab. Alles strahlte in einem saftigen Grün im Glanz der langsam aufgehenden Sonne. Sie standen mitten auf einem Hügel auf einem schmalen Weg. Verträumt blickte sie hinab ins Tal. In der Ferne konnte sie dichte Wälder erkennen.

„Hallo? Erde an Melisse.“ Maddy wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.

„Du meinst wohl eher, Whenua“, korrigierte sie Tailor und kassierte dafür einen Knuff in die Seite.

„Ja, ich … Entschuldigung. Es ist nur“, Melisse stockte und sah beide nacheinander an. „Es ist so anders als auf der Teirish Dominion. Findet ihr nicht?“

Die Freunde schauten sich schweigend um, bis Tailor schließlich mit den Schultern zuckte.

„Nun ja, vom Festland hatten wir ja damals auch nichts gesehen. Immerhin waren wir nur auf dem Unterwasserboot gewesen.“

„Ja, stimmt. Du hast recht …“

„Ich freue mich auf jeden Fall darauf, alles zu erkunden. Eine Abenteuerreise! Ich fühle mich wie im Film“, schwärmte Maddy und war in der Tat überglücklich, was ihrem Freund ein ratloses Lächeln bescherte. War er der Einzige, der sich Sorgen über den weiteren Verlauf ihrer Reise machte? Sie hatten keinen Anhaltspunkt oder Hinweis, wo sie sich genau befanden und schon gar nicht, wo sie hinmussten. Sie kannten weder die Sitten des Landes noch dessen Regeln. Auf der anderen Seite hatten sich die Passagiere der Anderwelt nicht wirklich von ihnen unterschieden. Auch die Währung war seltsamerweise ein und dieselbe gewesen. Wahrscheinlich machte er sich tatsächlich zu viele Gedanken.

„Also aufwärts scheint eine Siedlung zu liegen. Vielleicht sollten wir es erstmal dort versuchen und Informationen sammeln“, schlug er vor und deutete zur Dorfmauer.

„Gute Idee! Die Leute können uns sagen, wo die Teirish Dominion ist“, stimmte Maddy aufgeregt zu. „Außerdem bekomme ich langsam Durst.“

Melisse nickte im stummen Einverständnis. Ihr war etwas mulmig zu Mute. Immerhin handelte es sich bei Whenua um eine andere Welt. Soda war so nah und doch so fern, denn sie hatte keine Ahnung, wo sie hinmusste. Ihr Herz klopfte in freudiger Erwartung in ihrer Brust. Es würde alles gut werden. Es musste einfach.

Shikku beobachtete, wie die Fremden sich verdächtig umsahen, bevor sie Linaf betraten. Wo waren sie auf einmal hergekommen? Der Kleidung nach zu urteilen gehörten sie einer der oberen Schichten an. Was wollten sie in ihrem kleinen Dorf? Was waren das für Lichtblitze gewesen? Waren sie dadurch erschienen? Konnte es sein, dass sie Magie beherrschten? Doch sie sahen gar nicht derart mächtig aus.

Die junge Beran schnappte sich ihren Kampfstab und huschte ebenfalls durch die Steinmauern ins Dorf. Egal, was oder wer sie waren, die drei hatten etwas mit ihrem Traum und Schicksal zu tun. Sie musste sie auf jeden Fall im Auge behalten. Trotzdem: Nun galt es erst einmal wieder ungesehen ins Wirtshaus zu gelangen, bevor die Dorfbewohner nach und nach aus ihren Häusern kamen, um die Straßen und den Marktplatz für das Fest zu schmücken. Auf Zehenspitzen nahm sie den Schleichweg zurück.

*

Mit gemischten Empfindungen sahen sie sich um. Sie mussten mit dem immensen Komfortunterschied erst einmal klar kommen. Auf der Teirish Dominion war alles modern und luxuriös gewesen. Hier hingegen hatten sie das Gefühl, direkt ins Mittelalter zurückbeordert worden zu sein. Die Häuser waren klein, uneben und mit Strohdächern bestückt. Sie hatten sogar ein paar Bewohner beobachtet, wie sie Wasser vom Brunnen geschöpft hatten. Waren sie wirklich richtig oder hatte Kiandra sie vielleicht bestrafen wollen und falsch geleitet?

„Seht euch mal die Kleider an“, flüsterte Maddy und schielte zu einer Gruppe von jungen Frauen in ihrem Alter. „Wo sind die Jeans, Shirts, Anzüge und der ganze Kram, der auch auf der Teirish Dominion getragen wurde? Liege ich falsch oder herrscht hier ein meilenweiter Unterschied zum Luxusdampfer?“

„Ja, aber vielmehr stört mich, dass uns alle anstarren wie Aliens“, nuschelte Melisse und vermied es, den Dorfbewohnern direkt ins Gesicht zu sehen.

„Na ja, für die sind wir das wahrscheinlich auch“, entgegnete Tailor angespannt. „Wir stechen schon etwas aus der Masse hervor.“

Abrupt blieben sie stehen, als eine Clique von Frauen direkt auf sie zukam und ihnen den Weg versperrte. Eine selbstbewusste Blondine trat nach vorne und beäugte sie interessiert.

„Seid gegrüßt, Fremde. Mein Name ist Silia. Ich begrüße euch herzlich in Linaf. Von welcher Stadt seid ihr? Kommt ihr wegen des Festes?“

Perplex starrten sie die Frau an. Maddy fand als Erstes ihre Sprache wieder.

„Hallo, Silia. Es freut uns, dich kennenzulernen. Ja, wir haben davon auf unserer Reise gehört und wollten es uns gerne mal anschauen.“

„Oh ihr seid Reisende? Ist das nicht sehr gefährlich?“ Die junge Frau hob erstaunt eine Augenbraue in die Höhe und spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, während sie Tailor von oben bis unten musterte.

„Dafür bin ich ja dabei“, meinte dieser und nickte ihr zu, worauf sich ihre Wangen leicht röteten.

„Das kann ich mir gut vorstellen. Mit dir an meiner Seite würde ich mich auch trauen, auf Reisen zu gehen.“

„Wie … nett.“ Maddy schnalzte mit der Zunge und hakte sich bei ihrem Freund ein. „Silia, kannst du uns sagen, wo wir was zu essen herbekommen?“

„Oh, ja, sicher seid ihr hungrig von der langen Reise.“ Die Blondine ignorierte sie und widmete Tailor ihre gesamte Aufmerksamkeit, während sie eine sehr ausführliche Wegbeschreibung zur Dorfherberge tätigte.

Melisse beobachtete die Szene schweigend mit einem Lächeln auf den Lippen. Maddy war sichtlich verärgert, indessen ihr Bruder sich anscheinend geschmeichelt fühlte. Nachdem die Bewohnerin mit ihrer Erklärung endete, bedankten sich Melisse und Maddy eilig und zogen Tailor hinter sich her.

„He, warum die Hektik? Müsst ihr aufs Klo?“

„Das auch“, antwortete seine Schwester lächelnd, während seine Freundin verärgert mit den Augen rollte.

„Tu nicht so, als hättest du nicht bemerkt, dass die Olle dich angegraben hat.“

„Angegraben würde ich es jetzt nicht nennen, aber ja, es ist mir nicht entgangen, dass sie etwas an mir interessiert war.“

„Ach?!“

„Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein?“ Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein belustigtes Schmunzeln ab.

„Worauf sollte ich bei der rückständigen Kuh eifersüchtig sein?! Oder willst du mir etwas sagen?“